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Von nahen und fernen Kirchtürmen zitterte das Siebenuhrgeläut durch den zähen, schleimigen Novembernebel, als Dr. Heinrich Weber von seinen abendlichen Krankenbesuchen heimkam. Er wohnte ganz draußen, zwischen Fabriken, Bahnhofgebäuden und leeren Bauplätzen, im dritten Stock einer geisterhaft häßlichen Zinskaserne, die zu kurze Zeit stand, um nicht in allen Räumen nach feuchtem Mörtel zu riechen, und doch schon lang genug, daß die »sezessionistisch« gemeinten Gipsverzierungen der Fassade, des Flurs und Stiegenhauses schmutzig und verwittert aussahen. Seine alte Haushälterin öffnete ihm:
»Küss' d' Hand, Herr Doktor. Das is heut' wieder an abscheulich's Wetter, was? Ziag'n S' nur glei' 'n Winterrock aus, er is ja ang'spritzt von ob'n bis unten. Und in die Stiefeln sein S' g'wiß ah recht naß. Weil S' überall z' Fuaß hinrennen, als ob's ka Elektrische net gäbet'!«
Wortlos entledigte sich der Arzt des Überkleides, ging in sein Kabinett, das ihm als Ordinations-, Studier- und Erholungsraum diente und ließ sich auf den Lederdivan fallen. Er war schlecht aufgelegt, ganz miserabel aufgelegt. Solche üble Launen kämpfte er gewöhnlich mit aller Kraft nieder, aber manchmal, wie heute, waren sie eben übermächtig. Und todmüde war er obendrein. Mit der Straßenbahn hätte er fahren können, meinte die Marie. Freilich, das wußte er selber, doch er wußte auch genau, warum er's nicht tat. Mechanisch griff er in die Tasche nach der Börse und ließ seine Barschaft durch die Finger gleiten: Einen Silbergulden, zwei Kronen und etwa ein Dutzend Zehn- und Zwanzighellerstücke. Das bedeutete den Lohn eines besonders arbeits- und erträgnisreichen Tages. Gewöhnlich war er nicht so hoch.
Der Doktor konnte seiner verdrossenen Gedanken nicht Herr werden. Vor sechs Jahren, nach den bitteren Entbehrungen und Anstrengungen des Studiums, hatte er promoviert, dann zwei Jahre lang unentgeltlichen Spitalsdienst geleistet und seit vieren war er nun in diesem Armeleutviertel als praktischer Arzt ansässig. Über Mangel an Beschäftigung hatte er nicht zu klagen, eher übers Gegenteil. Er war sehr beliebt und gesucht in den Arbeiterfamilien. Aber mit der Bezahlung happerte es gewaltig. Wenige seiner Kunden waren imstande, die außerordentlich niederen Beträge, die er für seine Behandlung verlangte, gleich zu erlegen. Die meisten vertrösteten ihn auf spätere Termine, auf diesen oder jenen unwahrscheinlichen Glücksfall, gaben höchstens eine kleine Anzahlung und – vergaßen bald des weiteren. Und das waren noch lange nicht die schlimmsten, die armen Teufel, die zahlen wollten und nicht konnten. Viel mehr Verlegenheit bereiteten ihm die paar »besseren«, wohlhabenderen Kunden, die zu glauben schienen, es sei für einen so jungen Arzt schon eine unschätzbare Ehre, daß sie sich überhaupt mit ihm einließen; Händler und Geschäftsleute, die ihre Waren selbstverständlich an niemanden anders als um Bargeld lieferten und die ebenso selbstverständlich vom Hausarzte unbegrenzten, stillschweigenden Kredit forderten.
Dr. Weber blickte sich in dem schmalen, matt erhellten Raume um. Wie dürftig es hier war und wie einsam! Marie, die alte, halbtaube Wirtschafterin, war eine trübselige Gesellschaft. Früher hatte er wenigstens seinen Hund gehabt, eine prächtige Dogge, das Geschenk eines glücklicheren Universitätsfreundes. Dr. Weber litt nicht an Sentimentalität, die hatten sie ihm gründlich abgewöhnt. Aber nur mit wütender Erbitterung dachte er an die böse Stunde, da er dem treuen Köter, weil er ihn weder selbst zu ernähren noch einem ungewissen Schicksal bei fremden Leuten zu überlassen vermochte, Blausäure eingab.
Hunger hatte er auch schon, der Doktor. Da kam die Haushälterin herein. Aber sie brachte statt des Abendessens eine Nachricht:
»Das klane Madl vom Steininger war schon wieder da. Der Herr Doktor möcht' glei' zum Vater kommen, es geht ihm schlechter.«
Weber wollte beinahe auffahren. Er war ja erst vor zwei Stunden beim Steininger gewesen; und helfen konnte er dem ausgemergelten, schwindsüchtigen Marqueur doch nicht. Aber sofort besann er sich und machte sich zum Gehen bereit.
»Wollen S' net zuerst essen?« fragte die Alte. »Gleich is 's fertig.«
»Nein,« erwiderte der Doktor kurz, fuhr in den nassen Überrock und ging.
Als er nach einiger Zeit zurückkam, stand das Nachtmahl bereits auf dem Tisch, ein Stück Fleisch in einer lauwarmen Tunke und ein Glas Bier. Er setzte sich, begann langsam zu essen und las dabei die Zeitung, die noch unberührt dagelegen war, wie sie der Austräger gebracht hatte. Noch war er auf der ersten Seite, da wurde an der Wohnungstür geklingelt. Bald darauf meldete die Marie:
»A junger Mensch mit einer einbundenen Hand will mit 'n Herrn Doktor sprechen.«
»Meine Sprechstunde ist von Zwei bis Drei,« antwortete der Arzt.
»Das hab' ich ihm eh' g'sagt, aber er geht mir net weg, er hat solche Schmerzen, sagt er.«
»So führen Sie ihn halt in Gottesnamen herein,« rief der Doktor, würgte den letzten Bissen hinunter und schob den Teller weg.
Ein blasser, schmächtiger junger Bursch, vorortlich geschniegelt, trat ein und wies die wunde Hand vor:
»An' Schiefer hab' i mir einzog'n, an' großmächtigen. Er geht net außer, der Finger is schon ganz g'schwürig.«
Der Arzt besah den Schaden.
»Das ist ja schon alt,« sagte er dann. »Wann haben Sie sich denn verletzt?«
»Vorgestern in der Früh.«
»Vor zweiundeinhalb Tagen, und da kommen Sie erst jetzt? Noch dazu in der Nacht statt in der Ordinationsstunde?«
»I bitt', Herr Doktor,« versetzte der Patient, »i hab' halt no' immer 'glaubt, es wird a so ah gut.«
Der Arzt seufzte und holte seine Instrumente. Als die Operation vorbei und ein Verband angelegt war, sagte der Bursch:
»I dank' schön, jetzt is mir leichter. Was bin i denn schuldi'? … Aber i bitt', Herr Doktor, Geld hab' i jetzt keins. Am Ersten komm' i zahl'n.«
»Wie heißen Sie?« fragte der Arzt und schlug ein dickes, mit Namen und Ziffern vollgeschriebenes Buch auf.
»Niedermüller, Herr Doktor, Arthur Niedermüller.«
»Und sind?«
»Handlungskommis.«
Der Doktor notierte beides.
»Also gut, am Ersten, aber bestimmt.«
Doch als der junge Mensch fort war, fiel dem Arzt ein, daß er in der Eile um dessen Adresse zu fragen vergessen hatte. Also wieder eine zweifelhafte, sehr zweifelhafte Forderung, wie sie das dicke schwarze Buch schon zu Hunderten enthielt!
Die Haushälterin räumte Geschirr und Instrumente weg.
»Geh'n S', leg'n S' Ihnen jetzt nieder, Herr Doktor,« mahnte sie, »Sö schau'n heut' eh' net guat aus.«
»Mir ist auch nicht besonders. Kein Wunder übrigens. Aber vor zehn Uhr geh' ich nicht schlafen, es könnt' doch noch etwas kommen.«
Es kam nichts mehr. Als das Haustor polternd ins Schloß fiel, legte Doktor Weber das fachwissenschaftliche Werk, in das er sich vertieft hatte, weg und begab sich fröstelnd zu Bett. Doch kaum war er eingeschlafen, da weckte ihn die Stimme der alten Marie, die mit einem Licht vor ihm stand.
»Was ist denn?«
»G'rad' war a Lehrbub' vom Fleischhauer Surrm da, der klane Karl vom Surrm is krank. I hab' aber g'sagt, der Herr Doktor kann heunt' absolut nimmer kommen, ihm is selber schlecht.«
»Recht haben Sie gehabt. Ich habe mich, scheint mir, tüchtig verkühlt und wär' jetzt zu dem weiten Weg wirklich nicht fähig …«
»Und gar zu die Surrmischen!« fiel die Wirtschafterin eifrig ein. »Rechnung hab'n s' no keine 'zahlt, die heurige net und die vom vorig'n Jahr ah net. Und wie i a paarmal hingangen bin mahnen, da war'n s' beleidigt und sein grob word'n, die nobeln Herrschaften. Na, is's epper net wahr, Herr Doktor?«
Der Arzt nickte. Die Alte eiferte weiter:
»So reiche Leut' und so schmutzi'! Sö hab'n Ihner Geld allerweil no' net 'kriagt – aber an' andern Hausarzt hab'n sie si' g'nommen, die Surrmischen. Nur jetzt mitten in der Nacht, da wär' wieder der Herr Doktor gut, weil wahrscheinlich kein andrer z' hab'n war. So viel ängstlich sein s' natürlich ah, wann 's um ihner' G'sundheit geht. Der Bua hat halt a bißl Halsweh, da sag'n s' glei' Diphtheritis … Guate Nacht, Herr Doktor!«
»Diphtheritis?« Der Arzt sprang mit beiden Füßen aus dem Bette. »Geben Sie mir meine Schuhe, Marie, aber rasch!« …
Als Herr Doktor Heinrich Weber vom Besuche des Fleischhauersöhnchens Karl Surrm frierend und durchnäßt zurückkehrte und seinem Wohnhaus zuschritt, ging es bereits auf Mitternacht. Es war erfreulicherweise keine Diphtherie gewesen, nur eine Grippe. Er brauchte sich darum am nächsten Tage nicht mehr zu bemühen, das hatte ihm Herr Lorenz Surrm deutlich zu verstehen gegeben. Seinen Honoraranspruch durfte er zur alten, unbeglichenen Rechnung schreiben.
Der Hausmeister öffnete nach mehrmaligem Läuten und nahm sein Sperrgeld in Empfang:
»Dank' schön, Herr Doktor, küss' d' Hand … Aber san S' net harb, i kriag' no' zwa Sechserln. Der Fleischhackerbua, der was 'n Herrn Doktor g'holt hat, hat m'r nix 'zahlt.«
Der Arzt wußte nicht, sollte er sich ärgern oder sollte er lachen. Er zog nochmals seinen schmalen Geldbeutel.
Mehrere Tage nach jenem Abend erhielt er durch die Post die neueste Nummer des »Bezirksblattes« zugestellt, obwohl er nicht zu dessen Abnehmern gehörte. Eine Notiz darin war mit Blaustift angestrichen. Es war die Zuschrift eines »angesehenen Mitbürgers«, der sich über die Rücksichtslosigkeit und Saumseligkeit der Herren Ärzte beklagte. Als sein Sohn, schrieb er, neulich nachts erkrankte, habe er vergebens zu acht oder zehn Doktoren geschickt, alle seien entweder unwohl oder außer Hause gewesen. Endlich, endlich, nach langem Zureden habe sich Herr Doktor Heinrich Weber, der zuerst auch Krankheit vorschützte, allergnädigst zur Visite bereit erklärt. Das schlage aller Humanität ins Gesicht, solche Zustände seien empörend, unglaublich und ein öffentlicher Skandal. Ob denn das Publikum wegen der Herren Doktoren da sei oder die Herren Doktoren wegen des Publikums? Unterzeichnet war die Beschwerde mit »L. S.« Die Redaktion fügte hinzu: »Der Name des Herrn Einsenders ist uns natürlich bekannt.«
Doktor Heinrich Weber glaubte ihn ebenfalls zu kennen.