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Im Korb die Trauben, gelblich-grün und rosenrot, glasklar und überreift, hatten mich ins muffelnde Dunkel des winzigen, mit Waren aller Art vollgeräumten Ladens gelockt. Der Greisler, der sich eben zur Jause ein Butterlaibchen schmierte und darüber hinweg die Illustrationen eines »Augenzeugen« der letzten Kriminalaffäre bewunderte, leitete mein Begehren weiter:
»Du, Frau, hörst net? A halb's Kilo Weinber' sollst einergeb'n!«
Das dicke Weib im Hintergrund legte Gebetbuch und endlosen Strickstrumpf beiseite, watschelte auf die Gasse, kam wieder, stellte den gefüllten Papiersack auf die Wagschale, gab ihr einen zarten Stoß und sagte endlich treuherzig zu mir:
»Um an' Kreuzer is's halt mehr. Macht's was?«
Nein, es machte nichts. Man muß ja immer »mehr« nehmen, als man verlangt hat, so ist's Greislerbrauch.
Aber siehe, da wandte der Gemahl, der seinen Kunstgenuß unterbrochen und den Vorgang beobachtet hatte, ein zerstreutes »Gar ka Spur!« ein.
Ich war aufs höchste überrascht. Die Frau wahrlich auch. Ihre Augen rollten furchtbar. Zum Glück fand der Greisler bald die verlorene Besonnenheit wieder.
»Wia kannst denn sag'n, Weib,« fuhr er mit Ruhe und Strenge fort, »um drei Kreuzer? Ha? Um zwa is's mehr, ja, aber net um drei!«
Diese verblüffende Geistesgegenwart wirkte so stark auf mich, daß ich die erhöhte Mehrforderung stumm erlegte und erst im Freien zu einem herzlichen Lachen kam.
Aber die Heiterkeit verging mir, als ich zu Hause sah, daß mein Kauf keineswegs dem ausgelegten Prachtmuster entsprach, sondern »von hinten« genommen war, wo im Haufen – Greislerschlauheit! – die mindere, angefaulte Ware lag, als ich, nun völlig mißtrauisch geworden, feststellte, daß sein Gewicht das verlangte kaum erreichte, geschweige denn überstieg. Greislermoral! … Die sehen mich mein Lebtag nicht mehr in ihrem Laden, schwor ich mir ergrimmt zu …
Wo die Hauptstraße am belebtesten ist, strahlt das neueröffnete riesige Kaufhaus blendenden Glanz aus. Wie eines Fürsten Palast ist es geschmückt und erleuchtet. Hinter blinkblanken Scheiben, größer als Scheunentore, schreien die bunten, satten Farben von Damast und Samt und Seide und Brokat, wimmelt ruhelos ein Heer von Angestellten. Vor ihnen staut sich die bewundernde Menge der Fußgänger und schwillt, wie viele auch unaufhörlich, unwiderstehlich eingesogen werden von dem Zauberschloß, immer noch an. Und Equipagen auf Equipagen sausen heran. Ringsum die kleinen Geschäftslokale aber sind verödet, ihre Kommis gähnen und ihre Besitzer ringen die Hände.
Wie ich mich durchs Gewühl winde, stoß' ich auf einen Bekannten, einen heißen Freund des armen, arbeitenden Volkes und strammen Verfechter sozialer Schutzgesetzgebung; aus seinem Schilde steht: »Rettung den wirtschaftlich Schwachen! Verderben den Übermächtigen!«
Mein Anblick an diesem Ort ist ihm ersichtlich unangenehm. Und ehe ich noch eine Frage an ihn gerichtet habe, verteidigt er sich schon:
»Ich wart' da auf jemanden … auf meine Frau nämlich … wie halt die Weiber schon neugierig sind … anschau'n tut sie sich den Schwindel … na, in Gott'snamen … aber bloß anschau'n, natürlich … nichts kaufen, nein, nein … ah, das erlaub' ich ja nicht.«
Er erbarmt mir in seiner kläglichen Verwirrung, darum höre ich ihn aufmerksam an und empfehle mich dann rasch. Ich brauche ja gar nicht weiter dabei zu sein, ich weiß ohnehin ganz genau, wie seine Gattin von der »bloßen Besichtigung« zurückkommen wird: Mit Paketen beladen über und über, freudig erregt, entzückt von all dem Prunk und von der überhöflichen Bedienung und von den unbegreiflich niederen Preisen. Und ich sehe auch ihn deutlich vor mir, den gestrengen Hausvater, den Schützer des kleinen Mannes und Feind jeglicher Ausbeutung, wie er sich anfangs skeptisch stellt, bald genügender, bekehrt ist:
»Wahr ist's eh, was d' sagst. Leider, leider. Mit dem da können s' halt einmal net konkurrieren, die andern, diese Greisler!«
So spricht er. Warum auch nicht? Der Verstand und die rauhe Praxis siegen eben bei ihm, wie bei den meisten Leuten, über das weiche Herz und die schönklingende Theorie, in der man natürlich nach wie vor und voll und ganz und unentwegt auf der Seite der Kleinen, der Kleinsten, der Greisler steht. Ihnen alle Sympathie – aber beileibe keinen offenen Geldbeutel! Denn schließlich ist man sich selbst der Nächste und hat nichts zum Hinauswerfen.
»Greisler« aber sind bei uns nicht allein die Gemischtwarenverschleißer. Handwerker die unpünktlich und schleuderhaft und geschmacklos, aber kostspielig arbeiten; Kaufleute, die sich justament nicht nach dem Gusto des Publikums richten, sondern naiv voraussetzen, daß dieses doch den ihren annehmen werde; Lohnkutscher, die bei Bier und Wein einen ganzen Tag lang auf eine einzige Gelegenheit zu ausgiebiger Taxüberschreitung lauern; Buchhändler, die mit wahrer Leidenschaft Koch-, Wunsch- und Traumbücher vertreiben; Verleger, deren literarische Tätigkeit in der Erzeugung von Abreißblockkalendern sich erschöpft; Verkehrsunternehmungen, die lieber vier halbleere Züge in der Stunde abgehen lassen als ein Dutzend vollbesetzter – sie alle bekennen sich zu den Greislergrundsätzen: nichts lernen, nichts unternehmen, nichts aufs Spiel setzen, sich nicht anstrengen; beschaulich von der Hand in den Mund leben, mit »Hamur« kindische Kniffe und Pfiffe verüben, voll »G'müat« auf der faulen Haut liegen. Dabei aber jammern sie über die gottlose Konkurrenz und wollen bedauert und »gerettet« auch noch sein.
Die engen, dämmerigen Häuschen der Väter reißen sie mit wütendem Eifer nieder, dort sogar, wo eine verspätete Pietät es bitter beklagen wird. In den neuen, asphaltierten Straßen aber waltet der alte Greislergeist und gibt einem jeden, sofern er nur von jenseits der Grenze hereingekommen ist, das Recht, die Nase über uns zu rümpfen.
Und weiter … Doch dieses »Weiter« müßte allzu weit führen.
Wird es denn ewig nicht anders werden?
In dem riesigen Rundbau drunten im Prater ward uns gezeigt, wie man den Lehrling zum Meister erziehen – kann, erziehen – soll. Dort unten sah ich zwei Greise, die Hände voll Schwielen, von jahrzehntelanger Arbeit die Rücken gebeugt, und doch voll Kummer im Gesicht und in ärmlichen, abgeschabten, geflickten Kleidern, langsam, langsam von einem Objekt zum anderen gehen. Wie Wunderdinge starrten sie all die modernen Lehrmittel an, die Muster, Vorlagen, Tabellen, Bilder und Bücher. Und endlich sagte leise der eine:
»Ja, heutzutag' hab'n s' es halt guat, die jungen Burschen. Wann mir einmal zu unserer Zeit so was g'habt hätten! Was mir da alles hätten lernen können!«
»Halt ja,« seufzte der andere. »Da wär' was G'scheiters word'n aus uns zwei. Da hätten m'r's weiter 'bracht!«
Das soll ein Wort sein, klang es in mir. Tröstet euch immerhin, ihr guten Alten, daß ihr nicht Schuld habt an eurem armseligen Schicksal. Aber sagt's auch den Jungen, daß ihnen keine Ausrede bleibt, wenn sie wiederum nichts werden als Greisler in ihrem Fach!
Und etwas, nicht um vieles, zuversichtlicher, als ich eingetreten war, verließ ich damals die Ausstellung, die so viel besondere Abteilungen hatte, aber keine für die Greisler.