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Bezugs neue Pläne. Johannas Lebensgeschichte. Aktschlüsse

Mitten in dieser Nacht, die dem Tage des Weltunterganges folgte, wurde an der Tür von Elisabeths Schlafzimmer gepocht. Ein Diener war da, der ihr den Wunsch ihres Vaters überbrachte, sie möchte ihn in seinem Zimmer aufsuchen.

Elisabeth war nicht zu Bett gegangen. Sie saß auf dem Balkon und sah nach dem erleuchteten Fenster in Enzbergers Mühle hinüber. Das Licht brannte dort heute die ganze Nacht. Es war ein Totenlicht. Bisweilen sah man in dem offenen Fenster eine Gestalt, einen Schatten, aber nur selten; es war, als habe der Schmerz die Bewegungen der Menschen dort drüben gehemmt. Manchmal nahm Elisabeth auch den Feldstecher auf, der neben ihr auf der Brüstung lag, und hielt ihn solange auf den viereckigen Ausschnitt aus der Burg der Feinde geheftet, bis jemand in Sein Gesichtsfeld kam. Sie sah Adalbert und den alten Mann, der früher häufig in der Mühle eingekehrt war, und der heute bei der Auffindung des Leichnams dabei gewesen war. Auch das hatte sie sich nicht entgehen lassen: zu sehen, wie man die Tote in die Mühle brachte ...

Nun lag der Weg für sie frei. Es war ein großer Triumph ihres Willens, daß sie das Hindernis für ihr Glück zu beseitigen vermocht hatte. Ihr Dolch hatte zweimal tödlich getroffen. Und daß Regina wirklich tot war, davon hatte sie sich noch einmal am Morgen nach der Tat überzeugt. Sie war noch einmal dort gewesen, wo der Leichnam lag, unbekümmert darum, ob man sie sah. Wenn die Ordnung wiederhergestellt war, so würde sie doch niemand zu beschuldigen wagen, denn sie war ja die Tochter Bezugs.

Nur unwillig folgte sie der Einladung ihres Vaters, denn sie verließ ungern ihren Posten. Aber diese Ladung war so dringend gewesen, daß die sich ihr nicht entziehen konnte.

Bezug saß in einem Stuhl und sah vor sich hin, als Elisabeth bei ihm eintrat. Es fiel ihr sogleich auf, daß eine große Unordnung den bekannten Eindruck dieses Raumes verwirrt hatte. Die Geheimfächer der Tische und Wände waren aufgezogen und nicht wieder geschlossen worden. Es sah aus, als sei Bezug inmitten irgendeiner alles umwühlenden Arbeit müde geworden und könne nicht mehr weiter. Und er schien ganz verfallen und alt, mit einem gelben Gesicht und seltsam weit abstehenden Ohren.

Jetzt hob er den Kopf und nickte seiner Tochter zu. Dann wies er auf einen Stuhl, der neben einem kleinen Tischchen stand.

»Ich habe dich zu mir gebeten,« begann er, »um dir zu sagen, daß wir fort müssen.«

Was war das? Was fiel ihm da ein? Sie legte das Knie über den Stuhl und stützte sich mit den Armen auf die Lehne, indem sie den Vater fest ansah.

»Ja, es ist so«, wiederholte er, »wir müssen fort. Es bleibt uns nichts anderes übrig. Das große Schauspiel ist zu Ende. Die Narren sind zur Vernunft gekommen. Es ist nichts mehr zu sehen.«

»Ich begreife noch immer nicht, warum wir deshalb fortmüssen«, sagte Elisabeth ruhig.

»Weil sich jetzt der ganze Zorn und die Erbitterung der Menge gegen uns wenden wird,« und auf eine Bewegung Elisabeths setzte er einschränkend hinzu, »gegen mich also ... wenn du willst.«

»Fürchtest du das Volk auf einmal?« fragte sie verächtlich, »nachdem du es aufgestachelt und gequält, in Todesangst gestürzt und dich an alledem vergnügt hast?«

»Du weißt, daß ich Mittel hätte, um mich zu wehren. Ich fürchte mich nicht. Sie werden es nicht wagen, mich hier anzugreifen. Ich bin noch immer der gute Freund der Staatsgewalt. Und schließlich könnte ich mich auch selbst schützen. So wild und zornig sie auch sein mögen. Sie werden sehr stürmisch ankommen, es läßt sich denken; wenn sich die Überzeugung einmal in den dumpfen Köpfen festgesetzt hat, daß ich es war, dem diese lieblichen Vorgänge der letzten Zeit zum Teil zu verdanken sind ...«

»Meinst du, daß sie zu dieser Überzeugung schon gekommen sind?«

»Hainx war in der Stadt und hat ein bißchen herumgehorcht. Irgendwie ist es unter die Leute gekommen. Sie reden davon und regen sich immer mehr auf, und wenn ich Hainx glauben kann, so wird es eine gefährliche Gärung geben. Jetzt schreiben sie mir alles zu, auch das, wobei ich nicht die Fäden gezogen habe. Es ist die Umkehr ihrer Angst, die Umschaltung der Leidenschaften, die kaum erst beruhigt sind. Die Umschaltung in eine Wut, die sich gegen mich richtet. Du kennst das Volk nicht so wie ich, ich habe es kennengelernt, ich habe es in meinen Händen gesehen. Es war bildsam wie Wachs, und ich habe mit ihm getan, was ich wollte, indem ich seine Instinkte ausgereizt habe. Wenn sie das erkennen, so werden sie mit derselben Raserei über mich herfallen, mit der sie zuerst einander zerfleischt haben. Es ist die letzte Explosion ... bevor die vollkommene Ruhe eintritt. Sie hassen niemanden mehr, als den, dem sie sich zuerst blindlings ergeben haben.«

»Du bist ein alter Mann geworden, Thomas Bezug, ein Schwächling.«

Da richtete sich Bezug in seinem Stuhl aus seiner zusammengesunkenen Haltung auf.

»Du hast nicht das Recht, so über mich zu denken. Wenn ich von der Wut des Volkes gesprochen habe, so war ich dabei vor allem um dich besorgt!«

»Mir werden sie nichts tun ... ich bin bloß deine Tochter.«.

»Eben deshalb ... glaubst du nicht, daß dies ihnen genug ist? Du mußt mit mir kommen.«

Es machte Elisabeth Vergnügen, den Vater, da sie ihn in wirklicher Angst sah, noch mehr zu quälen: »Das sind alles nichts als Ausflüchte vor dir selbst und deiner Kritik, mein Bester. Du bist einfach zusammengeklappt, daran ist nichts zu ändern. Nur dir selbst kannst du etwas vormimen, aber nicht deiner ergebenen Tochter Elisabeth.«

»Ich rede nicht mehr davon. Wenn du also meinen entscheidenden Grund hören willst: ich bin müde ... nichts als müde von alledem hier. Weißt du, wie einem Opiumraucher zumute ist, wenn er erwacht?«

Elisabeth nickte. Ihr war kein Laster fremd.

»So geht es mir. Ich habe einen Opiumtraum genossen, der groß war durch seinen Widerstreit gegen die Vernunft und durch seine künstlichen Verschlingungen. Die ganze Menschheit war mein. Aber jetzt bin ich erwacht, und das ist unangenehm. Die Bestie, die ich gewürgt habe, ist etwas zu zähe. Sie hat sich mir entwunden und bäumt sich von neuem auf. Und ich bin zu müde, um mich gleich wieder in einen neuen Kampf zu stürzen. Zu müde ... Elisabeth! Ich habe meine ganze Kraft an dieses Abenteuer gesetzt. Nun muß ich mich zurückziehen und neue Kraft sammeln. Irgendwohin, wo man mich nicht kennt. Und doch werde ich warten, bis ich gewachsen bin, um noch größer und furchtbarer über die Erde herzufallen.«

Nun hätte Elisabeth dem Vater nicht mehr vorwerfen können, daß er ein Schwächling sei. Seine Augen brannten in ihrem Gesicht.

»Irgendeine Insel der Ladronen oder Marianen dürfte passen. Dort werde ich ganz im geheimen meine Geschäfte leiten ... niemand wird wissen, wo er mich zu suchen hat ... und ich werde nicht ruhen, als bis ich sie alle eingesponnen habe. Fester als diesmal ... das kannst du mir glauben. Und ich werde niemanden mitnehmen als – dich!«

»Mich?«

»Ja ... dich,« seine ausgestreckten Arme zitterten ihr entgegen, »keinen andern. Du wirst mich begleiten, und du wirst erkennen lernen, welch unerhörtes Glück im Gefolge der Macht liegt, wenn man den richtigen Gebrauch von ihr zu machen weiß!«

»Und die anderen ... die Garde, die du da um dich versammelt hast?«

»Sie bleiben zurück.«

»Und Hainx?«

»Der darf nichts von meiner Häutung wissen. Der am wenigsten. Ich brauche ihn nicht mehr.«

»Und wenn das Volk nun wirklich gegen dich losgeht und nur deine Gehilfen findet ... wenn es wahr ist, was du von ihrer Wut gesagt hast, werden sie diese Leute in Stücke reißen.«

Jetzt war Bezug über eine Anwandlung von Schwäche bei Elisabeth verwundert.

»Was geht's dich an, was mit ihnen geschieht? Aber dir kann es gerade so gehen.«

»Ich habe jetzt keine Lust zu sterben, my dear; jetzt erst recht nicht. Ich habe aber auch keine Lust, mit dir auf die Marianen oder Ladronen zu gehen. Ich will hier bleiben. Hier! Hier! Ich werde mich schon nicht erwischen lassen. Meine Laufbahn ist noch nicht zu Ende.«

»Was ist mit dir? Du willst nicht mit deinem einsamen Vater gehen?«

»Ich bedauere ... und wenn du noch so schön die Jammerflöte spielst! Ich bin gepanzert. Ich höre nicht einen Ton.«

Bezug fand sich nun weniger als je in Elisabeth zurecht. Es war fast ein Vorwurf in ihren Fragen nach dem Schicksal von Bezugs verlassenen Leuten gewesen, ein Weichmut, der diesem Kenner der menschlichen Seele zu denken gab, um so mehr, als sie sich seinen eigenen Bitten so starr widersetzte. War sie am Ende auch in ihren Grundfesten erschüttert und bemühte sich nur, nichts davon merken zu lassen?

Der Alte kam langsam an Elisabeth heran. Sie zog das Knie vom Stuhl zurück und nahm die Arme von der Lehne, und wie sie nun so aufgerichtet vor dem Vater stand, da war es nicht zu leugnen, daß sie um ein paar Linien größer war als Bezug.

»Denke daran,« sagte er mit einem ehrlichen Klang in seinen Worten, »denke daran ... willst du mich allein ... Arnold ist ertrunken! Der arme Bursch. Und deine Mutter ist mir davongelaufen. Zu diesem heiligen Mann, dem Bischof ...«

»Du hast sie schlecht behandelt, Vater!«

»Hast du sie besser behandelt? Du warst nicht wie ein Kind zu ihr.«

»Ich bin deine Tochter, Vater! Und sie war eine lästige Frau.«

»Aber siehst du nun ein, daß ich fort muß. Mir, dem Thomas Bezug, ist meine Frau davongelaufen ... zu diesem Bischof, der von meinem Geld seine Hexenkünste bezahlt hat. Wie stehe ich da ... was würde das für eine Freude für den lieben Publicus sein. Es ist dem Bischof ganz sicher auch nicht angenehm ... aber was habe ich davon? Welches Gelächter? Ich muß fort und irgendwo darüber nachdenken, wie ich dieses Gelächter unterdrücke. Und du mußt mit mir gehen ...«

»Und ich sage dir, daß ich nicht gehe!«

Bezug kannte seine Tochter zu gut, um nicht zu wissen, daß ihr Wille unbeugsam war.

Aber er hatte sich in einer Art von Raserei in den Gedanken verrannt, so daß er jetzt nicht sogleich auf seinen Wunsch zu verzichten vermochte. Er sprang auf Elisabeth los und erfaßte ihr Handgelenk mit einer heißen, bebenden Faust: »Und du wirst mit mir gehen ... wir fahren miteinander ... Heute morgen noch.«

Es wurde ihr nicht schwer, sich loszumachen. Ohne noch ein Wort zu sagen, schritt sie zur Tür.

Da geschah etwas, dessen sie ihren Vater niemals für fähig gehalten hätte. Er verlor vollkommen die Besinnung, stampfte mit den Füßen, drehte sich mit ausgebreiteten Armen einige Male wie ein Kreisel um sich selbst und fegte alles von Tischen und Schränken herab, was er erreichen konnte. Dazu kreischte er ein paar zusammenhanglose Silben, in denen stumpfe und schrille Laute durcheinander wirbelten. Die kostbaren Bronzen klirrten in den Scherben der Porzellanstatuetten, und vom Schwung seiner Arme wurden Bücher, Papiere und Schatullen weit ins Zimmer geschleudert, aus denen beim Aufgehen Geld und Schmucksachen herausfielen.

Dann rannte er einige Male im Zimmer hin und her, als ob er irgend etwas suchte, eine Waffe, ein Wurfgeschoß. Dabei warf er Stühle um, die ihm im Wege standen, und griff mit gräßlich verkrampften Fingern immer vor sich in die Luft. Plötzlich war es, als sei seinem Körper alle Kraft entzogen worden. Er wurde mit einem Male blaß, lehnte sich taumelnd an die Wand unter der Uhr und schrumpfte ein wie ein Ballon, der einen Riß bekommen hat. Nur die Finger waren noch immer krampfhaft verbogen und suchten in der Luft. Aus dem Gekreisch war ein Stöhnen und Röcheln geworden, bei dem die Stimme sich immer überschlug, so daß etwas vom Gewinsel eines Tieres mitklang.

Dann fuhr er mit der Hand zur Stirne und wischte den Schweiß ab, der in großen Tropfen darauf stand.

»Bestie! ...« murmelte er, »Bestie! ... wie deine Mutter bist du, wie deine Mutter! Was dich hier zurückhält? ... ich weiß es doch ... meinst du, ich weiß es nicht? Deine Neigungen sind fürstlich. Ein Mensch, den ich hätte vernichten können ... und er war mir zu klein dazu! Adalbert ... ein Nichts, ein Jammermann. Ich weiß alles ... ich wußte alles. Und er hat dich verschmäht ... weggeworfen, ja, ja ... weggeworfen!«

Elisabeth stand in der Tür und entgegnete nichts. Sie sah ihren Vater nur an.

»Geh ... geh ... ich will dich nicht mehr sehen. Ich werde die Einsamkeit zu ertragen wissen ... ich verfluche dich.«

Gedämpft und ruhig sagte sie: »Du kannst mir glauben, es hat keinen Tag gegeben, an dem ich nicht verflucht hätte, deine Tochter zu sein.«

Dann ging sie, während Bezug zurückblieb, schweratmend an die Wand gelehnt, mit stieren Blicken nach der offenen Tür. In seinem Kopf war ein Dröhnen, in das Hammerschläge gegen die Schädelwand in rhythmischer Wiederkehr einfielen.

Nach einer Weile fand er wieder den Weg zu sich selbst zurück. Mühsam löste er sich von der Wand los und ging mit wankenden Beinen im Zimmer hin und her, indem er die herumliegenden Papiere mit der Fußspitze umwandte, um zu sehen, was davon von Wichtigkeit und Wert war; nach kurzer Zeit hatte er die Besonnenheit wieder erlangt. Mit scharfem Blick sonderte er alle Aufzeichnungen, Urkunden und Wertpapiere, die er mitzunehmen gedachte, von jenen, die zurückbleiben konnten. Und jetzt in dieser Stunde gewann er erneuerte Sicherheit und Zuversicht für die Zukunft aus der Freude über den scharfen Blick, mit dem er den ganzen Stand seiner ungeheuerlichen Unternehmungen überschaute. Schließlich war aus allem, was er mitzunehmen hatte, ein nicht zu umfangreiches Paket geworden, das er in einer leichten Blechkassette unterbringen konnte; noch einmal untersuchte er alle die geheimen Fächer und Laden. An Geld und Juwelen blieb genug zurück.

»Das andere den Geiern und Raben«, sagte er lächelnd, indem er zum Fenster schritt. Er öffnete es und beugte sich hinaus. Der Morgen war frisch und kühl. Weiß zog sich die Straße über den Grund der Talmulde. In den weichenden Schleiern der Nacht war schon ein rötliches Schimmern.

»Es wird eine gute Fahrt werden«, sagte er so laut, als wolle er jemanden eine Versicherung geben. Dann nahm er die Blechkassette und ging in den Hof hinab, wo der Chauffeur das Automobil bereit hielt.

»Ich fahre selbst«, sagte er, als der Mann seinen Sitz einnehmen wollte, »und wenn jemand fragen sollte, ich bin noch im Laufe des Vormittages zurück.« Der Chauffeur sprang zum Tor und half der Wache beim Öffnen. Mit einem übermütigen Pusten setzte die Maschine ein und ließ dann ein kräftiges Knattern folgen. Bezug rückte sich zurecht, hob sich auf seinen Sitz wie ein Reiter im Sattel und setzte die Maschine in Gang. Durch das Tor, über den Wiesenweg und dann lenkte er nach rechts auf die Straße ein, in die Richtung, die von der Stadt fortführte. –

Nachdem Johann geholfen hatte, Regina auf ihr Zimmer zu schaffen, und mit den anderen wieder hinuntergegangen war, hatte er sich, ohne zu jemandem noch ein Wort zu sprechen, wieder aus der Mühle entfernt.

Er kehrte erst gegen zwei Uhr morgens zurück und wollte seine Kammer aufsuchen, aber im Wohnzimmer, durch das er hindurch mußte, saßen noch Enzberger und seine Frau wach und teilten ihm mit, daß Eleagabal Kuperus vor einiger Zeit in die Stadt gegangen sei, daß er aber morgens wieder zurückkommen werde. Sie wollten von Johann ein Wort hören, ob sich auch für ihn eine Hoffnung daran knüpfte, ob er imstande sei, in dieser schmerzlichen Finsternis an die Möglichkeit einer Rettung für Adalbert zu glauben. Regina war ja tot, aber ihr Gatte sollte doch nicht auch zum Opfer fallen ...

Johann hörte ihnen eine Weile schweigend zu. Dann schüttelte er den Kopf und ging in seine Kammer. Sie hörten ihn drinnen kramen und murmeln. Als er nach einer Weile mit einem kleinen Paket heraustrat, schien es zuerst, als wolle er wieder wie vorhin an ihnen vorübergehen. Aber er blieb nach einigem Zögern mitten im Zimmer stehen, wandte sich und kam an den Tisch. Ohne sein Paket aus der Hand zu geben, setzte er sich auf den leeren Stuhl, Enzberger gegenüber und saß mit krummem Rücken da, den Blick fest auf die nassen Kreise geheftet, die von einer Bierflasche zurückgeblieben waren. Die Müllerin hatte sie vor kurzem aus dem Keller geholt und ihren Mann bewegen wollen, zu trinken. Aber Enzberger hatte keinen Durst verspürt, so wie er es seit der Auffindung der Leiche Reginas nicht vermocht hatte, etwas zu essen.

»Bezug will heute morgen fort«, sagte Johann und legte sein Paket auf den Tisch.

Enzberger sah ihn an. Seit ein paar Tagen war der Alte nicht rasiert und die weißgrauen Stoppeln standen ihm stachlig um das Kinn und auf den Wangen. Er war seltsam anzusehen mit seinem Greisenkopf, in der Weiberkleidung, die ihm nun auch noch weiter geworden zu sein schien, als hätte ihn die letzte Zeit noch mehr ausgedorrt.

»Bezug?« fragte die Müllerin.

»Ja ... ich weiß es. Er will heute morgen fort. Mein Tag ist da ... mein Tag ist da ...«

Seine Augen waren ganz verändert. Sie hatten nichts Irres und Gequältes mehr, sondern einen stetigen, entschlossenen und fast heiteren Blick.

»Dein Tag?«

»Ja ... mein Tag.« Johann senkte wieder den Kopf und ließ ihn eine Weile zwischen den Händen ruhen. »Heute wird er in meine Macht gegeben, heute endlich.«

»Was willst du tun?«

»Er wird seine Villa verlassen, heute morgen. Es ist Bezugs ...«, er unterbrach sich und sah sich um, als habe er vergessen, daß er in einer Festung war, über die sein Feind nichts vermochte. »Ich habe noch so viel Zeit, daß ich euch eine kleine Geschichte erzählen kann. Eine alte Geschichte ... von dem Mann, der heute morgen ... von Thomas Bezug ...«

»Es ist vielleicht besser, schlafen zu gehen ...«, sagte die Müllerin besorgt, denn Johanns Wesen war so von Grund auf verändert, daß sie befürchtete, die Vorgänge des gestrigen Tages hätten seinen Verstand verwirrt.

Aber Johann sah auf seine Finger herab, ließ sie auf die Tischplatte klappen und fuhr fort: »Er war nicht immer der große Mann, der er heute ist, der Herrscher über Tod und Leben ... er hat von ganz unten angefangen. Und wenn er auf anderen Wegen heraufgekommen wäre, man müßte ... was in ihm seit jeher größer war als bei allen andern um ihn herum, das war sein Wille und sein Verstand. Sein Wille, ein geschickter Dieb, Mörder, Heuchler, Lügner und Verleumder ... und sein Verstand – eine Rechenmaschine. Da hat er als ganz kleiner Junge in Paris in einem Juwelierladen Schaukasten gedreht. Damals hat man noch nicht mit elektrischem Antrieb gearbeitet. Der Junge ist morgens in die große Trommel eingesperrt worden, eingesperrt, und man hat einen Riegel vorgeschoben und ein Vorhängeschloß angelegt. Sein Essen hat man ihm durch eine Klappe hineingeschoben. Und er hat den ganzen Tag im Kreis gehen müssen, im Dunkeln, immer im Kreis, und dabei hat er den Schaukasten gedreht. Draußen sind die Leute gestanden und haben die Schmucksachen bewundert ... die Ringe und Armbänder und Uhren und Broschen ... und er ist drin im Finstern immer im Kreis gegangen. Das weiß ich, denn er hat es dem erzählt, der später sein Kamerad war ... und von dem weiß ich es. Und der ... dieser Kamerad hat den armen kleinen Kerl bedauert. Er hat nicht gewußt, daß damals, in diesem Drehen und in dieser Finsternis, alles in Bezug groß geworden ist, was ihn später zum größten Verbrecher gemacht hat. Da ist der Teufel in ihm erwacht, Enzberger ... es muß so sein, denn es ist nicht möglich, daß das aus einem Menschen kommen könnte ... von selbst, so aus ihm heraus ... es ist nicht möglich. Derselbe, dieser Kamerad, hat immer geglaubt: ein Mensch, dem es schon so schlecht gegangen ist im Leben, der muß gut sein gegen alle andern Menschen. Warum? Eben weil er weiß, wie das ist, wenn es einem schlecht geht, und wenn man immer nur die Absätze spürt, mit denen man getreten wird. Das war sehr dumm von dem Kameraden. Denn wenn er nicht so dumm gewesen wäre und sich gedacht hätte: es ist möglich, daß gerade das Elend den Buben schlecht gemacht hat ... dann wäre er vielleicht auch vorsichtiger gewesen ... und er hätte seine geraden Glieder behalten, der Bursch ... Ja, also, der gute Thomas Bezug, der bei seinem Herrn den Schaukasten gedreht hat, immer im Finstern ... und wenn es Abend geworden ist, dann haben sie ihn aus seiner Trommel geholt und in einen anderen Verschlag gesperrt, der war viereckig und auch finster. Ein Bett ist darin gestanden, und da hat er schlafen dürfen. Aber auch hinter einer versperrten Tür. Und was ihm nicht eingefallen ist, während er im Kreis gegangen ist und die Trommel gedreht hat, das wird ihm der Traum in der Nacht gebracht haben ... Einmal aber, da haben sie vergessen, den Verschlag abzusperren. Und in der Nacht war auf einmal ein großer Lärm im Haus. Stiegen auf und Stiegen ab Laufen und Schreien, Türenschlagen und ein schreckliches Weinen irgendwo. Fremde Menschen waren da, und sie haben mit lauten Stimmen gerufen, und Säbelrasseln hat man gehört und immer das schreckliche Weinen. Wenn das der Thomas seinem Kameraden erzählt hat, so war das so lebendig, daß es dem Kameraden war, als ob er damals mit dabei gewesen wäre. Und die Augen haben dem Thomas gefunkelt, und er hat ein so gräßliches Lachen gehabt ... und der dumme Kerl, der Kamerad, hätte sich nach alledem denken können, daß die harte Zeit den Thomas nicht zum Guten verwandelt hat ... denn in dieser Nacht, damals ist der reiche Mann, der Juwelier, ermordet worden, und den halben Laden haben sie ihm ausgeräumt. Und lang, lang, hat der Thomas erzählt, ist er unter der Stiege in der Finsternis gestanden und hat zugehört, wie die Frau und die Kinder so schrecklich weinen. Er hat gar nicht weggehen können, so gut hat es ihm gefallen. Und so lang ist er gestanden und hat zugehört, daß er beinahe die Gelegenheit versäumt hätte, zu entwischen. Aber zuletzt ist es ihm doch noch gelungen, und er hat noch eine goldene Brosche mitgehen lassen, damit er doch etwas zum Leben hat. Und das hat ihm sein Kamerad auch niemals verargt ... denn das ist ein Recht des Menschen zu leben, und so zu leben, wie er zu leben geschaffen ist ... und wer dem andern daran etwas verkürzt, der verdient, daß er doppelt und dreifach gezüchtigt werde ...«!

Johanns Faust war mit einem harten Schlag auf den Tisch gefallen. Enzberger und seine Frau sahen sich an; sie ahnten, daß der Alte im Begriff stand, ihnen das Geheimnis seines Lebens zu enthüllen.

»Er hat sich nicht lange weitergeholfen, der Thomas, mit seiner Brosche. Er hat sie am dritten Tag, als der Hunger zu groß war, einem Trödler angeboten. Der hat sie genommen und ihm gesagt, er soll am Abend wiederkommen ... wenn er Zeit gehabt hat, sie abzuschätzen. Und wie der Thomas dann am Abend gekommen ist, da hat der Trödler von der Brosche nichts wissen wollen, hat abgeleugnet, daß er eine erhalten hat, und hat mit der Polizei gedroht. Da ist der Thomas davongelaufen ... und dann waren wieder schlechte Zeiten. In einem Bergwerk ... auf einem Schiff, als Arbeiter in fremden Erdteilen ... ich kenne sein ganzes Leben. Ich kenne es ganz ... besser als das meine. Denn das meine, das habe ich vergessen wollen ... aber das seine, das habe ich mir dafür eingebrannt, und da ist nichts, was das jemals wieder auslöschen kann. Ich weiß auch jetzt, wie er immer schlechter und schlechter geworden ist. Und dann war er so weit, daß er das Gesicht eines ehrlichen Burschen gehabt hat und ein Herz wie eine Fallgrube und Mörderhöhle. Und so ist er an einem Abend in der Brettsäge eingestanden, in der der Sägemüller noch einen Arbeiter gebraucht hat. Da ist er gerade recht gekommen, mit seinem ehrlichen Gesicht und seinen starken Armen. Und eine halbe Stunde später ist er schon aufgenommen gewesen und hat sich mit allen Kameraden bekannt gemacht. Die Sägemühle ist vor der Stadt draußen gewesen, und es war eine große und schöne Mühle, der Müller war reich und alles war gut eingerichtet, und wie der Thomas am nächsten Tag durch die Mühle gegangen ist, da war es, nicht als ob sich ein neuer Arbeiter den Ort anschaut, an dem er jetzt arbeiten soll, sondern als ob einer, der etwas kaufen will oder dem etwas gehören soll, zuvor herumgeht und mit den Augen mißt, ob es ihm auch paßt. Und etwas war in seinem Wesen, daß der Sägemüller, der ihm alles gezeigt hat, beinahe stolz war, als er zum Schluß von dem neuen Arbeiter gehört hat, daß alles schön und gut ist. So einer war der Thomas. Es war aber auch wirklich alles schön und gut. Da waren eine Menge neue Maschinen, die von einer großen Dampfmaschine getrieben worden sind, und eine große Zentrifugalsäge, die in einem Tag so viel Bretter geschnitten hat wie so eine armselige gewöhnliche Säge in einem ganzen Monat. Die hat so schön schwirren und sausen können, daß es war wie die schönste Musik, und wenn der Johann den Nachtdienst bei der Säge gehabt hat, dann hat er dabei immer an das Mädel vom Müller gedacht, an die blonde Agnes, und das war das Beste, was er sich gewünscht hat, wenn er sie schon nicht hat sehen und sprechen können. Und im Hof draußen ist ein halber Wald gelegen, lauter schöne, gerade Stämme, kerngesund und stark, und so viel neue auch alle Tage gekommen sind, so viele hat die Zentrifuge gepackt, mit Haken in die eisernen Zähne gezogen und zu Brettern zerschnitten. Es war ein weiches Gehen in Hof und Mühle auf dem vielen Sägemehl, das nicht weniger geworden ist, wenn man auch immer gekehrt und weggeführt hat ... Die blonde Agnes hat mich nicht ungern gesehen, und ich war auch ein tüchtiger Bursch, das kann ich sagen, Enzberger. Ich bin damals gerade vom Militär gekommen, und es war ein bißchen Soldat in mir, mit allem, was man dort lernt, Geradhalten und nicht über Arbeit Klagen, wenn's auch bis zum Hals geht. Und dabei war noch etwas: ich habe mir immer gedacht, es wäre gut, wenn der Müller einsehen wollt', daß ich ein tüchtiger Arbeiter bin und imstande, sein Geschäft in gutem Gang zu halten, und vielleicht der beste, dem er sein Mädel übergeben kann und die Sägemühle dazu. Denn ein richtiger Müller, der hat seine Mühle lieb und hängt sie nicht jedem ersten besten an den Hals.«

Da fand Johann den Beifall Enzbergers: »A Mühl'n is lebendig wie a Mensch«, sagte er und nickte seiner Frau zu.

»Aber ich hätt' das Mädel auch ohne Mühle genommen, so wie sie war, und wenn sie im Unterrock und Strümpfen mit mir gelaufen wär'. Denn ich hab' sie gern gehabt, wie man nur jemand gern haben kann ... und ich hab' sie bis zum heutigen Tag nicht vergessen, und das ist meine Hoffnung, daß auf ein so langes Warten ...« – Johann hatte den Kopf wieder in die Hände gesenkt, und als er ihn erhob, sah er wieder so aus wie vorhin, heiter, entschlossen und zuversichtlich. Und so fuhr er fort: »Sie war wohl ein bißchen wetterwendisch, aber nicht mehr als andere junge Mädchen und hat es gern gesehen, wenn man sie hübsch gefunden hat ... Aber mich hat sie gern gehabt, immer nur mich, das weiß ich ... so wie ich weiß, daß es heut noch so in mir ist wie damals.«

Das Licht brannte trüb, und Johann warf einen Blick nach den Fenstern.

»Der Morgen ist da,« sagte er, »ich muß meine Geschichte ganz kurz erzählen ... Er war also voll Hoffnung, der Johann: das Mädel ihm gut und der alte Müller, der selber ganz unten hat anfangen müssen, keiner von denen, die mit ihren Kindern über sich selbst hinaus wollen. Soweit war alles gut. Und jetzt ist der Thomas ins Haus gekommen, mit seinem Wesen und seiner Geschicklichkeit, sich bei allen einzuschmeicheln. Am dritten Tag ist die Agnes über den Hof gegangen, und wir zwei waren gerad dabei, die Stämme auf die große Rutschen zu bringen. Da richtet er sich auf und schaut das Mädel an, so wie er ein paar Tage vorher das Haus angeschaut hat, so wie der zukünftige Herr. ›Sapperment,‹ sagt er, ›das Mädel ist das Beste an der ganzen Mühle.‹ Aber da hab' ich ihm gleich gesagt, daß zwischen uns zweien alles richtig ist, beinahe ... und daß der Vater auch nicht nein sagen wird, wenn wir einmal einen guten Tag abwarten. Und daß er sich also nur keine Mühe geben soll. Da hat er sich sofort zurückgezogen und sich entschuldigt, daß er es nicht gewußt hat, und war so aufrichtig und lieb und hat so wahrhaftig ausgeschaut, daß ich ihm alles geglaubt und von der Stund' an zu ihm erst Vertrauen gefaßt hab'. ›Man gewöhnt sich's an,‹ hat er gesagt, ›von den Mädeln so leichtfertig zu reden, weil die meisten so sind, die man in der Welt trifft. Und um so größeren Respekt hat man drum vor allen, die nicht so sind.‹ – Er hat sich wirklich auch nicht mehr einfallen lassen, sie anzuschauen und ihr in den Weg zu gehen. Aber im geheimen hat er seine Schlingen gelegt und seine Wege gemacht und hat's verstanden, den Alten auf seine Seite zu bringen. Und ich hab' noch immer nichts davon gemerkt und hab' ihn gern gesehen, wenn er sich zu mir gesetzt und von seinem Leben erzählt hat. Weil er so aufrichtig und gar nicht hinterhältig war, so hab' ich ihm auch alles gesagt, was zwischen mir und der Agnes vorgeht, was wir so miteinander sprechen und was wir von unserer Zukunft denken. Wie ein Freund hat er mir zugehört, und wie ein Feind hat er dabei immer nur gesonnen, wie er das alles wenden und drehen könnte, damit es gegen mich ausschlägt. Denn er war fest entschlossen, das Mädel zu kriegen, nicht wegen des Mädels, sondern wegen der Mühle und als erste Stufe auf einer Leiter, die er hat hinaufsteigen wollen. Und wie er beim Alten fest eingebacken war, da hat er endlich die Zeit für gekommen gehalten, daß er seine Trümpfe ausspielt. Und eines schönen Tages nach der Mittagsrast kommt die Agnes zu mir, ganz rot und verweint und nimmt mich bei der Hand, führt mich fort und sagt mir, daß der Vater gerade jetzt von mir zu sprechen angefangen hat und daß mit mir nichts wär', und sie müßt' sich mich aus dem Kopf schlagen. Sie müßt' den Thomas nehmen, der hat ein paar Gulden Geld noch außerdem und wär' weiter in der Welt herumgekommen als ich und wüßt' viel mehr als ich und wär' überhaupt geschickter und tüchtiger. Aber sie hat dem Vater gleich gesagt, daß sie sich mir versprochen hätt' und daß daran nichts zu ändern wär', und es wär' keine Rede davon, daß sie mich lassen könnte. Jetzt sind mir endlich die Augen offen gestanden über den sauberen Kameraden, den Thomas, und wie schlau er seine Sache gemacht hat, und ich hab' mich sofort aufgemacht und bin zu ihm hingegangen. ›Du, Thomas,‹ hab' ich gesagt, ›das laß dir nur vergehn, das mit der Agnes. Da ist nichts damit. Da kannst du machen, was du willst, die hält zu mir. Und solang ich leb' und atme, bringst du sie nicht von mir weg, und wenn du noch zehnmal so weit herumgekommen und noch zwanzigmal gescheiter wärst.‹ Aber da lacht er mir höhnisch ins Gesicht, so daß ich endlich seine wahre Meinung erkannt hab': ›Na, lassen wir's drauf ankommen. Ob sie dir lang nachtrauern wird, wenn sie dich nicht alle Tag vor Augen hat. Und, daß du's weißt, am Ersten wird dir der Müller kündigen.‹ – Sie haben's auf alle Weise probiert, haben das Mädel eingesperrt, haben sie Gott weiß wie malträtiert, aber es hat nichts geholfen: sie hat nicht von mir gelassen. Freilich haben wir auch nicht recht gewußt, wie es werden soll und wie wir zusammenkommen können ... aber gehofft haben wir und ausgehalten beieinander, so sehr der Vater auch gedroht und der Thomas höhnische Mienen gemacht hat. – Ich war gekündigt, und in ein paar Tagen hätt' ich aus dem Dienst ausstehen sollen. Und da hab' ich meine letzte Nachtwache bei der Zentrifuge gehabt. Es war eine traurige Wache, so gern ich sonst bei der Säge gesessen bin und zugesehen habe, wie sie mit Schwirren und Sausen die langen Stämme in glatte, weiße Bretter zerbeißt. Diesmal hat mir die Musik der Säge nichts Freundliches erzählt. Und wie ich da so sitz' und sinn', da macht sich die Tür auf und herein kommt der Thomas, den ich von allen Menschen am allerwenigstens erwartet hätt'. Und so recht treuherzig kommt er auf mich zu wie früher, und will mir die Hand geben. ›Schau, Johann,‹ sagt er, ›müssen wir zwei uns denn wirklich zerstreiten und im Zorn auseinander gehen. Und wir waren früher doch so gute Kameraden. Und das sollen wir wegen einem Frauenzimmer. Nein, das wär' doch zu dumm, nicht wahr? Zwei Kerle wie wir. Und sollten uns nicht vertragen? Sollt' sich denn nichts finden lassen, daß wir wieder zusammenkommen?‹ – ›Nein,‹ sag ich, ›da ist nichts zu machen. Denn Tag muß von Nacht geschieden sein und Schwarz von Weiß.‹ Und ich hab' ihn gar nicht angeschaut, sondern immer nur in die Kreissäge hinein, die mir vor den Augen geflogen ist, und ich hab' die höchste Geschwindigkeit eingestellt, daß das Pfeifen ganz fein und dünn geworden ist. – ›Das Mädel freilich‹, sagte er, ›mußt du mir lassen. Das geht nicht anders. Denn am Mädel hängt die Mühle, und die muß ich haben. Da kommst du nicht dagegen an. Aber am Mädel selbst, da liegt mir gar nicht so viel ... Schau, ich bin gekommen ... ich will dir einen Vorschlag machen. Das Mädel hat einen harten Kopf ... Wenn du ihr zuredest, daß sie mich nimmt ... ‹ – ›Ich soll ihr selbst zureden, daß sie dich nimmt‹, lache ich. ›Wart' nur,‹ sagt er, ›ich habe dir doch schon gesagt, daß mir am Mädel nichts liegt. Aber heiraten muß ich sie und werd' ich sie, da kannst du dich darauf verlassen. Also hilf mir dabei, daß sie mir weiter keine Umstände macht. Dann mach' ich mir auch gar nichts daraus, sie mit dir zu teilen.‹ – ›Sag,‹ schrei ich, ›so einer bist du, so ein Lügenhund und Schuft. Schau, daß du hinkommst ... ich will mit dir weiter nichts zu tun haben.‹ – ›Du willst also nicht!‹, sagt er und beißt die Zähne zusammen und seine Augen bekommen einen merkwürdigen Glanz. – ›Nein.‹ – ›Na ja, dann bleibt mir ja nichts anderes übrig ... ‹, und tut, als ob er gehen wollte, aber auf einmal schreit er: ›Eha ... die Säge ...!‹ Ich erschrecke und drehe mich schnell um, denn ich glaube, es ist an der Zentrifuge etwas passiert. Da bekomme ich von rückwärts einen Stoß, der mich gerade der Säge in die Zähne wirft. Ich weiß nicht, wie es geschehen ist ... ein heißer Wind ist vor meinem Gesicht gewesen und der Geruch von erhitztem Stahl, aber irgendwie muß ich mich noch zurückgerissen haben, nur durch das eine Bein hat's mir einen Ruck gegeben ...«

»Um Gottes willen«, schrie die Müllerin auf. Enzberger saß da, riesenhaft im Morgengrauen und ganz fahl.

»Ja, das Bein ... das da ... war weg. Nach ein paar Stunden haben mich die Burschen gefunden, halbtot, in einer großen Blutlache. Das waren ein paar böse Wochen im Spital. Ein paar sehr böse Wochen. Die Kommission ist zu mir gekommen und hat erhoben, wie der Unfall geschehen ist. Ich hab' den Thomas nicht angezeigt. Ich weiß noch immer nicht, warum er mich damals nicht ganz tot gemacht hat. Ist er vor Grauen davongelaufen, ohne zu schauen, wie es ausgegangen ist? Hat er gedacht, daß es auch so genug ist und daß ich mich doch verbluten muß? Aber ich bin zäher, als er gedacht hat. Und ich hab' ihn nicht angezeigt. Denn hätt' ich dem Richter die Strafe überlassen sollen? Nein: ich hab' selbst der Richter über ihn sein wollen. Was hätt' ich davon gehabt, wenn sie ihn eingesperrt hätten? Freilich, die Agnes, die hab' ich an ihn verloren. Das war mir gewiß. Sie hat mich nicht im Spital besucht. Sie haben sie wohl eingesperrt und bewacht. Aber wenn sie auch gekommen wär'. Jetzt war ich nichts mehr für sie. Das einzige, was ich für das Leben mitbekommen hab', waren meine gesunden Glieder. Und jetzt ... was wär' das für ein Elend geworden? Welche Arbeit hätt' ich bekommen und nehmen können? Und ich hab' mich so furchtbar geschämt. Ja ... es ist eine Schande, wenn der Mensch nicht seine geraden Glieder hat. Ich hab' es nicht ertragen. Und wie ich aus dem Spital entlassen worden bin, hab' ich Weiberkleider angezogen. Und nicht mehr ausgezogen bis zum heutigen Tag ... man sieht doch weniger vom Stelzfuß ...«

»Und Agnes?« fragte die Müllerin leise.

»Ja, die Agnes! – Die hat noch lange genug auf mich gewartet und hat sich gegen den Bräutigam gewehrt. Aber wie ich gar nichts mehr von mir hab' hören lassen, ist sie müde geworden. Es ist gekommen, wie ich es mir gedacht hab' ... beinahe gewünscht, könnt' ich sagen. Nach einem Jahr ist sie bei der Geburt eines toten Kindes gestorben. Der Thomas Bezug aber hat die Brettsäge als eine Stufe zu seiner Herrlichkeit benützt, hat von da angefangen, mit immer neuen und immer großartigeren Unternehmungen, hat ganze Wälder zu Brettern verschnitten und sich dann auf andere Spekulationen geworfen, ist dann in eine andere Gegend gezogen, dorthin, dahin, immer höher ... und endlich ist er auch hierher gekommen, wo ich schon auf ihn gewartet hab' ... seit Jahren.«

»Beim Palingenius ...«

»Ja ... ich war in dieser Stadt als Soldat ... und einmal, am Sonntag, hab' ich mir vom Turm aus meine Garnison anschauen wollen, da hab' ich ihn kennengelernt, und wir haben Freundschaft geschlossen. Eine gute Freundschaft. Zu ihm bin ich gegangen, wie ich nicht gewußt hab', wohin ich mich wenden soll, und er hat die Johanna aufgenommen, wie früher den Johann. Ich hab' sein Mädel aufwachsen sehen und hab' sie erzogen ... und jetzt ist sie tot ... und auch der Palingenius ist tot ... nur der Bezug lebt noch ...«

Johann stieß seinen Stuhl zurück, nahm sein Paket an sich und stand auf. Mit derselben heiteren und entschlossenen Miene reichte er Enzberger und seiner Frau die Hand: »Ich gehe jetzt ... er lebt noch ... aber nicht mehr lange ... ich gehe jetzt und hole mir seinen Kopf.«

Dann ging er hinaus und ließ seine Wirte in einem Entsetzen zurück, das durch seine letzten Worte ganz kalt und erstarrend geworden war.

Als Johann eben das Tor öffnete, kam Eleagabal Kuperus gerade aus der Stadt und sah ihn im Vorbeigehen an, und es war ihm, als wüßte der Freund von seinem Vorhaben, und da er nicht angesprochen und aufgehalten sein wollte, nickte er ihm bloß zu und ging weiter. Nach ein paar Schritten setzte er sich in einen Hundetrab und lief längs des Straßengrabens immer weiter in die Dämmerung hinein, kam an der Mündung des Weges von Bezugs Villa vorbei und lief, ohne anzuhalten, immer weiter von der Stadt fort. Er hatte bloß erkundschaftet, daß Bezug heute morgen aus seiner Villa kommen würde, aber er wußte mit untrüglicher Gewißheit, daß diese Ausfahrt eine Flucht sei. Sein alter Haß war hellsichtig und hellhörig, und er las Bezugs Pläne, als hätte er sie von ihm selbst erfahren. Er war gewiß, daß Bezug sich nicht zur Stadt, sondern von ihr fort wenden würde. Er war gewiß, daß Bezug ohne Begleitung kam.

Nun war Johann weit genug von Bezugs Villa entfernt. Hier würde das Automobil schon die volle Geschwindigkeit eingesetzt haben. Der Alte blieb stehen und sah nach links und rechts, ging dann ein paar Schritte weiter und kam zurück und prüfte die Bäume, die am Wege standen. In ihren Kronen hing noch die Dämmerung, aber der Himmel war schon ganz hell, gelb und rot mit fliehenden blauen Schatten unter der immer höher gewölbten Kuppel. Endlich, bei einem verfallenen Gehöft, fand Johann zwei Bäume, die seinem Zweck dienlich schienen. Sie standen einander gerade gegenüber, zwei alte, knorrige Birnbäume, die mit den vielverzweigten Wurzeln fest im Boden verankert waren.

Aus dem Paket, das Johann zur Erde geworfen hatte, nahm er eine Rolle eines dünnen, aber außerordentlich festen bläulichen Drahtes, dessen Windungen glatt und geschmeidig aneinander lagen. Nachdem der Alte an beiden Bäumen eine bestimmte Entfernung vom Boden mit Handspannen ausgemessen hatte, befestigte er den Draht an einem der lebenden Pfosten. Er umwand den Stamm unzähligemal mit den bläulichen Schlingen, sicherte die ausgemessene Höhe durch Nägel und Klammern, ging dann zu dem jenseitigen Baum und traf hier durch ein System von Stiften und Haken eine Vorkehrung, daß der Draht mit einem Ruck in seine vorher bestimmte Lage gebracht werden konnte.

Dann zog er den Draht an und trat auf die Straße, um sein Werk zu betrachten. Da zog sich ein ganz dünner, feiner Strich wie zwei Hände breit über seinem Kopf quer über die Straße. Johann ging ein paar Schritte zurück und ... da war der dünne Strich ganz verschwunden, in der Morgenluft unsichtbar. Mit vergnügtem Summen kehrte er zu seinem Platz zurück und nahm den Draht noch einmal ab und ließ ihn in den Straßenstaub sinken. Es konnte sein, daß vor Bezug noch irgendein anderer daherkam, ein Wanderer, ein Bauer mit seinem Wagen ... Das Ende des Drahtes aber behielt er in der Hand, wie ein Fischer die Leine festhält, und er sah so behaglich in den Morgen hinein, wie ein Fischer, der seines Fanges sicher ist. Eine Melodie, die nur aus ein paar Tönen bestand, wiederholte er immer wieder. Sein Behagen war wie eine angenehme Wärme, die ihn ganz erfüllte, und er war vollkommen wunschlos und gar nicht ungeduldig, in der unerschütterlichen Zuversicht, daß ihm Bezug heute nicht entkommen werde. Es war ihm fast, als sei es ihm noch lieber, wenn der Feind länger auf sich warten ließ. Er verlängerte Johann so die Jägerfreuden des Lauerns. Denn diese Stunde war der Höhepunkt seines Lebens, sein geheimer Sinn und Gipfel, seine Rechtfertigung, und Johann genoß in ihr die Summe aller seiner Kräfte, seiner jahrzehntealten Rachegedanken, seiner brennenden, wilden Wünsche in voller Ruhe und heiterer Gelassenheit wie eine köstliche Blume oder einen wunderbaren, belebenden, glückspendenden Trank.

Hinter Johann lag ein großer, verwilderter Garten, dessen Zaun zusammengebrochen war, so daß die Hühner gackernd aus- und einspazierten. Ein Hahn krähte irgendwo, Dann bellte, weit, weit entfernt ein Hund. Johann nahm alle diese Geräusche in sich auf und fühlte sich in vollkommenem Einklang mit allem ringsumher. Er war wieder jung geworden, ganz so wie damals, als er morgens seine Kraft nicht zu lassen wußte und an den schwersten Stämmen im Hof der Brettsäge mit allerlei Späßen erprobte.

Er fühlte ein Ziehen an seinen Rockfalten. Langsam wandte er den Kopf und sah ein keckes Huhn, das sich an ihn herangemacht hatte und mit dem Schnabel an seinen Schürzenbändern herumzauste. Lächelnd ließ er es gewähren und nahm sich in acht, es nicht durch eine Bewegung zu verscheuchen.

Plötzlich kam in die Stille ein fernes dumpfes atemloses Knattern.

Da sprang Johann mit einem Ruck auf, als habe er zwei gesunde Beine. Mit einem Zetergeschrei flüchtete die gelbgefleckte Henne durch eine Zaunlücke. Johann sah die Straße hinab. Da kam ein dunkles Ding auf ihn zu, mit lauter werdendem Knattern und Schnaufen. Er zog den Draht durch alle Sicherungen, spannte ihn mit einem Stück Holz, das er vom Zaun gebrochen hatte, in scharfen Drehungen straff an und stand dann, mit dem Baumstamm wie verwachsen, regungslos da. Seine Hände krallten sich in die Rinde, seine Finger fühlten über die Risse und Runsen ...

Ein einzelner Mann saß im Automobil. Wer es war, das konnte Johann nicht sehen ... die Automobilbrille verdeckte das halbe Gesicht. Aber er wußte es auch, ohne das Gesicht zu sehen, es war Thomas Bezug ...

Mit größter Geschwindigkeit kam die Maschine näher ... so eilig hatte es Bezug zu entkommen! ... das Knattern und Knistern wuchs zu einem Getöse, das in Johanns Ohren vervielfältigt zu einem Donner wurde. Es war ein Sturmwind von Lauten, und alles begann unter diesem Ansturm von Tönen zu schwanken ...

Der Baum, an den sich Johann hielt, bebte in seinen Wurzeln ...

Jetzt war das Automobil heran ...

Jetzt schoß es zwischen den beiden Bäumen durch ...

Es gab ein helles Klingen, den lauten Ton einer straffgespannten Saite, an der plötzlich gerissen wird ...

Ein dunkler, runder Gegenstand ... fiel plump in den Straßenstaub und rollte gegen den Graben hin, den Johann jetzt mit einem Satz übersprang.

Es war ein Kopf, ein Kopf mit Automobilkappe und Brille ... und glatt und sauber von seinem Rumpf geschnitten, der in der rasenden Maschine saß und schon weit draußen auf der endlos geraden Straße in einer Staubwolke verschwunden war.

Johann schlug dem Kopf die Kappe herab und riß ihm die Brille fort – es war der Kopf des Thomas Bezug. Er packte ihn bei den Haaren im Nacken und hob ihn auf ... das waren die Augen des Feindes, die ihn unbeweglich anstarrten, diese Augen, vor denen sich die Menschen gefürchtet hatten.

»Thomas Bezug!« schrie Johann, dicht vor dem Kopf, »Thomas Bezug!«

Die Augenlider zuckten deutlich ... wie bei einem Menschen, der einen Schlag erwartet.

»Erkennst du mich, Thomas Bezug?«

Da kam ein Blick in diese starren Augen, ein Erkennen ... ein entsetzliches letztes Aufflammen der Sinne und des Verstandes ...

»Ja – ich bin es, Thomas Bezug! Ich bin es ... dein Kamerad Johann. Unter denen, die du auf deinem Weg vernichtet hast ... war ich einer der ersten. Aber ich habe alle anderen gerächt, alle ... auch Regina. Jetzt ist es aus mit dir! Ich habe dem Drachen den Kopf abgeschnitten ... du Hund, du Schuft, du Bestie ...!«

Und er beschimpfte den Kopf maßlos, schrie drohend auf ihn ein, spie ihn an und schlug mit den Fäusten auf ihn los, wurde nicht müde, dasselbe Wort und dieselbe Gebärde zu wiederholen, als wolle er noch die letzten Reste eines Bewußtseins in diesem Kopf mit sich erfüllen, mit seinem fürchterlichen und großen Triumph, als wolle er in diese armseligen Sekunden alles ergießen, was er seinem Feinde während eines ganzen Lebens an Schmähungen zugedacht hatte.

Das Blut aus dem Hals lief über seinen Ärmel und seine Kleider, wurde zu einer weichen, schlüpfrigen Gallerte, die er mit wollüstigem Schauer überall an seinem ganzen Körper zu fühlen glaubte.

Johann kletterte wieder über den Straßengraben, wobei er den Kopf unter dem Arm hielt, und brach sich einen Stock vom Zaun, einen langen, dünnen Stock. Dann setzte er sich auf die Straßenböschung, legte den Kopf Bezugs in seine Schürze und holte sein Taschenmesser hervor, mit dem er das obere Ende des Zaunstockes recht spitzig zuschnitt; er pfiff dabei vor sich hin, wie bei einer lustigen Arbeit. Und als er damit fertig war, rammte er den Stock in den Rasen und spießte den Kopf Bezugs auf die Spitze, indem er ihn mit sorgfältig drehender Bewegung ins Gleichgewicht brachte.

Mit beiden Händen riß er sein Feldzeichen aus dem Boden, kletterte auf den Straßendamm und trat den Rückweg an. Den Spieß mit dem Kopf seines Feindes trug er hoch empor. Das Blut lief längs des Stockes herab und über seine Hände, verklebte seine Finger und verband sie mit dem Holz ...

Er sang und lachte und tänzelte trotz seines hölzernen Beines ...

So zog er der Stadt zu und einer großen Staubwolke entgegen, die von dort auf ihn zu kam und in der Lärm und drohendes Summen war.

Das war die Menge, die sich aufgemacht hatte, um über Bezug herzufallen und ihre Angst an ihm zu rächen. –

Nachdem sich Regina von ihrer Schwäche erholt und den Gebrauch ihrer Glieder wiedergewonnen hatte, machte sie sich mit Adalbert auf, um Eleagabal Kuperus zu besuchen. Nur mit aller Vorsicht hatte ihr Adalbert zu erzählen gewagt, was sich mit ihr zugetragen hatte, und nur ganz allmählich fand sie sich in den letzten Erinnerungen vor ihrem Tod zurecht. Wie sie ausgegangen war, um den Geliebten zu suchen, und wie sie von Elisabeth erwartet worden war. Und wie sie diese unter irgendeinem Vorwand zum Fluß geführt und dann nach einem Wortwechsel niedergestochen hatte. Von dem Zustand, in den sie dann geraten war, wußte sie nichts weiter anzugeben, als daß es ein warmes und keineswegs unangenehmes Empfinden gewesen war: als schwimme sie in einer dunkeln Flüssigkeit, die ab und zu aufblitzte, als streiften Mondstrahlen über eine Wasserfläche. Es war ein Schwimmen im Kreise, von denen der eine immer tiefer lag als der andere ... wie an der Innenseite eines ungeheueren Trichters, so daß sich zugleich das Gefühl des Gleitens damit verband. Das mochte tagelang gedauert haben oder nur sekundenlang, sie wußte es nicht und hatte während dieses Empfindens auch gar keinen Wunsch oder Drang gehabt, sich darüber Rechenschaft zu geben. Sie nickte Adalbert zu, als er bemerkte, daß sie jenseits der Zeit gewesen war. Dann war dieses Drehen, Schwimmen und Gleiten zum Stillstand gekommen, sie hatte das Gefühl, daß sie sich steil aus der dunkeln Flut erhob, sich aus dem ungeheueren Trichter löste und aufwärts zu schweben begann. Durch eine Zone, in der nichts gewesen war, als eine zunehmende Helligkeit, war sie ins Leben zurückgekehrt.

Ihre Rettung empfand sie nicht als Wunder, wie die andern, die sie da gerührt und ehrfurchtsvoll umstanden, sondern nahm sie, da sie nirgends die Empfindung eines Zwanges gehabt hatte, als durchaus natürliches Ereignis.

Die tiefen Zusammenhänge zwischen Leben und Tod waren nicht ihrem Erkennen, aber ihrem Gefühl erschlossen. Es fehlte ihr an Worten, die das auszudrücken vermocht hätten, was sie erfahren hatte, aber sie vermochte es über die geheimnisvollen Brücken der Zuneigung hin, sich wenigstens Adalbert verständlich zu machen und ihm das ängstliche Empfinden zu nehmen, als sei hier etwas geschehen, was gegen die unverbrüchlichen Gesetze des Alls gewesen sei.

Nun wollten sie Eleagabal Kuperus aufsuchen, um ihm zu danken und um ihm zugleich eine neue Bitte vorzutragen. Er sollte den armen Johann retten helfen, der als Mörder Bezugs gefangensaß und über dessen Geisteszustand die Irrenärzte Untersuchungen anstellten.

Adalbert und Enzberger hatten sich Zutritt zu dem Alten verschafft. Sie hatten ihn ganz ruhig und heiter gefunden, in männlicher Kleidung, die er sich nun ohne Widerspruch hatte anlegen lassen. Als sie ihm von Reginas wunderbarer Wiederbelebung erzählt hatte, war er in ein freudiges Weinen ausgebrochen. »Ja ... jetzt ist seine Macht gebrochen!« hatte er gesagt, »jetzt wird alles Gute in der Welt wieder frei.« Und er hatte hinzugefügt, daß er erwarte, man werde einsehen, daß er nicht das Gefängnis, sondern Dank und Anerkennung für seine Tat verdiene.

Am Tage, der für den Besuch bei Eleagabal bestimmt war, hatte Marconianu im Namen der Rumänen um Abschied gebeten. Es war Adalbert schwer geworden, Worte des Dankes zu finden, als er die treuen und traurigen Augen seiner Wächter auf sich gerichtet sah. Ergriffen gab er jedem von ihnen die Hand und versprach ihnen, die Gräber ihrer Freunde, die hier im fremden Land gefallen waren, zu pflegen. Von einem anderen Dank, den er ihnen im Namen Eleagabals versprach, wollten sie nichts hören, und als Adalbert Regina geholt hatte und mit ihr auf den Hof hinaustrat, damit auch sie den braven Leuten die Hand reiche, waren sie schon fort und nirgends mehr zu sehen.

Enzberger und seine Frau wollten Adalbert und Regina begleiten. Die Mühle blieb unter der Obhut einiger wieder in den Dienst zurückgekehrter Knechte.

In der Stadt war man eifrig bemüht, die Spuren des Kampfes zu verwischen. Der Schutt war aus den Straßen schon weggeräumt, die Häuser, die nur von Kugeln gestreift oder sonst beim Nahkampf beschädigt worden waren, fielen schon durch frischen Verputz und Anstrich auf. In den Brandruinen wimmelten Hunderte von Arbeitern, beschäftigt, die verkohlten Balken und eingestürzten Wände abzutragen und zugleich aus den noch brauchbaren Grundmauern heraus neue wachsen zu lassen. Alle Geschäfte hatten bereits wieder geöffnet und waren bemüht, die Lücken ihrer Lager möglichst rasch zu schließen. Eine ungemeine Arbeitsfreudigkeit hatte sich der ganzen Stadt bemächtigt, als sei sie in verdreifachter Zirkulation ihres Blutes darauf aus, sich rasch wieder auf den früheren Stand zu erheben und alle verlorenen Säfte zu ersetzen.

Alles war viel frischer und lebendiger.

Und Adalbert erinnerte sich der bedeutsamen Bemerkungen Eleagabals von der Notwendigkeit solcher läuternder und heilsamer Krisen ... »bei einer solchen Krankheit ist es die Sache des verständigen Arztes, ruhig abzuwarten, ob der Patient kräftig genug ist, die Krisis zu überstehen. Hat er sie einmal überstanden, so wird er besser und stärker dastehen, als je zuvor.«

Und schon hatte auch das Bedürfnis der kaum Geretteten nach Zerstreuung und Vergnügen wieder eingesetzt. Adalbert sah die Anschlagsäulen mit ganz frischen Plakaten von allerlei Varietévorstellungen, Gartenkonzerten und Zirkusprogrammen beklebt. Ein ungeheuerer bunter Lappen fiel ihm auf: Mister Longfellows Riesenzirkus. Eine Unzahl von Menschen, Tieren und Mißgeburten waren da aufgeführt. Negerbanden und die Brüder Setters, die zehn bengalischen Königstiger des Jim Davids und am Schluß die dramatische Szene: »Die Erstürmung des Bahnhofs«, eine aktuelle Nummer, der ein fieberhaftes Interesse gewiß war.

Lächelnd wies Adalbert auf das Plakat und fühlte einen Nachklang überwundenen Schreckens an dem Druck, mit dem Regina seinen Arm an sich preßte. Dann führte er sie durch alle Straßen, durch die er damals als Kämpfer gekommen war, an dem Postgebäude vorbei und endlich den Domberg hinan.

Als er auf den Platz hinaustrat, konnte er sich eines Grauens nicht erwehren. Er sah das Gemetzel jenes regnerischen Morgens wieder vor sich, die rötlichen Lachen, in denen Schmutz und Blut gemengt waren, die Leichenhaufen, zwischen denen er seinen Weg gesucht hatte, und der ganze Platz schien ihm für immer verseucht und verflucht, so daß er sich beeilte, Regina rasch zur Tür von Eleagabals Haus zu bringen. Mit einem Blick suchten sie beide zugleich die alten Fresken auf der Giebelmauer. Aber es war nichts zu sehen, nur die so seltsam lebendige Hand starrte aus dem Stein, mit leicht gekrümmten Fingern, die nun keinen Schlüssel mehr hielten. Von allen den Spruchbändern und Figuren, dem Tier- und Rankenwerk war nichts sichtbar als über dem Eingang die halberloschenen Worte: Glaube dem Wunder.

Adalbert war sehr erstaunt, die Tür offen zu finden. Es war, als habe jemand das Haus verlassen und nicht für nötig befunden, es zu verschließen. Und als sie den Gang betraten, wehte es ihnen kalt und feindlich entgegen, als kämen sie in ein Grabgewölbe.

»Adalbert!« flüsterte Regina ängstlich und zwängte ihre Finger in seine Hand. Er streichelte diese Finger und führte die Geliebte weiter, durch die Dämmerung. Enzberger und seine Frau folgten ihnen, und Adalbert war es, als habe er ihr hastiges Atmen dicht in seinem Nacken.

Der Springbrunnen in dem roten Raum war versiegt und die Bücherwände in dem folgenden Gang starrten so leblos und ungefüge, wie nur Bücher sind, die keinen Herrn mehr haben und denen die Durchdringung durch den starken Geist ihres Besitzers fehlt.

Die ängstliche Ahnung wurde immer deutlicher und hob ein Medusenhaupt aus dem Chaos des Ungeformten. Zwei große, leere Augen sahen auf Adalbert und Regina, und sie schritten zitternd in diesen schrecklichen blicklosen Blick hinein.

Auch der große Kuppelsaal lag leer vor ihnen. Weder von Eleagabal noch von seinem Diener eine Spur. Während Enzberger und seine Frau an der Tür stehenblieben und keinen Schritt in den Raum hinein zu machen wagten, suchte Adalbert überall nach einem Zeichen der Abwesenheit des Alten. Er hätte rufen können ... aber es wollte sich ihm in dieser dröhnenden Stille unter dem Milchglas der Kuppel, zwischen den freistehenden Säulen, die Eleagabal das Licht geliefert hatten, kein Laut bilden. Als er an dem großen Marmortisch vorüberkam, wischte er mit dem Finger leicht über die Platte. Es war eine ganz dünne, feine Staubspur auf der Spitze geblieben.

Plötzlich rief Regina seinen Namen. Sie stand an der Wand mit dem Geriesel feiner Marmoradern und wies auf einen Spalt im Stein, gerade breit genug, um die Hand hineinstecken zu können. Dahinter lag Eleagabals Laboratorium, sein Museum ... sein Allerheiligstes.

Da griff Adalbert in den Spalt und fühlte, wie die Wand hinwegglitt, als ob sie oben und unten über Rollen liefe. Ein Eingang lag vor ihnen offen ...

Sie traten ein, zaghaft und langsam ...

Und als ihre Blicke über die Dämmerung des Raumes Macht gewannen – sahen sie den Alten zwischen den Postamenten, die seine Präparate trugen, auf der Erde liegen. Er lag ganz still da, als sei er ohne Kampf hingesunken, ergeben in ein Schicksal, das er schon längst erwartet hatte. Augen und Mund waren geschlossen, aber um beide spielte ein unergründliches Lächeln, wie der Widerschein versunkenen Goldes aus großen Tiefen. Man sah, daß ihn der Tod nicht in Schrecken zu setzen vermocht hatte.

Von dem wolfsköpfigen Diener war nichts zu sehen. Nur ein großer Hund, den niemand je bei Eleagabal gefunden hatte, lag zu den Füßen des Toten, die spitze Schnauze über dessen Beine gestreckt, als ob er ihn behüten wolle. Und war tot wie sein Herr.

Ein tiefer Atemzug hinter Adalbert endete das große Schweigen, das sie alle minutenlang umhüllt hatte. Dann begann jemand leise zu weinen.

Und nun erinnerte sich Adalbert der Worte, die Eleagabal in jener schrecklichen Nacht zu ihm gesprochen hatte. Vom Gleichgewicht des Lebens und des Todes im All. War er vielleicht als Opfer gefallen, weil er Regina dem Tod entrissen hatte? Und je länger er darüber nachdachte, desto gewisser wurden ihm diese wunderbaren Zusammenhänge. In seiner Liebe feierte der Tote eine verklärte Auferstehung.

Und indem er Regina bei der Hand nahm und mit ihr neben der Leiche niederkniete, sagte er leise: »Er ist für uns gestorben ... und wir wollen sein Andenken dankbar bewahren ... wir wollen wundergläubig bleiben und uns lieben ... denn ist die Liebe nicht das Wunder, und kommen nicht alle Wunder aus ihr ...?« –

Mister Longfellow, der Kutschenreuters Nachfolger in dem großen Zirkusgebäude geworden war und der, nachdem ihn die Wochen des Weltuntergangswahnsinns fast zum Bettler gemacht hatten, nun wieder mit gutem Wind schimmernden Erfolgen zutrieb, konnte eine ganz besondere, unerhört sensationelle, noch nie dagewesene Programmnummer anzeigen.

Das Publikum war nach dieser aufreibenden Epidemie der Angst, nach all den blutigen Greueln mehr als je darauf aus, sich von sich selbst zu befreien, sich von sich abzuwenden, und hätte auch ohne besondere Anstrengungen der Direktion das Amphitheater allabendlich bis auf den letzten Platz gefüllt. Und nun ergaben sich Mister Longfellow aus den Ereignissen der letzten Zeit eine Menge dramatischer Szenen, in denen sehr viel geschossen und gemordet wurde; an denen sich das Publikum, das die Vorbilder dieser Szenen auf den Straßen sich hatte abspielen sehen, mit dem Behagen ergötzte, das es aus dem Bewußtsein seiner Sicherheit gewann. So kam es alltäglich zu einem Sturm auf die Kassen, einem Kampf um die Eintrittskarten, der die Vergnügungssüchtigen und Schaulustigen fast ebenso hart aneinander geraten ließ, wie vor kurzem die Wahnsinnigen und Verbrecher.

Heute aber war das Ringen um den Eintritt besonders hart, denn Mister Longfellow hatte angekündigt, daß eine Dame der Gesellschaft ganz allein, ohne Bändiger, den Käfig der zehn gefährlichen und ungebärdigen bengalischen Königstiger betreten werde. Und das Gerücht, das sich an diese Ankündigung anschloß, war so fabelhaft und unglaubwürdig, daß jeder geneigt war, es zu glauben, so unwahrscheinlich, daß jeder wünschte, es möchte wahr sein. Die Plakate hatten keinen Namen genannt, aber die ganze Stadt sprach davon, daß man heute abend Elisabeth Bezug, die Tochter jenes Bezug, der ein so seltsames Ende gefunden hatte, im Tigerkäfig sehen werde.

Außer dem Direktor und der Polizei erfuhr nur ein einziger Mensch Bestimmtes über jenes Gerücht: Rudolf Hainx, der in Bezugs Stadtwohnung zurückgekehrt war, um dort im Namen der Erbin Ordnung in die verwickelten Angelegenheiten des Toten zu bringen. Er erfuhr es durch einen Brief, den er von Elisabeth, die in der Villa geblieben war, am Morgen des Tages erhielt, an dem das Auftreten im Käfig stattfinden sollte. Dieser Brief lautete:

» My dear! Du bist ein tapferer Mann, nicht wahr? Ich weiß wenigstens, daß Du Dich stets für einen tapferen Mann gehalten hast und daß es Dir sehr willkommen war, für einen solchen gehalten zu werden. Es gehört zu Deinem Profil, Deinem Relief, Deinem Cachet sozusagen, diese Linie der Entschlossenheit und männlichen Kraft. Und darum, mein Lieber, will ich heute eine Einladung an Dich ergehen lassen, zu deren Annahme Du allerdings ein wenig Mut nötig hast. Du wirst vielleicht schon gehört haben, daß die Dame aus der höchsten Gesellschaft, die heute abend ein wenig die Sensationen eines Tigerkäfigs erproben will, Deine alte Freundin Elisabeth ist. Und da Du mich kennst, wirst Du dieses Gerücht nicht als vollkommen unwahrscheinlich von der Hand gewiesen haben. Nun – mein Lieber – es hat ganz recht, dieses Gerücht. Die ›Dame aus der höchsten Gesellschaft‹ ist wirklich Deine ergebene Freundin Elisabeth. Und meine Einladung geht dahin, daß Du heute abend mit von der Partie sein möchtest. Ich erlaube Dir, an meiner Seite den Tigerkäfig zu betreten und dem unfreundlichen Chef der ganzen Gesellschaft, dem angeblich sehr griesgrämigen Sultan, ein wenig die Barthaare zu kitzeln. Ich will Dir nichts versprechen, denn das wäre nicht der richtige Mannesmut, der sich erst nach Belohnungen umsieht. Aber es könnte sein, daß ich Dich ... wenn Du Dich bewährst, wieder näher zu mir treten lasse und gewisse freundschaftliche Beziehungen wieder aufnehme ... Die Gründe für mein Auftreten in dieser bisher noch nicht versuchten neuen Eigenschaft? Ich hoffe, Du bist klug genug, Deine alte Freundin nicht nach Gründen zu fragen. – Ich finde, das Leben ... ich war eben im Begriff, einen albernen Aphorismus von mir zu geben. Es könnte sein, daß mich nichts anderes zu diesem Entschluß gebracht hat, als eine gewisse Verwunderung über manche Dinge. Hältst Du es für möglich, daß Tote wieder auferstehn? Das ist ein Märchen ... es ist Wahnsinn, nicht wahr? Und wenn man aber so etwas wirklich erlebt ... ist da nicht einige Verwunderung ganz am Platze. Ich bin sehr neugierig geworden auf einiges, was ich noch nicht erlebt habe. Recht neugierig. Du ahnst nicht, was die Neugierde aus uns Frauen zu machen imstande ist. – Für den Fall, daß Du es vorziehen solltest, Dich nicht an meiner Seite dem Volk zu zeigen, und daß ich gezwungen bin, die nähere Bekanntschaft der gestreiften Herren im Käfig zu machen, überlasse ich Dir natürlich sämtliche Arrangements. Du wirst den Vorteil meiner guten Mama wahrnehmen, die seine bischöfliche Gnaden vorsichtigerweise irgendwohin gebracht hat, wo sie weniger unangenehm für ihn auffällt. Du darfst auch getrost darauf dringen, daß man einige wohltätige und Gedächtnisstiftungen mache. Es handelt sich ja um das Gedächtnis eines so bedeutenden Mannes, wie des Barons Bezug. Wie bedeutend mein Vater war, habe ich erst jetzt wieder gesehen, als es galt, gewisse Bedenken der Polizei zu zerstreuen. Noch immer ist der Name Bezug ein Talisman, wenn man auch versucht hat, den Glauben an seine Kraft zu erschüttern. – Wie gesagt, alle diese Winke und Wünsche gelten nur für den Fall, als ich nicht das Vergnügen haben sollte, Dich heute abend meiner Einladung folgen zu sehen. Aber ich bin überzeugt, daß Du kommen wirst ... Deine Elisabeth.«

Der Diener, der Hainx diesen Brief überbracht hatte, stand wartend, bis das Schreiben gelesen war.

»Was wollen Sie noch?« fragte Hainx.

»Ich soll dem gnädigen Fräulein die Antwort gleich überbringen.«

»Sagen Sie dem gnädigen Fräulein, daß ich die Antwort im Laufe des Tages schicken werde.«

Rudolf Hainx sandte aber im Lauf des Tages keinen Boten nach der Villa hinaus. Er war nur bemüht, eine Eintrittskarte für die heutige Vorstellung im Zirkus zu bekommen, und da er ein hübsches Stück Geld daran wandte, brachte ihm endlich der Diener einen guten Platz in einer der ersten Reihen. Als der Abend kam, begab er sich im Smoking, einen hellgelben kurzen Überzieher über dem Arm, zu dem großen Amphitheater, aus dem, so dicht und solid es gefügt war, die Unruhe einer ungeheuren Menge durch jede Ritze des Steines zu quellen schien.

Die ersten Programmnummern waren schon vorüber, als Hainx seinen Platz einnahm. Er setzte sich nieder, sah sich in dem Raum um, ließ die mit roten Glacés überzogenen Hände eine Weile nachlässig über die Brüstung hängen und nahm dann sein Opernglas hervor, mit dem er die Ränge absuchte. Da waren viele Bekannte, und er nickte allen so ruhig und freundlich zu, daß unter allen, die ihn sahen, noch im letzten Augenblick darüber ein Zweifel entstand, ob wirklich Elisabeth jene Dame sei, die den Käfig betreten wolle.

Die zwei Stücke, die noch vor dem Hauptpunkt des heutigen Abends kamen, ließ Hainx unbeachtet und setzte seine Forschungen unter dem Publikum fort.

Jetzt trat eine Pause ein, die durch die Vorbereitungen für die nächste Nummer ausgefüllt wurde. Man schob einen großen leeren Käfig mit starken Gitterstangen mitten in die Manege. Dann folgte ein Wagen, der von drei Paar Pferden gezogen wurde. In diesem auf eisernen Radachsen ruhenden und mit schwerem Segeltuch verhängten Gefährt war Leben, ein gefahrdrohendes, in sich zusammengekauertes und zum Sprung bereites Leben. Der Wagen wurde mit der Rückseite an den großen Käfig geschoben, dann trat ein Wärter heran und öffnete mit einer Eisenstange zuerst eine Gittertür in dem großen Käfig, dann einen Schieber in der Wagenwand.

Es dauerte eine Weile, bevor der erste Tiger den großen Käfig betrat. Er ging längs des Gitters, einmal, zweimal und begegnete bei seinem dritten Umgang gerade bei der geöffneten Wagentür dem Anführer der Tiger, dem berüchtigten Sultan. Knurrend fuhr er zurück und machte dem Alten Platz, der langsam in die Mitte des Käfigs kam und blinzelnd nach den Menschen in dem Amphitheater sah. Nach zehn Minuten waren alle Tiere in den offenen Käfig gekommen. Es waren zehn mächtige Kerle, prachtvolle, ausgewachsene Exemplare ... Einige von ihnen, die in freundlichem Verhältnis standen, lagerten sich in Gruppen nahe beieinander, andere gingen unruhig auf und ab, nur Sultan stand noch immer unbeweglich inmitten der übrigen und blinzelte nach den Menschen.

Rudolf Hainx genoß das Rauschen und Flüstern der Aufregung ringsum. Und jetzt hob sich dieses Rauschen und Flüstern wie eine Woge mit weißschäumendem Kamm.

Elisabeth hatte an der Hand des Mister Jim Davids die Manege betreten. Sie war in einem Ballkleid aus weißer Seide und Spitzen ... ihre Schultern waren im elektrischen Licht wie aus weißem Stein. Neben ihr nahm sich Mister Davids in seinem roten Stallmeisterfrack, mit dem roten, aufgedunsenen Gesicht und den großen Händen in den weißen Handschuhen recht sonderbar aus. Man wurde den Gedanken nicht los, als sei die Frau mit diesem Menschen da unten eine Verbindung eingegangen, die ihr unmöglich zum Heile ausschlagen könne; und besonders die Frauen unter dem Publikum empfanden jenen eigentümlichen Kitzel, der ihnen das bedauernde Interesse so angenehm machte, das sie beim Anblick eines sehr ungleichen Brautpaares am Altar stets empfanden; jenen Kitzel, der vielleicht seit jeher den größten Teil des Vergnügens an Opferungen ausmachte. Mister Davids hatte einen breiten Ledergurt umgeschnallt, in dem zwei Revolver staken, und er wollte jetzt eine der Waffen Elisabeth aufdrängen.

Aber Elisabeth wies sein Anerbieten zurück, und lächelnd verneigte sie sich mit einem tiefen Hofknix mitten in der Manege vor dem Publikum, das unruhig dasaß und vor Erregungen unfähig war, seinen Anteil durch ein Zeichen des Beifalls auszudrücken. Es war über die Zone hinaus, in der Händeklatschen und Zurufe zu zeigen vermögen, was es für Gefühle hat.

Hinter Hainx bemerkte jemand, daß er glaube, der Tierbändiger müsse betrunken sein. Und wirklich, Mister Jim Davids schwankte in sehr verdächtiger Weise um Elisabeth herum, während er immer von neuem bemüht war, ihr seinen Revolver aufzudrängen. Sie sah über den aufgeregten Menschen hinweg, ganz vornehme Dame, die sich durch ein Lächeln mit dem Publikum über die Ungeschicklichkeiten eines Nachbarn verständigt und zugleich bittet, man möchte ihm einiges zugute halten.

Die Tiger waren durch den bekannten Anblick des roten Frackes aufmerksam geworden und drängten sich alle an der dem Bändiger zugewandten Seite des Käfigs. Auch Sultan war unter ihnen, rieb den dicken wolligen Kopf an den Eisenstäben und gähnte bisweilen, daß das ganze schreckliche Gebiß sichtbar wurde.

Elisabeth stand an der Holztreppe, die zum Käfig hingeschoben worden war ... noch einen tiefen Knix und ein Lächeln, an dem jeder der Tausende, die da bebend in dem Rund des Amphitheaters saßen, einen Anteil zu haben glaubte. Die kostbare Brillantenkette um den schönen Hals schien einen Moment ein Geschmeide aus flüssigem Feuer. Als sich Elisabeth von ihrem Knix wieder aufrichtete, fiel ihr Blick auf ein paar roter Glacés, die ein Opernglas hielten und nachlässig über die Brüstung eines Sitzes in einem der ersten Ränge hingen. Sie zuckte zusammen, dann nickte sie Rudolf Hainx zu. Und er erwiderte den Gruß, wie man einer guten Bekannten zuwinkt, die man recht gerne sieht, mit der man sich aber durch kein wärmeres Interesse verbunden fühlt. Sie erkannten einander und begrüßten sich mit einem Augurenlächeln. Hainx wußte, was Elisabeth dachte, und sie empfand eine fast freudige Überraschung, daß er doch wenigstens gekommen war, um zuzusehen, daß jemand im Zirkus war, einer unter diesen Tausenden, der die freie Größe ihrer Ironie und den grandiosen Zug ihrer Komödie zu würdigen wußte. Dann raffte sie die Schleppe ihres Ballkleides zusammen ... es war ein verworrenes Spiel von Spitzen um die schlanken Beine in den weißen Atlasstrümpfen.

Sie lief die wenigen hölzernen Stufen hinauf.

Der Wärter riß den Schieber zurück, und sie trat ohne zu zögern in den Vorraum, der vom Käfig noch durch ein Gitter geschieden war. Und als der Mann, dem Mister Davids mit heftigen Handbewegungen vor dem Gesicht irgend etwas auseinanderzusetzen schien, bedenklich mit dem Kopf schüttelte, machte sie ihm ungeduldig ein Zeichen ...

Da schob er langsam auch die kleine innere Tür auf und Elisabeth drängte sich durch die schmale und niedere Öffnung ... Mit der Linken hielt sie noch immer die Schleppe des Kleides, in der Rechten hatte sie eine dünne Reitpeitsche.

So stand sie aufrecht unter den Bestien, die scheu an ihr vorbeisahen, als wollten sie sich den Anschein geben, sie nicht zu bemerken.

Die Tiger waren offenbar ganz verwundert, anstatt ihres Bändigers ein fremdes Wesen in ihrem Käfig zu sehen, und ließen sich ganz friedlich an, so daß die Furchtsamen unter dem Publikum Hoffnung zu schöpfen begannen, daß alles einen guten Ausgang nehmen werde. Sultan hatte sich noch gar nicht nach Elisabeth herumgewandt, er stand noch immer vorne, rieb seinen Kopf an dem Gitter und blinzelte Mister Davids an, der vor dem Käfig stand und bemüht schien, die Aufmerksamkeit des gefährlichen Tieres zu bannen.

Elisabeth hatte sich gebückt und lächelnd die Tiger betrachtet, wie man etwa eine Brut junger Katzen ansieht, vertraulich und ohne Gedanken an eine Gefahr, die etwa von ihnen kommen könnte. Und die Tiere wollten noch immer nichts von ihr wissen, machten die Augen zu und drängten sich aneinander, wobei die Sehnen unter dem gestreiften, weichen Fell erzitterten.

Da geschah etwas Schreckliches.

Elisabeth hatte zwei Schritte gemacht und mit der Reitpeitsche rasch den alten Tiger zweimal über den Kopf geschlagen. Sultan schüttelte den Kopf und knurrte, aber er schien noch immer nicht von dem Anblick seines Feindes im roten Rock ablassen zu können, der da vor dem Gitter stand.

»Sultan! Sultan!« schrie Mister Davids drohend und heiser.

Aber Elisabeth hatte das Tier schon ein drittes und viertes Mal über die Schnauze geschlagen ...

Da warf sich der Tiger herum, der Käfig dröhnte unter einem schweren Anprall. Ein Schuß fiel, noch einer ...

Und da war es, als ob die Wildheit der Tiger mit der Gewalt eines Sprengstoffes losbräche. Es war ein Brüllen und Fauchen, ein Röcheln und Heulen, und die zehn Leiber waren in dem engen Käfig in einen einzigen Knäuel verwirrt, in den der Bändiger einen Schuß nach dem andern abgab, ohne sie von dem Bündel Kleider abbringen zu können, das unter ihren Klauen und von ihren Zähnen hin und her gezerrt wurde. Drei, vier Wärter schlugen mit Eisenstangen drein, rissen an dem Fell der Tiere mit den langen Haken, mit denen sie sonst das Fleisch in den Käfig schoben ...

Das Publikum saß ganz erstarrt, niemand schrie, niemand erhob sich und drängte zum Ausgang, das Übermaß des Gräßlichen hatte ihm Bewegung und Stimme genommen.

Und so konnte Rudolf Hainx bequem das Amphitheater verlassen ... Das letzte, was er sah, war das mächtige Haupt des Sultan, der durch einen Schlag mit der Eisenstange empfindlich getroffen, mit bluttriefendem Rachen wütend in die Manege hinausbrüllte. Von einem seiner Eckzähne hing ein Fetzen eines weißen Kleides herab ...

Erst als sich Rudolf Hainx ein paar Schritte von dem Zirkus entfernt hatte, hörte er den fürchterlichen Schrei des Entsetzens, in dem sich nun endlich die Qual der Menschen dort drinnen befreite.

Er beeilte sich aus dem Bereich der Aufregung zu kommen, die in den nächsten Minuten die ganze Umgebung des Zirkusgebäudes überfluten mußte.

Er war sehr zufrieden mit dem Ausgang, den Elisabeths Abenteuer genommen hatte. Sie hatte es so gewollt, es war nur eine Art von Selbstmord, den sie vor versammeltem Publikum vollzogen hatte, in dem erhebenden Gefühl, noch ein letztesmal ihre Herrschaft über die Menge erprobt und sie in Angst und Entsetzen sich unterworfen zu haben. Und jetzt erst fühlte er sich gewiß, von einer Leidenschaft befreit zu sein, die er bisher durchaus noch nicht ganz überwunden gewußt hatte.

Er war befreit und sah seine Ziele klar vor sich.

Die Sommernacht rauschte schwül um ihn, mit alten geheimnisvollen Bäumen, denn er hatte einen Weg eingeschlagen, der aus der Stadt ins Freie führte. Er stand an einem Bahndamm still und wartete, bis der Zug, den er herankommen hörte, mit den beleuchteten Wagen und den vielen Menschen an den Fenstern vorbei war.

In der Ferne von Hainx wetterleuchtete es. Und wenn er sich umwandte, sah er den Widerschein der großen Stadt am Nachthimmel.

»Der Weg ist frei,« sprach er leise und langsam vor sich hin ... »mein Weg! Sie müssen einen Thomas Bezug haben. Sie wollen es nicht anders ... es scheint, daß es zu ihrem Behagen nötig ist ... sie wollen eine Faust haben, die sie schlägt und die sie küssen können.«

Da löste sich ein Stern aus der Höhe und sank in einem sanften Bogen leuchtend in die Nacht jenseits der fernen Hügel.

»Er ist gefallen ... ich steige empor.« –

Und zur selben Zeit standen Adalbert und Regina am Fenster des kleinen Zimmers in Enzbergers Mühle.

»Eine Sternschnuppe!« sagte Regina.

»Der Himmel grüßt unsere Liebe«, antwortete Adalbert.

»Er grüßt sie jetzt alle Abende. Ich sehe so viele Sterne ... alle Abende sehe ich sehr viele Sterne fallen.«

»Und es werden doch nicht weniger. Es sind noch immer ebenso viele am Himmel. Es sind unzählige Sterne dort. Es ist wie die Liebe. Sie gibt und gibt immer von ihrem Reichtum ... und der große, goldene Schatz wird doch nicht geringer ...«

»Wie die Liebe, Adalbert!« ...

 

Ende.


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