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Ein Todesflug

Regina hatte einen Fremden führen müssen, der sie mit Fragen belästigte. Es war ihr schwer geworden, ihn von dem Allerheiligsten ihres Vaters abzuwehren. Irgend etwas hatte ihr an diesem Mann nicht gefallen, obzwar er sich offenbar bemühte, ihr Vertrauen zu erringen. Seine geschwätzige Treuherzigkeit schien ihr im Widerspruch zu dem Ausdruck seines Gesichts zu stehen, eines englisch geschnittenen Gesichts mit harten Zügen und lauernden Augen. In übersprudelndem Eifer erzählte er ihr von seinem Leben. Er war ein flotter Student gewesen und lebte jetzt als Verwalter auf einem der großen Güter in der Nähe der Stadt. Verstohlen hatte Regina dabei seine Hände betrachtet und gefunden, daß er die Unwahrheit sprach. Es waren gepflegte Städterhände, keineswegs die rauhen Pfoten eines Landwirts. Warum belog er sie? Ihr Mißtrauen machte Regina gegen seine Fragen verschlossen, und sie beschränkte sich darauf, ihm zu zeigen, was sie zu zeigen verpflichtet war, und die nötigen Erklärungen beizufügen. Über ihre persönlichen Verhältnisse Aufschluß zu geben, wie es der Fremde offenbar wünschte, unterlag nicht der Taxe. Nach einer Stunde zog der Fremde wieder ab.

Nun stand Regina an einer der Schießscharten in dem alten Gemäuer und sah durch den schmalen Ausschnitt hinaus, der einige Dächer und die Wipfel einiger herbstgebräunter Bäume zeigte. Ein leichter, feiner Nebel mischte sich mit der Dämmerung und verwischte die Umrisse da unten. Jetzt, da der Fremde gegangen war, empfand Regina erst, wie wohltätig es auf sie gewirkt hatte, durch ihn ihren Gedanken auf eine Weile entrissen worden zu sein. Immer um den einen Punkt gedreht, war sie manchmal vom Schwindel erfaßt worden. Eine schlimme Zeit lag hinter ihr. Der Vater war krank gewesen, und der Geliebte fern. Zuerst hatte sie kaum zu einigen flüchtigen Zeilen an ihn Zeit gefunden, wenig mehr als einem kurzen Bericht über ihr Befinden und einer Frage nach seiner Liebe. Dann war das seltsame Verbot gekommen, dem sie gehorchte, weil es von Kuperus kam, ohne aber einzusehen, welchem Zwecke es dienen sollte. Wenn ihr Vertrauen zu dem Alten nicht so unbedingt gewesen wäre, so hätte sie dieses Verbot jedesmal gebrochen, sooft sie einen der flehenden Briefe Adalberts bekam.

Sie machte sich manchmal Vorwürfe, daß neben dieser eigenen Angelegenheit die Sorge um den kranken Vater in den Hintergrund trat. Mit aller Liebe und guter Mühe umgeben, überwand er auch diesmal seinen Anfall. »Nein,« hatte er lächelnd gesagt, »ich kann noch nicht gehen, bevor nicht mein Werk vollendet ist.« Und damit hatte er sich von seinem Lager erhoben. Aber er hatte gewünscht, daß der Spiegel verhängt werden möge, denn im grünlichen Glas zeigte sich ihm das Gesicht eines Todgeweihten, so daß er taumelnd zurücktrat. Dieser Anblick war nicht geeignet, seinen aus dem letzten Vorrat von Energie aufgerichteten Willen zu unterstützen.

Alle diese Vorgänge der letzten Wochen waren in ihrer Gleichförmigkeit schwer in Reginas Seele gesunken, hatten sie dumpf und mutlos gemacht, ihre Kraft gebrochen und sie seltsamen Vorstellungen unterworfen. Nur Kuperus vermochte ihr einige Zuversicht zurückzugeben, wenn er sie auf eine lichtere Zeit jenseits des schweren Dunkels verwies.

In der Stadt unten strahlte aus unsichtbaren Quellen ein rötlicher Schimmer in die nebelerfüllte Finsternis des frühen Herbstabends. Regina, die mit aufgestütztem Arm, das Kinn in die Hand gelegt, hinausgesehen hatte, fröstelte. War es die Kälte des Abends, oder war es ein Schauer aus Abgründen der Seele, der sie ergriffen hatte? Mit einemmal fühlte sie sich ganz sonderbar gespannt, als gebiete ihr jemand, auf die Geräusche zu horchen, die den alten Turm hinter ihr zu beleben schienen. In dem Gemäuer unter ihr rieselte es, als habe sich ein Spalt aufgetan ... und plötzlich kam ganz deutlich das Wimmern und Weinen eines kleinen Kindes aus dem Stein. Tief von unten her, ganz fein, aber doch deutlich erkennbar. Es war ein furchtbar kläglicher Ton, das Entsetzen eines nur den einfachsten Regungen zugänglichen Wesens, ein kindliches Schluchzen und Winseln.

Regina stand, vom Grauen gebannt und vermochte sich nicht zu rühren. Da kam noch ein anderes Geräusch hinzu, das aus dem Uhrkasten hinter ihr zu dringen schien. Im gleichmäßigen, lauten Gang unterbrochen, begann das Räderwerk zu ächzen, als sei ein fremder Körper zwischen die metallenen Zähne geraten. Die Pendelschläge setzten aus, verdoppelten sich, indem sie nach Pausen mit jagender Geschwindigkeit einfielen, und dazwischen war ein Knirschen, so durchdringend, daß es Regina als Schmerz in ihrem eigenen Körper fühlte. Es war wie das Krachen zermalmter Knochen, und ein Stöhnen war darüber ergossen, als sei ein lebendiger Mensch dort drinnen zu schrecklichen Martern verdammt. Alle diese Geräusche vereinigten sich zu einem Brei, der Regina umgab und immer höher an ihr hinanzusteigen schien, so daß sie zu ersticken glaubte. An die Mauer gelehnt, fühlte sie sich schutzlos dem Entsetzen preisgegeben. Irgendwoher, aus dem Dunkel, sahen sie zwei große, glimmende Augen immerfort an. Diese Augen saßen in einem formlosen Körper, von dem sie nicht wußte, ob er nahe oder weit entfernt war.

Oben ging eine Tür, und ein breites scharfes Lichtschwert zerschnitt den Leib des Ungetüms. »Regina, bist du da?« rief die alte Johanna.

»Ja, ich komme«, antwortete Regina mühsam, und dann stieg sie im Schutz des Lichtschwerts die Treppe hinauf.

»Wo warst du denn so lange?«

»Der Fremde hat mich ...« in einer Anwandlung von Schwäche sank Regina in den großen Lehnstuhl des Vaters am Tisch. Sie schloß die Augen, denn noch immer fühlte sie den grauenvollen Blick auf sich, und noch immer bebte ihr Leib unter den Schauern des Entsetzens. Aber sie wollte nichts verraten und nahm unter dem forschenden Blick der Alten alle Kraft zusammen ... »er hat mich furchtbar viel gefragt. Es hat ein wenig lang gedauert?«

»Hast du nicht wieder geträumt? An diesen Kerl gedacht, der nicht mehr kommt, der dich verlassen hat.«

»Ich bitte dich, sprich nicht so von ihm! Du weißt nicht ...!«

»Was weiß ich nicht? Alles weiß ich! Er ist ein Sohn der Hölle. Ein Teufelsbraten. Ein Knecht des Bezug. Oh ... wenn du mir früher gestanden hättest, wer er ist ... Niemals hätte es so weit zwischen euch kommen dürfen.«

Regina gab keine Antwort. Seit sie der alten Johanna in einer trostbedürftigen einsamen Stunde bald nach Adalberts Abreise alles erzählt hatte, was sie von ihm wußte, haßte die Alte den Eindringling. Und wenn sich nur entfernt eine Gelegenheit dazu bot, fiel sie mit harten Worten über ihn her und verwünschte ihn, denn er war vergiftet, wie alles, was jemals mit Bezug zu tun gehabt hatte. Aber immer nahmen diese Auftritte ein Ende wie jetzt. Behutsam näherte sich die Alte dem im Lehnstuhl zurückgesunkenen Mädchen, indem sie das hölzerne Bein so vorsichtig als möglich aufsetzte. Und dann legte sie ihre harte, knochige Hand auf Reginas Scheitel: »Laß nur, Kind,« sagte sie, »ich sage ja schon nichts mehr. Es ist ja wahr, was weiß denn ich davon ... ich weiß ja nichts. Vielleicht, wie Kuperus sagt ... er ist ein Irrender. Wir alle irren ... und haben unsere Ziele. Er das seine und ich ... ich habe das meine ...« Hier war wieder jene dunkle Andeutung eines Entschlusses; jener geheimnisvollen Macht, die der alten Johanna geholfen zu haben schien, den Anfall von Wahnsinn zu überwinden, dem sie eine Zeitlang erlegen war.

Dankbar ergriff Regina die welke Hand der Alten und drückte sie. Dabei erinnerte sie sich, daß sie in der andern Hand noch immer krampfhaft das Geldstück bewahrte, das der Fremde für die Besichtigung des Turmes erlegt hatte. Sie erhob sich und warf es in die neben der Tür hängende Blechbüchse. Als sie zurückkehrte, fiel ihr Blick auf die im hellen Schein der Lampe aufgeschlagene Chronik. Und sie sah, daß mit frischer Tinte eine letzte Eintragung gemacht war. In den Lehnstuhl zurückgesunken, las sie in den klaren, von Alter und Krankheit noch nicht verzerrten Schriftzügen des Vaters:

»Ich, Heinrich Palingenius, habe meine Maschine endlich fertiggemacht. Und ich glaube mit aller Kraft meiner unsterblichen Seele, daß das Fliegen den Menschen nicht zum Unheil, sondern zum Heil und Segen sein wird. Höhen gewinnen und von dort aus alle Erbärmlichkeiten mit Lächeln betrachten, das werden sie dadurch lernen. Und das ist Glück. Ich, Heinrich Palingenius, der Türmer, habe mir dieses Glück gewonnen. Und morgen will ich fliegen, als erster von allen. Vielleicht wird es sie zuerst verwirren, aber dann werden sie größer werden und besser. Morgen will ich fliegen. Meine Maschine hat eine Seele. Was vermöchte der Mensch nicht zu beseelen? Wenn er sich nur mit ganzem Herzen und allen Gedanken hingibt. Ist es wahr, was Kuperus sagt? Die leblose Materie sträube sich dagegen, belebt zu werden. Und sie trage dem Geist Haß, der sie aus der Erstarrung gerissen habe. Darum sei der Leib dem Geiste feind, weil Gott den Leib aus Erde gemacht habe. Ich glaube nicht daran. Und es ist mir, als ob Kuperus auch nicht daran glaube. Als ob er von einer höheren Einheit des Leibes mit dem Geist, des Leblosen mit dem Lebendigen wüßte. Er sagt es nur, um mich von meinem Flug abzuhalten. Aber dennoch: morgen will ich fliegen. Ich bin ganz ruhig, denn ich vertraue vollkommen.«

Hier waren die Aufzeichnungen, die Regina mit steigender Angst gelesen hatte, zu Ende. Sie sah auf; drüben in der Ecke saß die alte Johanna, den Strickstrumpf im Schoß und schaute vor sich hin. Aus der Werkstatt kamen Geräusche, die Regina sagten, daß der Vater an der Arbeit war.

Der Alte hatte eben den innersten Mechanismus seiner Maschine auseinandergenommen und war dabei, jeden der unzähligen Teile mit aller Sorgfalt zu putzen und dann zu ölen, als Regina eintrat. Er grüßte sie mit einem Kopfnicken und nahm dann mit vergnügtem Ernst eine winzige Schraube vor, deren Windungen er mit weichem Pinsel reinigte. »Du glaubst nicht,« sagte er, »was an diesen kleinen Dingen hängt, diese Schraube zum Beispiel ...«

»Also morgen!« unterbrach ihn Regina.

Palingenius sah nach der Tür und verstand sogleich: »Du hast es gelesen?«

»Es ist also wahr?«

»Ich bin fertig. Sie lebt. Morgen werde ich fliegen.«

»Du willst es tun?« Und dann drang Regina in das Gewirr von Stangen, Schraubenflügeln, Drähten und Rädern ein, in dem der Vater stand, und warf die Arme um seinen Hals: »Vater ... Vater!«

Sanft befreite sich der Alte, besah die Schraube, die er in der Hand behalten hatte und legte sie auf eine Glasplatte. Dann geleitete er Regina aus dem Bereich seiner Maschine und setzte sich mit ihr auf eine große schwarze Kiste, in der eine der elektrischen Batterien untergebracht war. »Siehst du ... Kind,« sagte er, »du hast Angst?«

Regina nickte und legte den Kopf an seine Brust.

Gerührt sah Palingenius auf den blonden Scheitel und die zart abfallenden Schultern. »Ich glaub' es dir,« fuhr er fort, »denn du kannst ja nicht das Vertrauen haben, das ich zu meinem Werk habe. Wer von euch kennt es denn? Keiner? Der Eleagabal redet ja auch solchen Unsinn. So gescheit er sonst ist.«

»Folg' ihm doch, Vater, er weiß ...«

»Er weiß mehr als ich, willst du sagen? Das ist möglich. Aber davon versteht er nichts. Und dann! Das ist die Aufgabe meines Lebens gewesen. Soll ich nun durch mein ganzes Leben einen Strich machen? Das wäre, als hätte ich niemals gelebt. Jetzt, wo ich am Ziel bin?«

Regina schwieg. Ihre Schultern zitterten. Dann hob sie ein blasses Gesicht, in dem furchtsame Augen flehten. »Vater!« sagte sie stockend, »tu es nicht! Ich habe ... ich habe das ... das eingemauerte Kind weinen gehört ... Und ... und ... im Uhrkasten brachen die Knochen. Ein Stöhnen ... es war schrecklich.«

»Wann hast du das gehört?«

»Heute. Vorhin. Im Dunkeln auf der Stiege ...«

»So.« Palingenius stand auf und ging im Zimmer, dessen Enge zum baldigen Wenden zwang, auf und ab. »Heute. Und was? Was meinst du? Das soll etwas bedeuten? Für mich?«

»Eine Warnung ... Vater!«

Triumphierend stand Palingenius vor seiner Tochter: »Nein, mein Kind! Keine Warnung! Es kann nur eine Ermunterung sein! Weißt du, was da in dem alten Turm stöhnt und jammert? Das ist die Vergangenheit! die Vergangenheit!! Weil sie endlich und endgültig überwunden ist. Denn meiner Maschine und dem Fliegen gehört die Zukunft.« Als Sieger stand der Vater vor Regina.

»Vater! Du bist ganz –«

»Verblendet? Nein, Regina! Nicht verblendet. Nur voll Zuversicht. Morgen besteht mein Werk die Probe. Schau, Kind ... selbst wenn sie noch am Leben wäre ... deine Mutter! ... und mich bäte, ich müßte nein sagen.« Zärtlich legte der Alte seinen Arm um die Tochter und führte sie zur Tür: »Und jetzt geh' schlafen, Kind.«

Sie zog ihn mit sich: »Du auch, Vater ... du brauchst die Ruhe.«

»Du wünschst es?«

»Es macht mich ruhiger.«

»Gut. Ich will schlafen gehen.«

Nach einem schweigend eingenommenen Nachtmahl ging Regina, einen warmen Kuß des Vaters auf der Stirn, zu Bett. Aber sie brachte es nicht über sich, zu schlafen, es war ihr, als käme es ihr zu, über den Vater zu wachen, und aus kleinen Geräuschen, die aus dem Nebenraum zu ihr kamen, schloß sie, daß auch der Vater wach im Bett lag. Erst gegen Morgen verfiel sie in einen schweren Schlaf, aus dem sie dann später mit dem unangenehmen Gefühl erwachte, eine Pflicht versäumt zu haben. Im Schlafraum des Vaters war es ganz still. Aber über sich und außen, auf dem Umgang des Turmes hörte sie ein Ziehen und Schieben, schwere Gegenstände gegeneinander stoßen und ein Gehämmer auf Stahl und Holz. Rasch kleidete sie sich an. Dabei erwachte die alte Johanna, sah ihr verwundert zu, wurde dann auch auf die Geräusche aufmerksam und erhob sich, ohne zu fragen. Noch war es früh am Morgen, und ein mattes Licht über dem Waschtisch leuchtete zu der hastigen Geschäftigkeit der Frauen. Als Regina, von der Alten gefolgt, hinaustrat, sah sie den Vater beim hellsten Schein seiner stärksten Lampen mit dem Zusammenfügen der Maschine beschäftigt.

Sie sprach kein Wort, denn sie wußte, daß nichts den Vater zurückzuhalten vermöge, und sah seiner Arbeit zu. An zwei am Geländer der Galerie befestigten Stahlstangen hing schon der innere Teil der Maschine. Mit halbem Leib über die Brüstung gelehnt, fügte Palingenius mit vollkommener Sicherheit immer neue Bestandteile an. Im Eifer seiner Arbeit hatte er zuerst die beiden Frauen gar nicht bemerkt. Nun trat er auf Regina zu und reichte ihr die Hand. »In einer halben Stunde«, sagte er, »kann man sie vollkommen zerlegen. Und in einer Stunde kann man sie zusammensetzen.«

»Unsinn,« brummte die alte Johanna, »vollkommener Unsinn.«

Ohne den Einwurf zu beachten, ging Palingenius wieder an die Arbeit. Nun brachte er den sonderbaren Flügel an, dessen Gestänge sich zusammenfalten und ausspannen ließ, wobei sich eine glänzende dünne Haut zwischen den schmalen Rippen dehnte. Das fächerförmige Gestänge schloß sich an ein Kugelgelenk an, das eng mit dem innersten Gehäuse verbunden war. Feine Drähte gingen von dem Mechanismus dem Gestänge entlang bis zu den Flügelspitzen. Mit besonderer Sorgfalt gab Palingenius diesen Drähten Halt und Spannung.

Von dem Flügelwesen hinweg, das da unter ihren Augen entstand, lenkte Regina den Blick hinaus. Sie erinnerte sich eines anderen Tages, da sie auf der Galerie des Turmes gestanden hatte, eines untergehenden Tages ... damals mit Adalbert. Und in dieser Stunde war ihr noch weher zumute als damals, bevor sie Adalberts Liebe erkannt hatte. In aller Wehmut war damals doch eine Hoffnung gewesen, ganz tief, eine noch ungeborene Hoffnung, die sich aber schon regte und wuchs. Heute aber war die Angst und der Schmerz ohne Trost, und sie hatte keinen Halt, keinen Widerstand in sich. Wo war Adalbert? Was war mit ihm geschehen? Seit Wochen hatte sie keine Nachricht von ihm. War er ihr verloren gegangen? Und nun sollte ihr auch der Vater verloren gehen. Angstvoll sah sie wieder auf das Flügelwesen, das da über dem Abgrund hing, und von dem der Vater gesprochen hatte, als habe es eine Seele, als sei es belebt.

Der Morgen war kühl und versprach einen schönen Herbsttag. Im Osten brach ein rötlicher Schein durch Wolkenbänke, und es war, als greife eine zarte Hand in die Schleier der Nacht, um sie hinwegzuziehen. Regina entsann sich eines Wortes, womit die alten Griechen die Morgenröte bezeichnet hatten: rosenfingrige Morgenröte. Sie hatte das Wort von Adalbert gehört. Und obzwar sie ihre Gedanken von Adalbert abzulenken versucht hatte, waren sie so wieder zu ihm zurückgekehrt.

»Guten Morgen«, sagte Eleagabal Kuperus, der hinter ihr die Turmgalerie betrat. Heinrich Palingenius wandte sich um und begrüßte den Freund mit einem verwunderten Blick: »Du bist es?«

»Ja ... ich will doch zusehen, wie du fliegst.« Kuperus war sehr ernst, und der Ton von Ruhe und Heiterkeit, den er seinen Worten zu geben versuchte, widersprach dem Ausdruck seines Gesichtes: »Du hast mich zwar nicht eingeladen ...«

»Weil du immer Bedenken hast ... immer etwas einzuwenden ...«

»Du bist doch stark genug, um Bedenken und Einwände zu ertragen. Nicht? Übrigens heute habe ich keine Bedenken mehr.«

Freudig fragte Palingenius: »Du stimmst mir also zu?«

»Ja!« – Und während der Türmer sich bemühte, seine Freude über Eleagabals Zustimmung hinter einer angenommenen Gleichgültigkeit zu verbergen, wandte sich der Freund den Lampen zu und verlöschte die Lichter. »Übrigens ... wenn du mich über deine Pläne im Dunkeln lassen willst, darfst du keine solche Illumination anbrennen.«

»Du hast es bemerkt?«

»Gewiß! Und andere auch. Unten steht schon eine Menge Menschen.«

»Gut! Gut! Sie werden sehen, wie man fliegt.«

Es war schon genügend hell geworden, die Sonne hatte sich durchgerungen und stand rotglühend über einem dunstigen Meer. Heinrich Palingenius machte sich daran, seiner Maschine den anderen Flügel einzusetzen. Plötzlich fühlte Eleagabal, der aufmerksam zuschaute, seine Hand erfaßt. Er sah in Reginas blasses Gesicht. »Ich habe alles versucht,« flüsterte sie ... »er will nicht zurück.« Mit einer Gebärde deutete Eleagabal an, daß alles Bemühen umsonst sei.

»Unsinn ... ein vollkommener Unsinn«, brummte die alte Johanna.

Die Hammerschläge des Türmers wurden heftiger und schneller, als beeile er sich, mit seiner Arbeit zu Ende zu kommen. Unter Kreischen und Knirschen fügte er eine Schraube in ihr Gewinde.

Nun war der Tag gekommen. Die Stadt unten machte die tiefen Atemzüge eines Erwachenden und schien sich den Hügeln entgegen zu dehnen. Aus den unzähligen Schornsteinen über den verschiedenfarbigen und -gestalteten Dächern drehten sich bläuliche Rauchwirbel in die klare Herbstluft; dort, wo sie der Mündung des Schlotes entquollen, noch massig und schwer, fest geballt, als wollten sie wieder zurücksinken, weiter oben aber immer lockerer und heiterer und, wo sie sich in leichte Wölkchen aufzulösen begannen, schon von der Sonne angestrahlt. Braunrot und goldig flossen die letzten Flocken über den zartblauen Himmel. Unten auf dem Domplatz aber war ein dichter Klumpen von Menschen, die unverwandt nach der Turmgalerie blickten. Frühaufsteher aus Beruf und Neigung, die sich hier zusammengefunden hatten und nun ihren neugierigen Fragen keine Antwort wußten.

»Wos g'schiegt denn durten?« fragte ein Fleischhauer, der mit seinem mit einem Kälberviertel und einigen großen Stücken Rindfleisch beladenen Hundewagen eben über den Domplatz kam. Er steckte beide Hände vorn in die blutfleckige Schürze und stellte sich hinter der letzten Reihe an, während der Hund, ebenso neugierig wie sein Herr, an den Röcken des vor ihm stehenden Milchweibes schnupperte. Im Mittelpunkt des Klumpens befand sich, als die Aufgeregteste von allen, Frau Swoboda und ihr morgendlicher Freund, der Sakristan. Die beiden waren am ehesten imstande, eine Auskunft zu geben. Aber Genaues wußten auch sie nicht. Sie konnten nur sagen, daß der Türmer dort oben war, seine Tochter, die Johanna und – hier dämpften sie jedesmal die Stimmen – »der Zauberer von drüben«. Aber was geschah? Was geschah dort oben?

»Er wird an Drachen steig'n lassen«, sagte der Dreifaltigkeitsschuster zu dem Fleischhauer, der seine Frage einigemal, immer nachdrücklicher, wiederholt hatte. Aber der Rahmenmacher, der auch Tiere ausstopfte und die Passionsblumen hinter dem Fenster hielt, schüttelte den Kopf. Dazu sei der Alte dort oben zu gescheit, das müsse wohl etwas anderes sein. Und nun gruben die alten Leute, die schon seit Jahrzehnten hier oben wohnten, alte Erinnerungen aus. Alle Sonderbarkeiten des Türmers wurden ins Licht gesetzt, und wer einen neuen Zug zu dem seltsamen Bilde wußte, beeilte sich, ihn mit einigem Stolz hinzuzufügen. Die Aufregung der Menge stieg, als nun an dem zweiten Flügel unzweideutig zu erkennen war, daß es sich um ein Abenteuer in der Luft handeln mußte.

In diesem Augenblick kam Adalbert Semilasso über die Domstiege, betrat zwischen den beiden mürrischen, verrenkten Heiligen den Platz und folgte mit dem Blick den vielen weisenden Armen. War es so weit? Machte sich Palingenius zum Flug fertig? War es die Vorahnung dieses Ereignisses gewesen, die ihn heute nacht so unruhig gemacht und so früh am Morgen hierher getrieben hatte? Und nun fiel es ihm schwer auf die Seele, daß er nicht bei Regina sein durfte in dieser Stunde, vor der sie sich schon immer heimlich gebangt hatte. Schon war er im Begriff, in den Turm einzutreten. Aber da kamen die alten Bedenken und Ängste mit doppelter Gewalt und zerrten ihn von der Tür weg. Es war ihm verwehrt, sie zu trösten, er durfte sich ihrer Reinheit nicht nähern. Und dann, sie war ja doch nicht ganz allein. Er sah Eleagabal Kuperus oben bei ihr, den Freund, der ihr Mut geben würde. Langsam entfernte er sich von der Turmtür, und da er fand, daß er schon die Aufmerksamkeit der Leute erregt hatte, wollte er sich unter die Menge mischen.

Aber Frau Swoboda hatte ihn erkannt und kam hastig auf ihn zu.

»Was sagen S', gnä' Herr, was will er tun?« fragte sie, indem sie ihn aufgeregt am Rockärmel faßte.

Adalbert wußte nicht, ob er die Wahrheit sagen sollte. Aber wozu verschweigen, was sie doch in den nächsten Minuten selbst sehen mußten. »Er wird fliegen,« sagte er, »das dort oben ist seine Flugmaschine.«

»Jessus Maria! Fliegen? In der Luft? Über die Dächer?«

»Ja.«

»Er wird runterfallen! Gotts'will'n!«

Die Nachricht ging durch die Menge, ließ sie aufbrausen und drängte sie näher zusammen, in dem Gefühl des Entsetzens über die Gefahr eines Menschen. –

Heinrich Palingenius war mit seinen Vorbereitungen fertig. Zuletzt hatte er unterhalb des Bewegungsmechanismus einen gepolsterten Hängeapparat angebracht, aus dem der Körper in bequemster Lage die Hebelstellungen regeln konnte. Mit strahlendem Gesicht wandte er sich um. »Eine Stunde ... nicht viel länger! Was habe ich gesagt? Aber macht doch nicht solche Mienen! Regina!« Er hob den Kopf seiner Tochter mit einem zärtlichen Griff unter dem Kinn. Da sah er die Tränen in ihren Augen. »Kind! Kind!« sagte er und küßte sie auf die Stirne.

Eleagabal Kuperus legte dem Freund die Hand auf die Schulter: »Ein Glas Wein!«

»Wozu?«

»Trink' nur ein Glas Wein! Das wird dir nicht schaden! Vom alten, von dem griechischen.«

»Es ist die letzte Flasche.«

»Warum soll man bei einer solchen Gelegenheit nicht eine letzte Flasche trinken?«

Auf Eleagabals Wink ging die alte Johanna, den Wein zu holen. »Dein Publikum wird immer größer«, sagte Kuperus, indem er auf den Domplatz hinabdeutete. Und die löbliche Polizei ist auch schon da!« Ein Wachmann mit blitzendem Helm ging quer über den Platz auf die Turmtür zu. Hinten im Turmzimmer tobte die elektrische Klingel. »Du hast wohl keine Erlaubnis zum Fliegen. Er wird es dir verbieten wollen.«

Palingenius lächelte: »Die Obrigkeit! Mit dem Fliegen hat man alle Obrigkeit verloren.« Gerade als die Glocke über ihnen mit vier schnellen Schlägen das Ende einer Stunde verkündete, kam die alte Johanna mit der verstaubten Flasche und einem altertümlichen Glas, aus dem zwischen Rosen und Lilien in verschnörkelten Buchstaben stand: »Zur Erinnerung.« Siebenmal rollte wuchtig und schwer der Hall der Stundenglocke über die Turmgalerie hin und übertäubte das Geschrill der elektrischen Klingel im Zimmer.

»Aus diesem Glas hat sie bei unserer Hochzeit getrunken«, sagte Palingenius halb zu Regina und halb für sich. Mit verklärtem Gesicht hob er das Glas mit dem schweren, fast braunen Wein und leerte es auf einen Zug. Anstatt des Weines erfüllte es jetzt das funkelnde Gold der Sonne, brach sich an den Kanten und dem Rand und machte die Rosen und Lilien durchscheinend und leuchtend. Langsam und vorsichtig gab es Palingenius der alten Johanna zurück. »So,« sagte er, und es war, als ob auch in seinem Blick etwas vom Gold der Sonne sei.

Zitternd lag die Flugmaschine mit ausgespannten Flügeln auf den vorgeschobenen Stangen. Selbst vor Aufregung bebend, schien sie ein lebendiges Wesen, das sich in höchster Spannung befindet. Regina starrte sie an; der Glaube ihres Vaters hatte sie ergriffen und es war ihr, als müsse sie dieses Flügelwesen mit flehenden Worten beschwören. Als sie Palingenius umarmte und küßte, gewann sie es über sich, nicht aufzuschreien, denn Eleagabal hatte ihr rasch vorher zugeflüstert: »Sei stark! Mach' ihn nicht schwach.«

Dann reichte Palingenius noch Eleagabal und der alten Johanna die Hand, mit einem so strahlenden Stolz, so daß Johanna ein halb mürrisches, halb ängstliches Wort des Tadels unterdrückte. Und dann schwang er sich mit jugendlicher Kraft über die Brüstung der Galerie und rückte sich in dem Hängeapparat zurecht. Mit beiden Händen auf das Geländer gestützt, sah Regina dem Vater zu. Er drehte an einer Kurbel, und pfauchend schoß eine kleine blaue Flamme aus einer durchlöcherten Messingscheibe, verschwand, schoß wieder hervor und so in immer schnellerer, rhythmischer Wiederkehr. Sogleich riß Palingenius einen Hebel herum, und die Maschine glitt an ihren Tragbändern über die vorgeschobenen Eisenstangen, verließ den Halt und schwebte draußen frei in der Luft.

Das Gemurmel der Menge, die den Platz vor dem Dom erfüllte, war verstummt, und das tobende Schrillen der elektrischen Klingel brach ab. Der Wachmann war von der Turmtür zurückgetreten und stand unter den übrigen, die mit verdrehten Hälsen zusahen, wie die Flugmaschine des Türmers über die Dächer Kreise zog.

Mit schönen, langsamen Bewegungen stieg und sank sie, zuckte in plötzlichem Flug hin und kehrte willig wieder zurück. Jetzt schoß Palingenius mit einemmal so hoch hinauf, daß die Maschine bloß als schwarzer Punkt in der klaren Herbstfrühe stand, und dann war er wieder da, mit schweren, lässigen Flügelschlägen den Domplatz überschattend. Die drei Menschen auf der Turmgalerie sprachen kein Wort. Regina hatte Eleagabals Arm gepackt, und als sie den sicheren Flug des Vaters sah, kehrte mit der Hoffnung auch ein herzhafter Stolz auf seine Kühnheit ein.

Noch immer ließ Palingenius seine Maschine alle Arten von Bewegungen vollführen, wie ein lebendes Tier, das jedem Wort seines Herrn gehorcht. Er schwebte in breitem Wanderflug über dem Haus des Kuperus und strich nun in gleicher Höhe mit der Turmgalerie hin.

Plötzlich fühlte Regina ein hastiges Zusammenfahren Eleagabals, als ob die Sehnen seines hageren Armes von einem elektrischen Schlag getroffen wären. Er hatte bemerkt, daß der ruhige Flug der Maschine sich veränderte, es kam etwas Irres, Flackerndes in ihre Bewegungen, und er sah, daß Palingenius heftig und zornig an den Hebeln riß.

»Was ist denn?« fragte Regina ängstlich.

»Sie hat ... sie hat ihren eigenen Willen«, murmelte er. »Es ist da!«

»Was denn? was?«

Eleagabal vermochte keine Antwort zu geben. Drüben in der Luft fand ein wütender Kampf zwischen dem Meister und seinem Werk statt. Einen Augenblick war es Eleagabal, als wende ihm Palingenius ein totenbleiches Gesicht mit einem zum Schreien geöffneten Mund zu. Aber es war nichts zu hören als das Schwirren der großen Flügel und die rhythmischen Pulsschläge der Maschine. Es war klar, daß Palingenius die Herrschaft über seinen Apparat verloren hatte. Regellos stieg die Maschine auf und ab, kam in unbesonnenen Kreisen bald den Dächern der Häuser, bald den Wänden des Turmes nahe, flog einmal so dicht über den Köpfen der Menge unten weg, daß sich einige duckten, und nun ... war sie plötzlich hinter dem Turm verschwunden.

Unten entstand ein Geschrei: »Wo ist sie, wo ist sie?«

Regina lehnte an der Wand. Zwei Schläge der Viertelstundenglocke wogten über sie hinaus. Eleagabal hatte ihre Hand gefaßt und streichelte sie unaufhörlich, ohne ihr einen Trost geben zu können. Mit gefalteten Händen kniete die alte Johanna in der Tür des Turmzimmers und bewegte die Lippen. Sie betete, sie, die niemand noch beten gesehen hatte.

Plötzlich schoß die Maschine wieder hinter dem Turm hervor. Sie stieg in schrägem Flug, und Eleagabal sah, wie Palingenius im blinden Zorn, außer sich vor Wut, mit geballten Fäusten auf den Apparat losschlug, als wollte er ein ungebändiges, störrisches Tier züchtigen. Als die Maschine um einige Meter über der Turmspitze war, hielt sie plötzlich an. Und nun geschah das Fürchterliche. Zuerst ging ein Zittern durch ihr Gestänge, die Flügel streckten sich wie in plötzlichem Krampf aus und zogen sich zusammen. Diese Bewegungen wurden so heftig, daß Palingenius in seinem Hängeapparat hin und her flog. In jäh erwachender Angst griff er nach beiden Seiten aus und faßte zwei Eisenbügel des Flügelrahmens, um sich an ihnen zu halten. Aber die Maschine schüttelte sich und befreite sich von ihm. Und nun schoß sie plötzlich hinauf, mit wilden, ruckweisen Stößen, hoch oben ... überschlug sie sich plötzlich in rascher Drehung. Ein dunkler Körper trennte sich von ihrem verwirrten, durcheinander geworfenen Gestänge.

Ein einziger Schrei der Menge auf dem Domplatz ... dann ein dumpfklatschender Schlag auf dem Pflaster ...

Wie erleichtert stieg die Maschine noch ein Stückchen höher, dann sank sie schräg hinab und blieb auf dem flachen Glasdach eines photographischen Ateliers liegen, mit zuckenden Flügeln, wie erschöpft vor Aufregung und Anstrengung.

Regina war zusammengesunken, so wie sie an der Wand gelehnt hatte, einfach in sich zusammengesunken. »Bleib bei ihr,« rief Eleagabal die alte Johanna an und rannte der Treppe zu. Aber als er die Hälfte der Stufen zurückgelegt hatte, hörte er das harte, hastige Klappern des Holzfußes über sich. »Was gibt's?« schrie er zurück. Aber die alte Johanna gab ihm keine Antwort, überholte ihn und rannte ihm voran, halb stolpernd und das Stiegengeländer entlang gleitend, wie in wilder Verstörtheit, nur zuerst unten anzukommen.

Inmitten der zurückgewichenen Menge lag Heinrich Palingenius auf dem Domplatz. Die alte Swoboda kniete bei ihm, weinend, ohne der herabströmenden Tränen zu achten. Vorsichtig hob der Fleischhauer den Kopf des Toten und legte ihn auf den Schoß der Alten. Heinrich Palingenius war ganz unversehrt, nur aus dem Hinterkopf kam ein dünner Strahl hellen Blutes hervor, der in den Vertiefungen des holprigen Pflasters kleine Lachen gebildet hatte. Außer dem Wachmann, der bereits sein Notizbuch gezogen hatte und eifrig den Tatbestand notierte, war noch jemand da – Adalbert Semilasso. Er hatte sich durch die Menge hindurchgedrängt und hatte dem Toten die Weste geöffnet, um die mit grauen Haaren bedeckte Brust zu befühlen. Mit vor Aufregung überstürzten Worten berieten einige zunächststehende Gruppen, was zu tun sei.

Als Eleagabal bei dem Toten ankam, gab der Wachmann dem Hund des Fleischhauers einen Fußtritt. Das Tier war, den Wagen hinter sich herziehend, seinem Herrn gefolgt und hatte begonnen, die Blutlachen auf dem Pflaster aufzulecken.

Adalbert Semilasso erhob sich und trat Eleagabal entgegen. Nach einem ersten furchtsamen Blick senkte er den Kopf. Da fühlte er sich vor die Brust gestoßen. Die alte Johanna stand vor ihm und schrie ihm wütend ins Gesicht: »Gehen Sie! Was wollen Sie bei diesem Toten?«

»Bleiben Sie!« sagte Eleagabal und hielt Adalbert an der Hand zurück. »Sie gehören hierher.«

Irgend jemand hatte einen nahe wohnenden Arzt gerufen. Es blieb diesem nichts zu tun übrig, als festzustellen, daß Palingenius tot war. Nun besann sich auch der Wachmann auf seine Würde. »Weg da! Zurück!« schrie er mit gebietender Armbewegung. »Er kommt ins Spital.«

»Nein,« sagte Eleagabal, »was wollen Sie? er ist tot. Wir nehmen ihn hinauf.«

»Auf den Turm? Sie werden ihn dort hinauf schleppen?«

»Das ist doch unsere Sache. Ich weiß, es ist sein Wunsch gewesen, oben auf das Grab zu warten.«

»Und wer wird die Turmwache halten?«

»Die Tochter und diese alte Frau hier, wie immer, wenn er krank war.«

»Es ist gut. Ich werde die Meldung machen.«

»Kommen Sie!« rief Eleagabal Adalbert auf, der schüchtern abseits stand. »Kommen Sie, fassen Sie an.«

»Ich soll mit hinauf? Ich kann es nicht. Ich kann nicht vor sie treten. Sie wissen nicht ...«

»Ich weiß alles. Kommen Sie nur! Die große Liebe verzeiht alles!« Adalbert trat einen Schritt zurück. Das waren dieselben Worte, die er von der Gräfin gehört hatte, diese Worte, die ihn nächtelang verfolgten, als wollten sie ihm neuen Mut machen. Wie sonderbar, daß sich der Weise und die Dirne in derselben Erkenntnis begegneten. Sein Zögern dauerte nur noch Sekunden, dann bückte er sich und faßte mit Eleagabal die Schultern des Toten. Weinend erhob sich die alte Frau, die den Kopf des toten Jugendgeliebten auf ihrem Schoß gebettet hatte.

»Weinen Sie nicht,« sagte Eleagabal Kuperus leise, »es war doch Ihr Wunsch. Sie wollten ihn doch noch einmal sehen.«

Die Alte vergaß ganz, daß es der gefürchtete Zauberer war, der mit ihr sprach. »Aber nicht so ... aber nicht so ...«, schluchzte sie.

»Es war sein Wille, wir können nichts tun. Kommen Sie nur. Regina wird Sie brauchen.«

Der Dreifaltigkeitsschuster und der Rahmenmacher hatten die Beine des Toten gefaßt, und in langsamem Zug erreichten die Träger mit dem mageren Körper des Greises die Turmtür. Die Menge drängte in teilnehmender Neugierde nach und gab die Unglücksstätte frei, wo der Hund des Fleischhauers nach einem scheuen Rundblick wieder an den blutigen Steinen zu lecken begann.

Regina stand mitten im Turmzimmer und erwartete die keuchenden Männer, die den Leichnam des Vaters brachten. Ohne zu weinen, öffnete sie die Tür der Werkstatt, wo sie, inmitten der Apparate und Werkzeuge, inzwischen aus einer Matratze und frischem Leinen ein Lager bereitet hatte. »Ich glaube ... so wäre es ihm recht gewesen ... hier«, fragte sie Eleagabal, vor innerlichem Schluchzen stockend, ohne aufzusehen, den Blick fest auf das Gesicht des Toten geheftet. Der Freund nickte. Beim Eintreten war Eleagabal sogleich etwas aufgefallen, aber er hatte sich nicht sagen können, was es war. Irgend etwas war in diesem Raum anders als sonst, es fehlte etwas, eine Starrheit hatte sich über alles ausgebreitet wie eine Panzerdecke, die nicht zu durchbrechen ist. Mit einem Blick streifte Kuperus das Gesicht Adalberts, der sich, nachdem der Tote auf sein Lager gebettet worden war, scheu zurückgezogen hatte. Er sah, daß auch Adalbert das gleiche aufgefallen sein mochte. Und jetzt wußte Kuperus plötzlich auch, was es war. Alle die mechanischen Kunstwerke, die hier untergebracht waren, standen still, die Pendelschläge, das Schnurren der Räder, die mannigfachen kleinen und großen Geräusche, die das Leben dieses Raumes ausmachten, waren verstummt. Alle diese Maschinen, die eine unaufhörliche tätige Geschicklichkeit im Laufe vieler Jahrzehnte erbaut hatte, an denen die Stationen eines Schicksals abgesehen werden konnten, waren mit dem Tod des Meisters zugleich still geworden. Das Planetensystem unter der Decke hatte seine Bewegung eingestellt. Die Negerin, in deren Augen die Zahlen aufsprangen, die die Stunden anzeigten, schien mitten in einer Verbeugung erstarrt zu sein. In ihren Augen war zu sehen, daß das Werk gerade um halb acht Uhr stehengeblieben war.

Langsam wandte sich Eleagabal wieder Regina zu. Neben dem Toten kniend, hatte sie seine Hände ergriffen und nach einem scheuen Kuß auf die runzeligen Finger in ihren Händen behalten, als wolle sie den Toten erwärmen. Während die alte Johanna in rastloser Geschäftigkeit ab und zu ging, standen die Männer, die Palingenius heraufgebracht hatten, abseits. Nur Frau Swoboda hatte sich ein wenig vorgewagt, und es schien, als folge sie einem unwiderstehlichen Zug zum Lager des Toten, an die Seite Reginas. Hatte sie nicht ein Anrecht darauf, neben der Tochter zu knien?

Der Rahmenmacher schien in ein stilles Gebet versunken, der Dreifaltigkeitsschuster aber sah mit neugierigen Augen herum, in diesem mit so vielen sonderbaren Geräten angefüllten Raum, von dem man sich die merkwürdigsten Dinge erzählte, und den zu sehen einer seiner brennendsten Wünsche gewesen war.

Nun erhob sich Regina und trat auf die Männer zu, um ihnen zu danken. Zwischen den vorgeschobenen Köpfen und den verlegen wankenden Schultern erblickte sie ein Gesicht ... sie stieß nur einen leisen Schrei aus und fuhr einmal mit der Hand über die Augen. Dann sah sie noch einmal hin, es war Adalbert, und es schien ihr, als sei er bestrebt, sich vor ihr zu verbergen. Nach einem sekundenkurzen Beben des ganzen Körpers vollführte sie ihre Absicht und gab dem Rahmenmacher zuerst und dann dem Dreifaltigkeitsschuster die Hand. Sie wollte vor den Fremden nichts von ihrer Überraschung zeigen. Als sie auch Adalbert die Hand gab, fühlte sie, daß seine Finger nicht wärmer waren als die des Toten.

Verlegen grüßend, stolperten die fremden Männer zur Tür hinaus. Einen Augenblick war es, als ob ihnen Adalbert folgen wolle; aber ein Wink Eleagabals hielt ihn zurück. Er stand und sah in Reginas Augen, bittend, mit einem scheuen und heißen Ausdruck, mit einer Leidenschaft des Gefühls, die ihn über sich erhöhte, so daß er in diesem Moment das Bewußtsein seines Unwertes verlor.

»Bist du endlich gekommen?« fragte Regina, als die Tritte der Männer auf der Turmtreppe verhallten. »Bist du da?«

»Und, wenn du mich nicht von dir schickst ... ich will jetzt immer bei dir bleiben.«

Verwundert sah Frau Swoboda auf und entdeckte die Beziehungen, die zwischen Regina und dem jungen Mann bestanden, der sich immer nach dem Befinden des Türmers erkundigt hatte. Sie sah, daß sich die beiden an der Leiche des Vaters küßten, und sie wurde nur noch gerührter dadurch, da sie der eigenen Jugend gedenken mußte.

»Und weißt du alles?« fragte Adalbert.

»Ich will es nicht wissen. Nun bist du wieder da.«

»Gerettet!«

»Warst du in Gefahr? Ich werde acht geben auf dich ...«

Noch einmal keuchte jemand die Turmtreppe hinauf. Es war der Bezirksarzt, der den Toten zu besichtigen und den Totenschein auszustellen hatte. Als er gegangen war, begannen die Frauen den Leichnam zu entkleiden und zu waschen.

Eleagabal Kuperus winkte Adalbert, ihm in das Wohnzimmer zu folgen. Sie setzten sich an den Tisch des Türmers einander gegenüber.

»Nebenan liegt ein Toter«, sagte Adalbert nach einer Weile: »Ihr Vater! Aber ich ... ich bin so maßlos glücklich. Ist das nicht ein Frevel? Und ich bin ganz verwirrt.«

»Sehen Sie: es ist wie ich gesagt habe. Die große Liebe verzeiht alles.«

»Ja ... ja! Aber ob sie alles weiß ...«

»Ich glaube, sie ahnt es wenigstens.«

»Ich werde ihr alles sagen. Ich will ganz rein sein vor ihr.«

Eleagabal Kuperus nickte zustimmend mit dem Kopf. »Später ... später einmal.«

»Aber ich verstehe noch nicht alles. Einiges ist mir noch dunkel. Warum hat sie auf meine dringenden Briefe nicht geantwortet? Der Vater war krank. Da wurde sie karg. Aber als er wieder gesund war, warum hat sie da nicht geschrieben?«

Lächelnd sagte Kuperus und die beiden Eberhauer krochen wie gekrümmte Messer aus ihren Scheiden: »Es ist auf meinen Rat geschehen; ich habe ihr geraten, nicht zu antworten. Und Regina hat gehorcht. Sie wissen nicht, was es sie für Kämpfe gekostet hat. Aber sie hielt sich brav, weil sie mir geglaubt hat, daß es zu ihrem Glück sei.«

»Zu ihrem Glück? Aber es hätte sein können, daß ich ... sehen Sie, ich hätte verzweifeln können und ganz ... ganz ... der anderen verfallen.«

»Ich habe gewußt ... wenn Sie so ganz um und um gewühlt werden, so wird Ihnen die Besinnung kommen ... Sie werden wieder unser sein.«

Adalbert sann eine Weile nach: »Es ist wahr!« sagte er schließlich, »es ist wahr.« Aber nun fuhr er mit plötzlichem Kraftbewußtsein fort: »Und jetzt ist es auch zu Ende mit meiner Sklaverei. Ich mache mich frei. Von ihr – und von ihm.«

Mit ruhig glänzenden Augen sah ihn Kuperus an. Es brannte ein tiefes Feuer in diesem Blick. »Werden Sie stark genug dazu sein?«

»Ich werde an alles denken was ich schon erduldet habe, vor allem aber daran, daß ich Regina beinahe verloren hätte.«

»Brav! brav! Und jetzt, mein Lieber, will ich Ihnen ein Buch zu lesen geben. Ich glaube, daß es Sie in Ihrem Entschluß stärken wird. Denn leicht wird der Kampf gegen Bezug nicht sein. Erwarten Sie mich hier, ich will es holen gehen.«

Und damit verließ Eleagabal den jungen Freund, der in einer sonderbaren Mischung von Glück und Besorgnis, von Hingabe und Empörung verharrte. Nebenan war es ruhig geworden. Das Abundzulaufen, mit dem alles Nötige herbeigeholt wurde, war zu Ende, und die alte Johanna kam nur noch ein letztes Mal durch das Wohnzimmer, gerade als Eleagabal Kuperus ging.

Adalbert hörte nichts als ein dumpfes, eintöniges Murmeln, das gleichmäßige Beten der alten Swoboda, die nun ihre als Kerzelweib erworbene Fertigkeit für den Jugendgeliebten verwenden durfte. Aus ihrem Vorrat hatte sie zwei dicke große und ein Dutzend kleinere Wachskerzen gespendet. Sie brannten in zwei Reihen zu beiden Seiten des Toten, mit blassen, fast unsichtbaren Flammen, denn das Sonnenlicht des hellen Herbsttages war in breiten Flächen eingefallen und ließ die künstlichen Lichter nicht aufkommen. Regina stand am Fenster, mit dem Rücken gegen einen der kleinen Schränke gelehnt, in dem das sinnreiche Schachtelsystem des Vaters Hunderte von Werkzeugen und kleinen Maschinen unterzubringen gewußt hatte. Es war ihr, wie sie so dastand und den Blick auf dem mit weißen Binden umwickelten Kopf des Vaters ruhen ließ, zwar traurig, aber auch unendlich friedlich zu Mut. War nicht gerade dieser Tod das notwendige Ende seines Lebens? War nicht erst dadurch sein Geschick erfüllt?

Mürrisch berichtete die alte Johanna, daß Adalbert draußen allein sei, und Regina löste sich darauf langsam von ihrem Platz und ging zu ihm. Sie legte ihm die rechte Hand auf den Kopf, und Adalbert faßte ihre Linke und küßte sie inbrünstig. So fand sie Eleagabal Kuperus, als er nach geraumer Zeit wieder das Turmzimmer betrat.

»Hört ihr nichts?« fragte Regina, »hört ihr nichts?«

»Was denn?«

»Ein Gesang ... eine Melodie! Nichts? Ich weiß nicht ... als ob sie aus dem Boden hervorkäme ...«

Eleagabal Kuperus trat zu Regina hin: »Sie quillt dir überall entgegen. Sie scheint den ganzen Turm zu erfüllen. Endlos, eintönig, eine unsagbar traurige Litanei. Sie quält dich wie ein schweres Gefühl, das dich nicht verläßt. Nicht wahr?«

»Ja! Ja!«

»Die Mauern sind voll von diesen Tönen, die von Tränen feucht zu sein schienen. Es ist ein Gewisper von tausend klagenden Stimmen. Es kommt aus großen Tiefen.«

»Ja!« flüsterte Regina. Und Adalbert nickte. Auch er hatte diese klagende Melodie schon gehört, diese trostlose Litanei, die endlos dahinwallte, ein Zug von müden Tönen, die ihre Seele verloren haben.

»Es ist die Stimme des Domes!« fuhr Kuperus fort: »Die Stimme des Domes. Alle die durch Jahrhunderte angehäufte Qual, die unerfüllten Wünsche, die ringende Sehnsucht, die sich hier vor den Altären aus den Herzen der Beter erhob. Wohl jeder hört so einmal die Stimme des Domes. Einmal wenigstens. Und die tröstenden Worte der Priester sind darin die vergeblichen Beruhigungen und Versprechungen. Es ist die Stimme des Domes.«

»Die Stimme des Domes«, murmelte Regina.

Dann wandte sich Eleagabal Adalbert zu. »Hier ist das Buch«, sagte er. Es war ein Buch in der gewöhnlichen Größe eines Albums, auf dessen braunem Saffianledereinband nur der Buchstabe N in Gold gepreßt war. Adalbert nahm das Buch auf, sah es an, ohne es aufzuschlagen, und legte es dann auf den Tisch vor sich hin.

»Laß uns jetzt allein,« sagte Kuperus zu Regina, »geh hinein. Adalbert hat dieses Buch zu lesen.«

Leise verschwand Regina, und Adalbert begann zu lesen. Den ganzen Nachmittag und die ganze Nacht blieb er über das Buch gebeugt.

Nebenan verstummten die Gebete der alten Frau Swoboda bisweilen und setzten dann wieder stärker ein. Die alte Johanna begann wieder ab und zu zu gehen, bereitete die Mahlzeiten und setzte sie Adalbert mit mürrischem Gesicht vor. Dann nahm sie ihren alten Platz in der Ecke ein, lautlos, wie ein stummer Wächter, und warf über ihren Strickstrumpf ab und zu einen Blick des Hasses auf Adalbert.

Eleagabal, der sich nachmittags entfernt hatte, kam abends wieder und saß Adalbert gegenüber an dem Tisch des Türmers. Die ganze Nacht hindurch, mit hellen, wachen Augen, die in die Ferne zu schauen schienen.

Adalbert sprach nichts, blickte nicht auf und berührte die Speisen nicht, die ihm Johanna gebracht hatte. Bewegungslos saß er da und las die Aufzeichnungen seiner Schwester.


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