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Die Brüder vom roten Tode

Elisabeth hatte den Professor Zugmeyer erst erblickt, als er schon an ihr vorbei war. Da erst war der Bildeindruck bis zu ihrem Bewußtsein vorgedrungen und hatte sie veranlaßt, sich rasch umzuwenden. Es war ihr, als ob sie ihn etwas hätte fragen wollen. Was denn nur? Sie wußte es nicht mehr ... es war nur einen Augenblick wie eine Frage auf die Oberfläche gekommen und sogleich wieder versunken. Indem sie eine planlose Wanderung durch den Garten fortsetzte, beschäftigte sie sich damit, alle Symptome zusammenzustellen, die ihr eine zunehmende Lähmung ihrer geistigen Fähigkeiten anzeigten. Da war diese merkwürdige Verzögerung der Fortpflanzung der Sinneseindrücke auf den Leitungsbahnen. Dann dieses Auftauchen von Einfällen, die sogleich wieder vergingen, bevor sie noch recht erfaßt werden konnten. Wie vorhin, diese Unentschlossenheit, die nirgends zurechtkam, die Erweichung des Willens. Es machte Elisabeth ein schmerzliches Vergnügen, sich darüber klar zu werden. Liebkosend fast nahm sie den Gedanken auf, daß sie daran war, sich durch die schrecklichen Ausschweifungen der letzten Wochen vollkommen zu vernichten.

Ihr Körper war bis zum Äußersten erschöpft. Die maßlosen und schamlosen unzähligen Abenteuer, deren Stätte der »Klub der babylonischen Jungfrauen« gewesen war, diese durch die Todesangst gewürzten Orgien hatten selbst ihre stolze und geschmeidige Kraft brechen müssen.

Sie blieb schaudernd stehen. Es überlief sie kalt, trotzdem es ein warmer, fast schwüler Sommerabend war. Und trotz aller Bemühungen war es ihr nicht gelungen, ihre große Sehnsucht zu vergessen. Sie biß die Zähne zusammen und ballte die Fäuste, aber da war es wieder ... dieses Bild, das sie verfolgte, dieses Gespenst, das ihr nachging, leibhafter und beherrschender als alle die Wirklichkeiten, von denen man sonst abhängig ist. Wenn sie an Adalbert dachte, an seine Küsse und Zärtlichkeiten, die sie genossen hatte, dann brandete es vor ihren Ohren, und ihre Augen waren von einer übergroßen Helle geblendet. Und so schmerzlich dieses Gefühl war, so ungern sie es herankommen ließ – wenn es einmal da war, dann überlieferte sie sich ihm ganz, in einer Wollust, vor der alles andere nichtig war.

Langsam ging sie in ihre Zimmer hinauf und trat auf den Balkon hinaus. Von hier sah sie die weißen Mauern und das Dach von Enzbergers Mühle zwischen den alten Bäumen drüben. Dort wohnte er mit seiner Geliebten, mit dieser Regina, dort widmete er seine Zeit und sein ganzes Wesen einer anderen Frau ...

Aber bald war nun ja alles aus. Für ihn und für sie und für jene dritte. Alles aus. Aber seine letzten Stunden würden diesem Weib gehören, seine Küsse und die letzten Gluten seines Leibes. Und ingrimmig wiederholte sie den Schwur, daß diese Erde nicht zugrunde gehen dürfe, ohne daß sie vorher ihrer Rache genug getan hätte.

Die Hände sanken ihr herab. Nach der Aufregung der letzten Augenblicke fühlte sie wieder, wie schwach sie war und wie sie ihr Körper schmerzte ... wie eine große offene Wunde. Alle ihre Glieder waren von den Verrenkungen der Leidenschaft, von den unzähligen Opfern für Astaroth verzerrt.

»Es ist gut so ... es ist gut so!« murmelte sie, aber sie wußte nicht, was sie damit meinte. Dann ging sie fröstelnd in ihr Zimmer zurück, nach einem letzten Blick in die Abenddämmerung, in der ein Licht aufgeflammt war. Ein Licht in einem der Fenster der Mühle drüben. Als Elisabeth an ihren Schreibtisch trat, fand sie einen der blaßblauen Briefe da liegen. Ein blaßblaues längliches Kuvert mit roten Rändern und Schnittlinien. Auf der Rückseite war das Zeichen: die fliegende Taube inmitten des Drudenfußes. Sie wußte: eine Bestellung zu einer Nacht im »Klub der babylonischen Jungfrauen«. Es war ihr immer ein Geheimnis geblieben, wie man ihr diese Briefe zugestellt hatte. Sie fand sie, mit goldenen feinen Nadeln angespießt, an ihrem Bett, wenn sie morgens erwachte, auf ihrem Schreibtisch, in ihren Schmuckkassetten oder Schränken – immer so, daß sie niemandem anderen in die Hände fallen konnten, als ihr. Das gefiel ihr immer so gut, daß sie sich in den phantastischen Traum einspann, die Göttin, die große und fürchterliche Astaroth bediene sich besonderer Zaubermittel, um ihr diese Botschaften zuzustellen. Und war es nicht wirklich ein Wunder, daß dieser Brief an sie gelangen konnte, in diese wohlverwahrte Festung ihres Vaters, die von Bewaffneten umstellt war, und in die ein Fremder nur nach endlosen Vorsichtsmaßregeln eingelassen wurde.

Sie brach den Brief auf und las ihn im letzten Schein der Dämmerung. Man rief nach ihr, die Göttin verlangte nach ihrer Priesterin. Mit langsamen Bewegungen entzündete sie eine Kerze und verbrannte den Brief in der Flamme. Er verging in einer Wolke süßlichen, blauschimmernden Dampfes ...

Elisabeth stand noch lange da und sah in die Flamme, die in dem von dem offenen Balkon herüberstreichenden Luftzug züngelte. Dann sammelte sie die Asche des Briefes in die hohle Hand und trat auf den Balkon. Nachdem sie die Asche vollkommen gerieben hatte, öffnete sie die Hand und streute das schwarze Gekrümel in die Nacht hinaus.

Ihr Kleid streifte den großen Strandkorb, der hier draußen stand. Sie wandte sich um und befühlte ihn, als müsse sie sich erst durch die Berührung darauf bringen, was das für ein Ding war. Endlich setzte sie sich und stützte den Kopf auf die rechte Hand, daß sich die Reste der Asche auf ihrer Wange verrieben. Und so saß sie viele Stunden, den Blick auf das ferne, beleuchtete Fenster in der Mühle gerichtet, bis es dort dunkel wurde. Und neben ihr rann der trübe Schein der flackernden Kerze über den Balkon und rieselte über den Rand in die Finsternis. Dann ging der Mond auf ...

Unter allen Sekten, die in diesen Tagen des Entsetzens entstanden waren, behauptete sich der »Bund des roten Todes« als die mächtigste und schrecklichste. Seine Zusammenkünfte wurden in einem zerfallenen, weitläufigen Fabriksgebäude abgehalten, das draußen vor der Stadt gelegen war. Von allen Mordtaten und Greueln kam der größte Teil auf seine Rechnung. Die Brüder schleppten ihre Opfer in die »Burg« und brachten sie unter allerlei gräßlichen Zeremonien um, aber sie überfielen sie auch auf der Straße oder suchten sie in ihren Häusern auf. Niemand war vor ihnen sicher. Und niemand konnte voraussagen, was sie demnächst beginnen würden, denn ihr Treiben war vollkommen sinnlos, nichts als eine Ausgeburt der Angst. Zwei Morde ereigneten sich beinahe gleichzeitig, die beide auf Rechnung der »Brüder vom roten Tod« gesetzt wurden. Der eine geschah in aller Stille, der andere aber am hellichten Tage, in der Raserei wütender, wahnsinniger Massen.

Professor Zugmeyer war in seinem Arbeitszimmer erdrosselt worden. Er wurde vor seinem Schreibtisch aufgefunden, und man sah, daß er eben einen Artikel zu schreiben begonnen hatte, in dem er nachwies, daß die Erde gerettet sei und daß man ihren Untergang nicht mehr zu befürchten brauche.

Am selben Morgen wurde Störner auf der Redaktion seines Blattes überfallen. Er hatte die ganze Nacht hindurch gearbeitet, um morgens die Stadt mit einer Menge von Plakaten und Flugblättern zu überschwemmen, in denen die Rettung verkündigt ward. Die Leute hatten ihn aber mitten in der Arbeit verlassen, wütend über den Betrug, den man durch diese Nachricht an der Menschheit verüben wollte. Und so hatte Störner mit den wenigen Getreuen selbst an den Maschinen gestanden und hatte am Morgen selbst seine Plakate und Flugblätter verbreiten geholfen. Eine Stunde nach seiner Rückkehr in die Redaktion war das Haus von einer geifernden, haßerfüllten Bestie von tausend Köpfen gestürmt worden. Störner, der nicht von seinem Platz gewichen war, wurde zerrissen und zerstampft, daß nur ein blutiger Fleischklumpen übrigblieb.

Das Haupt der »Brüder vom roten Tod« war noch immer Nikolaus Zenzinger, der immer mehr das Gehaben eines Propheten angenommen hatte. Nachdem er sich eine Zeitlang versteckt gehalten hatte, wagte er sich, als die Ordnung immer mehr verfiel, wieder hervor und zeigte sich bisweilen in einem langen roten Mantel inmitten seiner Schar. Zumeist aber blieb er doch in der »Burg«, in einem kleinen Raum, der zu einer Art von Allerheiligstem hergerichtet worden war. Hier durften ihn nur seine Offiziere aufsuchen, und hier heckte er in seinem verwirrten Hirn die Pläne für neue Taten seiner Banden aus. Oft stieg er nachts auf das flache Dach des Mitteltraktes hinauf und verbrachte Stunden mit eintönigem Geheul. Er sprach mit Gott, und seine Anhänger lagen in den Höfen ringsum auf den Knien und lauschten in andachtsvollen Schauern.

Dann aber kam es vor, daß er aus der Mitte seiner Getreuen verschwand. Auf ganze Tage oft; und man flüsterte, daß er entrückt sei. Das waren die Tage einer teilweisen Rückkehr seines Bewußtseins, wenn er wie aus einem bösen Traum erwachte; dann kehrte er in seine frühere Wohnung zurück, in der ihn Emma Rößler noch immer erwartete. Sie wußte, daß man ihn für das Haupt des Bundes des roten Todes hielt, und war davon überzeugt, daß dieses Gerücht der Wahrheit entsprach. Wenn er aber zu ihr kam, dann wuchs das Mitleid so groß und strahlend über den Abscheu empor, daß sie ihn nicht zurückzustoßen vermochte. Sie hätte ihn selbst zur Zeit, als man ihn noch suchte, nicht verraten können. Und immer wenn er kam, hoffte sie auf seine Genesung, sie hoffte ihn endlich zurückhalten zu können, und sie ging mit unendlicher Vorsicht seinen wilden und irren Vorstellungen nach, um ihre Wurzeln zu erkennen und ihre Wiederkehr zu verhindern. Aber nachdem Zenzinger einige Tage lang krank und gebrochen zu Hause gesessen hatte, kam es wieder über ihn. Er begann unruhig im Zimmer auf und ab zu gehen, murmelte vor sich hin und warf drohende Blicke um sich.

Emma Rößler fand in ihrer Angst Zuflucht bei dem Andenken ihres Gatten. Sein Kopf war ihr wie ein Amulett, das sie vor allen Übeln schützte. Und sie nahm ihn hervor und sprach mit ihm, wie wenn ihr Mann leibhaftig gegenwärtig wäre. Laut und immer lauter, je aufgeregter sich Zenzinger gebärdete. An den Blicken des Alten sah sie, daß er diesen Kopf haßte. Und eines Tages war er auf sie zugesprungen und hatte versucht, ihn ihr zu entreißen. Aber sie hatte den Kopf verteidigt und Zenzinger vor die Brust gestoßen, und da war er zur Vernunft gekommen und scheu und demütig in einen Winkel geschlichen.

Alle Kämpfe Emmas aber waren umsonst. Nach drei oder vier Tagen brach Zenzinger aus und lief davon, zu seinen Horden, die ihn begrüßten, als komme er aus einem Zwischenreich zwischen Himmel und Erde. –

Nächst dem Bund des roten Todes war die Sekte der Marianiten die bedeutsamste. Während jene in einem unklaren Gemisch der verschiedenartigsten Vorstellungen ihr Genügen fanden, hingen die Marianiten an einem festen Dogma. Seine Verkünderin war die alte Swoboda. Sie hatte sich ursprünglich den Brüdern des roten Todes angeschlossen, aber bald hatte sie sich von ihnen losgesagt und war ihre eigenen Wege gegangen. Nachdem sie einmal zwei Tage und zwei Nächte in einem Kreis geweihter Kerzen betend zugebracht hatte, war ihr die Mutter Gottes erschienen und hatte ihr verkündet, daß ihr von ihrem Sohn die Herrschaft über diese letzten Tage der Erde übertragen worden sei. Gott Vater und Christus hätten sich aus dem Himmel, der der Erde zunächst sei, in den siebenten der übereinandergetürmten Himmel zurückgezogen. Sie wollten von dieser sündhaften Welt nichts mehr sehen und hören, aber Maria habe sich bei der göttlichen Barmherzigkeit doch ausgewirkt, daß sie der Erde in ihrer Sterbestunde beistehen dürfe, und sie habe sich der Mitwirkung des heiligen Geistes versichert. In der Anrufung Marias läge also jetzt der einzige Trost, und die Göttliche hatte ihrer erwählten Dienerin versprochen, daß sie allen, die im Gebet zu ihr Zuflucht suchen würden, eine gnädige Fürsprecherin und hilfreiche Freundin sein werde.

Um die Verkünderin dieser Heilsnachricht scharte sich auch rasch eine bedeutende Anzahl von Gläubigen. Die Menschen griffen begierig nach allem, was ihnen eine Rettung zu verheißen schien. Der erste und begeistertste Jünger der alten Swoboda war der Kirchendiener, der ihre Überlegenheit seit jeher gefühlt und anerkannt hatte und nun behauptete, er habe schon immer gewußt, daß sie zu besonderen und hohen Dingen berufen sei. Und jedem, der es hören wollte, erzählte er, er habe bisweilen, wenn er und die erwählte Dienerin Marias in der morgendunklen Kirche beschäftigt gewesen seien, einen lichten Schimmer um ihren Kopf bemerkt.

Das ehemalige Kerzenweib nannte sich in seiner neuen würde Schwester Annunziata, und sie trug ein nonnenartiges Gewand, ein weißes, langwallendes, faltenreiches Hemd und darüber einen schwarzen Überwurf, der auf der Brust und auf dem Rücken ausgeschnitten war. Ihr Wesen hatte sich unter der Einwirkung der himmlischen Gnade vollkommen verändert. Ihre frühere Geschwätzigkeit war fort, sie bewegte sich mit ernster Würde und sprach nur selten. Und wenn sie sprach, geschah es mit gemessener Feierlichkeit und mit bedeutsamem Ausdruck.

Zur Sekte der Marianiten gehörte eine große Anzahl von Priestern. Zuerst hatte sich der Bischof ihnen entgegengestellt und der Geistlichkeit den Eintritt in die Sekte verwehren wollen. Aber die Macht der alten Frau und ihres Heilsgedankens war so groß, daß ihre Anziehung größer war als die in allen Fugen gelockerte kirchliche Disziplin. Die Priester erwiesen sich überall auch in diesem Stück allem Menschlichen nicht fremd. Sie waren gleich den anderen der furchtbaren Angst vor der Vernichtung unterworfen. Und anderswo fielen sie offen von der Kirche ab, schlugen sich zu den Rotten der Verzweifelten und rasten in einer unbändigen Gier nach Genuß, als wollten sie in diesen letzten Tagen mit schamloser Offenheit alles nachholen, was sie sich früher hatten versagen oder nur im geheimen gestatten dürfen. Es war der eisernen Energie des Bischofs und seiner Klugheit zu verdanken, daß in seiner Diözese die Geistlichkeit wenigstens im ganzen zusammenhielt. Es kamen wohl auch hier Abfälle vor, aber die Mehrzahl harrte auf ihrem Posten aus, wenn auch der Bischof sich nicht verhehlen konnte, daß die Ordnung nur rein äußerlich bestand. Er sah durch die Finger und ließ alles hingehen, wenn nur der Schein gewahrt blieb. Den Anschluß der Priester an die Marianiten konnte er um so eher gestatten, als zu ihren Gelübden das der Keuschheit und Nüchternheit gehörte. Und die seltsame Anziehung des ehemaligen Kerzenweibes auf die Geistlichen erklärte sich aus einem Gedanken, der aus der Marienlegende selbst wieder herübergenommen schien: die Erhebung der Unscheinbaren durch die himmlische Gnade, die Erwählung der letzten Magd ...

Die Marianiten hatten ihren Sitz in dem Dom, und man hatte ihnen stillschweigend die Bewachung des heiligen Grabtuches Christi anvertraut, das dort zur Andacht ausgestellt war. Und es war keine kleine Aufgabe, die Volksmassen, die täglich das Heiligtum sehen wollten, in Ordnung zu halten. Da gab es Ausbrüche, rasende Szenen, in denen Verzückung und Verzweiflung zusammenflossen.

Dieses Heiligtum war aber der letzte Grund des unerbittlichen Kampfes zwischen den Marianiten und den Brüdern des roten Todes. Eines Tages war Nikolaus Zenzinger nach einem Gespräch mit Gott unter seine Getreuen getreten und hatte verkündet, daß er eben erfahren habe, Gott wünsche diese unschätzbare Reliquie in den Händen seiner treuesten Diener zu sehen. Sie seien zu ihrer Bewahrung und Bewachung berufen. Aber die Marianiten hatten unter keiner Bedingung von ihrem Platz weichen wollen und waren den Brüdern des roten Todes so wohlbewaffnet und drohend entgegengetreten, daß Zenzinger den Befehl erteilen mußte sich zurückzuziehen.

Der Gegensatz zwischen den Marianiten und den Anhängern Zenzingers war in allen Stücken so groß, daß schon daraus eine natürliche Feindschaft entspringen mußte. Nun steigerte die Eifersucht auf den Besitz des Heiligtums diese Feindschaft zum brennenden Haß. Ein schrecklicher Krieg entspann sich zwischen zwei Sekten. Die Brüder des roten Todes lauerten den Marianiten überall auf, verfolgten sie, und wenn einer von diesen in ihre Hände fiel, war er verloren. Der rote Tod war seiner gewiß. Es kam endlich so weit, daß sich die Marianiten außerhalb des Domes nicht mehr sicher fühlten und daß fast alle ihre Wohnung in der Kirche aufschlugen. Sie hatten ein paar Decken bei sich und einige Geräte und kochten ihre Mahlzeiten auf dem Ofen der Sakristei oder auf dem großen Hof zwischen dem Dom und dem Palast des Bischofs.

Tagsüber wechselten sie in der Wache vor dem heiligen Grabtuch ab. Es war in einem gläsernen Schrein aufbewahrt, der auf dem Hochaltar stand. Ein kostbarer Brokatmantel war während der Nacht über den Schrein gebreitet, und es war das Amt der Schwester Annunziata, diesen Mantel morgens abzunehmen. Keine andere Hand durfte ihn berühren. Wenn der Mantel entfernt war, dann sanken die versammelten Marianiten und die anderen Andächtigen, die schon von den frühesten Morgenstunden an die Kirche erfüllten, in die Knie und begannen den großen Lobgesang zu singen.

Auf dem gelblichen Tuch war eine höchst sonderbare Zeichnung zu sehen. Ein Durcheinander von Flecken und Strichen, die wenig Ähnlichkeit mit einem menschlichen Körper hatten. Und doch war der Nachweis gelungen, daß man es hier mit dem Bild eines solchen zu tun hatte. Das Leinentuch war im Auftrag des Bischofs photographiert worden. Es sollten hunderttausende von Nachbildungen an die Gläubigen verkauft werden. Der Photograph hatte nun beim Entwickeln der Platte eine seltsame Entdeckung gemacht. Die rotbraunen Flecken und Striche hatten sich im Negativ zusammengeschlossen und das Bild eines nackten Mannes ergeben, der ausgestreckt dalag, mit gekreuzten Händen. Es war für diese Erscheinung nur eine einzige Erklärung möglich. Um schon im Negativ auf der photographischen Platte als Positiv herauszukommen, mußte das Bild auf dem Tuch selbst eine Art photographisches Negativ sein.

Man hatte hier also wirklich den Nachweis, daß dieser nackte Leichnam, den man einst in das Tuch gehüllt hatte, der Körper Christi gewesen sei. Indessen zeigte das Bild manche Seltsamkeiten. Es fehlten der Hals und die Ohren, die Schultern waren nur schwach angedeutet. Der Kopf war derb und das Gesicht breit mit vorstehenden Backenknochen, ganz anders, als man sich den Kopf Christi vorzustellen gewöhnt war. Die Nase war zerquetscht und die Wange, wie es schien, geschwollen. Die zwei Ansichten, aus denen das Bild bestand, wiesen merkwürdige und wesentliche Verschiedenheiten auf. Auf der Vorderseite waren keine Nagelspuren sichtbar. Auf der Rückansicht aber waren sie vollkommen deutlich. Sie befanden sich aber nicht in den Handflächen und in den Füßen, sondern im Handgelenk und in der Fußbeuge. Der Gelehrte, der den Bericht über die Reliquie verfaßt hatte, war für diesen Umstand, der etwas von der Tradition Abweichendes zeigte, zu der Erklärung gekommen, daß die Nägel im Handgelenk hätten angebracht werden müssen, weil sie in der Handfläche den Körper nicht hätten tragen können. Andere Anzeichen aber bestätigten die Angaben der Evangelien. Man sah ganz deutlich die Spuren der Dornenkrone auf der blutüberströmten Stirn.

Zur Zeit, als die Reliquie aufgetaucht war, hatte die Gelehrtenwelt noch genug Interesse an wissenschaftlichen Fragen gehabt, um in ein leidenschaftliches Für und Wider zu geraten. Aber die Sturmflut der Angst, in der jeder nur an sich selbst dachte, hatte bald die ganze Debatte verschlungen. Nur einer hatte mit hartnäckiger Verbissenheit das Problem nicht fallen gelassen. Der Professor der Archäologie Hartl hatte, von Bezug dazu ermuntert, seine Forschungen fortgesetzt, und eben erst in diesen Tagen hatte er eine Broschüre gegen den Wahnglauben veröffentlicht, daß man es hier mit dem Grabtuch Christi zu tun habe. Sie war in der Druckerei des »Morgenblattes« unter Störners Aufsicht hergestellt worden. Störner hatte Hartl richtig beurteilt. Es war nicht Mut oder flammende Wahrheitsliebe, die den Professor zwang, seine Aufgabe zu lösen, sondern eben jene Angst vor der Vernichtung, die ihn antrieb, etwas zu tun, sich irgendwie selbst davon zu überzeugen, daß man den Kampf nicht aufgeben dürfe. Aber was auch Hartls Motive gewesen sein mochten, seine Broschüre war Störner willkommen, denn sie schien ihm ein gutes Mittel zur Unterstützung seiner Arbeit, die der Beruhigung der Massen gegolten hatte. –

Die große Fabrik, in der die »Brüder des roten Todes« ihre Burg hatten, lag dunkel unter einem regnerischen Nachthimmel. Bisweilen fegte der Sturm in heftigeren Stößen über sie hin und brachte einen Regenschauer mit, den er prasselnd gegen die Mauern und zerbrochenen Fenster warf. Der Mann, der die Torwache hatte, wickelte sich dann fester in seine grobe Decke und drückte sich in die Nische, wo er ein wenig gegen den Regen geschützt war.

Manchmal schlurfte jemand über den Hof und wechselte im Vorbeigehen ein paar Worte mit dem Wächter.

Mühsam gegen den Wind ankämpfend, kamen elf Schläge von dem größeren Turm des Domes. Dort war die einzige Turmuhr, die noch die Zeit richtig anzeigte. Es war, als habe sie noch etwas vom Geiste und dem Pflichtgefühl ihres früheren Pflegers, des Türmers Palingenius bewahrt.

Ein paar Minuten später klopfte es im anapästischen Rhythmus gegen das Tor. Der Wächter wickelte sich aus seiner Decke und öffnete den Schieber in der Tür. Es war aber so finster, daß er nichts sehen konnte. »Wer ist da?« fragte er.

»Der Herr und der Prophet«, gab man ihm das Losungswort.

Da schob er den großen Querbalken zurück, der wie ein Sturmbock an zwei Ketten befestigt war, und ließ die Wartenden ein. Es waren vier Männer mit schwarzen Masken vor dem Gesicht. Der Regen schien nur auf den Augenblick gewartet zu haben, bis das Tor geöffnet würde, und warf sich jetzt mit aller Wucht hinein, daß alle fünf Männer für einen Moment von den stürzenden, schäumenden Wasserschleiern eingehüllt waren. Dann fegte der Sturm weiter, über die Dächer und um die Kanten, mit einem schrillen Gelächter und boshaften Pfeifen. Und als der Sturm schon draußen auf den dunkeln Feldern tanzte, schwoll ein Laut empor, der aus dem wilden Getöse zurückgeblieben zu sein schien und nun zu selbständiger Bedeutung gedieh: ein anhaltendes Heulen, von einem klagenden unheimlichen Klang.

»Der Prophet ist auf dem Dach?« fragte einer der Angekommenen.

»Ja – er spricht mit Gott!«

»Bei diesem abscheulichen Wetter?«

»Wenn Gott ruft, dann darf uns das Wetter nichts kümmern.«

Hainx sah dem Mann ins Gesicht. Es war der Rahmenmacher vom Domplatz; Hainx kannte ihn als einen der treuesten Anhänger Zenzingers und wußte, daß seine Frömmigkeit ungeheuchelt war.

»Sind die andern schon versammelt?«

»Sie sind in der großen Halle. Gehen Sie nur. Den Weg kennen Sie ja.«

Das große Tor fiel zu und die Ketten des Querbalkens klirrten ein wenig. Hainx führte seine Begleiter über den Hof, indem er sich, soweit es in der Dunkelheit möglich war, bemühte, den Wasserlachen auszuweichen. Dann, nachdem sie in einem argen Winkelwerk herumgetappt hatten, kamen sie an eine Tür, über der eine Kerze in einer Laterne brannte. Das Licht zuckte plötzlich auf, als sie eintraten, als wollte es nachsehen, wer da komme. Es ging eine Treppe hinan, an deren Wänden hie und da wieder eine Kerze befestigt war. Dann durch ein paar öde Zimmer, die einmal als Schreibstuben gedient haben mochten. In einem der folgenden Räume schien das Arsenal des Bundes untergebracht zu sein. Alle Arten von Waffen hingen und standen herum. Zuweilen begegneten die vier Männer einem der Bewohner der Burg.

Dann hoben sie die rechte Hand mit der Schnittfläche nach vorne bis zur Höhe der Stirne zu stummem Gruß.

Als sie über einen zugigen kahlen Korridor kamen, schritten sie in ein Gemurmel hinein, das über dem dunkeln Ende des Ganges zu lagern schien. Hainx öffnete eine Tür, und sie betraten die Versammlungshalle der »Brüder des roten Todes«. Sie mochte einst der Maschinensaal der Fabrik gewesen sein, denn große Löcher in den Wänden schienen den Platz anzuzeigen, wo früher die Maschinen eingemauert gewesen waren. Oben, nahe der Decke, wiesen kleinere Löcher die Stellen, wo die Übersetzungsriemen durchgelaufen waren. Als hätte eine Art von Fäulnis von diesen Löchern aus um sich gefressen, waren ihre Ränder abgebröckelt und Mörtel und Ziegel lagen wie abgeschälter Schorf auf dem Boden. Dieser Raum hatte keine Fenster in den Wänden, sondern nur in der Mitte der Decke ein rotes Auge aus Glas.

Das Heulen des Propheten war hier deutlich vernehmbar. Er saß gerade über den Köpfen der Versammelten auf der gläsernen Decke und sprach mit Gott. Die Jünger und Jüngerinnen, eine Schar von Auserwählten aus der großen Masse, saßen in zwei Reihen längs den Wänden auf dem Boden, mit gekreuzten Beinen wie die Orientalen, und murmelten vor sich hin. Drei Faßreifen, die, mit Kerzen besteckt, von der Decke herabhingen, und eine Anzahl armselig brennender Petroleumlampen an den Wänden gaben ein aschfahles, manchmal ins Gelbliche schwankendes Licht. In diesem Licht gewann ein seltsames Mäanderband, das drei Wände der Halle umzog, zuckendes Leben. Es war ein Mäanderband aus menschlichen Händen; lauter rechten Händen, die mit großen Nägeln an der Mauer befestigt waren. Dort, wo das Band begann, in der Ecke neben der Eingangstür, waren die Hände eingedorrt, mumienartig vertrocknet und schienen sich mit gekrümmten dürren Fingern in die Wand einzukrallen. Am Ende des Bandes aber waren die Hände noch frisch, mit blutigen Schnittflächen und bläulich angelaufen. Wenn die Lichter unter einem Windstoß, der durch die Löcher in den Mauern Eingang fand, zusammenfuhren, so sah es aus, als ob eine Schar großer, häßlicher Spinnen im Begriff sei, die Wände hinanzuklettern.

Als die vier maskierten Männer eintraten, wandte sich ihnen ein Teil der Versammelten zu.

»Das sind sie wieder, die vier«, flüsterte einer.

»Die kommen immer zur Stunde des Opfers.«

»Niemand weiß, wer sie sind.«

»Der Prophet weiß es. Er hat sie unter uns gebracht. Er kennt sie.«

»Stille. Er schweigt. Er hat aufgehört mit Gott zu sprechen. Er wird gleich bei uns sein.«

Über den Versammelten knirschten Schritte auf dem Glasdach. Das Gemurmel der Betenden wurde leiser in der Erwartung des Propheten. Aber es dauerte noch eine Viertelstunde, ehe er eintrat, in seinem roten Mantel, der mit einem derben Strick umgürtet war. Da warfen sich alle zu Boden, auch die vier Fremden, die schweigend hinter den andern Platz genommen hatten, und blieben wenige Minuten in dieser Lage der Demut und Zerknirschung.

Dann begann eine Stimme, die heiser war vom Heulen: »Der Engel der Vernichtung hat schon sein Schwert gezückt und die Fackel angezündet. Er steht auf einem rollenden Rad, das über den Abhang der Himmel gleitet, auf einem Rad, das keinen Aufenthalt kennt. In zehn Tagen wird er mitten unter uns sein, und der Herr wird seine Auserwählten zu sich rufen.«

»Hu! – hu! – hu!« fielen die Jünger ein, indem sie sich erhoben.

Zenzinger stand unter ihnen, inmitten der Halle und hatte die Arme hoch aufgereckt. Von seinem Gesicht ging ein kaltes Grauen aus; seine Augäpfel waren starr und so verdreht, daß man nur das Weiße sah, aus seiner Nase flossen zwei dünne Fäden Blut in den grauen Bart.

»Das Zeichen!« flüsterten einige, »er hat das Zeichen der Gnade.«

Lange stand der Prophet so mit aufgereckten Armen, länger als es in der Kraft eines Menschen ist, in dieser Stellung zu verharren. Endlich sanken die Arme herab, die Augen bewegten sich und die Blutfäden versickerten.

»Wir sind zum Opfer versammelt, das Gott wohlgefällig ist.« Er klatschte in die Hände. In der Wand dem Propheten gegenüber öffnete sich eine Tür, und ein paar Männer in roten Hemdenblusen traten ein, die ein nacktes Mädchen zwischen sich führten. Es war ein schlankes junges Ding mit kleinen spitzen Brüsten und wenig gewölbten Hüften. Die Arme und Beine waren lang und schmal, das Haar hing ihr aufgelöst herab. Sie zitterte so, daß sie nicht zu gehen vermochte und von den Männern geführt werden mußte. Ihre Hände waren fest auf den Rücken geschnürt und im Mund stak ein Knebel, der die Zähne weit auseinanderpreßte.

Die Männer führten sie vor Zenzinger und hielten etwa fünf Schritte vor ihm an. Die Augen des Mädchens waren weit aufgerissen, in einem Entsetzen, das so groß war, daß es ihr selbst die Milderung der Bewußtlosigkeit raubte.

»Das Opfer ist bereit,« sagte der Prophet, »ich frage: ist sie reif für das Opfer des roten Todes?«

Da erhob sich der Rahmenmacher, der inzwischen von seinem Posten am Tor abgelöst worden war: »Sie ist reif für den roten Tod«, sagte er, indem er die Arme über der Brust kreuzte.

»Warum ist sie reif für den roten Tod?«

»Sie gehört zu den Marianiten, die von Gott verflucht sind.«

»Was sind ihre Verbrechen?«

»Sie haben sich das Heiligtum der letzten Tage angeeignet und wollen es nicht herausgeben, uns, denen es von dem Herrn anvertraut worden ist.«

»Was sind ihre anderen Verbrechen?«

Da sprachen sie von verschiedenen Seiten zugleich:

»Sie sagen, daß Gott die Welt verlassen habe.« – »Sie lügen, daß Gott nur das Gebet wohlgefällig sei, und verabscheuen die Tat.« – »Sie lügen, daß die Vereinigung von Mann und Weib Gott nicht wohlgefällig sei.« – »Sie lügen, daß die Menschheit nur durch sie erlöst werden kann.« – »Sie lügen, daß sie allein zum Kampf gegen den Antichrist berufen sind.«

Der Prophet winkte mit dem Arm: »Es ist genug! Dann ist sie reif für den roten Tod. Wir geben ihr Gelegenheit, zu sprechen, damit sie zum letztenmal ihre Stimme hört und sie drüben im Tal der Verdammten wiedererkennt.«

Einer der Wächter zerrte der Verurteilten den Knebel aus dem Mund. Aber es kam nur ein Wimmern zwischen ihren Zähnen hervor, ein gräßliches, gequältes Wimmern, ein ungeformter Ton, weich und schlammig wie eine verwesende Qualle.

Inzwischen war der Prophet auf die kleine Tür zugegangen, durch die man das Opfer gebracht hatte. An der Tür wandte er sich um: »Ich rufe meine zwölf Apostel zu mir!«

Zwölf der Offiziere des Propheten erhoben sich und folgten ihm. Auch die vier maskierten Männer waren aufgestanden und schlossen sich an. Es ging wieder durch einige kleinere Räume bis in ein Zimmer, an dessen Tür die Wächter zurückblieben, nachdem sie das Mädchen hineingestoßen hatten. Sie brach sogleich zusammen, krümmte sich wie ein Wurm und blieb wimmernd liegen.

Das Allerheiligste war ganz mit rotem Stoff überzogen, und als die Tür mit dem Dröhnen von Eisen zugefallen war, schien es, als sei man in einer großen gefütterten Kiste eingeschlossen. In der Mitte des Raumes lagen zwei rote Kissen auf dem Boden, neben denen eiserne Klammern, eine Art von Fangeisen, angebracht waren. Die Apostel und die Fremden hockten wieder längs der Wände nieder, nur zwei der Offiziere blieben neben dem Mädchen stehen.

Wie vorhin hatte der Prophet die Arme erhoben und betete mit weit zurückgeworfenem Kopf. Es war ein schweres Keuchen in dem Raum. Das Mädchen hatte zu wimmern aufgehört und gab keinen Laut von sich. Nur ihre Haut hatte eine seltsame Beweglichkeit gewonnen, wie die Haut von Tieren, von Hunden oder Pferden, und war von Zeit zu Zeit von einem Beben überflogen.

Dann gab der Prophet den beiden Offizieren einen Wink. Sie packten den Körper und trugen ihn in die Mitte des Raumes. Den Kopf betteten sie auf einem der roten Kissen, dann streckten sie die Beine lang aus und ließen die im Boden befestigten Fangeisen um die Knöchel zuschnappen. Sie lösten die Fesseln der Arme und zwangen die Handgelenke in das andere Paar der Fangeisen. Es gab einen knirschenden Laut, wie das Reiben der Eisenzähne eines Riesen.

Der Prophet hatte das zweite rotsamtene Kissen aufgenommen und näherte sich der Gefesselten. Er bückte sich über sie und sah ihr in die Augen. Da brach ihre Todesangst in einem einzigen langen Schrei los. Schnell warf der Prophet das Kissen über ihr Gesicht und setzte sich darauf. Der Schrei brach ab und ein Gurgeln und Röcheln folgte ihm. Der lange rote Mantel des Propheten bauschte sich in reiche Falten über dem Körper des Mädchens und verhüllte ihn zur Hälfte. Und dieser Körper bäumte sich in den eisernen Klammern, unter den Füßen des Propheten, die er auf den weißen Leib gestellt hatte.

Hainx sah immer auf diese Füße hin. Sie staken in roten Samtpantoffeln und wurden von den schrecklichen Zuckungen der Erstickenden emporgeworfen. Aber Zenzinger bewahrte seinen Sitz, und sein Gesicht verlor nichts von seiner Starrheit, bis die Bewegungen immer schwächer wurden und endlich ganz aufhörten.

Diese Füße in den roten Samtpantoffeln ... diese Füße standen noch immer auf dem weißen Leib, der jetzt glatt und still unter den roten Falten des Mantels hervorfloß ... Nur um den Rand der Fangeisen an den Knöcheln und Handgelenken hatten sich rote blutige Spuren des entsetzlichen Todeskampfes gebildet, aus denen einzelne Tropfen langsam hervorsickerten. –

In der Halle erwartete die Versammlung der Jünger die Rückkehr des Propheten im Gebet.

Ein triumphierendes Geschrei scholl ihm entgegen, als er eintrat, von seinen Aposteln begleitet, die mit brennenden Pechfackeln zu beiden Seiten gingen. Auf einem roten Kissen trug er eine frisch vom Körper geschnittene Menschenhand, die auf dem dunkeln Stoff aussah wie eine seltsame Frucht von blassem, bläulich überlaufenem Fleisch.

Sein Schritt war steif und gespreizt, als er jetzt die Hand unter die Genossen trug; die Beine schienen in den Kniekehlen aller Biegsamkeit beraubt.

»Hu – hu – hu!« heulten die Brüder und Schwestern der Gemeinde und umarmten sich in verzücktem Jubel. Sie drückten sich enge aneinander, begannen einander zu befühlen, küßten und bissen sich.

Mit grotesken Froschsprüngen kam der Dreifaltigkeitsschuster heran, der so hieß, weil auf seinem Haus ein Bild der göttlichen Dreifaltigkeit zu sehen gewesen war. Er hatte dieses Haus in einer Nacht niedergebrannt, weil er allem irdischen Gut entsagen wollte, und durch die von diesem Brand ausgehende Feuersbrunst war ein bedeutender Teil des Armeleuteviertels unterhalb des Domberges eingeäschert worden. Bei den Brüdern des roten Todes hatte er dann bald einen hohen Rang erreicht. Er sprang jetzt hockend vorwärts, indem er mit den Armen heftig um sich schlug. Vor dem Propheten richtete er sich auf und nahm das Kissen mit der Hand in Empfang. Zwei Gehilfen trugen Hammer und Nägel hinter ihm bis zum Ende des Mäanderornaments, als dessen Fortsetzung die Hand befestigt wurde.

Die große Zeremonie war zu Ende.

Mit der üblichen Frage wandte sich der Prophet an die Versammlung: »Ich frage: wer hat zu klagen gegen irgendwen ... sei es Mann oder Weib, sei es hoch oder niedrig, sei es Bruder oder Schwester oder ein Fremder.«

Ein leises Murmeln ging durch die Reihen:

»Der Prophet ... der Prophet ... er ist mächtig und groß.«

»Wie seine Augen leuchten ...«

»Nie noch war er so von Gott erfüllt ... je weiter zum Ende, desto sichtbarer ist die Hand des Herrn über ihm.«

Ein Mann erhob sich in einer Ecke der Halle und streckte den Arm empor.

»Der Bruder, der zu klagen hat, er rede ...«, sagte Zenzinger, und es war seltsam, daß er nach einer ganz anderen Richtung sah und doch wußte, daß jemand zu reden wünschte. »Ich klage«, begann der Mann, »gegen einen Lästerer des Heiligtums der letzten Tage. Er hat ein Buch geschrieben gegen das heilige Grabtuch Christi ...«

Die vier maskierten Männer steckten die Köpfe zusammen und flüsterten miteinander: »Wer ist denn das? Ist das nicht ...«

»Ja, es ist dieser Adam Gästner ... Der Chemiker! Der Verkünder der Enthaltsamkeit ...«

»Auch ein Prophet. Aber er ist vor dem größeren Propheten gewichen ...«

»Sehen Sie den Mann an. Er hat sich bekehrt. Er ist schwer betrunken.«

Der Kläger schwankte wirklich auf seinem Platz hin und her. Sein Gesicht war aufgedunsen, und seine Worte kamen ihm nur verquollen und von Speichel triefend aus dem Mund. Aber er hatte jene hartnäckige Beredsamkeit der Trunkenen, die sie ihr Thema festzuhalten zwingt, und die ihnen eine besondere Art von Eindringlichkeit gibt: »Er hat gelästert. Er hat ein Buch geschrieben ... ein Buch. In dem ist zu lesen ... der Mann ist ein Professor, ein gelehrter Mann, und er heißt Hartl ... und er hat geschrieben, daß ein Maler das Bild auf ... auf dem Tuch gemalt haben muß. Ein Maler, der einen Abdruck nachgeahmt hat ...«

»We – we – we – we!« zeterte die Versammlung.

»Und das ist sündhaft und lästerlich. Denn es ist wirklich der Abdruck ... der Abdruck eines Körpers ... das ließe sich beweisen. Beweisen! Beweisen!! Ich bin Chemiker gewesen! Es ist gleichgültig, was ich war ... denn vor dem Atem der Vernichtung sind wir alle gleich ... alle ... ich könnte auch ein König gewesen sein ... ich wäre nicht mehr, als ich jetzt bin. Aber ich war kein König, ich habe alle Stoffe untersucht ... alle Stoffe, die es gibt. Und ich weiß: wenn ein Mensch gekreuzigt wird, gekreuzigt wird, jawohl, so kommt ein fürchterliches Fieber über ihn ... und Ammoniak ... hup ... Ammoniakdämpfe ... strömen von ihm aus. Ammoniakdämpfe ... hup! Und diese Ammoniakdämpfe ... Da ist ein Tuch ... mit Aloe überstrichen, mit Aloe, verstanden, und wenn diese Dämpfe auf ein solches Tuch ... verstanden ... auf ein solches Tuch ... kommen, so entstehen solche Flecken ... wie ... gesagt ... also solche Flecken ... der Körper, der in ein solches Tuch gewickelt wird, muß einen Abdruck ...«

Der Redner taumelte gegen die Wand, fuhr mit der Hand über sein schweißüberdecktes Gesicht und stammelte weiter: »Der Körper eines Gekreuzigten ... selbstverständlich ... also muß das Tuch ... denn es war ... wie berichtet wird ... mit Aloe ...«

Da brach er zusammen, aber noch einmal hob er sich auf die Hände und lallte: »Das laßt sich beweisen ... es läßt sich beweisen ... wie gesagt ...«

Der Prophet hatte während der Rede nicht ein einziges Mal nach dem Kläger hingesehen. Jetzt sagte er: »Es ist gut ... es ist gut ...« und wie unter einem Gedanken, der ihm von einem starken Willen eingeprägt worden war, wiederholte er: »Es läßt sich beweisen ... es läßt sich beweisen ... wenn man den Körper eines Gekreuzigten hätte ...«

Da sprangen zehn, zwanzig der Brüder und Schwestern zugleich auf. »Ich ... ich ... ich will mich ... nimm mich, Prophet ... nimm mich ... ich will es sein.«

Aber der Prophet hob die Hand und schüttelte den Kopf. »Gott hat gewählt ... es ist jemand, der schon lange gezeichnet ist, gezeichnet ... und jetzt hat Gott mit dem Finger auf ihn gewiesen ... es ist gewählt.«

Und die Zurückgewiesenen warfen sich zur Erde und schrien und weinten, daß nicht sie ihren Leib der Kreuzigung darbieten durften, in einer ungeheuchelten Verzweiflung, die sie in Krämpfen schüttelte.

Ein paar dumpfe Trommeln schlugen einen Rhythmus an und dazwischen hüpfte hoch und schrill eine Flöte. Es war, als tanze jemand auf einem Bein, ganz verrückt, während die Zuschauer im Kreise saßen, regungslos und stumm glotzend.

Und dann begann der Wirbel der Orgie, in der sie übereinander herfielen, sich zu einem wilden Knäuel von Leibern verschlangen, einem stöhnenden, keuchenden, kochenden Klumpen von Menschen, während Zenzinger mitten unter ihnen stand, unbeweglich, wie eine Säule in dem Getümmel der Rasenden, das sich zu seinen Füßen wälzte.

Gegen Morgen verließen die vier Fremden, die der Orgie aus einer Ecke zugesehen hatten, die Fabrik. Die Höfe lagen still und öde, selbst der Wächter am Tor war fort. In einem Winkel, unter allerlei Kram, Gerätschaften aus der Zeit, wo die Fabrik noch in Betrieb gewesen war, und Abfällen aus den Küchen der jetzigen Bewohner, fanden sie Adam Gästner liegen, halbnackt, im Zustand vollkommener Trunkenheit ...

»Es scheint, daß dieser Herr seinen Grundsätzen recht von Herzen untreu geworden ist«, sagte einer von den Vieren. »Es ist ein guter Prüfstein, dieser Untergang.«

Hainx schob den Torbalken zurück und öffnete, und indem sie hinaustraten, wandte er sich zu dem Sprecher: »Ja,« sagte er, »Sie dürfen wahrhaftig zufrieden sein. Dieses Stück ist Ihnen überaus gut gelungen.«

Der andere lachte: »Ich bin auch zufrieden, mein lieber Hainx, recht zufrieden.« Und er nahm endlich die Maske ab, um sein rotes, verquollenes Gesicht der Morgenkühle darzubieten. – Es war Thomas Bezug ...

Emma Rößler stand stets frühzeitig auf. Es litt sie morgens nicht lang im Bett, und da sie gleich allen andern an ein baldiges Ende der Erde glaubte, wollte sie das bißchen Sonnenschein und Morgenglück, das ihr noch beschieden war, recht ausnützen. Sie war durch eine Wandlung, die ohne ihr Bewußtsein in ihr vorgegangen war, überrascht worden. Langsam war es geschehen, so langsam, daß sie es erst spät bemerkt hatte. Die Unruhe über Zenzingers Verhalten war endlich durch ein tiefes Gefühl, das sie zuerst noch nicht Glück zu nennen wagte und dann doch so empfand, verdrängt worden. Was ging sie im Grunde dieser Mensch an? Sie hatte lange mit ihm gelebt und einen Teil seiner Sorgen auf sich genommen. Aber inzwischen war er ein ganz anderer Mensch geworden. Jedes Atom seines Körpers und jedes Teilchen seiner Seele war durch ein anderes ersetzt. Es war schrecklich, daß so etwas geschehen konnte, aber ihre tiefsten Tiefen durfte das nicht berühren. Sie wuchs ja auf einem ganz anderen Boden.

Während sie in ihrem kleinen hellen Zimmer auf und ab ging und abstaubte, rief sie die Erinnerung an Zenzingers letzte Rückkehr zu ihr ins Gedächtnis. Sie hatte gesehen, daß die dunkeln Dämonen ihn nur auf kurze Zeit freigelassen hatten, daß er sich nur auf Stunden losgerungen hatte, vielleicht zum letztenmal. Und sie wünschte, daß es das letztemal gewesen sein möchte. Noch immer war sie von tiefem Mitleid bewegt, aber sie sah sich doch so weit von ihm getrennt, daß sie ihm nicht zu helfen vermochte. Und nun war ihr Sinn ganz dem Ende zugewendet, mit dem doch jeder allein fertig zu werden hatte.

Sie goß aus ihrer kleinen grünen Gießkanne einen Staubregen über die Blumen im Fenster. Wie lange noch? Wie viele Tage noch? Das war die erste Frage, mit der ihr Glück ihr bewußt geworden war. Nur ein paar Stunden und dann war sie bei ihrem Gatten. Wie es auch drüben aussah, sie wußte, daß er sie erwartete. Sie hatte nichts für ihn tun können, für seinen Ruhm und seine Unsterblichkeit. Aber nun sah sie, noch diesseits des großen Vorhangs, schon einen Schimmer der Weisheit der Vorsehung. Die Unsterblichkeit durch eine Welt, der schon das Zeichen der Vernichtung aufgedrückt war?

Wenn sie während des Arbeitens durch das Zimmer ging, dann unterließ sie es nie, einen Blick auf den Kopf zu werfen, der nun unter seiner Glasglocke immer auf der alten Kommode stand. Sie kannte nun seine Züge weit besser als zu seinen Lebzeiten. Und sie würde ihn wiedererkennen unter den Legionen von Seelen, kraft jener untrüglichen Anziehung, deren Vorahnung sie schon jetzt wirksam fühlte.

Sie ging zu dem kleinen Kachelofen neben der Tür, um den Milchtopf auf das Feuer zu setzen. Da fiel ihr wieder Nikolaus Zenzinger ein, der seine Banden in einer verfallenen Fabrik um sich versammelte und von dem man die gräßlichsten Dinge erzählte.

Und als habe sie ihn gerufen, stand er plötzlich in der Tür, mit bloßem Kopf, in einem alten, zerschlissenen Havelock, durch dessen Risse etwas Rotes vorschien. Er trug ein Paket unter dem Arm und kam auf roten Pantoffeln heran. Sie sah ihm erschreckt ins Gesicht. Es war ihr, als sei es mit einer Art von starrer Schichte überzogen, die seine Mienen zur Unbeweglichkeit zwang.

»Kommst du wieder einmal zu mir?« fragte sie.

»Ja,« sagte er, indem er mitten im Zimmer seinen Havelock von sich warf, »ich komme heute im Ornat.« Er stand in einem roten Talar vor ihr, der in der Mitte durch einen derben Strick zusammengehalten war. »So hast du mich noch nicht gesehen.«

»Und ich wünsche dich auch nicht so zu sehen, Nikolaus! Du solltest mich nicht an die schrecklichen Dinge mahnen, von denen ich nichts wissen will. Was da in deiner Burg unter euch vorgeht, das will ich nicht wissen, hörst du. Ich habe dich liebgewonnen und ich bedaure dich. Du bist krank ... aber wenn du zu mir kommst, dann mußt du das alles ablegen ...«

Sein Gesicht blieb unbeweglich: »Ich weiß es, Weib ... ich weiß es schon lange ... aus dir redet der Antichrist. Er macht in diesen letzten Tagen noch alle Anstrengungen, um sein Reich zu behaupten. Aber Christus ist auf dem Wege mit einer Legion Engel.«

Mit schlurfenden Schritten ging er auf den Tisch zu und legte sein Paket ab.

»Was bringst du da?«

»Ich bringe, was ich brauche.« Und er riß die Papierhülle ab. Da war ein großes weißes Tuch darinnen, und in dieses eingewickelt eine Anzahl langer Nägel mit breiten Köpfen und ein Hammer. Während er mit diesen Dingen beschäftigt war, betrachtete ihn Emma von hinten und sah, daß sein großer Kopf mit den verwirrten Haaren einem Zug zu unterliegen schien, der ihn auf die rechte Schulter beugte. Trotz seiner steten Bemühungen, ihn aufzurichten und gerade zu halten, sank er ihm immer wieder zur Seite.

Zenzinger war fertig, glättete das Papier und legte es sorgfältig zusammen.

»Sag' mir doch endlich, was du mit alledem willst ...?« Emma sah, daß Nikolaus für sie unerreichbar war, und in ihrem Beinstumpf begann ein schmerzhaftes Zucken, das sie als eine körperliche Begleiterscheinung großer Aufregungen an sich schon kannte.

Ohne ihr zu antworten, ging Zenzinger durch das Zimmer und besah sich die Wände, als ob er sie messen wollte. Dann blieb er vor der Wand stehen, an die das Bett gerückt war, und nickte. Mit den großen hageren Händen faßte er an und zog es mit einem Ruck zur Seite. Eine fürchterliche Kraft war in diesem alten Mann; Emma erschrak, denn sie wußte, wie schwach und hinfällig Nikolaus in seinen lichten Stunden war. Und mit einemmal kam ihr der Gedanke, sie müsse entfliehen, den schrecklichen Dingen, die er vorzubereiten schien, entfliehen. Leise näherte sie sich der Tür, und schon wollte sie die Klinke erfassen, als die Milch, die auf dem Feuer stand, plötzlich aufkochte und zischend überfloß.

Zenzinger wandte sich um ... er sah Emma an der Tür und war mit einem Sprung bei ihr, indem er sie am Arm faßte und zu Boden riß. Dann drehte er den Schlüssel um und steckte ihn in eine der Taschen seines roten Talars.

»Was willst du? Du bist wahnsinnig!« keuchte Emma und erhob sich mühsam vom Boden. Ihr Stelzfuß hatte im Sturz hart gegen den Knöchel des anderen Beines geschlagen und sie konnte jetzt kaum gehen.

»Du bist erwählt! Du bist erwählt! Du wirst dein sündhaftes Leben büßen ... durch einen Tod, der Gott wohlgefällig ist ...«

»Nikolaus, vergißt du denn alles ... denke dran, wie ich dich ...«

»Wir sollen die erhobene Hand Gottes nicht zurückhalten. Gott hat die Hand gegen dich erhoben. Ich, dem er seine letzte große Offenbarung getan hat, ich bin sein Werkzeug ... ich habe Gott gesprochen. Er streckt die Hand nach dir.«

Noch einmal ließ Emma alle Möglichkeiten der Rettung an sich vorbeigleiten. Sollte sie hier durch einen Wahnsinnigen ermordet werden, anstatt die Wiederkunft des Gatten in der Wolke der Zerstörung zu erwarten? Das Ende der Erde stand ja nahe bevor. Aber sie wollte nicht sterben, so nicht ... Die letzten Tage des Glücks der Erwartung sollte sie verlieren? Sie war entschlossen, sich zu verteidigen. In dem ganzen, durch den Brand von neulich halbzerstörten Haus wohnte niemand mehr außer ihr. Es nützte ihr nichts, wenn sie um Hilfe schrie, hier konnte sie niemand hören. Wie, wenn sie aber ... hier war ein letzter Weg ... wenn sie ins Nebenzimmer lief und die Tür rasch von innen versperrte und aus dem Fenster hinausrief? Irgend jemand würde da vorbeigehen und sie hören und vielleicht soviel Erbarmen besitzen, ihr zu helfen ... das, ja das ...

Indessen hatte Zenzinger den Tisch an die Wand gerückt und einen der Nägel hoch oben, nahe der Decke, in die Wand eingetrieben. Als er sah, daß Emma sich der Nebenkammer nähern wollte, sprang er, den Hammer in der Hand, herab und trieb sie mit erhobenem Arm zurück. Sie taumelte mit hartem Aufstoßen des Holzfußes in die Mitte des Zimmers, verwickelte sich in den Havelock, der dort auf dem Boden lag und fiel hin. Da beugte sich Nikolaus zu ihr, holte mit dem Hammer weit aus und traf ihre Schläfe.

Emma stöhnte einmal, dann schloß sie die Augen und rührte sich nicht mehr. Zenzinger stand vor ihr und beobachtete sie lange: »Der Antichrist,« murmelte er, »... er hat zehntausend Listen und heimliche Wege ...« Als er aber sah, daß das Weib wirklich bewußtlos war, legte er den Hammer auf die Kommode. Leise klirrte der Glassturz über dem Haupt des Dichters.

Zenzinger grub in seinen Taschen und holte einen langen starken Strick hervor, den er in eine Schlinge legte. Dann hob er den Oberkörper Emmas auf und befestigte die Schlinge unter ihren Armen. Er zog den Körper hinter sich her, hob ihn auf den Tisch und stieg selbst hinauf. Seine Bewegungen waren leicht, und die Last der Bewußtlosen machte ihm keine Mühe. Mit Hilfe des Strickes, den er über den Nagel in der Wand legte, holte er jetzt den Körper auf und befestigte ihn, indem er das Ende des Seiles an die Schlinge knüpfte.

Nun war er so weit, daß er mit der Kreuzigung beginnen konnte.

Emmas Bewußtlosigkeit war so tief gewesen, daß sie erst erwachte, als Zenzinger den zweiten Nagel einschlug. Sie öffnete langsam die Augen und sah den Wahnsinnigen vor sich, mit dem Hammer in der Hand ... Die erste irre Bewegung, zu der sie ihr Instinkt trieb, war, den Mann mit den gräßlichen Augen zurückzustoßen. Aber ihre Hände waren irgendwie festgehalten, und der Ruck, den sie ihnen gab, ließ einen wütenden Schmerz zurück. Und zugleich mit diesem Schmerz kam das Gefühl eines unangenehmen Schwebens ... was war das nur? –

Was war das nur? –

Der Schmerz in ihren Händen war von einer Wärme begleitet oder eingerahmt, und Emma hätte gerne hingesehen, aber sie wagte es nicht, den Blick von den blutunterlaufenen Augen des Mannes zu wenden, die den ihren so dicht gegenüber waren; es war ihr, als müßte einer solchen Unvorsichtigkeit sogleich ein heftigerer Ausbruch des Wahnsinns folgen. Aber langsam machte sich Nikolaus von ihrem Blick los und stieg vom Tisch herab ... da sah Emma, daß sie ihre Herrschaft über den Mann verloren hatte ...

Nur sein seltsames Beginnen ...

Und jetzt zog er plötzlich den Tisch fort. Ein heftiger Ruck fuhr durch ihren Körper, als er jetzt mit einemmal herabsank, nur durch das Seil und die Nägel in den Handgelenken gehalten. Der Schmerz wurde so heftig, daß sie einen lauten Schrei ausstieß. Sie wandte den Kopf und sah, daß ihre Arme an die Wand genagelt waren.

Da fühlte sie eine Berührung an ihrem Bein, ein Ziehen ... sie wollte es befreien, in einer verzweifelten Abwehr ... aber Zenzinger hatte ihren Fuß schon in einer Schlinge gefangen und zog ihn straff nach abwärts, indem er in eine andere Schlinge am Ende des Strickes seinen Fuß setzte. Dann trieb er durch Strumpf und Gelenk wieder einen seiner großen Nägel ...

Emma schrie wieder auf ... die Qual war unerträglich. Und die Todesangst wurde zu einem blindwütenden Haß gegen ihren Peiniger. Sie hob das andere Bein, das, an dessen Stumpf der hölzerne Fuß befestigt war, und stieß Zenzinger vor die Brust. Er taumelte zurück, griff nach seinem Hals, würgte etwas hinunter und warf sich dann auf sie ... er hielt ihren Fuß fest und begann die Riemen zu lösen, mit denen das Holzbein an dem Stumpf befestigt war. Dabei zerrte er so an ihrem Körper, daß sich das Fleisch um die Nägel zu lockern anfing und das Blut reichlicher herabrieselte.

Mit zufriedenem Gesicht trat er zurück und ließ das hölzerne Bein zu Boden fallen. Es tat einen dumpfen Schlag, der in dem ganzen öden Haus umherzulaufen schien, um wieder zu seinem Ausgangspunkt zurückzukehren.

Emmas Körper hing zuckend an der Wand. Sie schrie nicht mehr ... ihr Kopf war vornüber gesunken ... Noch einmal trat Zenziger an sie heran und tat das letzte, was noch zu tun war. Er löste die Schlinge um die Brust der gekreuzigten Frau und entfernte den Strick. Der Körper sank noch ein wenig tiefer, daß sich das Knie des festgenagelten Beines bog, die ganze Last hing nun an den beiden Nägeln in den blutigen, angeschwollenen Handgelenken.

Die Frau stöhnte nur leise und versuchte den Kopf zu heben ... ihr Blick suchte die Richtung nach der Kommode zu finden, wo das Haupt ihres Mannes stand. Aber schon sah sie nichts mehr ... ihr Gesicht war grünlich, und nur auf den Wangen brannten zwei rote Flecken. Langsam klappte der Mund auf und von den Lippen floß in zwei langen Fäden klebriger Geifer.

»Das Fieber, das Fieber ist da«, murmelte Zenzinger, der sie aufmerksam betrachtet hatte. Und er machte sich daran, das mitgebrachte Leintuch auf den Boden auszubreiten. –

Da hörte er eine Stimme hinter sich, eine deutlich vernehmbare Männerstimme. Und diese Stimme sagte: »Mörder!«

Zenzinger fuhr auf: außer ihm und der Gekreuzigten war niemand im Zimmer. Und die Frau an der Wand, die sprach wohl kaum mehr ...

Er wandte sich um.

Aber der Kopf war da, der Kopf auf der Kommode, hatte der eine Stimme bekommen? Der alte Haß gegen diesen Kopf riß Zenzinger vom Boden auf. Er packte seinen Hammer und stürzte zur Kommode, um den Glassturz und diesen Fetisch in Trümmer zu schlagen. Aber da sah er, wie der Kopf die Augen bewegte und emporrichtete, damit er in die seinen sehen könne ... und er sah, wie der Kopf den Mund öffnete, und hörte, wie er zum andernmal sagte, deutlich und langsam: »Mörder!«

Aus Zenzingers Hand glitt der Hammer ... es gab wieder einen Schlag, der durch das ganze öde Haus zu laufen schien. Dann sprang der Mann mit einem Satz zurück. Er stürzte über seinen Havelock zu Boden, so wie vorhin Emma gestürzt war, raffte sich auf und warf sich gegen die Tür ... Sie war verschlossen, und Zenzinger hatte vergessen, daß er selbst den Schlüssel in seinem Sack trug. Mit aller Kraft versuchte er sie aufzureißen ... er heulte wie ein Tier, von seinen Fingern brachen die Nägel ...

Da hörte er zum dritten Male hinter sich, deutlich und langsam: »Mörder!«

Und das Grauen, dessen Herr er gewesen war, empörte sich gegen ihn und fiel über ihn her ... er warf die Arme empor und rannte in die Nebenkammer – riß das Fenster auf ... Und stürzte sich hinaus ...

Am Abend dieses Tages betrat Eleagabal Kuperus die Wohnung Emma Rößlers. Die verschlossene Tür öffnete sich lautlos, und von der Schwelle aus überblickte er das Zimmer. Auf dem Boden lag das Leintuch ausgebreitet, und die Spuren von Zenzingers Schuhen gingen drüber hin. Und an der Wand hing der Leichnam der Gekreuzigten.

Ein Sonnenstrahl fiel breit in das Zimmer, traf den Glassturz über dem Kopf des Dichters, und ein schwacher, lichtgoldner Reflex glitt von dort nach dem auf die Brust gesunkenen Haupt der Frau hinüber. Die wirren Strähnen des grauen Haares hatten einen Schimmer ihrer einstigen Schönheit wiedererhalten ... und wie eine Verklärung ging es von diesem Sonnenkuß aus, daß die Verzerrung des Körpers, die aufgequollenen, blutrünstigen Hände, der vorgetriebene Leib nicht den Eindruck des Friedens zu stören vermochten.

Eleagabal Kuperus sah den Leichnam an. Dann sprach er vor sich hin: »Es ist vollbracht.« Und er schritt auf die Gekreuzigte zu und zog den Nagel mit leichter Mühe aus dem Fußgelenk. Dann schob er den Tisch heran und nahm auch die Nägel aus den Händen, als zöge er sie aus weichem Teig. Die ausgebreiteten Arme fielen herab und blieben auf seinen Schultern liegen. Es war wie eine Umarmung, mit der ihm die Tote dankte. Dann glitt der Leichnam zur Erde, und Eleagabal Kuperus legte ihn auf das rasch bereitete Bett.

Und er sah sich in dem Zimmer um.

»Noch eins,« sagte er lächelnd, »noch eins ...« er hob den Glassturz auf und berührte mit sanfter Hand das Haupt des Dichters. Da verwandelten sich die Züge, löschten aus, als ob ein Nebel über sie ziehe, und langsam, langsam schrumpfte dieser der Verwesung entrissene Kopf ein und wurde zu einem Häufchen Staub ...


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