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Zwei Feinde nähern sich. Meer und Weib. Elisabeth bekommt Besuch

Der Tod des jungen Behrens brachte Bezug einige Unannehmlichkeiten. Während die ganze Stadt von den märchenhaften Geschichten über die Verlobungsfeier im Hause Bezugs erfüllt war, fiel die Ermordung des Fabrikanten in zu unmittelbare Nähe, als daß man nicht beide Ereignisse hätte miteinander irgendwie in Verbindung setzen wollen. War er auch bei Bezugs Fest dabei gewesen? Gewiß, er war dabei gewesen.

Man suchte nach irgendeinem Motiv, das aus diesem Fest entsprungen sein konnte. Ein Gerücht behauptete – es war mit einiger Sicherheit bis in die Nähe der Frau Herold zurück zu verfolgen –, daß Behrens nicht ermordet worden sei, sondern sich selbst getötet habe. Warum? Man flüsterte geheimnisvoll, daß die wundersame, magische Anziehung Elisabeths auch auf ihn wirksam geworden sei, und daß er den Tod einem von hoffnungsloser Leidenschaft zerstörten Leben vorgezogen habe.

Damit wurde er für alle Backfische ein Märtyrer der Liebe, und der »Illustrierte Tageskurier«, der sein Bild auf der ersten Seite brachte, mußte im Laufe des Tages drei Auflagen veranstalten.

Nun hatte man auch eine ungezwungene Erklärung für die Abreise Elisabeths. Obzwar sie schuldlos war und den jungen Mann nicht ermuntert hatte – oder hatte sie ihn doch ermuntert? – wollte sie doch den düsteren Eindruck der Tat durch Ortswechsel und Zerstreuungen verwischen. Darum nahm sie auch den Bräutigam nicht mit. Immerhin war es sonderbar, daß sie an seiner Statt einen anderen jungen Mann als Begleiter hatte. Und hier, an dieser Ecke, zweigte eine andere Ansicht von der Sache ab. Elisabeth war nicht so schuldlos, wie man geneigt war zu glauben. Sie war eine der ganz großen Koketten, und ein gewisser Kreis, in dessen Mittelpunkt Doktor Störner stand, behauptete, sie hätte zur Zeit des römischen Kaiserreiches geboren sein sollen, um ihre Talente ganz entfalten zu können. Sie sei gefährlich und sei sich ihrer Macht allzusehr bewußt, um freigesprochen zu werden, wenn durch sie ein Unheil geschehen war.

Die Presse ließ die Frage von Elisabeths Schuld unberührt, und focht unter Herolds Führung unentwegt für die Anschauung, daß Behrens durch Selbstmord geendet habe.

Trotz alledem ließ sich eine Gegenmeinung nicht niederringen, die hartnäckig, mit einer gewissen Bosheit darauf bestand, daß Behrens ermordet worden sei. Es war ein düsterer Chor, der endlich die Behörden zwang, irgend etwas zu unternehmen. Es gab einige Verhöre und Protokollaufnahmen, eine ganze Menge von Zeugen wurden vorgeladen, auch Bezug und Hainx mußten ihre Wahrnehmungen wiedergeben. Dann, nachdem man der öffentlichen Meinung den Willen getan zu haben glaubte, geriet die Angelegenheit in Vergessenheit.

Bezug zeigte sich während dieser Zeit von einer ihm sonst ganz fremden Nervosität und Hast, und einige waren der Ansicht, daß dieses veränderte Gebaren mit der Mordaffäre zusammenhänge. Andere aber brachten diese Nervosität mit dem dritten großen Ereignis in Verbindung, das zugleich mit den beiden anderen seine Wirkungen ausübte: mit der Entdeckung, daß Bezug einen wahnsinnigen Sohn besaß. Durch diesen Umstand verschob sich das Bild Bezugs in den Augen des Publikums in etwas. Der Milliardär hatte auch sein menschliches Leid zu tragen. Was half ihm das Geld ...? Und selbst solche, die Bezug bisher eher gefürchtet und gehaßt hatten, begannen ihn nun ein wenig zu bemitleiden.

Sie hatten recht. Bezugs Unruhe kam vor allem aus der Besorgnis um den Sohn. Auch anderes war noch da: die Scherereien mit den Behörden machten ihn mißgestimmt, Hecht war mürrisch und schien zur Empörung geneigt, die Verhandlungen mit Behrens' Onkel wollten nicht glatt gehen. Aber vor allem war es die Qual, seinem Sohn keine Hilfe schaffen zu können.

»Ich habe es jahrelang vermieden,« sagte er zu Hainx, »ihn zu sehen. Ich brauche meine Ruhe und Festigkeit; ich kann mich nicht täglich durch diesen Anblick erschüttern lassen. Und das war gut. Aber seit ich ihn wiedergesehen habe ... es ist ... es ist schrecklich. Was soll ich tun? Was soll ich tun?«

Agathe durfte er mit solchen Klagen nicht kommen, denn die verfiel beim ersten Wort in Krämpfe. Und selbst wenn ihr Zustand es erlaubt hätte, so hätte es Bezug verschmäht zu ihr zu kommen; er hatte sie und sich daran gewöhnt, vor ihr als Mensch von Stein und Eisen zu erscheinen, und an der Erhaltung des Glaubens der andern an seine Kraft war ihm vor allem gelegen.

Hainx staunte über die manchmal plötzlich eintretende Kraftlosigkeit seines Herrn. Mitten in einer Arbeit, die Scharfsinn und Geistesgegenwart erforderte, nach Proben ungeschwächter Beherrschung aller Dinge, sank Bezug plötzlich zusammen, und es war, als ob er irgendwohin lauschte. Seine Aufmerksamkeit war auf ein leises Geräusch gerichtet, das manchmal hörbar wurde, ein sehr entferntes und gedämpftes Geräusch, das aus den Tiefen des Hauses kam. Diese Versunkenheit konnte Viertelstunden lang andauern, dann war es, wie wenn Bezug erwachte, er richtete sich auf und setzte seine Arbeit genau an dem Punkte fort, wo er sie unterbrochen hatte.

Daß Bezug aber auch nachts stundenlang in seinem Zimmer auf und ab ging und im Bett aufsaß, um auf dieses fürchterliche Gekreisch, das trotz aller schalldichten Wände und Türen zu ihm drang, zu lauschen, wußte niemand.

Jeden Morgen ließ er sich von Richard Bericht erstatten. Und dessen Bericht lautete stets gleich: Es änderte sich nichts im Zustand des jungen Herrn. Nach Richard kam der Hofrat, der Vorstand der psychiatrischen Abteilung, der seit einiger Zeit Arnolds Behandlung übernommen hatte. Sein Bericht besagte, obzwar er klarer und mit einigen fachmännischen Ausdrücken geschmückt war, nichts anderes als der des Dieners.

Eines Morgens aber kam Richard mit so merkwürdigem, verstörtem Ausdruck, daß es Bezug sogleich auffiel. Er stand auf und ging ihm entgegen. »Was ist's ... was gibt's?« rief er, indem er ihn am Handgelenk faßte und schüttelte.

Richard, der sonst die Fassung und Geistesgegenwart nicht verlor, war unfähig, zu sprechen.

»So rede doch ...«, schrie Bezug heftig.

»Gnädiger Herr ... gnädiger Herr!«

»Was denn?«

»Der junge Herr ist zu sich gekommen ... es ist, wie wenn er ganz vernünftig wäre.«

»Was tut er?«

»Er ist ganz ruhig und schaut vor sich hin ... und sieht so blaß und elend aus ... Er redet auch ganz vernünftig. Er will den gnädigen Herrn sprechen.«

»Mich?«

»Ja!«

»Was will er?«

»Ich weiß es nicht.«

»So komm ...«

Aber Richard blieb mitten im Zimmer stehen, und machte keine Anstalten, seinem Herrn zu folgen. »Gnädiger Herr!« sagte er, als Bezug schon die Tür erreicht hatte.

»Also vorwärts ... was willst du?«

»Ich möchte den gnädigen Herrn bitten, mich zu entlassen ...«

»Entlassen ... warum?«

»Wenn mich der gnädige Herr nicht wieder hinaus aufs Schloß schicken wollen, dann will ich lieber ganz gehen ... aus dem Dienst mein' ich ... ganz ...«

»Bist du verrückt?«

»Ich kann das nicht anschauen! ... wenn er tobt und schreit, das ja ... das noch ... aber nicht, wenn er so dasitzt ... das kann ich nicht ...«

»Wir werden sehen ... Komm jetzt ...«

Und Richard, nach kurzem Widerstand wieder im Bann des gewohnten Gehorsams, ging hinter seinem Herrn zu der eisenbeschlagenen Tür, die er mit einem kleinen Vexierschlüssel öffnete. Das Vorzimmer war ganz dunkel. Aber auch das kleine Zimmer dahinter war nicht sehr hell, denn eine dem einzigen Fenster gegenüberliegende hohe Mauer ließ von dem Licht des trüben Tages nicht viel in den Raum. Das einfache, doch bequeme Mobilar war am Boden befestigt, ein Tisch, mehrere Stühle und Schränke, zwei Sofas ... alles durch eiserne Klammern und Schrauben verankert und dadurch seltsam bewegungslos und starr, wie tot. Das Seltsamste aber waren die Schaukelgeräte, die von der Decke herabhingen, lange Seile mit Ringen oder Querhölzern. Und in der einen Ecke ein Kletterbaum, der vom Gebrauche ganz abgeschliffen war.

An dem vergitterten Fenster saß Bezugs Sohn auf einem niedrigen Stuhl, vornübergebeugt, so daß der gesenkte Kopf fast die emporgezogenen Knie berührte; die Hände hingen schlaff längs des Körpers bis zum Boden herab. Neben Arnold saß der Hund, der sich nun, beim Eintritt der beiden, knurrend erhob und mit steifen Beinen und funkelnden Augen bereit schien, sich auf die Feinde zu stürzen.

Bezug hörte den lauten, keuchenden Atem des Dieners hinter sich und machte einen Schritt vor. Jetzt erst erhob Arnold den Kopf. »Vater ...!« sagte er und stand langsam auf. Es war, als seien seine Gelenke schlecht zusammengefügt, denn er knickte mehrere Male ein und vermochte es erst, sich ganz aufzurichten, als er sich an der Wand anhielt. Bezug wollte ihm helfen, aber bei der ersten Bewegung sprang der Hund vor und zeigte seine blanken Zähne. Endlich stand Arnold seinem Vater gegenüber. »Zurück, Barry«, sagte er; der Hund gehorchte widerwillig und wich zur Seite, wo er unschlüssig stehenblieb, mit zwischen seinem Herrn und dem Feind wandernden Blicken.

»Was willst du von mir, Arnold?« fragte Bezug; trotz seines Grauens fiel es Richard auf, daß er diesen Ton in der Stimme seines Herrn noch niemals gehört hatte.

»Vater,« sagte Arnold, »ich muß dich um etwas bitten.« Die Worte kamen nur ganz langsam hervor, es war, als müsse sie Arnold unter großen Schwierigkeiten bilden. Die Artikulation war dumpf und kehlig, wie die von Stummen, denen erst eine Operation die Sprache gegeben hat.

»Es gibt nichts, was ich nicht für dich tun würde ...«

»Dann bitte ich dich ...« Arnold wankte vorwärts und ergriff die Hand seines Vaters ... »dann bitte ich dich, laß mich sterben.« Bezug sah das Gesicht seines Sohnes dicht vor sich, sah die weißliche, fahle Haut, die blutig gekratzte Stirne und den irren Schimmer in seinen Augen. Seine Hände preßten die Hand des Vaters mit furchtbarer Kraft.

Nach einem kleinen Schweigen sagte Bezug, und auch bei ihm schien es, als ob es ihm schwierig werde, Worte zu bilden: »Alles, was du willst, mein Kind, nur das kann ich nicht tun ...«

»Ich bitte dich, ich bitte dich ... laß mich sterben. Was ist denn das für ein Leben? Bin ich denn ein Mensch? Heute gehe ich und spreche ich wie ein anderer ... und morgen vielleicht noch und übermorgen ... aber dann wird es wiederkommen ... wieder ... du brauchst mich ja nicht selbst zu töten, laß mir nur ein Messer da oder gib mir eine Pistole ... das will ich dann schon selber tun ... ich könnte ja auch ... mit dem Stricke ... nicht wahr ... aber vor dem Strick hab' ich ein Grauen ...«

Richard, der hinter Bezug stand und die Hände so krampfhaft geballt hatte, daß es ihn schmerzte, sah, wie Bezugs Achseln zu zucken begannen und sein ganzer Körper von einer Seite nach der andern schwankte. Nun beugte sich der Vater zu dem Sohn herab, der sich vor ihm auf die Knie geworfen hatte, und sagte: »Nein ... du armer Kerl ... du sollst nicht sterben ... du sollst leben ... Es gibt einen, der dir helfen kann ... ich werde es tun, ich werde zu ihm gehen, für dich ... für dich werde ich es tun. Du wirst gesund werden ...«

Mit einem Kuß auf die Stirn hob Bezug seinen Sohn auf.

Arnold lächelte trübe. Es war ein fürchterliches Lächeln, nur eine Verzerrung dieses verwüsteten, entstellten Gesichtes. »Nein, Vater ... nein,« sagte er, »mir ist ja doch nicht zu helfen. Laßt mich sterben,« und dann schrie er plötzlich auf, »quält mich doch nicht länger.«

»Ich will dich nicht quälen, du wirst gesund werden ...«

»Ach, du wirst mich nur weiter quälen; und ich werde doch nicht gesund werden; ich kann es nicht glauben ...«

»Ich will dir sagen, was auf dem Haus des Mannes, der dir helfen wird, geschrieben steht: ›Glaube dem Wunder‹, steht über seiner Tür ... Glaube dem Wunder, mein armer Kerl; du wirst gesund werden. Sicher wirst du gesund werden.«

Arnold war wieder einen Schritt zurückgetreten; Barry, der den Augenblick wahrnahm, drängte sich wieder schützend vor ihn. »Vater,« sagte Arnold, »wenn du einen Mann kennst, der mir helfen kann, warum hast du ihn nicht schon längst zu mir gerufen. Warum nicht?« wiederholte er noch einmal fast drohend, und eine Röte stieg in sein fahles Gesicht.

Bezug schwieg eine Weile. »Weil ich ... ich habe ...« und nach einer Pause sagte er hastig: »Ich habe ihn erst jetzt kennengelernt ... jetzt erst ...« Noch einmal wollte er sich Arnold nähern, aber Barry knurrte wieder und zeigte seine Zähne. Arnold sank auf den niedrigen Stuhl am Fenster, so plötzlich, als werde seinen Gelenken auf einmal der Halt entzogen.

»Geh jetzt«, sagte er und winkte mit der Hand.

»Ich gehe heute noch zu ihm ... ich gehe und du wirst gesund werden.«

Arnold schüttelte nur müde mit dem Kopf.

In der Abenddämmerung dieses Tages machte sich Bezug auf den Weg zu Eleagabal Kuperus. Vor der Tür des alten Hauses sagte Hainx, der ihn begleitet hatte, noch einmal nachdrücklich: »Nehmen Sie sich in acht, er haßt Sie ...«

»Ich habe mich vorgesehen«, sagte Bezug und ließ den Klopfer fallen. »Übrigens, verständigen Sie die Eideshelfer. Wenn ich in einer Stunde nicht zurück bin, holen Sie mich heraus.«

Die Tür öffnete sich, Bezug trat ein und wurde von dem Diener mit dem Wolfskopf in den großen Raum mit der Glaskuppel geführt. Wortlos stand der Diener hinter dem Besuch, aber Bezug wußte, daß jede seiner Bewegungen beobachtet wurde ... Nach einigen Minuten des Wartens wandte sich Bezug um: »Wo ist Ihr Herr?«

Wortlos wies der Diener auf die gegenüberliegende Wand. Da stand Eleagabal Kuperus und sah Bezug schweigend an. Seine großen, gelben Hauer waren hervorgekrochen und sein starres Gesicht glich einer Maske. Auch Bezug stand regungslos und bemühte sich, ein Gefühl zu unterdrücken, das ihn befangen und schwach machte: das Gefühl, daß ihm sein Feind überlegen sei. Es war keine Furcht, es war nur ein Unbehagen, das er wütend verwünschte. Eleagabal Kuperus ging an den Marmortisch unter der großen Kuppel und entließ den Diener. Dann sagte er: »Wir wollen uns setzen, Herr Bezug.«

Mit raschen Schritten kam Bezug zum Tisch, zog einen Stuhl heran und setzte sich. Ohne ein Wort zu sagen, nahm er den Revolver aus der Tasche und legte ihn vor sich. »Was soll das?« fragte Kuperus und die Hauer kamen wieder hervor.

»Ich weiß, daß Sie mich hassen, und will Ihnen nur zeigen, daß ich mich vorgesehen habe, falls es Ihnen vielleicht einfallen sollte ... und dann will ich Ihnen nur sagen, daß mich meine Leute holen, wenn ich in einer Stunde nicht zurück bin. Ich kann mich auf meine Leute verlassen.«

Kuperus nickte: »Ich weiß es ... es sind wohl dieselben, die den jungen Behrens ermordet haben ... verläßliche Burschen ...«

Bezug fuhr von seinem Sitz auf, seine Hand schloß sich um den Griff des Revolvers. »Lassen Sie nur,« sagte Kuperus, »ich will Ihnen nur zeigen, daß ich Sie nicht hasse. Denn ich könnte Ihnen schaden, wenn ich wollte. Ich tue es aber nicht. Hasse ich Sie also? Ich will Ihnen etwas sagen – ich wünsche nichts sehnlicher, als daß der Haß aus der Welt verschwindet!« Dabei sah Kuperus seinem Besuch so ruhig und offen ins Gesicht, daß dieser die Augen niederschlug und unschlüssig dastand. Es war unmöglich, an diesem Blick zu zweifeln. Kuperus sprach die Wahrheit, und Bezug hatte ihm nichts zu entgegnen. Daß er ihn trotzdem haßte und gerade deshalb haßte, weil Kuperus nichts vom Haß zu wissen vorgab – nein, nicht vorgab, sondern wirklich nicht wußte ... das konnte er ihm doch nicht sagen. Vielleicht auch brauchte er es Kuperus nicht einmal zu sagen ... vielleicht wußte er das alles ... Bezug sah nach einer Minute wieder auf.

»Setzen wir uns«, sagte Kuperus mit einer Handbewegung nach Bezugs Stuhl hin. »Setzen wir und sprechen wir von dem, was Sie zu mir führt.«

Inzwischen war Bezug zu einem Beschluß gekommen. Er ließ seine Hand hart auf die Marmorplatte fallen: »Sie spielen den Großartigen, Kuperus, und wollen mich beschämen. Aber Sie sollen den Triumph nicht erleben, daß ich mich vor Ihnen verstelle. Es ist nicht klug von mir, denn es könnte sein, daß ich ... genug, aber das soll nicht geschehen, daß Sie sagen, Thomas Bezug hat vor mir Komödie gespielt, um mich freundlich zu stimmen. Ich verachte Sie ... hören Sie ... ich verachte Sie mit Ihrer Menschenliebe ... Denn diese Bestien verdienen nichts als den Haß ... ich verachte Sie! Was haben Sie mit allen Ihren Künsten erreicht? Nichts. Kein Mensch hört auf Sie ... da sitzen Sie in Ihrem Loch, aber ich bin auf dem Wege zur Herrschaft über die ganze Welt ... und wenn Sie mir auch jetzt Ihre Hilfe versagen; ich hasse Sie ...«

Bezug war ganz bleich geworden, seine Augen lagen tief und gefährliches Feuer spielte in ihnen. Er lehnte sich in seinen Sessel zurück und die Finger seiner Hand glitten suchend über den Marmor des Tisches. Es dauerte eine Weile, bis es ihm zum Bewußtsein kam, daß er nicht finden konnte, was er suchte. Plötzlich fuhr er mit einem Schrei von seinem Platz auf und starrte auf den Tisch. Der Revolver, der vor ihm gelegen hatte, war fort.

Kuperus lächelte. Es schien, als sammele sich alle Helligkeit des weiten Raumes auf seinem Gesicht.

»Taschenspieler!« schrie Bezug.

Kuperus hörte nicht auf zu lächeln. Die gelben Hauer lagen ganz draußen auf dem ehrwürdigen Vollbart. »Wenn Sie dann fortgehen,« sagte er, »wird Ihnen mein Diener am Ausgang Ihre Waffe wiedergeben.«

»Ich bin nicht hergekommen, um mir von Ihnen alberne Kunststücke vormachen zu lassen.«

»Ich weiß es. Aber verachten Sie diese Dinge nicht. Es sind keine bloßen Spielereien; denn ich spiele nicht mit den Gesetzen der Natur, die auch diese Dinge bestimmen. Ich will nur, daß Sie sehen, daß ich nicht aus Schwäche dem Haß entsagt habe.«

Bezug sah wild um sich. Dann warf er sich wieder in den Stuhl und schwieg einige Minuten lang.

»Sie sind gekommen,« sagte Kuperus endlich, »um mich wegen Ihres Sohnes zu befragen.«

»Sie wissen es also? Sie wissen es ...« murmelte Bezug.

»Ich weiß es. Aber, hören Sie, Bezug, bevor wir weiter sprechen, muß ich Ihnen eines sagen. Der Mann, der früher als Wärter bei Ihrem Sohn war ...«

»Er wird mir nicht entgehen. Ich werde ihn erreichen ...«

»Sie werden darauf verzichten müssen, ihn zu bestrafen. Weithofer war bei mir und hat mich um meinen Schutz gebeten. Ich habe ihm versprochen, ihn zu schützen.«

»Das wird Ihnen nicht gelingen.«

»Es wird mir gelingen, denn Sie werden mir versprechen, ihn nicht zu verfolgen. Ich kenne die Geschichte der Emma Rößler und sage Ihnen, daß ich eine zweite solche Geschichte nicht mehr zulassen werde. Ich weiß, daß niemand Ihrem Haß zu gering ist. Aber sehen Sie, wie Haß wieder nur Haß erzeugt. Sie haben den Mann, der Ihren Sohn zu warten hatte, fürstlich bezahlt. Und dennoch hat er Sie verraten und verlassen, warum wohl? Der Mann hat Ihnen jahrelang gedient. Sie haben ihn zum reichen Mann gemacht. Und dennoch? Warum hat er das wohl getan? Haben Sie nicht gefühlt, wie sein Haß gegen Sie von einem Tag zum andern größer wurde? Er hätte Ihnen wohl gar dankbar sein sollen?«

»Ich denke, er hatte allen Grund dazu.«

»Wirklich? Und woher hätte er Dankbarkeit nehmen sollen? Haben Sie nicht sein Leben Jahre hindurch zu einem Kerkerleben gemacht? Sie haben ihn dafür fürstlich gezahlt. Aber ist es nicht gerade das, was ihn empören mußte? Es ist Ihnen durch Ihr Geld gelungen, ihn so blind zu machen, daß er nicht mehr sah, daß das, was er aufgab, weit mehr war als das, was er dafür gewann. Er hat der Sonne, dem Licht und der Freiheit entsagen müssen, der Mann war verheiratet und hatte zwei Kinder. Beide starben ihm und er konnte nicht dabei sein, als sie starben, und auch nicht, als sie begraben wurden. Denn er stand in Ihrem Dienst, Tag und Nacht. Er hat Ihren unglücklichen Sohn recht gern gehabt, so lieb man einen Menschen haben kann, der nicht allzuviel vom Menschen an sich hat ... ich will Ihnen nicht weh tun, aber es muß ja doch gesagt werden. Aber dies alles hätte er ertragen können, wenn von Ihnen ein wenig Liebe dabei gewesen wäre. Sie hielten aber Ihren Sohn vor aller Welt verborgen, aus keinem anderen Grund als aus Haß, jawohl. Nicht aus Haß gegen Ihren Sohn, aber aus Haß gegen die Welt. Sie wollten nicht, daß diese Welt, die Sie hassen, erfahren soll, daß auch Ihre Macht und Herrlichkeit nicht ohne Abgrund ist. Woher sollte er, als er sich einmal über alles dies klar geworden war, etwas anderes gegen Sie gewinnen als Haß? Bevor wir weiter sprechen, müssen Sie mir die Versicherung geben, daß Sie Weithofer nicht verfolgen werden.«

Nach einem kurzen Schweigen sagte Bezug: »Gut ... ich verspreche es Ihnen ...« Er sagte es, ohne aufzuschauen.

Kuperus nickte: »Und jetzt sagen Sie mir, was Sie von mir wollen?«

»Wenn Sie doch schon ohnehin alles wissen ...« sagte Bezug und fuhr mit der flachen Hand über die Marmorplatte, als wollte er etwas wegwischen.

»Sprechen Sie nur ... es ist notwendig, daß Sie sprechen.«

Mühsam und schwerfällig kamen einzelne Worte: »Mein Sohn ... ist ... krank ... schon lange Jahre. Sie wissen es doch ... wie krank er ist ... es kann ihm niemand helfen, niemand, kein Arzt ist es imstande ... es ist gräßlich ... wenn er zu sich kommt und sein Elend erkennt, das ist gräßlich. Nur Sie können ihn retten ...« Plötzlich geschah etwas Seltsames. Bezugs Hand, die unaufhörlich über den Marmor strich, begann zu zittern, während Bezug sich in seinem Sessel zurücklehnte und schweigend die Augen schloß. Nun lief das Zittern aus der Hand über seinen Arm weiter, erfaßte den ganzen Körper und warf ihn hin und her, bis Bezug mit einem dumpfen Laut aufsprang. Zwei Schritte machte er auf Kuperus zu, blieb wankend mit einem Ruck stehen und hielt sich an der Tischkante fest. »Sie müssen ihn retten,« schrie er, »Sie müssen ihn retten ... hören Sie, Kuperus, retten Sie ihn ... retten Sie ihn ...«

Da erhob sich auch Kuperus. »Sie lieben ihn, Sie lieben ihn«, sagte er leise und erschüttert.

Von der hohen Glaskugel strahlte ein wundersames Farbenspiel herab, ein mildes, weißes Glühen, gedämpft durch zartere rosige Töne. Bezug stand mit gesenktem Kopf und hängenden Armen. »Sie können es ... wenn Sie wollen, können Sie ihn retten ...«

»Ich will es tun, Bezug, aber ob ich es kann, weiß ich nicht. Ich will aber dafür einen Lohn, denn ich habe so viel gelernt, daß man großen Kaufleuten nichts umsonst tun darf. Auch ich habe jemanden zu retten, vor Ihnen, Bezug ... Werden Sie einen Gefangenen freigeben, den Sie schmachvoll gefesselt haben?«

»Wen meinen Sie?«

Zug um Zug dachte Kuperus. Es sitzt tief. Da ich einen Preis nennen will, merkt er auf, ob er nicht übervorteilt wird. Er ist fest in seinem Kreise. Dann sagte er: »Ich meine Adalbert Semilasso.«

»Den soll ich freigeben?«

»Ja, Adalbert Semilasso. Seine Schmach hat lange genug gedauert!«

»Und ich soll ihn sogleich freigeben?«

»Ja.«

»Wird mein Sohn auch sogleich gerettet sein?«

»Das ... weiß ich nicht!«

»Was habe ich mit ihm zu tun?«

»Ich habe gelesen: er wird auf dem Meere gesund werden. Die Unendlichkeit der Horizonte mag wohl nach der schrecklichen Einsamkeit das meiste tun. Aber ich las auch, daß es gut sein werde, einem Weib Einfluß auf ihn zu geben.«

»Das Meer und das Weib ...« sagte Bezug nachdenklich, »das mag sein ... Und er wird gerettet werden ...?«

»So habe ich es gelesen. Er wird gerettet sein, die einzige Heilung liegt für ihn auf dem Meer. Sie haben ja Schiffe genug auf allen Meeren. Nehmen Sie eines von ihnen und gönnen Sie dem Unglücklichen den Anblick der ewigen, glänzenden See ...«

Bezug richtete sich auf: »Ja!« sagte er, »ja!«

»Und Adalbert Semilasso?«

Blinzelnd antwortete Bezug, indem er die Miene eines Geschäftsmannes annahm: »Den gebe ich frei, bis ich mit meinem Sohn zurückgekehrt bin ...«

Der Funke scheint zu erlöschen, dachte Kuperus, aber ich weiß, er ist da, er glimmt unter der Asche. »So sind wir also einig ...«

»Ich werde tun, wie Sie mir geraten haben: das Meer und das Weib ... gut. Und dann, wenn Arnold gesund ist, entlasse ich Ihren Adalbert Semilasso.« Bezug hatte sich aufgerichtet: auf der Basis eines soliden Geschäfts entfaltete sich wieder seine Kraft. »Ich danke Ihnen«, sagte er kurz und wandte sich zum Gehen, während ihm Eleagabal mit dem Lächeln eines Gewinners nachsah.

An der Haustür stand der stumme Diener mit dem Wolfsgesicht und gab Bezug mit einer Verbeugung seinen Revolver zurück. Lautlos glitt die Tür hinter Bezug ins Schloß. Aus dem Schatten der gegenüberliegenden Häuser trat Rudolf Hainx auf ihn zu, mit der Uhr in der Hand. »Es fehlen noch zehn Minuten auf eine Stunde,« sagte er, »in zehn Minuten hätten wir die Tür eingeschlagen.«

»Hören Sie,« sagte Bezug, indem er Hainx beim Handgelenk erfaßte und drückte, »er wird gerettet werden.«

»Ich traue dem Alten nicht.«

»Er spricht die Wahrheit ... ich weiß es, er spricht die Wahrheit ...«

»Sie glauben ihm?«

»Ich glaube ihm. Morgen telegraphieren Sie dem Kapitän der Regina maris, daß er sich bereit macht, bestellen Sie sogleich auch für übermorgen einen Separatzug, wir reisen ab.«

»Mit Arnold?«

»Mit ihm! Und dann ...«

»Sie haben vielleicht vergessen, daß Sie der Frau Professor Hartl eine Woche idyllischer Einsamkeit zugesagt haben. Die arme Frau freut sich darauf. Bedenken Sie, Sie haben den Mann nach Abessinien geschickt.« Hainx sah in diesem Augenblick schrecklich aus. Der Schein der Laterne fiel von oben auf ihn und schnitt schräg über sein Gesicht. Während der obere Teil unter der Krempe des Hutes im Schatten lag, klaffte im unteren Teil die schwarze Höhle eines offenen Mundes.

Bezug blieb stehen und sah ihn an: »Schweigen Sie,« sagte er, »was soll das heißen? Ich spreche davon, daß ich meinen Sohn wiederbekommen werde, und Sie erzählen mir von dieser Frau ... Übrigens,« fuhr er nach ein paar Schritten nachdenklich fort, »man könnte ... nein ... sie ist gewiß nicht die Richtige ... gewiß nicht ... man muß an jemanden anderen denken ...«

Den beiden Männern waren, als sie über den Domplatz gingen, stillschweigend einige dunkle Gestalten gefolgt, die aus den Seitengassen und dem Schatten der Haustür kamen. Nun, als Bezug und Hainx sich vor dem Domportal der Steintreppe zuwandten, traten ihnen aus der dichten Finsternis, die hinter den gotischen Pfeilern lag, noch einige Männer entgegen. Zwei Männer erhoben sich plötzlich hinter den Sockeln der Heiligenstatuen am Ende der Treppe. Bezug sah sich von zehn bis zwölf seiner Eideshelfer umringt. Als einer von ihnen einen Schritt auf Bezug zu machte, sagte Hainx: »Ach so ... fast hätte ich vergessen, Zareck hat eine hübsche Entdeckung gemacht. Er scheint unseren famosen Adalbert nicht besonders zu lieben. Nun hat er, ich weiß nicht wie, herausbekommen, daß Nella die Schwester unseres Adalberts ist.«

Der Entdecker, der sich eine besondere Wirkung von seiner Nachricht versprochen hatte, sah erstaunt, daß diese Wirkung ausblieb und die Worte an Bezug vorüberglitten. Mit einem leeren Blick streifte er über Hainx und die Eideshelfer, dann sagte er, als habe nur dieses eine Wort in ihm einen Klang geweckt: »Nella ...« und hastig fuhr er fort: »Nella ... ja ... sie ... sie ... sie mag es sein ... gewiß sie ist es ... Nella ... wie ihr Wesen ist ...« Er wandte sich an die Schar, die ihn ehrfürchtig in einigem Abstand umgab: »Es ist gut ... geht jetzt nach Haus.«

Während die Männer, einen Enttäuschten in der Mitte, lautlos hinter den Dom abzogen, gingen Bezug und Hainx die Treppe hinab. Auf der untersten Stufe blieb Bezug abermals stehen: »Und noch eines, Hainx, Sie werden Nella davon verständigen, daß sie sich mit uns auf der Regina maris einschiffen wird. Haben Sie verstanden? Dem Direktor geben Sie für die Zeit ihrer Abwesenheit eine Entschädigung.«

Hainx wollte, da er keine Zusammenhänge zwischen den Befehlen Bezugs finden konnte, mit einer Frage an Frau Hartl erinnern, die ihn, den Überbringer der Botschaften Bezugs, täglich mit Bitten bestürmte. Aber er schwieg, denn er empfand, daß es jetzt nicht angebracht war, seinem Herrn mit Dingen zu kommen, von denen dieser nichts hören wollte.

Am Morgen brachte Bezug seinem Sohn die Nachricht, daß sie schon am nächsten Tag eine Reise antreten würden, daß ein Schiff sie auf die See hinausnehmen werde. Arnold, der beim Eintritt seines Vaters fast genau so dagesessen hatte, wie tags vorher, auf dem Stuhl beim Fenster, den Hund zur Seite, sah auf, blickte seinem Vater ins Gesicht, schüttelte dann den Kopf und lehnte sich an die Wand. »Was soll das? Kann mir das helfen? Ich weiß, daß mir nicht zu helfen ist.«

»Er hat es gesagt, Arnold, und er spricht die Wahrheit ...«

Als Bezug, von Richard begleitet, vor die Tür kam, fragte er nach dem Befinden seines Sohnes. Er vernahm, daß Arnold den ganzen gestrigen Tag ruhig zugebracht habe und auch die Nacht über ganz still in seinem Bett gelegen sei. Ob er geschlafen habe, könne Richard freilich nicht angeben.

Ein wenig später erfuhr auch Frau Agathe von der geplanten Reise. Sie begann zu jammern, daß sie von allen verlassen werde und daß sie hier zugrunde gehen könne, ohne daß sich jemand um sie kümmere. Bezug sah sie spöttisch an: »Hast du Lust, seekrank zu werden?«

»Nein, um Gottes willen, nein.« Die Seekrankheit hatte sie vergessen; aber sie wollte ja überhaupt nicht mitreisen, sondern nur jemanden um sich haben, dem sie ihr Leid klagen konnte. Die neue Kur, die sie vor einigen Tagen begonnen hatte – sie war reuig zu den alten Weibern zurückgekehrt –, wollte nicht recht anschlagen. Die toten Frösche, die sie sich mit Überwindung ihres Ekels in einem Umschlag um den Leib binden ließ, gaben ihr die Gesundheit nicht zurück. »Ich schlage vor, daß du dir deinen Schwiegersohn kommen läßt; der wird dir ein wenig die Zeit vertreiben«, sagte Bezug.

Aber Agathe fand, daß sie von Hecht mit zu wenig Respekt behandelt werde. Er war stets mürrisch; und von seiner hinterhältigen Bosheit, behauptete sie, werde sie nur noch kränker. Achselzuckend entfernte sich Bezug, und er nahm mit einer gleichen Gebärde am nächsten Tage von ihr Abschied, als sie ihre Klagen erneuerte. Er hatte sie gefragt, ob sie noch vor der Abreise ihren Sohn zu sehen wünsche. Agathe, die sich auf ihrem Sofa halb aufgerichtet hatte, fiel vor Entsetzen sogleich zurück. »Nein, nein,« rief sie und hielt die Hände vor das Gesicht, »du willst mich töten.«

»Aber ich sage dir, daß er ganz vernünftig ist, du wirst gar nichts Schreckliches sehen.«

»Schon sein bloßer Anblick regt mich auf. Ich kann nicht, ich kann nicht, was für eine unglückliche Mutter bin ich, mein Kind nicht umarmen zu können. Aber es ist unmöglich. Ich kann es nicht.«

Bezug holte seinen Sohn ab, der noch immer bei voller Besinnung war und keine Spuren einer Rückkehr seines Wahnsinns gezeigt hatte. Arnold stand reisefertig mitten im Zimmer. Als sie hinausgingen, drängte sich zwischen Arnold und dem Diener, der ihm folgte, Barry hindurch. Da stand er vor seinem Herrn, sah ihm unverwandt ins Gesicht und zuckte aufgeregt einige Male mit dem Schweif. Der Ausdruck einer Erwartung, die schon der Verzweiflung nahekam, war so deutlich, daß Bezug fragte: »Er will wohl mit dir kommen? – Willst du ihn mitnehmen?«

»Er ist der einzige, der mich nie ...« Arnold unterbrach sich und beugte sich zu Barry hinab: »Komm mit, Barry!«

In unbändiger Freude sprang Barry an seinem Herrn hinauf, lief voraus, kehrte um, mit kurzem Bellen immer wieder um Arnold kreisend. Ab und zu stieß er mit der feuchten Schnauze gegen die herabhängende Hand des jungen Mannes. Von Frau Agathe wurde mit keinem Wort gesprochen.

Da sich Arnold so verständig benahm und die Besserung in seinem Befinden anhaltend schien, hatte man es unterlassen, besondere Vorsichtsmaßregeln in seinem Wagen zu treffen. Der Separatzug bestand nur aus drei Wagen, von denen der eine für das Gepäck und die Diener, der zweite als Schlafraum bestimmt war, während der dritte, nach Art der amerikanischen Waggons gebaut, äußerst bequem zum Aufenthalt den Tag über eingerichtet war. Bezug setzte sich seinem Sohn gegenüber an das Fenster und versuchte ein Gespräch zu beginnen. Arnold war aber einsilbig und in sich gekehrt und gab nur ab und zu kurze und befangene Antworten. Immerhin waren sie so gefaßt, daß Bezug aus ihnen mit Erstaunen sah, daß Arnold trotz seines Unglücks nicht unwissend war. In seiner früheren Jugend, als die Anfälle seiner Krankheit noch seltener und weniger heftig waren, hatte man die Pausen benützt, um ihm die Anfänge der Schulbildung beizubringen. Damals hatte er Lesen und Schreiben gelernt, und es schien, als ob er in den folgenden Jahren seiner Einkerkerung nicht ohne Nutzen die wenigen Bücher, die sich in seinen Zellen fanden, gelesen habe. Das beste an ihm war wohl eine reiche Phantasie, die sich von allen Dingen, auch wenn er sie noch nicht gesehen hatte, lebendige und bildhafte Vorstellungen machte. So kam es, daß das Erstaunen all dem Neuen gegenüber, das Bezug erwartet hatte, ausblieb. Während Bezug auf ihn einsprach und ihm für alles, was sie vom rasenden Zug aus sahen, Erklärungen gab, blickte Arnold beim Fenster hinaus, nickte ab und zu und gab durch einige Worte zu erkennen, daß er alles ganz wohl verstand. Selbst das lebhafte Großstadttreiben, das er auf der Fahrt zum Südbahnhof in Wien zu sehen bekam, verwirrte ihn nicht, obwohl man bemerken konnte, daß es nicht an ihm vorüberglitt und daß es ihn keineswegs gleichgültig ließ. Auf dem Südbahnhof erwartete Bezug ein in gleicher Weise zusammengestellter zweiter Separatzug, mit dem die Fahrt sogleich fortgesetzt werden konnte.

Als die Dämmerung hereinbrach, bemerkte Bezug an seinem Sohn eine seltsame Unruhe. Er begann auf seinem Platz hin und her zu rücken, warf ängstliche Blicke auf seinen Vater und dann immer wieder auf einen bestimmten Punkt in der gegenüberliegenden Ecke des Abteils. Nach einer Weile stand er auf, ging einige Male auf und ab, und stellte sich dann, mit dem Rücken gegen den Vater, zum offenen Fenster. Bezug gewahrte, daß er die Weste und den Kragen öffnete. Als er sich wieder Bezug zuwandte, sah er verstört aus, sein Gesicht war wie von schrecklicher Angst verzerrt und aschfahl, etwas Fremdes kämpfte um die Herrschaft über ihn. Sein Atem ging schwer, und keuchend ließ er sich auf seinen früheren Platz fallen. Barry, der den ganzen Tag über in einem Winkel des Wagenabteils gelegen hatte, erhob sich, kam zu seinem Herrn und legte den spitzen Kopf auf die krampfhaft zusammengepreßten Knie, indem er ihm aufmerksam ins Gesicht sah. Nun schien es auch, daß Arnold für Bezugs Bemühungen um eine Art von Gespräch teilnahmslos geworden sei. Er gab keine Antwort mehr und starrte, die Hand auf den Kopf seines Hundes gelegt, in das mählich wachsende Dunkel vor den Fenstern.

Erschöpft von den Anstrengungen, Brücken zwischen sich und Arnold herzustellen, erhob sich Bezug, und ging in die benachbarte Abteilung, wo Rudolf Hainx den Tag zugebracht hatte, ohne daß man es nötig befunden hatte, ihn zu rufen.

»Kommen Sie jetzt mit hinein,« sagte Bezug, »ich bin mit meiner Kraft zu Ende. Helfen Sie mir. Ich will nicht, daß er wieder anfängt zu grübeln.«

»Wie steht es mit ihm?«

»Ich glaube gut. Aber jetzt scheint es, daß er wieder über sein Unglück nachzudenken beginnt. Das darf nicht sein. Das macht ihn verzweifelt und ... das ist nicht anzusehen. Wissen Sie ... dieser arme Mensch ist kein stupider, gleichgültiger Idiot, sondern ein kluger und tüchtiger Geist, wie es scheint. Daß ich alles das jetzt erst sehen muß! Und vielleicht wäre er ein Erbe meiner Herrschaft ... Kommen Sie! Sie sind lebendig und beweglich und werden ihn aufrütteln ... ich glaube, es fehlen ihm die Eindrücke des Tages, die Nacht ist ... kommen Sie.«

Hainx folgte Bezug in den Abteil nebenan; aber sie sahen sich vergebens nach Arnold um. Endlich wies Barry, der mit erhobenem Kopf, leise winselnd, in die Höhe sah, ihrem Suchen die Richtung. Da lag Arnold oben auf dem Gepäcknetz, in einer fürchterlichen Verkrümmung unter die Decke des Waggons gezwängt, hielt mit einer Hand einen der eisernen Stützstäbe umklammert und sah durch die Maschen des Netzes nach den Männern. Seine Augen hatten das seltsame Leuchten, wie es sich in den Augen der Tiere findet, ein grünlich gläserner Schein, und tierisch war auch das Gemisch von Furcht und Wut, das ihren Ausdruck ausmachte. Bezug stand, an allen Gliedern zitternd, und hatte alle Spannkraft der Muskeln verloren, so daß ihn das Rütteln des Wagens widerstandlos hin und her warf. Hainx aber, der neben ihm stand, rief laut und heftig in befehlendem Tone: »Kommen Sie augenblicklich herunter und betragen Sie sich vernünftig! Was für Einfälle sind das?«

Darauf bewegte sich Arnold ein wenig auf seinem Lager, seufzte und schloß die Augen. Als er sie wieder öffnete, war der tierische grüne Glanz verschwunden; der Ausdruck hatte sich in Entsetzen gewandelt. Langsam löste sich die Hand vom krampfigen Griff, und mit unbeholfenen Bewegungen kletterte Arnold herab, um sich sofort auf seinen früheren Platz zu setzen. Er war sehr blaß und sprach kein Wort, auch nicht, als sich Hainx bemühte, ein unbefangenes Gespräch zu beginnen. Mit keiner Silbe wurde an das Geschehene gerührt, aber das Grauen lag über den dreien, auch über den Einfällen Hainx', so daß sie matt und farblos erschienen.

Endlich erhob sich Bezug und machte den Vorschlag, schlafen zu gehen. Als Arnold die Tür seiner Abteilung hinter sich geschlossen hatte, hielt Hainx Bezug zurück und machte nach einer Bewegung zur Tür hin die Gebärde des Schlüsselumdrehens. »Es ist kein Schloß da,« flüsterte Bezug, »die Türen sind nur von innen versperrbar.«

»Dann müssen wir wachen. Ich fürchte, er tut sich sonst etwas an ...«

Hainx und Bezug wachten je eine halbe Nacht. Aber es rührte sich nichts in Arnolds Kabine. Gegen Morgen – der Zug war die Nacht über langsamer gefahren, so daß sie erst nach Tagesanbruch nach Triest kamen – öffnete Bezug die bewachte Tür. Er fand sie unversperrt. Arnold lag angekleidet auf dem Bett und schlug sogleich die Augen auf. »5ind wir schon da?« fragte er.

»Wir werden gleich einfahren.«

Eine Ungeduld schien über Arnold gekommen, wie über einen Kranken, der das ersehnte Heilmittel ganz nahe weiß und noch zurückgehalten wird, es zu gebrauchen.

»Ist das das Meer?« fragte er enttäuscht, als sie auf dem Boot der Regina maris durch die engen Wasserstraßen des Hafens gerudert wurden. Bezug sah, daß eine Hoffnung in seinem Sohn erstanden war, eine Hoffnung, die so stürmisch und wild schien, daß sie den Vater nicht weniger entsetzte als früher die Verzweiflung des Kranken. Es war klar, daß sich der Glaube in dem jungen Mann befestigt hatte, ein Blick auf das Meer werde genügen, ihn gesund zu machen. Wie sollte Bezug dieses Hoffen auf sein mögliches Maß zurückführen, ohne ihn mißtrauisch werden zu lassen? Nun erst glaubte Bezug Eleagabal Kuperus zu verstehen. Nicht irgendeine mystische Einwirkung, sondern ganz natürliche Kräfte würden Arnold retten.

Ungeduldig erwartete der Kranke die Abfahrt des Schiffes. Er sah die benachbarten Segler die Anker lichten, die Segel aufziehen und den Hafen verlassen. Ab und zu kam in größerer Entfernung ein Dampfer vorbei, zuerst noch in langsamer Fahrt, eine dichte Rauchwolke über dem Schornstein, die immer länger wurde, je schneller der Dampfer vorwärts kam, und die endlich als schmales schwarzes Band hinten dreinzog.

»Warum fahren wir noch nicht?« wandte er sich an den Kapitän.

»Wir erwarten noch jemanden.«

Am meisten Freude machten Arnold die bunten Wimpel, die zu Ehren des Herrn aufgezogen worden waren. Er sah die Masten hinan in das verwirrende Durcheinander der Stricke, und als ein Matrose vor seinen Augen die Strickleiter zur ersten Rahe hinaufkletterte, faßte er eines der Taue, wie um seine Festigkeit zu erproben. Aber er ließ es sogleich erschreckt fahren, denn er war sich des Verlangens bewußt geworden, es dem Matrosen nachzutun. Das Schiff lag fast den ganzen Tag noch im Hafen. Endlich kam das Boot, das mittags mit Hainx ausgefahren war, zurück. Neben Hainx saß eine Dame in einem weißen Kleid.

»Nehmen Sie sich zusammen«, sagte Hainx zu Nella, als sie in die Nähe des Schiffes kamen.

»Und was will er von mir?«

»Ich weiß es nicht. Er wird es Ihnen selbst sagen. Bedenken Sie nur, der Kranke ist sein Sohn.«

Mit unfreundlichem Gruß wurde Nella von Bezug empfangen. »Du hast dir Zeit gelassen. Daß man auf euch Weiber doch immer warten muß.«

Demütig entschuldigte sie sich: »Ich mußte Vorbereitungen treffen ...«

»Wenn du dich beeilt hättest, so hättest du heute morgen schon da sein können. Mit dem fahrplanmäßigen Zug, fast gleichzeitig mit uns.«

Unweit der Angekommenen stand Arnold. Nella sah ihn zwischen Bezug und dem Kapitän, und sogleich gab sie ihm ihr Mitleid. Was ihr Hainx von seinem Leben erzählt hatte, war so entsetzlich, daß jedes andere Unglück daneben verschwand. Die Art seines Wahnsinns war so abscheulich, sein Aussehen sprach so deutlich von durchlebten Qualen; sie war entschlossen, ihm zu helfen, soweit es ihr möglich war.

Vor dem Abendessen, als Nella in ihrer Kajüte Toilette machte, klopfte es an ihrer Tür. Sie erkannte Bezugs Stimme, nahm rasch ein Tuch über die nackten Schultern und beeilte sich zu öffnen, denn sie kannte die Ungeduld ihres Herrn und fürchtete sie. Bezug trat ein, sah Nella prüfend an, und als sie zögerte, ihre Toilette vor ihm fortzusetzen, sagte er befehlend: »Vorwärts.« Nella ließ das Tuch herabgleiten und trat fröstelnd vor den Spiegel. Zusammenzuckend nahm sie wahr, daß sich ihr Bezug von hinten näherte, und verfiel in die Aufregung, die ihr niemals erspart blieb, wenn sie ihr Herr mit Zärtlichkeiten vergewaltigte. Sie fühlte einen flüchtigen Kuß auf ihrem Nacken und schauderte. Die Arme über den Brüsten gekreuzt, wandte sie sich um und sah ihn furchtsam an. Die glimmenden Salzseeaugen zeigten Flammen auf dem Grunde: »Bestie,« sagte er, »hast es noch immer nicht gelernt? Noch immer nicht ...« Bezug zwang etwas hinab, und fuhr dann in anderem Ton, fast schmeichelnd fort: »Bist doch schön ... ja, du bist schön ... das ist gut ... fürchte dich nicht vor mir, ich habe dich nicht für mich kommen lassen. Nicht für mich. Sondern für ihn. Hainx wird dir alles erzählt haben. Also lache nicht über ihn ...«

»Ich lache nicht. Ich bedaure ihn.«

»Gut. Das ist gut. Und du wirst alles für ihn tun. Alles! hast du verstanden?«

»Ich will mich um ihn bemühen.«

»Gut ... gut. Und wenn du fertig bist, so komm in den Speisesaal.«

Das Meer war ein wenig bewegt, und als das Schiff den Hafen verließ, stellten sich die Schwankungen ein, jenes rhythmische Wiegen, das ein Gefühl vollkommener Seligkeit gibt, wenn es nicht Seekrankheit nach sich zieht. Der Kapitän, der neben Bezug Platz genommen hatte, scherzte mit Nella, nachdem er die erste Befangenheit in der Gesellschaft seines Herrn überwunden hatte. Von Bezug aufgemuntert, dem daran gelegen war, ein fröhliches Gespräch in Gang zu bringen, schilderte er die Schrecken der Seekrankheit in grellen Farben. Sein Leben brache ihn wenig mit Frauen zusammen, die Befehle Bezugs stellten ihn häufig wissenschaftlichen Expeditionen zur Verfügung, und wenn er einmal Frauen auf seinem Schiff sah, waren seine tiefsten Kräfte aufgewühlt. Freilich reichte keine Frau an Elisabeth heran, für die er eine ganz wilde und verzehrende Leidenschaft bewahrte, einen schlummernden Blitz von ungeheurer Kraft. Heute war er maßlos glücklich. Eine Frau saß neben ihm, deren Schönheit nicht an Elisabeth heranreichte, aber ihn doch lebendig und munter machte. Und dann hatte ihm Bezug bei der Ausfahrt gesagt, daß er zunächst Antothrake anlaufen solle, wo Bezug seine Tochter besuchen wolle. Es war also Hoffnung vorhanden, Elisabeth zu sehen. Seine Seele zitterte wie eine angespannte Saite, an die ein leiser Finger rührt. Rudolf Hainx, der dabeigestanden hatte, als Bezug dem Kapitän seinen Befehl gab, war das glückliche Leuchten nicht entgangen, das bei der Nennung der Insel über das Gesicht des Kapitäns hinflog. Mißtrauisch beobachtete er sein Benehmen und richtete seine Bosheit gegen den Arglosen.

»Das Meer macht entweder ganz glücklich oder ganz unglücklich«, sagte er, als der Kapitän mit seiner Schilderung der Seekrankheit zu Ende war. »Es gibt entweder die volle Ruhe des Behagens bei klarem Wetter und das Gefühl des Fliegens im Sturm, oder es stürzt in die Hölle der Krankheit. Übrigens«, und hier wandte er sich gegen den Kapitän, »rechne ich diese Seekrankheit zu den vielen Gespenstern, die durch die Furcht in die Welt gekommen sind.«

Man munterte ihn durch ein mit unausgesprochenen Fragen untermischtes Erstaunen auf, fortzufahren, und Hainx tat es, indem er seine Gabel am äußersten Ende zwischen zwei Finger nahm und sie leicht hin und her schwanken ließ, als wolle er die Art gewisser aufdringlicher Lehrer verspottend nachahmen: »Sehen Sie, ich glaube nämlich, daß diese Seekrankheit eine böswillige Erfindung der Seeleute ist. Es mag ja sein, daß hie und da jemand besonders dazu neigt. Es gibt empfindliche Leute, die die Bewegung des Schiffes wirklich nicht vertragen. Gut! Aber die Seeleute, die ja infolge einer uneingestandenen Antipathie gegen Landmenschen uns feindlich gesinnt sind, haben in ihrer Freude darüber die Sache weit übertrieben. Dazu kommt noch eines. Wer eine Gefahr überstanden hat, pflegt sie hinterdrein möglichst gräßlich darzustellen. So ist es auch mit denen, welche die Seekrankheit überstanden haben. Also ... alles das, ich bitte, muß doch ängstliche und um ihr Heil besorgte Gemüter schrecklich aufregen. Sie kommen, vor Furcht zitternd, auf das Schiff und lauern auf jede Regung ihres Innern, ob nicht das Gespenst schon da ist. Was geschieht? Die Seekrankheit kommt wirklich ... Es ist genau, wie mit Seuchen und ansteckenden Krankheiten. Wer sich vor ihnen fürchtet, kriegt sie wirklich. Die Seekrankheit gehört zu den Gespenstern, die auf dem Meer umgehen. Es ist ein wenig Wahres an ihr, genau so wie an der Seeschlange und eine Menge Erfindung ... übrigens,« unterbrach er sich mit einem Lächeln, indem er die Gabel sinken ließ, »ich bin gewiß, daß unser Kapitän schon einmal irgendwo die Seeschlange gesehen hat.«

Dem Kapitän, dem die Fechterkünste des zugespitzten Dialogs fremd waren, entging auch die boshafte Richtung der Frage. Hainx war übrigens mit sich nicht besonders zufrieden, er fand sich matt und kraftlos, und auf einem Gebiet, das er so gut wie gar nicht kannte, nicht besonders geschickt und glücklich im Angriff. Aber womit sollte er dem Kapitän beikommen? Es war schwer, mit Skepsis und Hohn einen mit unerschütterten Überzeugungen Gepanzerten anzugreifen. Der Kapitän sah seinen Herrn und dann Nella an und sagte: »Die Seeschlange ... nein, die Seeschlange habe ich noch nicht gesehen. Einen alten Matrosen habe ich gehabt ... der ist im vorigen Jahr gestorben. Und der hat sie selbst gesehen. Er ist zwanzig Jahre zwischen Hongkong und Hawai gefahren, und da hat er sie einmal gesehen. Aber hier in unserem Meer gibt es keine Seeschlange. Das ist noch von den Venezianerzeiten her. Die haben sie vertrieben. Denn damals war sie auch hier. Und einmal ist sie bei Kreta hinaufgekommen, und da war eine furchtbare Flutwelle an allen ägäischen Inseln und an der afrikanischen Küste ...«

»Großartig«, sagte Hainx, und er wollte noch etwas sagen, aber er sah es an Bezugs Mienen, daß dieser nicht wünschte, daß der Kapitän unterbrochen werde.

»Das steht in sehr alten Büchern zu lesen. Und dort steht auch, wie sich die Venezianer geholfen haben. Sie haben in der Gegend von Kreta, wo die Seeschlange heraufgekommen ist, ein großes Kreuz ins Meer versenkt. Das Kreuz war so ungeheuer groß, daß es von vier Galeeren hingebracht worden ist. Jedes Ende ist auf einer Galeere gelegen. Und wie die Galeeren am rechten Platz waren, sind sie einfach voneinander fortgerudert und das Kreuz ist ins Meer gefallen. Drei Monate lang war das Meer blutig und bis nach Jaffa hin haben sie Fleischfetzen gefunden.«

»Also unser Meer ist durch die Venezianer gesäubert?«

»Doch nicht ganz. Einer hat sich nicht vertreiben lassen. Und den habe ich gesehen.«

»Und wer ist das?«

»Der Meermönch. Er sieht aus wie ein Mönch, in einem grauen Mantel, mit einer Kapuze, aber unten ist er wie ein Fisch. Das war einmal nach einem Sturm bei den liparischen Inseln. Das Sonderbare war, daß drei Stunden nach dem Sturm ein dichter Nebel gefallen ist. Ich war damals mit der ›Agathe‹«, der Kapitän verneigte sich gegen Bezug, »auf Tiefseexpedition mit einigen gelehrten Herren. Nach dem Sturm ... also, sie waren sehr schwach, die Herren, und waren in ihren Kajüten. Und darum haben sie nicht sehen können, was ich gesehen habe. Nämlich ... also die Dampfsteuerung war beschädigt, und man mußte sehr aufpassen. Es warf uns herum, und kein Mensch wußte eigentlich genau, wo wir waren. Wir hielten eben nur irgendeinen Kurs, weil wir sonst nur noch mehr geschleudert worden wären, vorne stand ein Mann bei der Glocke und läutete aus Leibeskräften. Aber der Schall war gewiß nicht hundert Schritte weit zu hören.«

Mit vorgebeugtem Oberkörper lehnte der Kapitän an dem Tisch und suchte auf den Gesichtern seiner Zuhörer nach dem Grad der Spannung. Er hatte eine lebhafte, bewegliche Art, zu erzählen, eine auffallende Sicherheit im Aufbau, und eine große Gewandtheit im Ausdruck, das Erbteil seines Volkes, das Erzählertalente in Fülle hervorbringt. Dallago verstärkte den geheimnisvollen Zug in seinem Gesicht und fuhr mit einer Art von Beschwörergebärde fort: »Ich gehe nach vorne, um dem Mann zu sagen, daß er die Glocke zerbrechen darf, wenn er kann. Er schlägt und schlägt ... plötzlich hört er auf zu läuten, die Hand sinkt ihm herunter, und er schaut, blaß wie eine Wand, geradeaus auf das Meer hinaus ... Ich schaue hin. Da steht oder schwebt oder schwimmt auf dem Meer gerade vor uns ein Ding, das einem Menschen ähnlich sieht. Es hat einen grauen Mantel und eine Kapuze, so dicht ins Gesicht gezogen, daß man nichts davon sieht. Zur Hälfte steht es aus dem Wasser heraus, und hebt sich und sinkt mit den Wellen zugleich. Es kann also kein Mensch sein, denn so kann sich ein Mensch nicht im Wasser halten ... Auf einmal schreit der Mann neben mir auf und fällt der Länge nach hin: ›Der Meermönch – der Meermönch‹, schreit er. Denn die Leute erzählten sich die schrecklichsten Geschichten vom Meermönch ... wer ihn sieht, muß sterben. In diesem Augenblicke aber hebt der Meermönch seine Hand gegen die ›Agathe‹ und winkt mir ganz deutlich: zurück! Ich schaue noch einmal hin. Er winkt: zurück! Da ist kein Irrtum möglich. Ich weiß nicht, welche Eingebung mich damals bestimmt hat, dem Befehl zu folgen. Aber so war's. Ich springe auf die Kommandobrücke und rufe in den Maschinenraum: Volldampf zurück! Niemals ist mir die Zeit, bis ein Kommando ausgeführt wird, so lang vorgekommen. Die Maschine stoppt endlich, gibt Rückdampf, das Schiff steht einen Augenblick und fängt dann an, zurückzugehen. Ich sehe noch von der Kommandobrücke aus den Meermönch im Nebel, wie er sich mit den Wellen hebt und senkt. Kaum sind wir um zwei Schiffslängen zurückgegangen, so braust es im Nebel, ein riesiger grauer Schiffsrumpf taucht auf, und senkrecht auf unseren Kurs geht vor unserem Bug ein ungeheuerer Dampfer vorbei.«

»Der Meermönch hat Sie also gerettet?« sagte Hainx und brach seine eigene Spannung durch ein spöttisches Lachen.

»Die ›Agathe‹ wäre ganz gewiß überrannt worden«, antwortete der Kapitän vollkommen ernst.

»Wenn Sie die Geschichte so erzählen, möchte man sie beinahe glauben.«

»Sie können diese Geschichte glauben, so wie ich sie erzähle.« Nun hatte Dallago den Gegner endlich erkannt und stellte sich ihm entgegen.

Bezug, der bis jetzt geschwiegen hatte, sagte nach einem Blick auf Arnold: »Das Meer ist voll von sonderbaren Dingen. Wer kann wissen, welche Geheimnisse es hat. Ich bewundere von allen Völkern am meisten die seefahrenden Nationen. Und die alten Venezianer vor allem, das waren Kerle ...«

Dallago, dessen Mutter eine Venezianerin war, erhob sich und rief, indem er sein Glas erfaßte: »Die alten Venezianer – jawohl! Ihrem Andenken. Und ihrem Nachfolger in der Herrschaft über die See, unserm gnädigen Herrn!«

Über Bezugs Gesicht zuckte es. Die ungekünstelte Begeisterung des Kapitäns, die ihn erfreute, hatte ihn zugleich auf einen Gedanken gebracht. »Sie hatten eine schöne Zeremonie, die alten pompösen Herren ... nicht wahr, Dallago ... die Vermählung des Dogen mit dem Meer. Sie fuhren mit dem Staatsschiff hinaus und der Doge warf einen Ring in die See. Man sollte die Zeremonie erneuern.« Und nach einer Weile, während der alle erwartungsvoll nach ihm hinsahen, setzte er hinzu: »Gewiß, warum sollte ich sie nicht erneuern? Ich habe wohl ein Recht dazu ...«

»Gewiß, Sie haben ein Recht dazu ... wer sonst, wenn nicht Sie?« schrie Dallago ganz erregt. Und Hainx beeilte sich, als ihn ein Blick Bezugs aufforderte, zu sagen: »Gewiß ... wer sonst, wenn nicht Sie.«

Bezug erhob sich und nahm die Männer mit sich hinaus. Als Nella folgen wollte, hielt er sie durch eine Handbewegung zurück. Nun war sie mit Arnold allein. Arnold stand mitten im Salon und ließ seine Augen nicht von ihr. Er hatte die Gespräche der Männer und die Erzählung des Kapitäns nur mit halbem Ohr vernommen, denn seine Aufmerksamkeit war ganz von Nella gebannt. Trotzdem sich Nella vorgenommen hatte, den Unglücklichen gut zu behandeln, ließ ein leises Grauen keine Herzlichkeit zu. Konnte nicht jeden Augenblick die fürchterliche Verwandlung in das Tier vor sich gehen? Endlich faßte sie Mut und begann mit zaghafter Liebenswürdigkeit: »Sie sind zum erstenmal auf dem Meer ...?«

Wie ungeschickt diese Frage war, und wie die Erkenntnis dieser Ungeschicklichkeit Nella verwirrte!

Arnold nickte nur. Seine Augen, die jetzt einen Schimmer der Augen seines Vaters zu haben schienen, waren weit geöffnet und starrten sie an.

Ängstlich zog sich Nella zurück. »Wir wollen schlafen gehen, das heißt ...« sie versuchte zu lächeln, »ich vielleicht, ich muß. Ich bin von der Reise sehr müde. Gute Nacht ...!« Sie gab Arnold die Hand und hätte fast aufgeschrien, so eisern fühlte sie die Umklammerung seiner Finger.

Am Nachmittag des nächsten Tages landete man auf Antothrake. Nella war tagsüber viel um Arnold gewesen, und wenn sie sich erschöpft zurückziehen wollte, war sie von Bezug sofort wieder an ihren Platz geschickt worden. Ihre Bemühungen, den jungen Mann auf die Schönheit des Meeres aufmerksam zu machen und ihm die glückliche Versunkenheit zu geben, die sie an ihren ersten Seefahrten so entzückt hatte, waren erfolglos. Während Nella sprach, sah sie Arnold unaufhörlich an, und es schien, als wolle er jeden Zug ihres Gesichts seinem Gedächtnis einprägen . Er selbst hatte nicht zehn Worte gesprochen, und als ihn Nella nach stundenlangem Beisammensein endlich etwas ungeduldig fragte, warum er nicht rede, antwortete er in seiner plumpen, schwerfälligen Art: »Weil ich nicht sprechen kann.« Je länger sie in seiner Gesellschaft war, desto unheimlicher erschien er ihr. Sie erwies ihm allerlei kleine Aufmerksamkeiten, die Barrys Mißtrauen erweckten. Obzwar sie sich sagte, daß man sie als Krankenpflegerin mitgenommen habe, und obwohl sie selbst den Willen hatte, ihr Mitleid mit dem armen jungen Mann werktätig zu bekunden, widerstand es ihr zuweilen, an ihn gefesselt zu sein. Mit ihrem Mitleid mischte sich Ungeduld und bisweilen ein Grauen; und durch diese widerstreitenden Empfindungen kam in ihr Betragen jene Ungleichmäßigkeit, die von niemandem stärker empfunden wird als von Kranken und von Tieren.

Jetzt saß sie neben Arnold auf der Bank des Bootes, das dem voranfahrenden Boot mit Bezug und Hainx folgte. Elisabeth und Adalbert Semilasso hatten sich zur Begrüßung am Strand eingefunden.

»Ich war erstaunt,« sagte Elisabeth, als ihr Vater ihr die Hand gereicht hatte, »dein Telegramm kam mir sehr unerwartet ... ich bekam es erst vor drei Stunden.«

»Du wirst uns wohl für eine Nacht hier aufnehmen ...?« Bezug sagte es so zaghaft, als hinge die Erlaubnis dazu wirklich von seiner Tochter ab.

»Warum nicht? Aber sag' mir nur, welchen Zweck du verfolgst?«

Bezug vermied es, Elisabeth anzusehen: »Ich will ... ich muß deinem Bruder doch einmal das Meer ... weißt du, das Meer ... ich glaube, es wird ihm wohltun ... er kommt dort im zweiten Boot ...«

»Arnold!? ... Und wer ist die Frau ...?«

»Eine ... eine Gesellschafterin, die ich für ihn mitgenommen habe ...«

Als Arnold und Nella aus dem Boot stiegen, ging Elisabeth den Ankommenden einige Schritte entgegen, dann aber blieb sie plötzlich stehen, als sei es ihr unmöglich, noch einen Schritt zu machen. Während die andern sich zu einer Gruppe vereinigten, stand Elisabeth Arnold gegenüber.

»Du bist mein Bruder?« fragte sie.

»Du bist meine Schwester?« ... Sie schwiegen wieder und sahen sich an.

Ein anderes Zusammentreffen von Bruder und Schwester fand in der Gruppe um Bezug statt. Voll Schadenfreude sah Hainx das Erstaunen der beiden, die quälende Frage, die ihnen niemand beantwortete. Mit kaltem und gleichgültigem Gesicht stellte Bezug Adalbert vor. Er vermied es, den Namen Adalberts zu nennen: »Unser Hausdichter,« sagte er, »ein sehr tüchtiger junger Mann ... er ist auf dem Weg, berühmt zu werden; die Zeitungen bringen lange Artikel über seine Kunst. Und hier Fräulein Bianca Semonski, berühmt auf einem anderen Gebiet. Sie werden sie kennen ...«

»Ich hatte Gelegenheit ...« Adalbert sah ein, daß er weiter sprechen müsse, und gab sich einen Ruck: »Ich hatte Gelegenheit, Ihre Kunst zu bewundern ...«

Mit einiger Verwunderung hatte Elisabeth in der Gesellschafterin ihres Bruders Bianca Semonski erkannt, das Weib, dessen Kunst ihr bei einem Besuch des Zirkus den Wunsch eingegeben hatte, ähnliches zu erreichen. Von allen Besuchern war ihr Bianca am meisten willkommen, und in rasch geweckter Vertraulichkeit schloß sie sich an sie an, legte ihren Arm in den Biancas und führte sie, während Arnold an Biancas anderer Seite schritt, dem Schloß zu.

»Haben Sie Ihre Kunst aufgegeben ... ich meine, weil Sie Zeit zu einer Seefahrt haben?«

»Nein, Fräulein ... ich habe einen Urlaub erhalten. Ihr Herr Vater hat ihn mir verschafft ... er kennt unseren Direktor sehr gut und ... man erweist ihm gern bei uns Gefälligkeiten, Ihrem Herrn Vater ...«

»So ...« sagte Elisabeth gedehnt und mit einem Blick nach rückwärts, »Gefälligkeiten ... ja ... aber wissen Sie, daß ich Sie bewundere. Die Grazie und Kühnheit, mit der Sie Ihre Künste zeigen, die Sicherheit ihrer Bewegungen, die Harmonie Ihrer Erscheinung ... alles das, es ist wohl das höchste Gefühl, nicht wahr, so oben über der Manege auf dem Seil zu stehen und alle Blicke auf sich gerichtet ... Und tausend Menschen bewundern die Macht und die Geschmeidigkeit Ihres Körpers ... man sieht das Spiel der Muskeln unter dem angespannten Trikot ...« Elisabeth unterbrach sich und sah Bianca fast schwärmerisch an. »Dann der rasende Lauf auf dem Zweirad durch die Schlinge ... der Augenblick, in dem man fast gewiß ist, daß Sie stürzen müssen ...«

»Man hat nicht Zeit, Fräulein, an die andern zu denken. Sie kennen nicht, die ... wie soll ich es Ihnen beschreiben. Man denkt immer nur an die nächste Sekunde ... wie wirst du jetzt den Fuß setzen und was wirst du jetzt tun? Man sieht nur das allernächste Stück seiner Aufgabe. Und wenn man dann herunter kommt, weiß man nicht, ob man eine Stunde oder bloß fünf Minuten oben gewesen ist. Meine Kunst ...«

Plötzlich mischte sich Arnold ins Gespräch. Die Laute kamen dumpf und schwerfällig heraus: »Was für eine Kunst ist das – Ihre Kunst?« fragte er.

Elisabeth übernahm die Antwort: »Das Fräulein ist ... wie soll ich es dir sagen, du hast es noch nie gesehen, Akrobatin und Seiltänzerin ... sie geht auf einem turmhoch über den Köpfen der Leute gespannten Seil, sie fliegt aus einem Winkel des Hauses in den andern ... sie fährt auf dem Rad über das Seil und ... wissen Sie,« lenkte sie ab, »daß Sie mir alle Lust machten, Ihren Beruf zu ergreifen. Ich habe ja keinen Beruf, und man muß irgendeinen Beruf haben ... sagte der Dichter, den mein Vater hält, er ist übrigens ein Narr,« lachte sie, indem sie einen Blick zurückwarf, »ein Narr ... aber sind nicht alle Dichter Narren? Nicht wahr? Selbstverständlich! Er hat mir vorgehalten, daß ich keinen Beruf habe. Das wäre ein Beruf für mich gewesen.« Sie war bemüht, von Adalbert, der mit Bezug und Hainx ganz nahe herangekommen war, einen Blick zu erhalten.

Inzwischen war man in den großen Saal gelangt, wo schon eine reich besetzte Tafel zum Abend bereitet war. Von der Terrasse sah man auf die See hinaus. Schon waren die Schatten der Dämmerung der spielenden Lichter Herr geworden. Nur noch ein rosiges Tor war im Westen über der leicht bewegten See offen und es war, als sähe man dort in ein anderes Land, wo noch Heiterkeit und Licht ist, während sich über die diesseitige Welt Nacht und Dunkel breitet. Eine lange rote Bahn ging von diesem Tor über das Meer, und sie verbreiterte sich im Hafen der Insel zu einem scharf begrenzten blutroten See. Mitten in diesem See lag die Regina maris vor Anker, mit schwarzem Rumpf und spinnwebfeinen Masten und Rahen. Man sah, wie ein Boot vom Schiff abstieß und dem Land zustrebte.

»Ich habe auch den Kapitän eingeladen,« sagte Bezug, »er wollte nur seine Arbeit beenden und dann kommen.«

»Schön ist es hier.« Hainx hatte einen Widerschein des offenen Tores auf seinem Gesicht, als er dies sagte; es war, als vermöge dieser Abend selbst ihn zu verklären: »Schön ist es. Und«, er wandte sich zu Elisabeth, »was haben Sie diese Wochen über getrieben?«

»Was ist hier zu tun? Nichts. Es füllt den Tag aus. Spaziergänge, ein Buch, das mir Adalbert vorliest, eine Bootfahrt draußen ... man wünscht nichts, das ist Ruhe ...«

»Man wünscht nichts?« fragte Hainx und seine Stimme zitterte, als er seine Frage noch eindringlicher wiederholte: »Man wünscht nichts?«

»Nein«, entgegnete Elisabeth und kehrte Hainx den Rücken.

Neben Adalbert hatte Bianca einen Platz an der Brüstung gefunden. Sie fühlte sich auf eine unerklärliche Art zu ihm hingezogen, und wenn sie ihm ihr Gesicht zuwandte, sah sie seinen Blick mit scheuer Bewunderung auf sich gerichtet. Ihr Gespräch bezog sich gleichfalls auf das Leben auf der Insel, und da sie zu erfahren wünschte, wie man hier lebte, gab Adalbert mit leiser Stimme Auskunft, so leise, als wolle er von den anderen nicht gehört werden. Plötzlich drängte sich jemand zwischen sie, schob Adalbert mit brutaler Gewalt zur Seite und nahm dessen Platz ein. Arnold stand neben Bianca und schien mit einer Miene des Trotzes und der Wut Besitz von ihr zu ergreifen. Wortlos beugte er sich vor, sah ihr in die Augen und legte seine Hand, die kalt und feucht anzufühlen war, auf ihren Arm, der auf der Brüstung ruhte. Dieser Blick ... Nella kannte ihn ... war brennend wie der Blick seines Vaters, wenn jene Wünsche in ihm entstanden, die Nella mehr als seinen Zorn fürchtete. Schaudernd duldete sie die Berührung seiner Hand eine Sekunde lang, dann zog sie ihren Arm mit Anwendung von Gewalt fort.

Mit tiefer Stimme meldete der Kastellan, daß die Tafel bereit sei. Der Kapitän war angekommen und stand nun unter dem Kronleuchter von Schmiedeeisen. Er erschöpfte sich in Huldigungen für Elisabeth, etwas stürmisch und unbedacht, als habe er ein Recht darauf und als sei niemand da, der es ihm verwehren könnte. Nella, die durch einen Wink Bezugs an die Seite Arnolds befohlen war, sah während des Speisens immer den jungen Mann an, den man ihr als Hausdichter vorgestellt hatte. In welchem Verhältnis stand er zu Elisabeth? Wie sonderbar, daß man es zugab, daß sie mit ihm allein auf diesem Inselschloß wohnen durfte? Gewohnt, sich über alle Menschen, die sich ihr näherten, rasch ein Urteil zu bilden, um zu wissen, ob sie sich feindlich oder freundlich zu ihnen stellen sollte, war sie doch hier verwirrt. Hier kreuzten sich so viele ihr unbekannte Beziehungen, alle Menschen, die da um den Tisch saßen, verband ein gemeinsames Netz, in dem die einzelnen Fäden vielfach verknüpft waren. Sie wußte nicht einmal, an welcher Stelle dieses Netzes sie sich befand? Wem unter diesen Menschen sollte sie vertrauen? Elisabeths Freundlichkeit war ihr so überraschend gekommen, daß sie nicht vermochte, sich ihr anzuschließen. Was hatte Bezugs Tochter an ihr gefunden? War dies Interesse an ihrer Kunst nicht bloß eine Maske, ein Vorgeben, um irgend etwas Unbekanntes zu erreichen? Nella fühlte sich von dunkeln Gewalten umgeben, und wie eine Lähmung lag es auf ihr, daß sie in ihrem Nachbar ein leidenschaftliches Begehren entflammt hatte. Fast körperlich fühlte sie die Wellen der Erregung, die von seinem Körper ausgingen. In diesem Wirrsal schien es am sichersten, sich an den Dichter zu halten, der ihr gegenüber saß und sie mit dunkeln, traurigen Augen bisweilen fragend anblickte. Zu ihm hatte sie augenblicklich herzhaftes Vertrauen, seine gelassene Art zog sie an, und es war ihr, als müßte sie ihm irgend etwas Liebes tun.

Nach einem seltsamen Fischgericht, das Hainx »gebackenen Meermönch« nannte, erhob sich der Kapitän Dallago, um einen Trinkspruch auszubringen. Während er seine Huldigungen für Elisabeth zugleich mit seiner fanatischen Verehrung für Bezug in Worte brachte, betrachtete ihn Adalbert und dachte daran, daß ihm Elisabeth von diesem Mann erzählt hatte, daß mehr als ein Leben durch ihn abgeschnitten worden war. Dabei sah Dallago so heiter und liebenswürdig aus, strahlend vor Jugend und Eifer. Warum hatte Elisabeth ihre Liebe nicht diesem Manne zugewendet? Wie gut hätte er zu ihr gepaßt? Warum quälte sie Adalbert mit einer Leidenschaft, die ihn vernichtete?

Der Kapitän beendete seinen Trinkspruch mit einer Wendung, die von Bezug wieder auf Elisabeth zurückkam. Er nannte sie mit einer theatralischen Geste »Rose des Meeres« und forderte die Anwesenden auf, ihre Gläser auf das Blühen dieser Rose zu erheben.

Man stieß an und Hainx sagte, indem er sich wieder niederließ, in etwas trockenem Ton: »Ja, das gnädige Fräulein blüht wirklich wie eine Rose. Frisch und gesund ... Aber«, fuhr er bedächtig fort, »unserem Freund scheint die Seeluft nicht gut zu tun. Sind Sie nicht ganz wohl, mein Bester? Sie sehen wirklich etwas blaß aus. Wollen Sie sich nicht auf der Regina maris einschiffen? Wir setzen Sie dann im nächsten Hafen ab, und Sie fahren nach Haus ...«

An dem Blick, den Adalbert auf Hainx warf, erkannte Nella: Hier sitzt ein Gefangener. So sieht jemand aus, der lange im Kerker saß und dem man verspricht, daß sich seine Türen bald öffnen werden.

Man erhob sich vom Tisch. Nella war glücklich, denn sie hatte gefühlt, wie Arnold immer näher an sie heranrückte, und sie hatte es dulden müssen, weil sonst zu fürchten war, daß Arnold irgend etwas tat, dessen Folgen auf sie zurückfielen. Aber sie wurde ihn nicht los, er blieb ihr auf den Fersen, war immer um sie herum und drängte sich zwischen sie und andere, mit denen sie eben sprach. Außer Adalbert und Elisabeth waren alle Anwesenden blind für diese plumpe Art der Annäherung, deren sich Nella nicht zu erwehren wagte. Die entfesselten Instinkte des Unglücklichen brannten um sie und umgaben sie wie mit einem Feuerwall, den sie nicht durchschreiten durfte.

Als man auf der Terrasse den Gutenachtgruß austauschte, sagte Bezug, der den ganzen Abend über geschwiegen hatte: »Noch einen Augenblick, meine Herrschaften! Morgen findet meine Vermählung mit dem Meere statt ... ich lade alle zu diesem Feste ein ... Elisabeth und Sie, Adalbert, ihr werdet dann in eurem Boot zurückgebracht.«

Er heißt also Adalbert, dachte Nella – Adalbert, wie mein Bruder. Dann trennte man sich.

Adalbert und Hainx standen einander gegenüber.

»Also gehen wir auch schlafen«, sagte Hainx nach einer Pause, während der er in Adalberts Mienen zu lesen versucht hatte.

»Gehen wir ...«

»Brauchen Sie die Laterne? ...«

»Nein, nehmen Sie sie nur ... ich finde mich auch so zurecht ...«

»Gute Nacht ...« Hainx trat näher an Adalbert heran: »Was sagen Sie zu seinem ... Fest?«

»Zu der Vermählung mit dem Meer?« Adalbert zuckte die Achseln.

Es war, als habe Hainx das Bedürfnis, noch mehr über diese Sache zu sprechen. Indem er sich von der Tür entfernte und Adalbert weiter in den Gang hineinzog, sagte er leise: »Wissen Sie, was Xerxes tat, als ihm der Hellespont nicht gehorchte. Er ließ ihn geißeln und Ketten in das Meer versenken. Man glaubt, daß er damals schon wahnsinnig war. Ich denke, Bezug ist nicht mehr weit davon, zu handeln wie Xerxes ...« Forschend sah er in Adalberts Gesicht. Aber Adalbert war zu mißtrauisch geworden, um eine scheinbare Vertraulichkeit zu erwidern. Ganz tief im Dunkel der Ahnungen spürte er, daß Hainx zu keinem guten Zweck um sein Vertrauen warb, und er wehrte sich gegen diese Annäherung.

»Ich kenne die Geschichte des Xerxes nicht«, sagte er gleichmütig.

»Sie finden Sie im Herodot.«

»Ich danke Ihnen ... Gute Nacht ...« Er ließ Hainx stehen und schritt in das Dunkel hinein. Nach einigen Wendungen und einem Tappen, durch das er sich in den ihm nun vertrauten Gängen zurechtfand, kam er nach kurzer Zeit in eine der kleinen Hallen mit dem Blick nach dem Meer. Zwischen wilden Wolken hing der Mond, und sein Licht zeichnete helle Bogen auf den Steinboden. Adalbert trat an die Brüstung und sah auf das Meer hinaus. Inmitten der silbernen See lag die Regina maris, und ein Licht, das an Bord brannte, war wie ein spähendes, wachsames Auge. Morgen ging das Schiff wieder in die See, und wenn seine Fahrt auch noch Tage und Wochen dauerte, so war doch die Aussicht auf ein schließliches Ende da. Aber wo war diese Aussicht für Adalbert ... es war ihm, als sei er für sein ganzes Leben in dieses Schloß gebannt, wo er einer fürchterlichen Macht verfallen war.

Ein Geräusch hinter seinem Rücken machte Adalbert aufmerken und erinnerte ihn daran, daß man in diesem Schloß, wo so viele überraschende und seltsame Dinge nur auf den Augenblick der Erscheinung zu warten schienen, immer auf seiner Hut sein mußte. Es war wie ein heftiges Atmen, und so nahe schien es an Adalberts Nacken, daß er sich hastig, mit geballter Faust umwandte. An die Brüstung gelehnt, mit zurückgebogenem Oberkörper überblickte er rasch die kleine Halle. Im Mondlicht war nichts Bedrohliches zu sehen. Unter seltsamen perspektivischen Gesetzen schoben sich die Schatten der Säulen schief nebeneinander und der plumpe, schwere Schatten mitten inne war sein eigener ... Nun versuchte er das Dunkel zu durchdringen, das jenseits der Monddämmerung zwischen den Pfeilern und Vorsprüngen klebte. Dort war, wie er wußte, eine Tür. Und als er mit zwei Schritten nähertrat, bis in die Wölbung eines der scharf gerissenen Mondlichtbogen hinein, erkannte er, daß dort im Dunkel ein Mensch an der Schwelle der Tür kauerte. Es war nur ein Schattenklumpen, noch schwärzer als das Dunkel, das in der Türnische lag. Aus dem Knäuel von Gliedern und Rumpf hob sich der Kopf, und zwei Augen mit dem grünlichen Schimmer, wie ihn Tiere haben, schauten scharf nach Adalbert. Bei einer Begegnung, die Adalbert machte, sah er den Schimmer heller erglühen und sah in dem verschlungenen Knäuel ein Straffen und Spannen. Er wußte, daß der Mensch dort an der Tür Bezugs Sohn war, und von dem Grauen befallen, das nun über seine Seele die Herrschaft gewonnen hatte, setzte er seinen Weg fort, langsam, um den Unglücklichen nicht zu reizen und ihn über seine Absichten zu beruhigen. Dabei klopfte sein Herz in wilden Stößen. Und plötzlich fiel ihm ein, daß diese Tür wohl zu den Zimmern der Bianca Semonski führen mochte.


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