Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

In Enzbergers Mühle. Die Sonnenfinsternis

Der 5. März war der Tag der großen Sonnenfinsternis. Eleagabal Kuperus hatte versprochen, in die Mühle zu kommen und die Erscheinung mit den andern zusammen zu beobachten. Kurz nach Tagesanbruch erhob sich Adalbert Semilasso, denn sein neues Leben brachte es mit sich, daß er bald zu Bett ging und früh aus den Federn war. Dieses neue Leben, das ihn wieder angestrengt arbeiten ließ und seinen Körper, der in Bezugs Haus schwach und weichlich geworden war, kräftigte, diese stete Bewegung in freier Luft, in immerwährender Berührung mit der Erde, erfüllten ihn mit Übermut und Heiterkeit.

Adalbert Semilasso ging zwischen Waschtisch und Nachtkasten hin und her, und als er schon halb angezogen war und die Krawatte umband, trat er an das Fenster. Die Landstraße unten lag schon in hellerem Licht, aber unter den Bäumen des Wirtshausgartens »Zum General Laudon« hockten noch die Schatten der Nacht. Und eben, als Adalbert ans Fenster trat, zog sich drüben ein Mensch in den Schutz der Dämmerung zurück. Wieder einer von Bezugs Spionen, von denen Enzbergers Mühle immer umstrichen wurde. Adalbert lächelte, ihm machte das keinerlei Sorge, denn er fühlte sich hier sicher. Seine Leibwache war immer auf ihrem Posten. Die fünf Rumänen hatten das Messer erhalten und waren auf seinen Ruf sogleich gekommen und umgaben ihn mit einer so treuen Anhänglichkeit und wachsamen Sorgfalt, daß Bezug wohl nicht an ihn herankonnte. Da saß wieder einer auf dem hohen Holzstoß an der Umfassungsmauer der Mühle, so daß man ihn von draußen nicht sehen konnte. Von Zeit zu Zeit hob er vorsichtig hinter einem trockenen Strauch, der oben auf der Mauer stand, den Kopf und schaute hinüber. Adalbert wußte, daß der Wächter den Mann draußen gesehen hatte und scharf beobachtete.

Und schließlich, sagte sich Adalbert, war man selber doch auch jemand. Prüfend beugte er den Arm im Ellenbogen und umspannte die harten Muskeln des Oberarms. Dann streckte er die Faust vor und ließ die Sehnenbänder des Unterarms spielen. Die Kraft, die er in harter Arbeit bei den Italienern gewonnen und bei dem untätigen Leben im Bann Bezugs verloren hatte, war wieder da. Er fürchtete sich nicht, und die Ringkämpfe, in denen er sich gelegentlich gegen die Rumänen oder selbst gegen Enzberger erprobte, bewiesen ihm, daß er sich auf seinen Nacken und seine Arme verlassen konnte.

Nun war er fertig und ging die Treppe hinab. Die Tür zu dem Zimmer, in dem die Rumänen wohnten, stand schon offen, und er sah, wie drei von ihnen beschäftigt waren, aufzuräumen, während der vierte das Frühstück bereitete. Sie ließen es sich nicht nehmen, selbst alles zu besorgen, was sie nötig hatten. Nur den Lebensunterhalt ließen sie sich von der Müllerin verabreichen, und mit Mühe hatte man sie bewegen können, für Tabak und sonstige kleine Auslagen eine wöchentliche Auszahlung anzunehmen, die von Eleagabal Kuperus herkam. Als die Rumänen Adalberts Schritt draußen hörten, trat einer von ihnen unter die Tür und begrüßte ihn.

Adalbert, dem es eine freundliche Pflicht geschienen hatte, ihre Sprache zu erlernen, dankte dem Mann mit einem rumänischen Morgengruß. »Und wie habt ihr geschlafen, Freunde?«

»Gut, Herr, mit einem offenen Auge und einem offenen Ohr.«

»Macht euch nicht so viel Mühe. Wie soll ich euch für das alles danken?«

»Redet nicht von danken, Herr! Uns ist es noch niemals so gut gegangen, wir haben ein festes Dach über dem Kopf. Wir haben ein Essen, so gut wie wir es noch nie gehabt haben. Und Ihr zwingt uns, noch Geld anzunehmen.«

»Und sehnt ihr euch nicht nach der Heimat?«

»Wir sind es gewohnt, Herr, in der Welt herumzuziehen. Und dann haben wir ein gutes Mittel gegen das Heimweh. Wollt Ihr es sehen?«

Auf einem der Fenster stand eine Art von Filtrierapparat, ein Metallsieb, in dem sich eine Lage von weißem, reinem Sand befand; unter dem Sieb war ein Glasgefäß. »Wir haben uns vor einer Woche Wein aus der Heimat gekauft. Wer diesen Wein trinkt, dem schwillt das Heimweh im Herzen und macht ihn krank und schwach. Aber ein einfaches Mittel macht gerade diesen Wein zu einer Medizin gegen die Krankheit. Laß den Wein durch den Sand eines Flusses jenes Landes laufen, in dem du weilst. Der Sand nimmt dem Wein alles Schmerzliche und gibt ihm die Kraft, die Heimat vergessen zu lassen. Wenn es über einen von uns kommen sollte, so werden wir dieses Mittel gebrauchen. Aber noch hat keiner von uns das Mittel benützen müssen.«

Der Mann sah sich nach den Gefährten um. »Keiner«, nickten die andern. Da kam eine plötzliche Rührung über Adalbert, und er erfaßte die Hand des Führers. »Bloß euretwegen wollte ich noch etwas von dem Reichtum haben, über den ich gebieten konnte. Um euch zu belohnen. Und ich weiß nicht einmal, wann euch Kuperus entlassen wird. Er hat sich vorbehalten, euch zu sagen, wann wir euch freigeben dürfen. Wer weiß, wie lange noch ...«

»Wir bleiben, solange Ihr uns braucht.«

Adalbert stand und sah sie alle der Reihe nach an, und dann ging er hinaus, denn er wußte, diese Männer hielten etwas darauf, tiefe Gefühle nicht zu zeigen. Draußen, im Hof, hatte schon die Arbeit des Tages begonnen. Enzberger kam aus der Mahlkammer, aus der das Klappern und Stampfen des Räderwerkes drang, und ging quer über den Hof, den Stallungen zu, in denen die helle Stimme der Müllerin über die Mägde gebot. »Morg'n«, rief er Adalbert an. »Heut' ham mer ja Sonnenfünsternis ... da müß mer ja schaun, daß was verricht't is, bis fünster wird«, lachte er. »Und der Herr Kuperus kommt heut' auch.«

»Ja, er kommt. Und welche Arbeit haben Sie heute für mich?«

»Heut'? Im Garten. Fragen S' die Regin', die weiß 's schon.« Und er trat in den Stall, indem er sich bückte und seiner Frau ein Scherzwort zurief. Einer der Knechte zog eben den schweren Balkenriegel vom Tor zurück und öffnete die Flügel. Ein mit Getreidesäcken beladener Wagen fuhr in den Hof ein, und Adalbert sah, wie der wachehaltende Rumäne von seinem Holzstoß herunterkletterte und durch einen der andern abgelöst wurde, der sich nahe dem Eingangstor aufstellte. Langsam wandte sich Adalbert dem Garten zu, nach dem Reginas Fenster gingen. Ob sie schon wach war? Er überlegte eine Weile, dann lächelte er und faßte mit beiden Händen die Fensterbrüstung, um sich an ihr hochzuziehen. Aber da legten sich zwei Hände um seine Augen und Regina rief mit verstellter Stimme hinter ihm: »Halt!«

Adalbert wandte sich um, machte sich los und küßte Regina auf den Mund. »Schon auf?«

»Freilich, schon auf! Und wenn ich nicht aufgewesen wäre? Darf man so ohne weiteres in mein Zimmer schauen? Was ist denn das für ein Benehmen?«

»Aber, geh ... wie lange soll ich ...«

»Ruhig,« und sie legte ihm die Hand auf den Mund, »Kuperus wünscht es doch so ...«

»Kuperus ...!«

»Ja, und wir verdanken ihm so viel, daß wir gehorsam sein müssen. Ist nicht noch alles, was er geraten hat, zu unserm Besten gewesen?«

»Gewiß.«

»Also murre nicht. Hier hast du eine Schaufel und komm ...« und als wollte sie ihn zur Arbeit ermuntern, gab sie ihm noch einen frischen raschen Kuß. »Ich hab' dich doch so lieb.«

Es gab genug Frühlingsarbeit im Garten. In einer Ecke war schon die alte Johanna mit irgendeiner Hantierung beschäftigt, und Regina wies nun Adalbert an, was Enzberger für heute aufgetragen hatte. Der Müller hatte sich lange genug gesträubt, seine Gäste an der Arbeit in Haus und Hof teilnehmen zu lassen. Es schicke sich nicht, hatte er eingewendet, sich auf diese Weise für Unterkunft und das bißchen Leben bezahlen zu lassen. Aber Eleagabal Kuperus unterstützte den Wunsch Adalberts und Reginas. Er wies darauf hin, daß die beiden so seltsame Dinge erlebt und so schwere Verluste erlitten hatten, daß ihnen die körperliche Arbeit Gesundung bringen konnte. Und nachdem Kuperus gesprochen hatte, unterwarf sich Enzberger wie stets, wenn der Alte einen Wunsch äußerte. Und dann hatte der Müller seine Freude daran, zu sehen, wie Adalbert und Regina in der Arbeit sich ihrer Verdüsterung entwanden, wie sie ihre Toten zwar nicht vergaßen, aber wie sie doch ruhiger und heiterer wurden.

Nun führte Regina Adalbert zu einem Beet, das umzustechen und mit allerlei Küchengewächsen zu besetzen war. Eine Weile arbeitete Adalbert wortlos, nur in dem seligen Gefühl, Regina neben sich zu wissen, ihre flinken, kräftigen Bewegungen zu sehen und ihren gesunden Atem zu hören. Das brachte ihn in Eifer und ließ ihn nicht bemerken, daß sie ihre Arbeit unterbrochen hatte. Erst nach einer Weile empfand er, daß ihm etwas fehlte, schaute auf und sah, daß sie, auf ihren Spaten gestützt, vor sich hinblickte.

Langsam richtete er sich auf: »Was hast du? Worüber denkst du nach?«

»Es ist mir etwas durch den Kopf gegangen. Du hast doch morgen wieder Verhandlung gegen Bezug!«

»Dem Himmel sei Dank: Schlußverhandlung! Und es macht mir Kopfzerbrechen.«

»Ja – wie wird es ausgehen?«

»Zweifelst du noch? Es steht ja alles gut! Sehr gut! Daß er mit seinem Anspruch auf mich abgewiesen wird, ist so gut wie sicher. Dem lebenden Adalbert Semilasso kann er nichts anhaben. Und was mit mir nach dem Tod geschieht ...«

»Sprich nicht so!« Regina ließ den Spaten fallen und klammerte sich mit beiden Händen an seinen Arm. »Wie kannst du nur so was sagen ...«

»Kuperus hat dich furchtsam gemacht. Und er wollte nichts weiter, als daß wir vorsichtig sind. Übrigens haben wir ja unsere Wachen«, fügte Adalbert lächelnd hinzu und wies nach dem Gartenzaun, wo einer der Rumänen stand und, ohne die beiden mit seinen Blicken zu belästigen, den Garten überwachte.

»Ja ... es sind brave Kerle. Treu wie die Hunde.«

»Aber eigentlich überflüssig.« Adalbert sagte nichts davon, daß sie eines Abends, als er in Begleitung zweier Leibwächter vom Feld heimgekehrt war, im Gebüsch am Rand eines Hohlwegs einen Mann aufgespürt hatten, der, als man ihn erblickte, sofort davonlief. Daß einer der Rumänen am Rande einer Waldblöße einen Baum gefunden hatte, der durchgesägt und so mit einem anderen Baum verbunden war, daß jener, wenn der zweite zum Fall gebracht wurde, unfehlbar hätte mitstürzen müssen. Und dies fand sich gerade am Morgen des Tages, an dem Adalbert am Rande dieser Waldblöße hätte Bäume fällen sollen. Und der Baum, der den zweiten hätte mitreißen sollen, war von Enzberger zum Zeichen seiner Bestimmung mit einem weißen Kreuz versehen. Endlich daß die Wache an der Hofmauer eines Nachts einem Kerl, der sich von außen an der Mauer hinaufziehen wollte, mit einem schweren Scheit Holz die Finger zerschmettert hatte. Und daß man oft genug, wie eben heute Morgen, verdächtiges Gesindel um die Mühle streichen sah.

Von allen diesen Dingen wußte Regina nichts, aber dennoch sagte sie jetzt in ihrer liebenden Besorgnis: »Nein, nein ... sag das nicht ... sie sind nicht überflüssig ...«

»Aber sie können es bald werden. Sehr überflüssig sogar. Und störend. Wenn Kuperus endlich einmal sein Verbot ...«

»Arbeite ... arbeite ... rede nicht solchen Unsinn«, sagte Regina und nahm ihren Spaten wieder auf, indem sie sich bückte, um ihr Erröten zu verbergen. Und nun ergaben sie sich wieder wortlos der Arbeit, bis ihnen Enzberger über den Zaun her zurief, daß Kuperus gekommen sei. Sie fanden ihn im Hof mit der Müllerin, die mit einem Ausdruck von Glück und Dankbarkeit zu ihm aufsah, wie immer, wenn sie mit ihm sprach, und dabei unaufhörlich ihre Schürze glattstrich. Es war immer ein Festtag in der Mühle, wenn Kuperus kam, und Enzberger und seine Frau bemühten sich in jeder Weise um das Wohlbefinden ihres Gastes. In der großen Stube zur ebenen Erde, in der die Kälte des Winters noch nicht ganz aus den dicken Mauern gezogen war, brannte ein behagliches Feuer. Die Scheite knisterten in dem grünen Kachelofen, und der schwarze Kater hatte es sich auf der Ofenbank behaglich gemacht. Auf dem großen Tisch in der Mitte der Stube stand auf frischem, weißem Leinen ein kleines Frühstück bereit. Butter, Käse und im Kamin geräuchertes Selchfleisch, dessen schwarze Kruste sich um ein dunkles Fleischrot schloß.

»Kinder, gemütlich habt ihr es hier!« sagte Kuperus, indem er sich in der Stube umsah.

»Wir können dir nicht genug danken, daß du uns hierhergebracht hast«, sagte Adalbert und legte die Hand auf Eleagabals Schulter.

»Ach was, bedank dich bei Enzberger und seiner Frau, daß sie euch aufgenommen haben.« Eleagabal stellte ein sorgfältig gewickeltes längliches Paket in einen Winkel.

»Wir hamm keine Kinder. Die jungen Leut' hamm Leben ins Haus gebracht«, sagte die Müllerin, indem sie den Schüsseln und Tellern auf dem Tisch noch rasch eine andere Ordnung gab.

»Wir hamm sie gern. Man muß sie gern hamm«, und Enzberger sah Regina und dann Adalbert in die Augen. »Nur Sie sollt'n öfter kommen, Herr Kuperus«, fügte er hinzu.

»Ich habe in den letzten Tagen viel zu tun gehabt.«

»Wo denn? wenn man fragen darf.«

Eleagabal Kuperus deutete mit dem Finger nach oben und ließ die Augen folgen. Jetzt, bei dem Versuch eines Lächelns bemerkte Adalbert, daß der Ernst seines Freundes etwas Düsteres an sich hatte. Es schien, als sei ein Teil der Zuversicht von ihm genommen, und Adalbert fragte sich mit einigem Bangen, worauf das wohl zurückzuführen sei. War es nicht vielleicht doch wegen des Prozesses, der morgen entschieden werden sollte? War der Ausgang also doch ungewiß? Adalbert beschloß, Kuperus später darnach zu fragen.

Enzberger sah zur Decke hinauf und fragte verwundert: »Oben? Im Himmel?«

»Im Himmel.«

»Aha ... die Astronomie! Wegen der Sonnenfünsternis heut'? Wann geht's denn an?« Mit einem Blick nach der Wanduhr antwortete Kuperus: »In einer Viertelstunde. Fünf Minuten nach elf.«

Sie saßen um den Tisch herum, mit dem Frühstück beschäftigt. Der Prozeß wurde zum Thema des Gesprächs, an dem sich alle, mit Ausnahme der schweigsamen Johanna, beteiligten.

»Ich gönn's dem Bezug, daß er verspüllt«, sagte Enzberger, als Kuperus mit Nachdruck versichert hatte, daß von einem andern Ausgang keine Rede sein könne. »Ich gönnet ihm's, wenn ich den Adalbert auch net so gern hätt'.«

»So ein g'fährlicher Kerl.« Die Müllerin schob Kuperus einen Teller mit ganz frischer Butter zu.

Und man sprach davon, wie sonderbar es doch sei, daß Bezug, der erst solche Anstrengungen gemacht hatte, Land zu kaufen, nun auf weitere Erwerbungen verzichtete, ja, daß er sogar versuchte, Felder und Wälder wieder zu verkaufen. Aber die früheren Besitzer waren, ganz wie es Enzberger vorausgesehen hatte, in die Stadt gezogen, und von den härteren Bauern, die länger Widerstand geleistet hatten, waren wenige kapitalskräftig genug, um die nun wieder freigewordenen Äcker zu erwerben. Enzberger ließ es sich nicht nehmen, daß Bezug wohl einen ganz besonderen, nun aber aufgegebenen Plan verfolgt haben müsse, und die alte Johanna nickte ihm Beifall zu.

Kurz vor elf Uhr stand Eleagabal Kuperus auf, nahm sein Paket aus der Ecke und ging, von den andern gefolgt, in den Garten. Dort wickelte er ein Fernrohr aus der Umhüllung und schraubte es an das Stativ, das er gleichfalls mitgebracht hatte, und das draußen im Hof geblieben war. Den Wißbegierigen gab er eine kurze Erklärung der Korona und der Protuberanzen und forderte sie auf, das Fernrohr zu benützen. Dann bat er die Müllerin um ein weißes Tuch. Ehe die Frau mit dem Leinentuch, das sie Eleagabals Zwecken widmete, zurückgekehrt war, hatte die Verfinsterung schon begonnen. In die Sonnenscheibe, die bisher noch klar und glänzend am Himmel gestanden hatte, von dem dunklen Ereignis unberührt, das sich schon irgendwo innerhalb der Gesetzmäßigkeit der Welten bereitete, fraß sich ein schwarzer Schatten ein; ein unwesentlicher Verlust der überreichen Fülle, ein kaum merklicher Abschnitt des Profils, eine Art von Fäulnis, deren Anflug dem mächtigen Körper kaum etwas anhaben kann. Alle Anwesenden umstanden Kuperus, der mit ruhiger Stimme alle Fragen über die Erscheinung am Himmel beantwortete. Nie erschien der Alte Adalbert größer, als wenn er gelassen und begeistert zugleich von den Dingen sprach, die der Unendlichkeit nahestehen, von den unermeßlichen Weiten des Himmels oder den höchst verwickelten Angelegenheiten der Menschen. Dann kamen seine Worte aus Abgründen, rot angestrahlt von einer inneren Glut, noch feurig flüssig und gleichsam plastisch, durch sich selbst und zugleich durch ihre Zusammenhänge bedeutsam. Sie waren klar und geheimnisvoll zugleich, selbstverständlich inmitten höchst seltsamer Beziehungen. Der Macht, die von Kuperus in solchen Augenblicken ausging, konnten sich selbst einfache Menschen nicht entziehen, und Enzberger und die Müllerin sahen ihn an, ganz verloren, als wären seine Worte und nicht die Vorgänge am Himmel das wichtigste.

Endlich wies sie Kuperus wieder auf diese Vorgänge hin, und sie beobachteten das Fortschreiten der Finsternis mit den dunkeln Gläsern, mit denen sie der Alte ausgerüstet hatte. Abwechselnd sahen sie auch durch das Fernrohr und machten einander mit flüsternden Stimmen auf Einzelheiten aufmerksam. Schon war die Fäulnis tief in den glänzenden Ball eingedrungen, und der Eindruck dieses allmählichen Verschlingens der Sonne legte sich wie ein Bann über die Erde. Adalbert verstand es, wie das geschehen konnte, was Eleagabal ihnen erzählt hatte: daß Naturvölker, bei dieser Erscheinung von plötzlichem Schrecken befallen, alle Besinnung verloren.

Inzwischen hatte Kuperus, abseits von den übrigen, seine Vorbereitungen getroffen. Das Leintuch, das ihm die Müllerin gebracht hatte, war fast ebenso groß wie der unregelmäßig gestaltete Sandplatz inmitten des Gartens. Mit ein paar Pflöcken, die er in die Erde rammte, und einigen Stricken hatte Kuperus das Tuch fest aufgespannt, so daß es eine vollkommen glatte Fläche bildete. Von der Sonne war nur mehr eine schmale Sichel übrig, ein Rest ihrer von der Dunkelheit überwältigten Macht, und die sonderbare Unruhe trat ein, die die Verfinsterung zu begleiten pflegt. Draußen auf dem Hof ruhte die Arbeit, die Knechte und Mägde hatten sich versammelt und starrten hinauf. Abgesondert von ihnen standen die Rumänen in einer Gruppe, bis auf einen, der seinen Posten am Zaun nicht verlassen hatte und wachsam über den Garten hinsah. Es war seltsam still geworden, selbst das Geflüster hatte aufgehört, und fast peinigend war in diesem Schweigen das Rauschen des Mühlbaches und das Klappern und Stampfen der Räder. Ein Geräusch, das sonst niemand in diesem Hause hörte, drang allen mit Deutlichkeit ins Bewußtsein, erfüllte sie ganz und verwirrte sie. Die Tauben auf dem Dach, die zuerst ängstlich herumgeflattert hatten, waren aneinander gerückt und saßen in einer langen Reihe. Aus der Hundehütte kam manchmal ein kurzes, wie erschreckt innehaltendes Rasseln.

In dem Augenblick, der der totalen Verfinsterung unmittelbar vorherging, sah Adalbert plötzlich einen Schatten wie ein graues Gespenst langsam durch den Garten ziehen und über Eleagabals aufgespanntes Tuch weggleiten. Und Kuperus, der vor dem Tuch auf dem Boden kniete, verfolgte den Weg des Schattens mit raschen Strichen einer großen Zeichenkohle. Ein zweiter Schatten folgte dem ersten, zog über das Tuch und wurde von Kuperus festgehalten.

»Was machst du da?« fragte Adalbert den Alten. Aber Kuperus war so in seine Arbeit vertieft, daß er keine Antwort gab. Ohne aufzublicken, fixierte er die Wege der Schatten, die jetzt einander in immer schnellerem Zuge folgten. Dunkle Flecken traten auf, saßen eine Weile zwischen den Schattenlinien fest und wanderten dann langsam über das Tuch. Und jetzt war mit einem Schlage alles vorbei. Kuperus richtete sich auf und sah nach der Sonne. Die totale Verfinsterung war eingetreten, es war fast vollständig Nacht geworden. Adalbert fühlte, wie Reginas Hand die seine suchte und ihre Finger die seinen fest umfaßten. Er legte den Arm um sie und zog sie an sich. Dann sah er nach Kuperus hinüber, der in einem von dem weißen Tuch zurückgestrahlten verstreuten Licht wie in der Haltung eines Betenden auf dem Boden kniete.

Und nun wich das Dunkel wieder einer matten Dämmerung. Langsam bekamen die Gegenstände Deutlichkeit. Und wieder begann das seltsame Spiel der Schatten. Die Streifen kamen aus dem Düster hervor, wanderten über das Tuch, kreuzten sich mit den Linien, die Kuperus vorhin gezogen hatte. Flecken traten auf, standen fest und wichen langsam weiter, und Kuperus verfolgte ihre Bahn. Mit dem ersten Strahl des Lichts, der den Dingen ihre Farben und den fahlen Gesichtern der Menschen Leben gab, war die Erscheinung verschwunden. Man wagte sich wieder zu bewegen und zu flüstern, das Geräusch des Mühlbachs und des Mahlwerks war nicht mehr peinigend und verlor seine Bestimmtheit, die Tauben auf dem Dach lösten ihre enge Reihe, und langsam trat die Sonne aus dem Reich des Todes hervor, siegreich und, wie es schien, noch strahlender, als hätte sie einen schweren Kampf bestanden.

Als ob die Erde von neuem geschaffen oder aus einer schweren Gefahr errettet wäre, ging es durch die Menschen. Ein Aufatmen und Aufrecken, und es war, als dehne und bewege sich auch der Boden unter ihnen. Kuperus kniete noch immer vor seinem Tuch und betrachtete die Linien, die er gezogen hatte.

»Was machst du da?« wiederholte Adalbert seine Frage. Eine seltsame Zeichnung überzog das Tuch; bei aller Verwirrung, allem rätselhaften Durcheinander schien doch ein geheimer Sinn in ihr zu liegen. Eine Art von Hieroglyphenschrift des Universums schien vor einem Magier ausgebreitet, der über sie gebeugt mit Anspannung aller Kräfte bemüht war, ihr das Geheimnis ihrer Bedeutung zu entreißen. Welche Botschaft mochte dem Alten durch diese Zeichen zugegangen sein? Was hatte er durch sie über die Vorgänge im Weltraum erfahren? Und welche Zusammenhänge bestanden zwischen ihnen und den Ereignissen hier unten? Es war Adalbert, als müßten solche Zusammenhänge vorhanden sein, denn er sah mit Verwunderung, daß sich Kuperus in einer ungewöhnlichen Ergriffenheit und Erregung befand.

»Was machst du da?« fragte er zum drittenmal noch dringlicher.

Kuperus sah auf. Er war bleich, und seine Augen lagen tief in den Höhlen, der graue Patriarchenbart zitterte. »Ich habe eine Probe gemacht.«

»Eine Probe? Worauf?«

»Ein astronomisches Problem, nichts weiter.« Kuperus erhob sich und begann das Tuch aus seiner Spannung zu lösen.

Enzberger trat triumphierend zu ihm: »Ich hab' die Protuberantschen g'sehen«, sagte er. Bei Eleagabals Versuch, zu lächeln, kamen die Eckzähne nur zaghaft hervor. Enzberger, der unaufhörlich auf dem Gesicht des Alten forschte, ob er auch zufrieden sei, bemerkte, daß diesen irgend etwas bedrückte.

»Was is denn? Was haben S' denn?« fragte er besorgt. Aber Eleagabal gab ihm einen Wink, der jedes weitere Fragen verbot. Dann wandte er sich seinem Instrument zu, schob das Rohr zusammen, packte es fürsorglich ein und legte auch das Stativ des Apparates zusammen. Die Müllerin, die nach einem letzten Blick zur Sonne noch vor Ende der Verfinsterung davongelaufen war, rief jetzt vom Hof herüber, man möge zum Essen kommen. Obzwar Kuperus beteuerte, durchaus keinen Appetit zu haben, mußte er sich endlich den Bitten seiner Wirte fügen, um sie nicht zu betrüben. Enzberger war entschlossen, den Grund der Verstimmung Eleagabals in Erfahrung zu bringen. Mit seiner Biederkeit und Geradheit verband sich bei ihm auch genug von bäuerlicher Hartnäckigkeit und Schlauheit, um seine Pläne zu fördern. Es gelang ihm nach dem Essen, bei dem alle Künste der Müllerin vorgeführt wurden, die andern unter allerlei Vorwänden zu entfernen, so daß er mit Eleagabal Kuperus allein zurückblieb.

Noch war die Kathi damit beschäftigt, den Tisch abzuräumen, und sie tat es mit einigem Geräusch und Geklirr, so daß Enzberger schweigen mußte. Er saß auf der Ofenbank, rauchte seine kurze Pfeife, und während er anscheinend der Arbeit Kathis zusah, ließ er Kuperus nicht aus den Augen. Kuperus aber schien ganz vergessen zu haben, daß er nicht allein war: auf seinem Stuhl in der Nähe des Fensters saß er, in sich zusammengesunken, so daß er viel kleiner schien als sonst, und sah in den Garten hinaus, wo Regina und Adalbert mit der Müllerin im eifrigen Gespräch miteinander standen.

Endlich war Kathi fertig, schwang das zusammengelegte Tischtuch über die Schulter, faßte den letzten aufgetürmten Stoß der Teller und ging hinaus, indem sie die Zimmertür mit dem Fuß hinter sich zuschlug. Der Schlag schien Kuperus zu erwecken, er wandte sich um und sah Enzberger an. Ein Lächeln trat in seine Augen, als nun Enzberger zu sprechen begann, und zwar als vorsichtiger Mann zuerst von etwas anderem als von dem, was ihm am Herzen lag. Eingehend verbreitete sich der Müller über die Sonnenfinsternis, und die neuerworbenen Kenntnisse hatten bei ihm eine drollige Verwandlung erfahren. Kuperus hörte ihm aufmerksam zu, und als der Müller den Alten genügend vorbereitet zu haben glaubte, ging er zu der wichtigen Frage über. Er habe ganz wohl bemerkt, daß irgend etwas nicht in Ordnung sei, daß Kuperus wegen irgendeiner Sache Besorgnisse habe. Und er bitte, ihn doch einzuweihen, denn vielleicht könne er von Nutzen sein.

Da stand Kuperus auf und kam auf Enzberger zu. Unwillkürlich erhob sich auch der Müller, und als er den tiefen Ernst in den Augen des Alten sah, erschrak er fast darüber, daß er die Frage gewagt hatte. Mit einem Male wurde es ihm gewiß, daß er besser geschwiegen hätte, als sich in das Geheimnis Eleagabals einzudrängen.

Es sah aus, als ob nun etwas Schweres und Bedrückendes auf Enzberger überwälzt werden sollte. Aber schon im Begriff, das erste Wort zu sprechen, hielt Eleagabal Kuperus inne. »Nein,« sagte er kopfschüttelnd, »auch Ihnen nicht. Sie sind ein Mann, Sie sind mutig ... bewahren Sie sich Ihre Kraft. Fragen Sie nicht.«


 << zurück weiter >>