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Der Taumel beginnt

Die zünftige Astronomie hatte zu Zugmeyers Entdeckung lange geschwiegen. Die Berichte der Zeitungen waren zu unklar und zu sehr von kleinen persönlichen Eitelkeiten ihrer Verfasser durchsetzt, die mit ihren Meinungen und Scherzen zu glänzen wünschten. Und Zugmeyer selbst hatte noch immer keine authentische Darstellung gegeben.

Endlich äußerte sich der amerikanische Astronom Mister Wall aus Philadelphia. Die erste Stimme, die ein sachliches Urteil abgab, fand allgemeine Aufmerksamkeit. Er stellte zunächst fest, daß ein Untergang der Erde oder doch des organischen Lebens auf ihr durch einen aus seiner Bahn gerissenen kleinen Planeten keineswegs zu den Unmöglichkeiten gehöre. Dann untersuchte er das Material, das in Bruchstücken durch die Zeitungsberichte geliefert worden war, mit Scharfsinn und analytischem Talent und gab seine Resultate in einer spannenden Weise wieder, die an die Detektivromane seiner Landsleute erinnerte. Er glaubte nachweisen zu können, daß Zugmeyer bei seinen Berechnungen Fehler unterlaufen waren, und forderte den Entdecker des »Terror« auf, endlich einen wissenschaftlichen und ausführlichen Bericht zu geben. Zum Schluß teilte er mit, daß er selbst genaue Beobachtungen anzustellen begonnen habe. Er werde nicht zögern, seine Forschungen zu veröffentlichen, sobald er zu einem wenigstens vorläufigen Abschluß gelangt sei.

Dieser Bericht wurde von den Zeitungen mannigfach glossiert. Manche Blätter hielten auch jetzt noch den spöttischen Ton fest. Andere aber beschäftigten sich eingehend mit den Ausführungen Mister Walls, und es war kein Zweifel, daß in der Physiognomie der öffentlichen Meinung Züge des Ernstes aufzutauchen begannen. Zudem war es unmöglich, von der Aufregung der unteren Schichten länger keine Notiz mehr zu nehmen. Die Panik in der Schönauer Wallfahrtskirche war nur der erste einer Reihe von Ausbrüchen der Angst, die jetzt bald da, bald dort aufflammten. Mit grimmigen Mienen bekämpften die Freisinnigen in geschlossener Phalanx den »Unfug«, der nach dem Beispiel von Schönau auch an anderen Gnadenorten immer üppiger zu wuchern begann. Man rief nach der staatlichen Gewalt, die nicht dulden dürfe, daß man dem Volk mit solchen Mitteln zusetze. Und dabei war in diesen Artikeln schon mit voller Deutlichkeit zu lesen, daß man auch in den Kreisen der vernünftigen und Besonnenen allerlei zu fürchten begann.

Konnte sich die Verzweiflung des Volkes nicht bis zur Wut steigern? War es so ganz unmöglich, daß die Massen in ihrer blinden Angst den Führern aus der Hand gerieten und ein Werk der Vernichtung begannen? Das in Zürich erscheinende Anarchistenblatt »Die Lunte« wies hohnlachend auf diese Besorgnisse der Bourgeoisie hin. Endlich waren die Satten und Zufriedenen so weit, daß man das Vergnügen hatte, sie vor den dunkeln Kräften der Menge zittern zu sehen. Und mit harten Worten forderte das Blatt alle anarchistischen Elemente auf, endlich aus ihren Verhüllungen hervorzubrechen. Der günstige Augenblick war gekommen, man konnte zur Tat schreiten.

Diesen wilden Drohungen begegneten die Regierungen aller Länder mit Verhaftungen und Massenausweisungen. Aber sie konnten nicht verhindern, daß sich die Terroristen, die in dem neuen Planeten ihr himmlisches Symbol sahen, in entlegenen Winkeln sammelten und daß sich, fern von der Kontrolle der Staatsgewalt, schreckliche Energien anhäuften.

Doktor Störner schrieb in seiner Zeitung ein Feuilleton über »Gewitterstimmung«. Er warnte vor einer allgemeinen Kopflosigkeit und stellte, falls die Überlegenen nicht mit allen Kräften entgegenwirken würden, eine geistige Epidemie in Aussicht.

In diese Schwüle brach am 15. Mai die Nachricht von der Auffindung des »Terror« durch den italienischen Kometenentdecker Alfons Chiari. Er hatte seine Beobachtungen in einen Bericht zusammengefaßt und der Mailänder Akademie vorgelegt, nachdem er diese vorher hatte Stillschweigen geloben lassen. Aber das Schweigen wurde gebrochen, das Geheimnis war durchgesickert und fand seinen Weg vor die Öffentlichkeit.

Ein paar Tage später bestätigte auch Mister Wall die Richtigkeit der Bestimmungen Chiaris. Und nun kamen alle Astronomen von Rang und Namen, um sich auch zu dieser Frage zu äußern. Der größte Teil stellte sich auf die Seite der Forscher, die dem neuen Planeten seinen Namen mit Recht zuschrieben. Nur wenige versuchten es, darauf hinzuweisen, daß die Bestimmung der Bahnelemente eines so merkwürdigen Himmelskörpers keine völlige Sicherheit gewähre. Der Planet stand außerhalb aller astronomischen Gesetze, seine Beobachtung war außerordentlich schwierig. Die Macht, die ihn seiner Sphäre entführt hatte, konnte ihn auch wieder zurückreißen.

Aber ihre Stimmen drangen nicht durch den Sturm, der sich nach dem Bekanntwerden von Chiaris Bericht erhoben hatte.

Der Staat stand der Bewegung vorläufig noch fassungslos gegenüber. Man hatte zuerst hastig hin und her experimentiert, mit halben Maßregeln und wenig überlegten Verordnungen. Und so hatte man im Publikum nur die Überzeugung befestigt, daß niemand wisse, was zu tun sei. Selbst bei den sanftesten Bürgern schwand die Überzeugung von der Vertrauenswürdigkeit der staatlichen Vorsehung. Man war auf sich selbst angewiesen. Und wer seinen Trost und seine Beruhigung nicht aus den Händen der Kirche empfangen wollte, der nahm seine Zuflucht zu jener Weisheitslehre, die schon einmal in einer Zeit des Niederganges den Schwankenden Haltung gegeben hatte. Daneben ging eine Renaissance Kants vor sich, dessen strenge Ethik aber der weitaus größeren Menge zu klar und durchsichtig war. Die meisten zogen es vor, sich in die manchmal etwas phantastischen Vorstellungen der stoischen Naturphilosophie zu verkriechen. Der »Urstoff« und die »Urkraft« wurden zu Schlagworten, die »leitende Materie« und die »wirkende Weltseele« gaben den verworrenen Gesprächen der Adepten die Leitmotive ab.

Am 28. Mai fand in den Amorsälen, die sonst nur von den tollen Wirbeln des Faschings ganz erfüllt wurden, wieder eine der großen Versammlungen statt, in denen die Wogen der Aufregung durch das Öl der Philosophie besänftigt werden sollten. Störner, der in der letzten Zeit rastlos tätig gewesen war, um einem Überhandnehmen der allgemeinen Mutlosigkeit durch kluge Artikel vorzubeugen, wollte dieser Versammlung beiwohnen. Er hatte sein eigentliches Fach ganz aufgegeben. Jetzt war nicht die Zeit dazu, belanglose literarische Ereignisse zu besprechen oder über die mühsam weitergeführten Theater kritisch zu berichten. Jetzt standen wichtigere Dinge auf dem Spiel, Lebensfragen der Menschheit.

»Ich weiß nicht,« sagte er zu Professor Schreier, den er oben auf der Galerie des Mittelsaales getroffen hatte, »was die Leute wollen? Wir müssen so leben, als wüßten wir nichts von dem, was diesem ollen Lehmkloß bevorstehen soll. Das ist doch selbstverständlich. Wir müssen so leben, als ob hinter dem angeblich letzten Tag noch eine unendliche Reihe von anderen Tagen kommen müßte. Dazu braucht's doch keiner Philosophie und keiner künstlichen Mittel, um unseren Mut zu beleben. Stellen wir uns einmal vor ...«

Aber da begann der kleine Mann unten auf der Rednertribüne zu sprechen, und die Nachbarn wiesen Störner sogleich mit einem Zischen zur Ruhe, als sei jedes Wort Adam Gästners ein kostbares Gut. Gästner war ein Naturphilosoph, dessen System auf höchst seltsame Weise in Theosophie hinüberspielte. Die Basis des Ganzen waren gewisse Lehrmeinungen der Stoiker. Mit seinem wirren Haargelock, den eingefallenen Wangen, den Sandalen an den Füßen und dem sackartigen Rock, der aus einem groben Stoff gefertigt war, machte Gästner den Eindruck einer neuen Ausgabe Johannes des Täufers.

Er war ungemein beweglich und sprang auf seiner Tribüne herum, als brenne der Boden. Seine Rede begann mit der Weltschöpfung. Wie das All durch Verdickung und Verdünnung des Urstoffes entstanden sei und nach seiner Durchdringung mit der Weltseele die Gottheit völlig in sich aufgenommen habe. So könne von einer Vernichtung der ganzen Welt keineswegs gesprochen werden. Aber allerdings müsse man einen Weltbrand annehmen, durch den alles Geschaffene in das Urfeuer zurückkehre. Dann aber fange die Weltbildung von vorne an. Die Seele des Menschen sei allerdings nicht vollkommen unsterblich. Sie dauere wohl über das körperliche Leben hinaus und steige in immer ätherischere Regionen an, aber mit jenem Weltbrand sei auch ihrem Fortleben ein Ziel gesetzt. Als Adam Gästner an dieser Stelle seiner Ausführungen angekommen war, machte er einen Satz auf die entgegengesetzte Seite der Tribüne und verkündete, daß er persönlich davon überzeugt sei, daß die Seelen aber nicht verlorengehen, sondern zweifellos das Material für die künftigen Seelen einer nächsten Weltbildung abgeben würden. Die Vernichtung der Erde sei mit dem Weltbrand nicht als identisch anzusehen. Man müsse auch dieses Verhängnis als Äußerung desselben göttlichen Gesetzes ansehen lernen, dem die Naturnotwendigkeiten entspringen. Naturnotwendigkeit und Verhängnis seien zwei verschiedene Ausflüsse derselben Kraft. Um das aber einzusehen, müsse man die Natur verstehen lernen. Und um die Natur zu verstehen, müsse man der Natur gemäß leben und sich als vernünftiges Wesen betätigen. Und dazu wieder sei vor allem nötig, dem verderblichen Genuß des Alkohols zu entsagen.

Den Schluß dieser langen Rede bildete die Aufforderung, sich zu vereinigen und die letzten Tage noch auszunützen, um Körper und Geist zu läutern und gereinigt in den Schoß des Alls zurückkehren zu können.

Adam Gästner fand vielen Beifall. Und es gab viele unter seinen Zuhörern, die sich bereit fanden, ihre Namen in die am Saaleingang aufliegenden Listen der Enthaltsamen einzutragen.

Als Störner mit Professor Schreier über die ihm aus fröhlichen Redoutennächten wohlbekannte Seitentreppe in die Hintergasse hinabgelangt war, wo sonst die geschlossenen Wagen zu warten pflegten, sah er Dibian und Schönbrecher. Die beiden bogen eben um die Ecke und wandten sich auf Störners Anruf um.

Dibian befand sich auf dem Weg zum »Mehrfach beinzichtigen Aasgeier«, seinem Stammlokal, wo man ein vorzügliches Pilsener Bier bekam, und ließ sich von Schönbrecher begleiten.

»Der Kerl hat mir Durst g'macht mit seiner Rederei über den Alkohol«, sagte er. »Solchen Lumpen sollt' man das Maul stopfen,« fügte er dann ingrimmig hinzu, »die nehmen der Menschheit allen Saft und alle Kraft zum Umkommen. Das wird a schöne Zucht wer'n, die der jüngste Tag find't.«

»Wissen Sie schon,« fragte Professor Schreier, »daß wir jetzt sogar eine neue Zeitschrift für den Untergang der Erde bekommen. Ich war unlängst mit dem Tintler und dem Statthaltereirat Pensinger in einer Gesellschaft beisammen. Und der Pensinger ... er ist im Preßbureau ... hat erzählt, daß eine neue Zeitung gegründet werden soll. Sie heißt ›Der jüngste Tag‹, und ihre letzte Nummer soll an dem Tag erscheinen, an dem die Erde zertrümmert wird.«

Doktor Störners Verdruß über die heutige Versammlung zerschmolz: »Die Menschheit bewahrt sich doch immer ihren Humor ... selbst in ernsten Lagen. Wann wird denn dieses köstliche Blatt uns zuerst erheitern?«

»Sie wissen sich im Preßbureau nicht zu helfen. Sie beraten hin und her, was sie machen sollen, wenn das Blatt am Ende etwa in der Art der Anarchisten ...«

»Es kann nichts Ärgeres tun, als was unter den Augen der staatlichen Autorität täglich vor sich geht und geduldet wird. Dieser Pater Methud, der das Volk verrückt macht, predigt seit einiger Zeit wieder.«

»Er hat einen mächtigen Protektor«, sagte Schreier behutsam.

»Bezug?«

»Ja – woher wissen Sie es?«

»Ich konnte es mir denken.«

»Das habe ich auch von Pensinger. Der Statthaltereirat ... na, ich kann es Ihnen ja sagen. Er ist mit meiner Tochter so gut wie verlobt. Endlich bringt man das Mädel an – krach: geht die Welt unter.«

»So was is a Malör,« sagte Dibian tiefsinnig, »na – auf jeden Fall gratulieren wir. Besonders für den Fall, daß die Welt net unter geht.«

Schönbrecher sah mit umflorten Augen drein. Es war ihm eingefallen, daß er einmal Frieda Schreier ganz hübsch gefunden hatte. Da war ein netter kleiner Schmerz für ein paar Sonette gefunden.

Aber Störner war ein niederträchtiger Gedankenleser. Er sah Schönbrecher nur an und erriet ihn: »Machen Sie es wie Dante Gabriel Rosetti.«

»Was denn?« fragte der Dichter mißtrauisch.

»Ich schenke Ihnen eine leere Sardinenbüchse dazu. Oder wenn die zu klein sein sollte – ich habe auch eine Büchse von Seeforellen zu Haus.«

Unruhig nahm Schönbrecher eine Verteidigungsstellung ein: »Wollen Sie mir nicht sagen ...?«

»Ich rate Ihnen, verschließen Sie Ihre besten Gedichte in eine Sardinenbüchse und versenken Sie diesen Sarg in ein Grab, vielleicht überdauert er die allgemeine Zerstörung und Sie erwachen in ein paar hunderttausend Jahren inmitten eines neuen Menschengeschlechtes zu einer Unsterblichkeit.«

»Herr!« Schönbrecher zerrte an dem dicken Knoten seiner Krawatte und blieb stehen. Schönbrecher wollte etwas sagen. Aber er besann sich, nahm den Hut gegen Dibian und Schreier mit stummem Gruß ab und bog in eine Seitengasse ein.

»Sapperment,« sagte Dibian, »der war jetzt wild.«

»Ach was. Ich kann ihn nicht leiden. Wenn der den jüngsten Tag überlebt, der wäre imstande und machte ein Drama darauf. In fünf Akten und fünffüßigen Jamben und Weinlaub im Haar. Stilisiert wie der Apollo von Tenea. Aber jetzt, meine Herren, jetzt wird das Bier schmecken.«

Der »Mehrfach beinzichtige Aasgeier« – diesen Namen hatte Dibian anstatt des harmlosen »Schwarzer Adler« aufgebracht – lag in dem Häusergewirr um den Fuß des Domberges, in einer Zone, die von Bezugs Schematisierungsgelüsten noch nicht erreicht worden war. Man mußte sich durch viele kleine Gäßchen schlagen und stand dann am Eingang eines Kellers. Dort unten traf man sonst häufig eine kleine Stammgesellschaft von Künstlern und Professoren. Aber die Ereignisse der letzten Zeit hatten auch in diesen Kreis Unruhe und Verwirrung getragen und ihn zersprengt. Nur die Unerschrockensten unter ihnen harrten aus.

Heute saßen nur Hauser und Adamowicz an dem Tisch in der Ecke gleich neben der hölzernen Stiege. Die Gespräche dieser Nacht wuchsen aus einem bedrückenden Bangen in die Freiheit. Hier waren Männer, die den Tod nicht fürchteten und sich über die Angst erhoben. Und ihr Lachen ließ die Angst der Massen weit zurück.

Man hielt sich dabei durchaus nicht an die Mahnungen des Apostels, der die Enthaltsamkeit so warm empfohlen hatte. Als man aufbrach und etwas schwer unter Benutzung des Treppengeländers die Oberwelt erreichte, lag die Asche der Morgendämmerung über dem kleinen Platz vor dem Keller. Der Himmel über den Häusern war gelblich und mit langgestreckten Wolken überzogen. Aus der Wand des Hauses gegenüber spie ein altertümliches Löwenmaul einen Wasserstrahl in ein breites Steinbecken. Die Bänder des Beckens waren von den vielen Kannen und Krügen, die im Laufe der Jahrhunderte hier geruht hatten, um das Wasser aufzufangen, glatt und abgeschliffen. Hauser, der hier hinaufgesprungen war, mußte sich an einem eisernen Haken in der Wand anhalten, um nicht herabzufallen.

»Reden!« schrien die andern, »Rede halten!«

»Brüder!« begann er, »Brüder im Zeichen des Terror! Drohend hängt über uns das Schwert der Vernichtung. Schon hören wir das Donnergeroll –«

Da erhob sich irgendwo in der schlafenden Stadt ein Gemurmel. Es war, als bekämen die Häusermassen eine Stimme, rauh und verdrossen wie die eines, der aus dem Schlafe gestört wird.

»Bravo! Chorus!« johlten die Unverzagten, »Weiterreden ... mit Chorus!«

Aber Hauser war von dem fernen Lärm eingeschüchtert. Er sprang herab. Und sie waren alle gezwungen, dem Gemurmel zu lauschen, das anschwoll und mit dem Grau der Dämmerung vermischt zwischen den Häusern zu brodeln schien.

»Was ist das? Sie kommen näher!« sagte Störner.

Die Männer sahen einander an.

Der Lärm schien wirklich näher zu kommen. Er hatte einen bedrohlichen Klang erhalten und war heiser wie das verhaltene Brüllen eines Raubtieres. Im lichter werdenden Grau schienen sich die niederen Häuser zu strecken, um zu sehen, was da herangrollte.

Ein Fenster klirrte. Jemand sah hinaus, die Straße hinauf und hinab und starrte dann die kleine Gruppe beim Löwenmaul gegenüber an. Der verschlafene Kellner, der eben dabei gewesen war, die Türe des Kellers zu verschließen, lief zurück und holte den Wirt heraus. Der sah nicht sehr klug aus und gesellte sich zu den Gästen, um sich von ihnen Rat zu holen. Aber die wußten selbst keine Erklärung.

Inzwischen war es entschieden, daß die Menge hierherkam. In einer Seitengasse schrillte die Alarmpfeife eines Polizisten. Zwei, drei Pfeifen antworteten. Ein ausgesperrter Hund kam längs der Hausmauern heran, scheu, mit eingekniffenem Schweif. Er wendete den Kopf bisweilen rückwärts. Als er den kleinen Platz vor dem Keller erreichte, zögerte er. Dann schlug der Lärm hinter ihm laut empor. Er machte einen Satz und lief gehetzt vorbei.

Jetzt war zu vernehmen, daß der Grundstrom des Lärmes eine Art von Geheul war, über dem ein lautes Hu – hu – hu! sich aufbäumte.

Aus der Gegend des Domes näherte sich ein wohlbeleibter Wachmann.

»Herr Patry,« rief der Wirt, der von den Überschreitungen der Sperrstunde her alle Wachleute seines Reviers kannte, »was ist denn los?«

Der Wachmann zeigte nicht übel Lust, sich neben dem Wirt aufzupflanzen und sich mit ihm in ein gemütliches Gespräch über die Ursache des Lärmes einzulassen. Aber da riß er sich zusammen, denn mit eifrigem Gesicht kam ein Wacheführer mit zwei Mann aus der Antonsgasse und rief ihn zu sich. Eilig schritten sie dem Lärm entgegen.

Und nun geschah eine Weile gar nichts, was die Aufmerksamkeit von dem Anwachsen des Lärmes abgelenkt hätte.

Plötzlich sah Störner unten am Ende der absteigenden Gasse eine dunkle Masse um die Ecke biegen.

»Hu – hu – hu!«

Professor Schreier fing an besorgt zu werden. »Gehen wir aus dem Weg«, sagte er und zog die anderen nach sich in den gewölbten Kellerschlund.

Es war eine seltsame Prozession, die da heulend vorbeikam. Voran sprang ein alter Mann mit dürren Armen und Beinen. Er machte unter widrigen Verrenkungen des Beckens immer ein paar Sätze nach vorne und sprang dann wieder zurück.

»Eine Andernacher Springprozession in neuer Auflage«, flüsterte Störner Dibian zu. Auf dem Kopf trug der Anführer eine enganschließende Lederhaube, von der hinten ein Fuchsschwanz herabbaumelte. Auf dem Kragen des Rockes war ein Streifen roten Tuches angenäht, und zwei breite Streifen liefen längs den Hosennähten bis zu den ausgefransten Rändern.

»Hu – hu – hu!« brüllte sein Gefolge.

Es bestand aus Männern und Weibern, armseligen, zerarbeiteten Geschöpfen, von denen einige ihre Kinder mitschleppten, die ihnen als matte Bündel schlafend am Rücken hingen. Die Männer waren finster und bleich; man sah ihnen an, daß sie eine Nacht hinter sich hatten, in der ihre Seelen ratlos umhergeirrt waren. Jetzt waren sie entschlossen, jetzt hatten sie sich aufgerafft, gleichgültig zu was. Sie hatten einen Führer und folgten ihm ohne Bedenken. Eine Art militärischer Organisation hielt sie zusammen. Einige von ihnen hatten kreisrunde Tuchflecken, rot wie die Abzeichen des Führers, vorne auf der Brust. Sie gingen zu beiden Seiten des Zuges und gaben mit den Händen den Takt zu dem immer wiederholten Hu – hu – hu!

Bisweilen blieb der Führer stehen, warf die Arme empor und begann ein Gezeter, das durch eine Bewegung des Unterkiefers hervorgebracht wurde. Ein andauerndes We – we – we – we – we, wie ein stilisiertes Zähneklappern. Dann blieben die andern ebenfalls stehen, hoben die Arme auf und stimmten in das Gezeter ein.

Der Vorbeizug dauerte lange. Es mochten ein paar hundert Menschen sein. Niemand bemerkte die Gruppe im Kellerhals. Denn keiner warf einen Blick links oder rechts, aller Aufmerksamkeit war nach vorne gerichtet, ein Strom, den kein noch so starker Einfluß aus seiner Bahn abzuleiten vermöchte.

Die Wachleute, die vorhin dem Lärm so mutig entgegengezogen waren, blieben unsichtbar.

Erst nachdem die letzten Nachzügler um die Ecke gebogen waren, kam der kleine Trupp, der inzwischen durch drei Mann verstärkt worden war.

Ein frischer Wind schien die Asche der Dämmerung weggefegt zu haben. Ein kaltes, ruhiges Licht rieselte aus dem Himmel. Der Tag blitzte auf. Und die Helme der Polizisten blitzten. Herr Patry, der schnaufend als letzter vorbeikam, wurde von dem Wirt angerufen.

»Herr Patry, was is denn?«

Er legte wichtig den Finger auf den Mund, einen Finger, der wie ein Würstchen aussah. Störner fand die Gebärde so komisch, daß er fast gelacht hätte. »Es muß irgendeine neue Sekte sein,« flüsterte der Wachmann geheimnisvoll, »wir haben den Auftrag, religiöse Aufzüge ... vastehngen S' ...« unterbrach er sich im Volkston, »also religiöse Aufzüge! Da müß' ma weitestgehende Dultung ... Na ja ... selbstverständlich!« Und dann sah er, daß die anderen bereits weit voraus waren, und setzte sich in Trab, um sie einzuholen.

»Kinder,« sagte Störner, »ich habe Lust, zu sehen, wohin diese Gesellschaft zieht. Was machen wir mit dem angebrochenen Abend? Also vorwärts ... ihnen nach! Die Kerle sahen ja ganz unheimlich aus. Wer weiß, was die noch alles anstellen wollen.«

Die anderen waren bereit, Störner zu begleiten. Nur Professor Schreier schloß sich aus und empfahl sich: »Es hat mich aufgeregt ... so eine fanatisierte Menge ist immer etwas Aufregendes. Ich bin nicht mehr jung genug für solche Sachen ... Ich bin müde!«

Es war nicht schwer, dem Zuge zu folgen. Das Geschrei klomm immer den Domberg hinan, und als die kleine Gesellschaft hinaufgelangt war, sahen sie den Platz vor dem Dom von der Menge dicht besetzt. Es schien, als habe sie inzwischen Zuzug bekommen, durch allerlei Frühaufsteher und Neugierige, die es sich nicht versagen konnten, zu beobachten, was da vor sich ging. Die Unterführer hatten die ganze Masse in Haufen abgeteilt, zwischen denen sie umhergingen, mit leisen Worten bald zu dem, bald zu jenem gewendet. Das Gezeter und Geheul hatte aufgehört.

Störner bemerkte, daß die Gesichter der Leute starr und maskenhaft waren. Als warteten sie auf einen Ruf, um sich zu beleben. Ein paar Kinder weinten. Aber ihre Mütter bemühten sich nicht einmal, sie zu beruhigen.

Der Anführer war nicht zu sehen.

Plötzlich erhob er sich auf den Schultern von einigen seiner Offiziere über die Köpfe der Menge, nahe dem Portal des Domes. Grau und kalt strebte die riesenhafte, steinerne Kulisse hinter ihm empor, mit unzähligem Schnörkel- und Spitzenwerk, das weiter oben immer feiner zu werden schien. Auf dem Knauf des höheren Turmes lag ein blutroter Schein.

Der Anführer schwankte ein wenig auf seinem lebendigen Thron. Dann stand er still. Ein Murmeln floß über die Menge hin.

Alle Gesichter waren ihm zugewandt.

»Ich,« rief der Mann mit einer heiseren Stimme über den Domplatz hin, »ich sage euch, ich, Nikolaus Zenzinger, ich habe die Offenbarung niedergeschrieben. Gott ist mir im Traum erschienen und hat mir Gesichte gezeigt. Die vier Gesichte des Abgrundes. Gehenna, Mischkotin, Aphradot und Erebar.« Dann warf er die Arme empor und begann wieder jenes Zetergeschrei, bei dem sein Unterkiefer bebte.

»We – we – we – we – we«, heulte die Menge. Es war wie das Lallen eines Blödsinnigen. »Geh, rotte aus! rief er mir zu. Seine Stimme war stark wie Donner, wie der Donner, der die Häupter der Berge beugt. Aber ich war stark und beugte das Haupt nicht. Ich sah ihm ins Gesicht. Er donnerte, und da sah ich das Zeichen des roten Todes in seinem Gesicht. Das Zeichen des roten Todes. Geh, rotte aus! donnerte er und sagte es zum andernmal und zum drittenmal. Rotte aus meine Widersacher! denn ich will sie nicht vor mir sehen am jüngsten Tage. Sie sollen von der Erde getilgt sein, wenn ich in meiner Herrlichkeit erscheine, strahlend wie ein roter Mantel und auf meinem Thron von Schrecken und Macht. Sie müssen vertilgt sein, denn sie sollen nicht schauen den Glanz meines Gerichtes. Ich mache dich zu meinem Arm, meiner Faust, zu den Fingern meiner Faust. Du wirst die Kraft des Löwen haben und des Tigers, der brüllend durch die Täler geht. Dein Finger wird zeigen, und auf wen du zeigst, der soll vernichtet werden. Mein Blitz liegt in deiner Faust, und du wirst ihn auf meine Widersacher schleudern, denn du bist der letzte der Propheten, größer als Elias und herrlicher als Moses. Meine Widersacher sind dir übergeben. Denn ich habe zu vielen gesprochen und ihnen gesagt von diesen letzten Tagen. Aber sie haben ihre Ohren verstopft und getan, als sei ich die Stimme der Wolken oder die Stimme des Grases, wenn es wächst. Sie haben ihre Ohren mit dem Wachs des Ungehorsams verklebt und haben getan, als hörten sie nicht, was ich sprach. Diese sind meine Widersacher.«

»Hu – hu – hu – hu!« wie Peitschenhiebe fielen die Rufe, aufstachelnde, anspornende Peitschenhiebe.

»Welches Verbrechen ist größer vor Gott als der Ungehorsam? Sie sind unter uns, an die sein Ruf ergangen ist. Sie haben getan, als hörten sie nichts. Und sie haben geschwiegen und uns nicht gewarnt. Sie haben uns die Majestät des Herrn vorenthalten wollen. Sie haben gewußt, was Gott der Herr über die Erde beschlossen hatte. Und sie haben geschwiegen, obwohl sie es wußten. Es lebt ein Mann nach dem Herzen Gottes. Der hat meinem Finger einen Widersacher des Herrn gewiesen. Thomas Bezug hat mir gewiesen, wer die Stimme aus den Lüften vernommen hat und sein Ohr mit dem Wachs des Ungehorsams verstopft hat.«

Störner sah Dibian an. »Thomas Bezug!« murmelte er, »wieder und immer wieder er.«

»Das ist a böse G'schichte,« antwortete Dibian leise, »schaun S' nur die Leut' an. Die sind ganz außer sich.«

»Dieser Widersacher Gottes hat uns zugrunde gehen lassen wollen, ohne daß wir uns hätten auf Gottes Herrlichkeit bereiten können. Ungewarnt hätten wir dahingehen müssen – unbereitet. Aber jetzt haben wir ihn erkannt, und ich strecke meinen Finger aus und weise auf ihn. Ich habe euch vor sein Haus geführt, vor seine Burg, vor seine Türe, und ich zeige auf ihn.«

Zenzinger erhob einen steifen Arm und hielt ihn gerade ausgestreckt. Sein Finger wies auf ein Haus, das dem Dom schief gegenüber stand. Auf ein Haus mit einem steilen Giebel über dem verwitterten Gesicht. Eine Hand sprang dort über der Türe aus der Wand und hielt einen großen Schlüssel.

Neben Störner schrie ein altes, verschrumpftes Weiblein auf, gellend, so daß es über den ganzen Platz zu hören war: »Eleagabal Kuperus!« Es war Frau Swoboda, in der Zenzingers Worte einen alten Wahn bestätigt hatten. Der Haß und das Mißtrauen gegen den Zauberer waren damals unter dem Eindruck von Palingenius' Tod gewichen, und willig hatte sie sich dem freundlichen Einfluß des Alten hingegeben. Aber dann war sie allein geblieben. Und in den langen freudlosen Stunden, die jetzt leer von ihrer verjährten Hoffnung waren, kam es wieder hervorgekrochen. Hatte nicht zuletzt doch nur Kuperus den Tod des Jugendfreundes auf dem Gewissen? Wer anders hatte ihm den Gedanken ans Fliegen eingegeben als der mit seinen verfluchten Künsten. Und sie hatte ihn von neuem zu hassen begonnen, heftiger als je zuvor. Sein Name glitt ihr von den Lippen, in Gift und Galle getaucht. »Eleagabal Kuperus,« schrie sie, »Eleagabal Kuperus!«

Und die Menge wiederholte dumpf und grollend: »Eleagabal Kuperus!«

Nikolaus Zenzinger wuchs auf seinem Thron: »Ja – Eleagabal Kuperus. Er ist es. Er ist der große Widersacher Gottes, der zuerst vertilgt werden muß. Er muß vom Angesichte des Herrn verschwinden. Ich überliefere ihn dem roten Tode!«

Das alte Weiblein neben Störner focht mit den Armen und kreischte: »Er ist ein Zauberer! Er ist Gottes Widersacher! Er ist dem roten Tode verfallen!« Sie drängte durch die Menge, sie schlug um sich, und man sah den Weg, den sie nahm, an dem Strudel, der hinter ihr drein zog. Er führte auf das Haus des Kuperus zu.

»Frau Swoboda, Frau Swoboda!« rief ihr jemand nach. Aber sie hörte nicht.

Alle hatten sich dem alten Haus zugewandt. Aus den Gesichtern war die Starrheit gewichen. Sie war von wilder Entschlossenheit belebt, von einem fürchterlichen Haß; die zu einem einzigen Leib verschmolzene Masse krümmte und wand sich unter den Peitschenhieben des Geschreies: »Hu – hu – hu!«

Und Zenzinger näherte sich auf seinem Thron dem Haus des Verurteilten. Sein Arm war noch immer ausgestreckt, wie im Krampf, steif wie ein Stück Holz, und er wiederholte gellend: »Dem roten Tod! Dem roten Tod!«

Ein Klirren. Ein Stein hatte ein kleines Fenster in dem verwitterten Gesicht des Hauses getroffen und eine der schmutzigen Scheiben zerschlagen. Ein zweiter und dritter Stein folgten und zertrümmerten die übrigen Scheiben. Die leere Höhle war wie ein ausgeschlagenes Auge in einem alten Gesicht.

Und da begann ein ganzer Regen von Steinen gegen die Front des Hauses zu prasseln. Der Mörtel löste sich an vielen Stellen los und bröckelte herab auf die Köpfe der ersten unter den Angreifern.

In ein paar Minuten war das Haus mit Wunden überdeckt. Unter dem Bewurf waren die Ziegel hervorgekommen, und ihr trübes Rot sah aus wie geschundenes Fleisch.

Und auf einmal schleppten ein paar Burschen einen langen Balken herbei.

»Aufpassen,« schrien sie, »der Schlüssel zu dem Haus kommt!« Sie mochten das ungeheure, schwere Holz von einem Bau geholt haben, der in der Nähe des Domes begonnen worden war, und an dem nun schon seit Wochen nicht mehr gearbeitet wurde. Und nun schleppten sie den Balken gegen Eleagabals Haus, und einer von ihnen zerrte eine lange, rostige Eisenkette hinterdrein, ohne zu wissen, wozu. »Der Schlüssel kommt!« riefen sie immer wieder.

Und die Menge, die ihnen Platz machte, wiederholte triumphierend: »Der Schlüssel, der Schlüssel.«

»Hu – hu – hu!«

Und nach dem gräßlichen Takte des Geschreies schwangen die Burschen den Balken nach rückwärts und ließen ihn dann kurz nach vorne sausen. Es gab einen Krach und dann ein Prasseln. Ein großes Stück des Bewurfes war dem vordersten auf den Kopf gefallen und hatte ihm den Hut heruntergeschlagen.

Da hielt es die Wachmannschaft doch endlich für angezeigt, einzugreifen und das Eigentum des Bedrohten zu schützen. Sie war unterdessen auf fünfzehn Mann angewachsen und brach nun zugleich aus zwei der schmalen Gäßchen hervor. Ein fürchterlicher Tumult entstand.

»Polizei! Polizei!«

»Hu – hu – hu!«

»Schlagt sie nieder! Die wollen den Widersacher beschützen.«

Ein junger Mann hatte die steinernen Zieraten des Domportales erfaßt und war an ihnen hinangeklettert, bis er sich in eine der Nischen schwingen konnte, in denen die steinernen Heiligen wohnten. Da stand er nun auf dem kaum fußbreiten Absatz und holte einen Stein nach dem andern aus seinen Taschen. In weitem Bogen flogen Ziegelstücke und harte Zementbrocken nach den Stellen, wo die Helme der Wachleute sichtbar waren. Sie fielen mitten in die Menge, und die Leute, die sich im Getümmel von Stößen oder Schlägen der Polizisten getroffen glaubten, gerieten in Raserei.

Der Harmonikaspieler Samek hatte den Wacheführer mit beiden Fäusten an der Brust gefaßt und schüttelte ihn, daß ihm der Helm vom Kopfe fiel. »Was willst? Was willst noch? Hund, da san mir die Herrn, vastanden!«

Ein paar mutige Wachleute versuchten es, ihren Führer herauszuhauen. Aber ihre Fäuste wurden gepackt, die Säbel wurden ihnen entrissen, man umklammerte ihre Beine, so daß sie sich nicht mehr rühren konnten.

Irgendwo fiel ein Schuß.

»Sie schießen! Sie schießen auf uns.«

Samek, dem sein Opfer endlich doch entrissen worden war, pfiff auf zwei Fingern. Die Eideshelfer antworteten von allen Seiten. Mitten in dem Knäuel der Kämpfenden schrie die alte Swoboda unaufhörlich ... gellend: »Der Zauberer ... der Zauberer muß hin werden!« Ihr Freund, der Kirchendiener, der sich zu ihr durchgeschlagen hatte, umklammerte ihre Arme und versuchte sie herabzuziehen.

Und auf einmal zog sich der Leib der Menge elastisch zusammen und stieß die Wachleute von sich ab. Sie taumelten zurück, erschöpft, blutend, mit zerrissenen Uniformen. Der Führer, dessen eines Auge von einem Faustschlag geschwollen war, sammelte sie auf dem kleinen Platz vor dem »Schwarzen-Adler«-Keller und führte sie im Laufschritt zum Rathaus zurück.

Inzwischen hatten die Stürmer wieder den Balken ergriffen und donnerten ihn gegen die Tür. Krachend stieß er gegen das Schnitzwerk, das den Besuch Sauls bei der Hexe von Endor darstellte, gegen die Lindwürmer und feuerspeienden Drachen, gegen den Leviathan, der auf seinem Meere von spitzen Wellen schwamm. Die eisernen Beschläge knirschten und sprangen aus den Nieten, sie bogen sich und brachen und klirrten zu Boden.

»Hu – hu – hu!« heulte Samek und schlug mit den Händen den Takt zu den Stößen. Aber da geschah etwas Seltsames. Aus der erstarrten Hand über dem Tor, dieser täuschenden Nachbildung einer Menschenhand, löste sich der Schlüssel, den sie durch Jahrhunderte festgehalten hatte, und fiel hart vor Samek nieder.

Und die Finger, die vordem ganz um das Metall geschlossen gewesen waren, diese Finger hatten sich geöffnet und waren in leichter Krümmung verblieben. Ihre Haltung schien ganz anders als vorher.

»Jesus, Maria!« schrie die alte Swoboda.

Samek hob den Schlüssel auf und sah höhnisch nach der Hand. »Wir hamm schon an Schlüssel,« schrie er, »wir brauchen kan mehr!« Und er schlug in die Hände und von ihm fortgerissen, griffen die Männer wieder zu ...

Da ging ein trockenes Knacken durch das alte Holz, und ein großer Sprung schnitt das verstümmelte Schnitzwerk in zwei Hälften. Aber ehe der Balken die Tür ganz hatte zertrümmern können, öffnete sie sich von selbst lautlos nach innen. Es war wie die Gebärde eines Opfers, das seinen vergeblichen Widerstand aufgibt und sich dem Henker darbietet. Und etwas von diesem beredten Ausdruck wirkte selbst auf die aufgeregte Menge, daß sie ein wenig zögernd und unschlüssig vor der offenen Tür zurückwich.

Aber Samek ließ sie nicht ganz zur Besinnung kommen. »Hu – hu – hu!« Er heulte wie ein Wolf und stürzte in den Gang. Die anderen hinter ihm drein, von den Eideshelfern, die unter die Menge verteilt waren und nach den Angaben ihres Führers arbeiteten, angestachelt. Der Rahmenmacher, der auf dem Domplatz wohnte, war unter den ersten.

Sie liefen den Gang entlang, an dessen Wänden die leuchtenden Buchstaben Worte ohne Sinn bildeten, sie stießen gegen die Statuen in den Nischen und warfen sie von ihren Postamenten, sie drangen durch das rote Zimmer vor und in den schmalen Stollen zwischen Bücherwänden.

Immer war es, als weiche ein Schatten vor ihnen zurück. Es war hier Dämmerung, und Samek stieß jeden Augenblick gegen ein Hindernis, das ihn in der Verfolgung aufhielt. Erst beim Eingang in den Kuppelsaal glaubte er zu sehen, daß es Eleagabals Diener war, der Mann mit den spitzen Ohren und dem Wolfsgesicht. Er hatte ihn auf Armlänge vor sich und streckte die Hand aus, aber da erhielt er einen so heftigen Schlag darauf, daß sie ihm sogleich herabsank. Der Schmerz lief krabbelnd bis in die Schulter hinauf und schien sich dort im Gelenk festzusetzen. In diesem Augenblick überfiel ihn eine maßlose Furcht, aber die Nachfolgenden drängten und stießen und schleuderten ihn mitten in den Kuppelsaal, fast bis an den Marmortisch, der dort stand.

Er sah sich um. Da stand er in einem Kreis von Säulen, die aber nicht den Dienst von Säulen versahen, denn keine von ihnen hatte die Aufgabe das Gebälk zu tragen. Hoch oben wölbte sich die Kuppel über dem Raum, ein fest aufgeschraubter Deckel, damit nichts von dem, was hier geschah, nach außen dringen könnte, eine Art von Hornhaut über einem großen zum Himmel gerichteten Auge. Das Glas war matt und bloß durchscheinend. Ein weißliches Licht rann über die Pracht des Marmors, dessen Platten in den seltsamsten Farben leuchteten.

Die Stürmer sahen erstaunt die ruhige Schönheit des Raumes. Sie waren enttäuscht. Denn sie hatten erwartet, eine Art Hexenküche zu finden, allen herkömmlichen Zauberapparat, Skelette und Totenschädel, Schlangen und Kinderleichen in Spiritus und Destillierkolben und große geheimnisvolle Bücher.

Plötzlich bemerkte Samek Eleagabal gerade sich gegenüber. Er sah ihn hinter einer Art von dünnem Vorhang, der aus lauter langen, verzweigten und verfilzten roten Fransen bestand. Einen Teil der Fransen hatte Eleagabal mit der Hand zusammengefaßt und beiseitegeschoben und blickte ruhig auf die Menge.

»Durten is er«, schrie der Führer, der wieder durch die Strömungen der hinter ihm gestauten Menge Mut und Zuversicht bekommen hatte. Und er versuchte die Rechte zu heben, um auf Eleagabal zu zeigen. Aber er vermochte es nicht, und als er hinabsah, da bemerkte er, daß diese Hand blauschwarz und geschwollen war.

Der Rahmenmacher hatte den Alten schon erblickt und stürzte auf ihn los, mit einem schweren Winkeleisen, das er irgend jemandem aus der Hand gerissen hatte.

»Er muß vertilgt werden«, heulte die alte Swoboda.

Fünf, sechs, sieben Männer folgten dem Rahmenmacher. Aber da sahen sie, wie Eleagabal die Fransen des Vorhanges fallen ließ. Seine Gestalt war nur noch in ganz leichten Umrissen sichtbar. Ein letzter Eindruck blieb: ein Lächeln, bei dem die großen gelben Eckzähne wie krumme Messer aus dem welken Mund krochen. Mit einem Schrei der Wut griff der Rahmenmacher in den Vorhang.

Seine Finger zerstießen sich an dem Stein.

Eleagabal Kuperus war verschwunden.

Sie sahen, daß sie vor einer Marmorplatte standen, von der die Wand glatt und ohne Fugen bedeckt war. Was sie für Fransen gehalten hatten, war das rote Geäder des Steines.

Da wandten sie sich wütend und stürzten auf die wenigen Geräte des Saales, um sie zu zertrümmern. Sie verteilten sich in den Gängen und kleinen Nebenräumen, rissen die Bücher herunter und zerstampften sie mit den Füßen, hieben mit den Stücken der zerschlagenen Stühle und der Bücherbretter blindlings gegen die Wände ...

Ein Warnungsruf kam von draußen: Militär!

Sie stutzten, besannen sich ... was war geschehen? Was hatte sie angetrieben, so zu wüten? Nun sahen sie die Folgen vor sich. Noch war die Gewohnheit dieses Gehorsams gegen die Staatsgewalt nicht ganz durch die Raserei der Todesangst ausgelöscht. Sie beeilten sich, das Haus zu verlassen.

Als das Militär unter Trommelwirbel auf dem Domplatz eintraf, fand es diesen geräumt. Den Hauptmann, der mit zehn Mann durch die Verwüstung bis in den Kuppelsaal vordrang, empfing Eleagabal Kuperus mit einem Lächeln und einem etwas ironischen Dank. –


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