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Ein Mann geht über Bord und ein Boot wird übersegelt

Das sonnige, heitere Wetter der letzten Tage hielt an. Die Regina maris setzte ihre planlose Fahrt fort, von der blauen, mit Gold und Silber geäderten Unendlichkeit des Meeres umgeben, aus der bisweilen am Horizont eine Insel emportauchte. Noch immer war keine Veränderung in Arnolds Zustand eingetreten. Es erfolgte kein neuer Ausbruch, aber es war auch kein Anzeichen vorhanden, daß er aus seiner Starrheit erwachen werde. Er war immer um Nella, verließ sie keinen Augenblick und beobachtete sie unaufhörlich mit brennenden Augen. »Es hat nichts genützt,« sagte Bezug zu Hainx, »ich dachte, es wird gelingen ...« Hainx zweifelte daran, daß Bezug nur aus Rücksicht auf seinen Sohn, um ihn aus seiner Stumpfheit zu reißen, die Zeremonie der Vermählung vorgenommen hatte. »Es fehlt ihm der Sinn der Geschichte,« sagte er einmal zu Bezug, »nur wer diesen Sinn hat, wird erkennen, wie groß Sie in diesem Augenblick waren. Er kennt keine andere Geschichte als die seines Leidens, und die auch nur unvollständig. Eine Reihe von lichten Momenten, durch Strecken der Dunkelheit getrennt.« »Ach, was ... Geschichte,« antwortete Bezug aufgebracht, »Geschichte! Lächerlich! Habe ich einen Respekt vor Geschichte? Ich mache selbst Geschichte, wie soll ich Respekt vor ihr haben.« Hainx schwieg, aber er fand seine Ansicht durch die fast abgöttische Verehrung bewiesen, die Bezug bei den Matrosen seit dem Tag seiner Vermählung genoß. Diese einfachen Leute sahen durch ihren Herrn die große Vergangenheit dieser Meere erneuert, die ihnen allen im Blut lag. Hainx zog einen Vergleich mit dem Erfolg Rienzis, der, indem er alte historische Erinnerungen aufrief, seine suggestive Gewalt über die Römer gewonnen hatte.

Nach mehr als einer Woche, als die Hitze des Spätsommers selbst auf dem Meer unangenehm zu werden begann, wandte die Regina maris ihren Kurs aus den ägyptischen Gewässern wieder nach Norden.

Nella hatte in diesen Tagen ein Bild für ihr Schicksal gefunden. Sie vermied es ängstlich, mit Arnold allein zu sein, und rettete sich in die Einsamkeit der Nacht. Wenn sie tagsüber mit dem Kranken unter dem Sonnendach saß, versuchte sie es, ihn für irgendein Buch zu interessieren, das sie der kleinen Schiffsbibliothek entnahm. Und da hatte sie einen Band mit Sagen des Altertums gefunden. Sie las die Sage von Andromeda. Ihr Schicksal war das der Andromeda. An einen Felsen geschmiedet und von den greulichen, starren Augen eines Scheusals bewacht. Bei jeder Bewegung sah sie das wachsende Mißtrauen seiner Blicke. Sie vermochte es sich länger nicht mehr zu verbergen: ihr Mitleid hatte sich in Abscheu gekehrt. Nur die Angst vor ihrem Herrn hielt sie an ihrem Platz fest, wo sie sich täglich enger von den Windungen einer scheußlichen Macht umschlungen fühlte. Manchmal schien es ihr, als nehme Perseus, der sie in ihren Träumen befreite, die Züge des jungen Dichters an. Ganz im Leben ihres Bildes von Andromedas Geschick befangen, sah sie ihn herabstürmen, todestraurig, aber tapfer und einen greulichen Wasserdrachen erlegen. Dann reichte er ihr die Hand und sagte irgend etwas, das in die Seele schnitt. Einmal am hellen Tage, als eine Möwe hoch oben über das Schiff hinstrich, glaubte sie ganz ferne, hoch in der Luft und dadurch verkleinert ein Flügelroß zu sehen, das sich herabsenkte. Dann erkannte sie, daß es eine Möwe war, und sie erschrak. War sie auf dem Wege wahnsinnig zu werden? Ihre Nerven waren durch die scharfe Wachsamkeit, die sie dem lauernden Kranken entgegensetzen mußte, erschöpft, und eine unaufhörliche Angst peinigte sie. Selbst die Nächte, die sie zuerst als Rettung begrüßt hatte, wurden Höllen von Qualen. Es gab Minuten, in denen sie in seiner Gegenwart die Besinnung zu verlieren fürchtete, aber sie raffte sich immer wieder auf, denn sie war gewiß, daß er sich, wenn ihn ihre Rügen nicht mehr beherrschten, auf sie stürzen würde wie ein Tier. Und einmal kam ein eiserner Trotz über sie. Sie war entschlossen, ihm die Geschichte von Andromeda und Perseus vorzulesen. Wenn er sie auch nicht verstand, so kam es ihr doch wie eine Befreiung vor, die klaren, klugen Worte der alten Sage vor ihm auszusprechen.

An diesem Tag war der Himmel etwas bedeckt, und eine kühlere Luft kam aus Norden, so daß man an Bord von einer Bora zu sprechen begann, die irgendwo weiter nördlich geherrscht haben mochte. Den einen Arm gegen die Bordwand gelehnt, saß Nella mit Arnold vorn im Bug, wo sie vor dem immer stärker werdenden Wind geschützt waren. Mit schwierigen Segelmanövern kreuzte die Regina maris gegen den Wind auf. Fast alle Mann waren an der Arbeit, und Bezug und Hainx sahen den Matrosen aufmerksam zu. Ab und zu blickte auch Nella von ihrem Buch auf und zuckte immer zusammen, wenn ihr Blick auf das Gesicht Arnolds fiel, der dicht neben ihr auf einem niedrigen Schemel kauerte, so daß seine Stirne nicht viel höher war als ihr Schoß. Dann aber las sie die Sage von Andromeda weiter, und es war ihr, als gehöre der Gesang des Windes im Takelwerk und die Rufe der Matrosen zu dieser grotesken und gewalttätigen Geschichte. Plötzlich fühlte sie Arnolds Hand auf ihrem Knie. Er hatte die Rundung des gebeugten Knies fest umspannt und preßte seine Finger mit aller Kraft zusammen. Entsetzt fuhr sie auf ... sein Gesicht war verzerrt, von einem grünen Schimmer überflogen. Keuchend drückte er seinen Mund an ihr Kleid.

Da sprang sie empor, sich durch den plötzlichen Ruck befreiend, daß Arnold hintenüberstürzte und mit dem Kopf gegen einen der großen Haken zur Befestigung der laufenden Taue schlug. Ohne sich weiter um ihn zu kümmern, lief Nella davon, an Bezug und Hainx vorbei, außer sich vor Entsetzen und Scham. Erstaunt sah ihr Bezug nach, und als er sich nach der Richtung umwandte, woher sie gekommen war, kam auch schon Arnold auf ihn zu, wankend, das Gesicht mit Blut überströmt.

»Was ist geschehen?« rief ihm Bezug entgegen.

Arnold deutete Nella nach und rang nach Worten, bis er wie in einem plötzlichen Erstickungsanfall mit beiden Händen nach dem Hals fuhr und den Hemdkragen entzweiriß. »Sie muß ... sie muß ...« brachte er endlich hervor.

Bezug verständigte sich durch einen Blick mit Hainx. »Du meinst ...« sagte er. Aber Arnold fehlten die Worte für etwas, das ihm noch nie zur Erfahrung geworden war. Hainx sah, wie es in ihm wühlte, wie er seinem fürchterlichen Drang Ausdruck zu geben suchte, wie sein ganzer Körper von einem wütenden Sturm der Leidenschaft geschüttelt wurde, der ihn zur Verzweiflung treiben mußte, wie einen Menschen, der plötzlich in der Dunkelheit auf einen fernen, unbekannten Stern versetzt wird. Er hatte es ungefähr so kommen sehen. Denn die langsame Erziehung, die Gewöhnung an die Geheimnisse der Liebe fehlte diesem jungen Mann, der mehr als drei Viertel seines Lebens in absurder Tierheit verbracht hatte.

Nachdem Arnold in der Kajüte gewaschen worden war, legte ihn Bezug auf das breite Sofa. Arnold ließ alles mit sich geschehen und trank den Kognak aus dem kleinen Spitzgläschen, das der Vater vor ihn hingestellt hatte. Dann sah er zu Bezug auf, faßte seine Hand und murmelte: »Sie ist ... ich will sie ... sie soll mich nicht zurückstoßen ... sie soll mich nicht zurückstoßen ... nicht ...«

»Sie wird es nicht mehr tun ... verlaß dich darauf, armer Kerl ...«

»Vater ...«, der Griff des Kranken um Bezugs Hand wurde krampfig und wild, »sie soll mich nicht zurückstoßen ...«

»Nein ... Nein!«

Durch den zuversichtlichen Ton der Antwort beruhigt, legte sich Arnold zurück und schwieg. Seine Lippen bildeten aber immer noch lautlose Worte. Bezug nahm Hainx mit hinaus und fragte ihn vor der Tür: »Glauben Sie, daß ich es wagen soll ... Er hat damals gesagt ... wie hat er gesagt? ... es wird gut sein, einem Weib Einfluß auf ihn zu geben. Glauben Sie, daß er das gemeint hat? Meinen Sie nicht, daß es ihm schaden kann? ... es ist eine große Erschütterung ...«

»Vielleicht nimmt sie seine Starrheit von ihm.«

»Sie könnten recht haben ... Ja, Sie haben wohl recht. Glaube dem Wunder! Warum sollte ein Weib nicht auch einmal Wunder tun?«

»Wenn Sie nur Bianca dazu bringen werden. Sie erinnern sich doch, daß sie die Schwester unseres famosen Adalbert ist. Der gleiche Schlag ... widerspenstig ...«

»Sie wird es tun müssen ...«

Aber Bezug fand, als er sich abends in Nellas verriegelte Kajüte Eingang verschafft hatte, daß Hainz Recht behalten sollte. Zuerst hatte sie überhaupt nicht öffnen wollen, und erst als er die schärfsten Drohungen gebrauchte, ging ein Spalt ihrer Türe auf, den sie gleich wieder schließen wollte, als habe sie sich eines anderen besonnen. Aber es war zu spät, schon hatte Bezug seinen Fuß in den Spalt geschoben und riß die Türe mit der ganzen Brutalität des Herrn auf. Er fand Nella zum Widerstand gerüstet, obzwar er die Anwandlungen der Furcht hinter ihrer Panzerung sogleich erkannte. Mit ein paar Schlägen ins Gesicht und über die Schultern zerbrach er ihren Trotz und ihren Stolz und verwandelte sie in die Sklavin, zu der er sie gemacht hatte. Aber als er ihr befahl, seinem Sohn zu Willen zu sein, und mit höhnischem Lachen Bemerkungen über die Natur des Weibes hinterdrein schickte, da richtete sie sich neuerdings empor. Dazu werde er sie niemals bringen, erklärte sie, und auf ihrem Gesicht sah er deutlich, daß sie in diesem Augenblick den letzten Ausweg, der aus jedem Wirrwarr des Schicksals hinausführt, vor sich sah. Er verstand genug von der Art dieses Weibes, um zu wissen, daß sie fähig war, über Bord zu springen. Nun war es an der Zeit, zurückzugehen und sich auf andere Mittel zu besinnen.

Tief atmend stand er vor ihr, noch die Hand zur Faust geballt, dann sagte er mit leiser Stimme, der er mit aller Anstrengung einen schmerzlichen Ton gab: »Du hältst nicht ... du hältst nicht, was du versprochen hast. Hast du nicht gesagt, daß du alles für ihn tun willst? Hast du es gesagt?«

»Ich habe es gesagt. Ich war voll Mitleid für ihn. Aber an das habe ich nicht gedacht. Gott weiß es, an das nicht.«

»Was habt ihr Weiber denn so viel mehr anderes als das ...?«

Nella schwieg. Dann sagte sie: »Ich kann es nicht ... ich kann es nicht ...«

»Es ist gut. Aber ich will dir das eine sagen. Zwischen uns ist es aus. Wie soll ich es dulden, daß dir mein Wille nichts gilt. Ich sage dir, es ist aus ... hörst du ...«

Nella war außerstande, ihre Glückseligkeit zu verbergen, und Bezug, dem der freudige Strahl nicht entging, schrieb dies zu ihren anderen Vergehen. Sie hatte genug gelernt, um zu wissen, daß sie Bezug nichts von ihren Gefühlen verraten durfte, aber die plötzlich aufjubelnde Hoffnung war so stark, daß die Maske zerbrach. Indem Bezug tat, als bemerke er nichts davon, machte er sie sicherer: »Wenn wir zurückkehren, ziehe ich meine Hand von dir ... Du wirst deinen Haushalt auflösen müssen, und ich werde dafür sorgen, daß der Direktor dich bald entläßt. Du kannst dann gehen, wohin du willst. Ich kümmere mich nicht mehr um dich ...«

Jauchzend nahm sie diese Drohung als ein Versprechen hin, das ihr neue Kraft gab.

»Und nun verlange ich nichts weiter von dir ...« – Noch immer, trotz allem, was sie erfahren hatte, war Nella zu wenig mißtrauisch. Immerhin war sie so vorsichtig, erst die Lage zu prüfen und sich solange aus ihrer Festung nicht zu entfernen.

Hainx, der am anderen Morgen, nicht in Bezugs Auftrag, sondern – wie er versicherte – aus eigenem Antrieb kam, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen, erhielt von Nella den Bescheid, sie sei seekrank. Die Tür blieb dabei geschlossen, so daß Hainx nicht wissen konnte, ob ihm die Wahrheit gesagt worden war oder nicht. Und die Behauptung hatte einige Wahrscheinlichkeit, denn die See blieb bewegt und die Regina maris, die auf Bezugs Befehl keinen Hafen aufsuchen durfte, ritt vor dem Sturm auf den schäumenden Wogenrücken, abwechselnd mit Stürzen in schwarzgrüne Wasserklüfte. Nella ließ sich während dreier Tage nicht sehen, und die Mahlzeiten wurden ihr durch den schmalen Türspalt geschoben. Mit dem Scharfsinn, den die Not zur Tat antreibt, hatte sie eine Sicherung gegen unvermutete Angriffe ersonnen. Sie hatte die Stricke, mit denen ihr Reisekorb umwunden war, dazu verwendet, um starke Bänder oben und unten vor die Türe zu legen, die nur ein mäßiges Öffnen gestatteten. Diese Erfindung, die in den Sicherheitsketten der Großstadtwohnungen ihr Vorbild hatte, machte Nella so viel Freude, daß sie sich in ihrem Gefängnis behaglich fühlte, wie Kinder, die sich in irgendeinem Winkel ein Haus eingerichtet haben. Ganz auf sich selbst gestellt zu sein, das war ihr nach den Erlebnissen der letzten Zeit fast ein neues Gefühl, und die Angst, die irgendwo dunkel lauerte, verstärkte nur das Behagen an der gesicherten Gegenwart.

Aber am dritten Tage, als diese Gefühle ihren Reiz eingebüßt hatten, breitete sich eine Lähmung aus. Der Aufenthalt in dem engen Raum bedrückte ihren Geist; sie wurde es endlich überdrüssig, durch das runde Kajütenfenster auf das Meer hinauszusehen, das bisweilen so nahe war, daß sie mit der Hand in den Schaum hätte greifen können, wenn sie das Fenster hätte öffnen dürfen. Dann prallte wieder ein wilder Schwall gegen die Scheibe, weiße Schaumkringel und Luftblasen, die wie große opalisierende Perlen herabglitten. Die unendlichen Möglichkeiten dieses Spieles füllten einen halben Tag aus. Dann kam das ruhelose Umherwandern zwischen dem Waschapparat und dem kleinen Wandschrank des angrenzenden Raumes, aber auch diese Bewegung verlor endlich ihre Wirkung. Nella versuchte die Tage zu verschlafen. Nach einer halben Stunde sprang sie auf, kramte in ihrem Reisekoffer und verschaffte sich Arbeit, indem sie die künstlich hergestellte Unordnung wieder aufhob. Mit Schaudern dachte sie an die ungezählten Myriaden von Menschen, die ein ganzes Leben in noch viel engeren Räumen bei Dunkelheit und bei elender, halb verfaulter Nahrung zugebracht hatten. Es war ihr klar, daß sie nach einigen Monaten in Tobsucht verfallen wäre. Und plötzlich fühlte Nella eine heiße Sehnsucht nach einem Buch, dessen Einfluß sie befreien sollte. Sie war in ihrer Einsamkeit zu viel sich selbst überlassen, und der Wunsch, sich an andere zu verlieren, gewann Herrschaft über sie. Nach einigem Überdenken kam sie zu dem Schluß, daß es nicht gefährlich sei, einen Gang in den Salon hinüber zu unternehmen, wo die kleine Bibliothek des Schiffes untergebracht war. Bezug hatte ja darauf verzichtet, ihren Gehorsam zu erzwingen. Immerhin war es besser, eine Zeit zu wählen, in der sich voraussichtlich niemand im Salon aufhalten würde. Nella wartete eine stille Nachmittagsstunde ab und verließ dann leise und vorsichtig ihre Festung. Den Gang entlang, der noch mit Küchendunst erfüllt war, an den Kajüten Hainx' und Arnolds vorbei schlich sie in den Salon. Ganz vorsichtig öffnete sie die Türe, bereit, sie augenblicklich zuzuwerfen und zu fliehen. Als sie niemanden im Salon bemerkte, trat sie zuversichtlicher ein, durchschritt den Raum und kam in das kleine anstoßende Rauchzimmer, wo die Bibliothek in ihrem Mahagonischrank stand. Ohne lange zu wählen, nahm sie zwei Bände und wollte wieder in den Salon zurückkehren, als sie ein Geräusch dort drinnen wie ein heißer Strahl durchstieß. Sie wußte augenblicklich, es war jemand eingetreten, außer ihr war jetzt noch ein Mensch in diesem Raum, der nur jenen einen Ausgang hatte. Mit verwirrender Schnelligkeit überflog sie alle Möglichkeiten der Rettung; es erschien ihr noch am besten, der Gefahr sogleich entgegengehen und, wenn nötig, mit Gewalt den Ausgang zu gewinnen. Sie stürzte vorwärts in den Salon, wie man sich der gräßlichen Gewißheit entgegenwirft, um den gräßlicheren Zweifeln zu entgehen.

Da stand Arnold mitten im Zimmer.

Und jetzt, gerade in diesem Augenblick, dem letzten Augenblick der Rettung, hörte sie hinter seinem Rücken ein scharfes Knacken. Man hatte die Tür von außen abgesperrt, sie war mit Arnold hier eingeschlossen. Das Gräßliche war aber in diesem Moment nicht so sehr diese Erkenntnis, nicht einmal Arnolds körperliche Anwesenheit, sondern das Bild, das ein seitwärts hängender Spiegel von ihm gab. Nach dem ersten entsetzten Schrei glitt Nellas Blick von Arnolds Gesicht ab; sie war außerstande, diese glühenden, glimmenden, grün schimmernden Augen zu ertragen. Und da sah sie in dem Spiegel über dem Spieltisch ein nicht mehr menschliches Profil, hier, wo die Aufmerksamkeit nicht auf den Ausdruck der Augen allein, sondern auf die Gesamtheit der Züge gerichtet war, konnte sie alle Einzelheiten erkennen: den vorgeschobenen Unterkiefer, die fletschenden Zähne, von denen sich die Lippen halb zurückgezogen hatten, so daß die Grimasse eines fürchterlichen Grinsens entstand; es wollte ihr scheinen, daß sich die Tierheit auch in der stumpfen Nase und der zurückfliehenden Stirn aussprach. Noch war etwas Menschliches an der Oberfläche, aber darunter tobten vulkanische Gewalten, wie unter einer dünnen Kruste, in einer äußersten Spannung, die sich jeden Augenblick auslösen konnte.

Plötzlich bemerkte Nella, daß das Bild sich im Spiegel verschob und auf den ihr näher gelegenen Rahmen zurückte. Arnold schlich auf sie zu. Es war gewiß, er würde sich über sie werfen und sie mit brutaler Kraft überwältigen. Wenn sie Furcht zeigte und floh, war sie verloren. Und wohin hätte sie fliehen sollen, da man so sorgfältig gewartet hatte, bis sie in die Falle gegangen war? Es blieb nichts übrig, als einen Versuch zu wagen, den Gegner durch überlegenen Mut einzuschüchtern.

Nella wandte den Kopf und sah Arnold gerade entgegen. Sie versuchte trotz ihrer Angst den bannenden Blick zu finden, mit dem sie ihn schon früher oft zurechtgewiesen hatte. Im Augenblick hörte Arnold auf, vorwärts zu schleichen, und sah an Nella vorbei, indem er den Kopf hängen ließ und mit den Armen schlenkerte. Dabei trat eine Art von Lächeln auf sein Gesicht, ein fürchterliches und erstarrendes Lächeln. Nella dachte: so muß das Lächeln der ersten Menschen gewesen sein, die sich weit hinten im Dunkel der Zeiten über die dumpfe Welt des Tieres erhoben. Und jetzt versuchte Arnold zu sprechen. Aber es kamen nur glucksende und gurgelnde Laute aus seiner Kehle. Ein Röcheln, das sich aus einer keuchenden Lunge emporrang.

Arnold schwieg und sah Nella wieder an, während er fortfuhr, die Arme leise pendeln zu lassen. Und nun setzte er sich wieder in Bewegung, ganz langsam vorrückend, als beschleiche er einen wachsamen Feind. Nella wußte, daß sie nicht einen Schritt zurücktun durfte. Sie hielt stand und legte alle Kraft ihres gesunden Willens in ihren Blick. Es war ein fürchterliches Ringen, aber Nella brachte den Feind noch einmal zum Stehen. Nun war sie entschlossen, ihren Vorteil nicht mehr aufzugeben und Arnold festzuhalten. Sie sah ihn den Blick von ihr abwenden, immer wieder zu ihr zurücklenken und wieder abwenden.

So standen sie einander eine endlos lange Zeit gegenüber. Nichts war zu hören als das Scharren der Wogen an den Planken. Einmal war es, als gäbe es ein Geräusch außen an der Türe. Es entfernte sich wieder, und Nella, der eine vage und ganz ferne Hoffnung auf irgendeine Art Veränderung aufgegangen war, stand wieder starr und hilflos. Sie fühlte, wie ihre Kraft schwand ... mit ihrer Angst allein gelassen trieb sie auf einem Meer des Grauens. Die Zeit war ohne Abschnitte und vereinigte sich auf seltsame Weise mit dem wogenden Rhythmus des Meeres, so daß es schien, als wiederhole das Meer nur den Pulsschlag der Zeit. Plötzlich ward sie sich dessen inne, daß das Gesicht Arnolds vor ihren Blicken verschwamm. Was war geschehen? Trübte sich ihr Blick? Verließ sie ihre Kraft? Es war ein grauer Schleier vor ihr ausgebreitet, und nun bemerkte sie, daß die Dämmerung hereinbrach. Da überfiel sie ein neues Entsetzen. Wenn die Finsternis kam, dann war sie wehrlos, ihr Blick aller Macht beraubt, und Arnold würde über sie herfallen. Wieder hörte sie ein Geräusch an der Türe, das Drängen eines großen Körpers, ein Schnuppern und ein Blasen an der Türspalte, dann das Klingeln eines Halsbandes. Es mochte Barry sein, aber für Nella, der sich die Sinne zu verwirren begannen, verband sich dieser Eindruck mit der Angst vor dem Wesen ihr gegenüber, und es war ihr, als ob alle diese tierischen Laute von ihm herkämen.

Plötzlich sah sie, wie Arnold zu schwanken begann. In der Dämmerung schien es ihr zuerst eine Täuschung. Aber als sie mit Aufgebot aller Willenskraft sich zu scharfem Sehen zwang, bestätigte sich ihre Beobachtung. Arnold schwankte hin und her, in ganz anderen Schwingungen als sie ihm das Schaukeln des Schiffes mitteilen konnte. Und mit einmal brach er zusammen, ganz plötzlich, als ob ihm eine Stütze entzogen worden sei, die ihn bis jetzt gehalten hatte. Er kauerte auf dem Boden, mit merkwürdig verkrümmten Gliedern und begann schmatzend an den Fingern seiner rechten Hand zu saugen. Große Blasen Geifers quollen in seinen Mundwinkeln auf.

Es wurde dunkel, und Nella hörte nichts als das zufriedene Schmatzen eines Tieres. Ab und zu traf sie ein grünlicher Schein. Im Schutz der Dunkelheit wich Nella lautlos zurück und lehnte sich an die Wand. Die Knie zitterten ihr, und mit ausgebreiteten Armen tastete sie nach einem Halt.

Draußen kamen Tritte die Treppe hinab, flüsternde Stimmen näherten sich, dann – auf einen kurzen Befehl – erhob sich der schwere Körper vor der Türschwelle. Nun wurde ein Schlüssel in das Loch gesteckt ... noch eine Pause des Überlegens und Lauschens, dann wurde die Türe vorsichtig geöffnet. Nella, die vom ersten Geräusch an alle ihre Sinne auf das Entkommen gespannt hatte, war der Wand entlang bis zur Tür geschlichen, möglichst lautlos und dabei immer in der Erwartung, daß Arnold aufspringen und sich auf sie stürzen werde. Aber es schien, als beachte sie Arnold gar nicht mehr. Er saß mitten im Zimmer und schmatzte. Nella wartete im Dunkeln ab, bis die Türe weit genug geöffnet war, dann warf sie sich mit aller Wucht gegen die beiden Männer, die in das Zimmer hineinspähten, brach zwischen ihnen hindurch, stieß gegen Barry, der einen plumpen Sprung zur Seite machte und lief die Treppe hinauf. Nicht mehr in ihre Kajüte ... es wäre ihr unmöglich gewesen, sich wieder einzukerkern ... sie wollte den Sturm fühlen und das Meer sehen; sie war sicher, zugrunde zu gehen, wenn sie nicht auf Deck kam.

Hinter ihr am Fuß der Treppe gab es ein Getümmel, dann einen Schrei ... war es Wut? war es Entsetzen? Und dann kam etwas hinter ihr die Treppe hinauf. Verfolgte man sie? Ehe sie noch Zeit hatte, einen Entschluß zu fassen, kam es an ihr vorbei. Es war Arnold, der auf allen vieren mit ungemeiner Behendigkeit die Stufen hinauflief. Barry kam mit ungelenken Sätzen hinterdrein. Und unten im Dunkeln schrie jemand. Außer sich vor Entsetzen rannte Nella die wenigen Stufen hinauf, die noch vor ihr lagen. Da sah sie Arnold, von Barry gefolgt, quer über das Deck hinlaufen, eines der straff gespannten Taue ergreifen und daran hinaufklettern. Barry stellte sich auf die Hinterbeine und schlug mit den Vorderpfoten auf das Tau, als wolle er auch da hinauf. Dann lief er verzweifelt hin und her, rannte zur Bordwand, richtete sich an ihr empor und mit in die Dunkelheit hinaufgewandter Schnauze stieß er klägliche Töne aus, ein Mittelding zwischen Bellen und Heulen.

»Wo ist er, wo ist er?« rief Hainx, der nun mit Bezug die Kajütentreppe hinaufkam.

Nella deutete in die Dunkelheit hinauf.

»Dort oben?« Hainx faßte Bezug an, der an dem Treppenoberbau lehnte, ohne ein Wort sprechen zu können ... »Hören Sie ... dort oben!« Aber Bezug machte nur Zeichen mit den Händen, so daß Hainx einsah, er müsse an seiner Stelle handeln.

»Kapitän, sind Sie da?« rief er in der Richtung der Kommandobrücke.

»Ja ... was gibt's?«

»Die Scheinwerfer! Lassen Sie die Masten absuchen ... wo ist er?« und schon rannte er der Kommandobrücke zu. Nach einigen Minuten glomm ein rötliches Licht auf, wurde rasch heller, die erst zerstreuten Strahlen zogen sich in einen engen Kegel zusammen, der nun, vom Deck anfangend, den Mast entlang rückte. Dann glitt der grelle Schein wieder hinab und begann den zweiten Mast abzusuchen. Und jetzt – stand der suchende Lichtkegel still. Man sah in seinem festen, wie körperlichen Bezirk auf der Raa des Bramsegels eine Gestalt. Sie hockte auf der Raa und hielt sich mit einer Hand an einem über ihrem Kopfe laufenden Tau. Wie diese Gestalt mit einem Stück des Mastes und Tauwerkes scharf aus der umgebenden Dunkelheit geschnitten war, schien sie vollständig beziehungslos zu aller Wirklichkeit ganz aus einem Raume genommen, wo die Dinge nichts mit unserer Realität gemein haben.

Man schrie durcheinander, Befehle wurden erteilt und widerrufen, man rannte hin und her und stieß in der Dunkelheit zusammen, da aller Blicke nach dem wiegenden und wippenden Mast gerichtet waren. Nella sah nahe an der Quelle des grellen Lichtkegels Hainx und Dallago im dämmernden Schein der ober der Kommandobrücke befestigten Laterne. Von seitwärts fiel das Licht des Kompasses auf sie. Dallago war in heftigster Aufregung; mit emporgeworfenen Armen deutete er nach dem Mast, wo Arnold, durch den Scheinwerfer beunruhigt, sich anschickte, höher hinauf zu klettern.

Eine feuchte Schnauze stieß gegen Nellas herabhängende Hand. Barry wandte sich an sie, gleichsam hilfesuchend, indem er ihr dadurch zu verstehen gab, daß er noch zu ihr am meisten Vertrauen habe. In diesem Augenblick sah Nella ein, daß sie den Rückfall Arnolds verschuldet hatte. Aber war es ihre Schuld? Sie sprach sich im selben Moment noch frei. Sie nahm Barrys Kopf zwischen ihre Hände und redete ihm begütigend zu, wie man ein aufgeregtes Kind durch allerlei Worte beschwichtigt, an denen der Sinn weniger wichtig ist, als der Ton, in welchem sie vorgebracht werden. Der Hund drängte sich an sie und versuchte sie in der Richtung nach dem Mast vorwärts zu bringen. Dann, als verlasse ihn neuerdings alle Besonnenheit, rannte er fort, sprang mit den Vorderpfoten auf die Bordwand und heulte in die Höhe.

Nella hörte einen keuchenden Atem hinter sich. Bezug hatte sich aufgerafft und kam an ihr vorbei, blaß wie eine Leiche, wankend, mit vorgestreckten Händen. »Dallago,« rief er zur Kommandobrücke hin, »Leute hinauf ... Sie sollen ihn holen ...« Der Befehl des Kapitäns jagte sogleich einige Matrosen in die Wanten. Jetzt kam der Mond aus den zerrissenen Wolken hervor, und eine breite, freie Fläche des Himmels lag vor ihm. Man übersah mit einemmal die Szene. Während die Matrosen rasch hinaufkletterten, rückte Arnold immer höher, von Zeit zu Zeit innehaltend, um nach seinen Verfolgern zurückzublicken. Nun war eine tiefe Stille eingetreten, niemand rief mehr, alle Blicke hingen auf der seltsamen Jagd; Nella fühlte sich wie gewaltsam ausgedehnt, wie körperlich gespannt, so daß den beengten Lungen der Atem auszugehen drohte. Nur Barry wanderte ruhelos hin und her, zwischen seinem Platz an der Bordwand und Nella, die er immer wieder anstieß, um sie zur Tat aufzufordern.

Nun tauchten die ersten der Verfolger aus dem Mondlicht in den gelben Schein des Lichtkegels. Arnold hielt sich wenige Fuß über ihren Köpfen an einem Seil und begann in krächzenden Lauten auf sie niederzuschreien. Unbekümmert um seinen Zorn rückten sie vor, und schon griff der erste nach Arnolds Beinen. Da ... Nella sah, wie Arnold sich noch ein wenig höher zog und dann, gerade als die Spitze des Mastes sich stark seitwärts neigte, mit einem Schrei seine Umklammerung losließ. Der verfolgende Matrose griff ins Leere.

Jemand schrie hinter Nella auf. Sie sah Bezug neben Dallago auf der Kommandobrücke stehen und die geballten Fäuste erheben. Und nun folgte ein ungeheurer Tumult.

»Zu den Booten ... zu den Booten ...«

Es dauerte nicht länger als zwei Minuten, bis die beiden Boote bemannt und herabgelassen waren und vom Schiff abstießen. Nella wußte nicht, wie sie zur Bordwand gekommen war. Mit krampfhaftem Griff hatte sie irgendein Tau umfaßt und sah hinaus, wo der grelle Kreis des Scheinwerfers suchend über die Wogen glitt. Irgendwelche Manöver gingen vor sich. Die Eindrücke verwirrten sich und brausten wild durcheinander. Plötzlich hörte sie einen pfeifenden Laut. Ein Körper setzte über die Bordwand und fiel plump ins Wasser. Nella sah Barrys Kopf im Schaume eines Wellenkammes. Er schwamm zwischen den Booten durch, einer Stelle zu, die außerhalb des beleuchteten Kreises lag. Der Scheinwerfer folgte seinem Weg, und nun war Arnold gefunden.

»Dort draußen ... dort draußen«, schrie jemand von der Kommandobrücke herunter.

Ein Körper rang mit den Wellen. Ein Arm kam hoch, ein Kopf, und eben als Barry, den Booten voran, seinen Herrn erreicht hatte, verschwand der Körper. Und nun kamen die Boote in schwerem Kampf gegen den Wogengang heran.

Barry schwamm in kleinen Kreisen um die Stelle, wo Arnold untergegangen war.

Obzwar die Leute in den Booten wußten, daß der Versunkene nicht mehr zum Vorschein kommen würde, hielten sie sich an derselben Stelle. »Den Hund ...« sagte der Steuermann des ersten Bootes ... »wenigstens den Hund.« Einer der Ruderer stand auf, und im Bug kniend, wartete er, bis das Boot an Barry herangekommen war. Aber als der Mann den Arm ausstreckte, wich Barry aus. wieder folgte das Boot seinen Kreisen, bis es dem Matrosen gelang, Barrys Halsband zu fassen. Mit aller Kraft sich gegen den Retter wehrend, hätte Barry den Mann fast aus dem Boot gezogen. Der Matrose mußte den Hund loslassen, aber, nun einmal durch den Widerstand des Tieres erst recht für seine Rettung entflammt, ließ der Steuermann das Boot unablässig den Bewegungen des Hundes folgen. Ein zweites Mal faßte der Mann im Bug Barrys Halsband und versuchte den schweren Körper ins Boot zu ziehen. Aber es blieb ihm nur ein zerrissenes Halsband in Händen, und man mußte, da nun eine schrille Pfeife vom Schiff zur Rückkehr rief, den Hund zurücklassen.

Nella sah ihn in immer gleichen Kreisen auf derselben Stelle schwimmen, als das Schiff schon seinen schweren Kampf gegen den Sturm aufgegeben hatte und wieder vor dem Wind ging. Das Licht des Scheinwerfers erlosch, und nun war die Nacht wieder allein dem Mondlicht überlassen. Es war wie ein Verlöschen der Hoffnung, wie ein Aufgeben der letzten Rettungsgedanken. Der Mond beharrte am Himmel, und immer mehr erweiterte sich der freie Raum um ihn. Ein paar Matrosen unterhielten sich flüsternd in der Nähe Nellas. Sie wagte nicht, sich umzuwenden, um nicht zu sehen, was mit Bezug vorging. Endlich trieb es sie an, wie die Angst, die uns in dunkeln Zimmern überfällt, nach der Kommandobrücke hinzusehen. Da kam Bezug eben mit Hainx die Treppe herab. Bezug ging voran, ganz aufgerichtet; im Mondschein war sein Gesicht von einer grünlichen Blässe. Am Ende der Treppe stand er einen Augenblick still und legte die Hand auf den Haken, an dem das Tau befestigt war.

Dann kam er gerade auf Nella zu. Sie sah ihn kommen, und etwas in ihr schrie ihr zu, zu fliehen, aber sie war unfähig, auch nur einen Schritt zu machen. Er hatte sie erreicht ... er trat heran und hob die geballten Fäuste zu ihrem Gesicht. Sie erwartete einen Schlag, ein fürchterliches Wort ... aber sie sah nur eine Verzerrung seines Gesichtes, eine Erstarrung, die noch schrecklicher war als der wildeste Ausbruch. Der Mund stand weit offen, und plötzlich fand sie wieder jene Ähnlichkeit mit Arnold, die sie schon oft beunruhigt und gequält hatte. Bezugs Fäuste sanken herab, er sah ihr noch einmal in die Augen, mit einem so haßerfüllten Blick, daß Nella erbebte. Dann schritt er an ihr vorüber dem Bug zu.

Noch einmal sah sie ihn dort die Arme erheben, mit derselben drohenden und wilden Gebärde, und sie wußte, daß er das Meer verfluchte, das Element, dem er sich vermählt und dem er seine Herrschaft aufgezwungen hatte und das ihm heute nacht den Gehorsam verweigerte. Hainx aber, der einen Schritt hinter Bezug stand, hörte seine irren Worte: »Ewig ... ewig! Wir wollen sehen ... wir wollen sehen ... wenn die Erde mein ist ... es wird ein Tag kommen ... die lächerliche Unendlichkeit ... wir werden sehen ... meine Macht ist über ... ist über dir ...« – Und Hainx mußte wieder an Xerxes denken, der den Hellespont züchtigen und in Ketten schlagen ließ.

Gegen Tagesanbruch, als ein graues Licht über die Wellen floß, bemerkte der Kapitän ein kleines Segelboot in der Ferne. Der Wind hatte abgeflaut, und ein heiterer Himmel, an dem noch einige Sterne und die tiefstehende Mondsichel sich gegen den ersten Schimmer des Morgens behaupteten, verkündete den schönsten Tag. Die Regina maris vermochte ohne besondere Schwierigkeiten den Kurs gegen das Land zu nehmen, wie es Bezug befohlen hatte, als er das Deck verließ. Hainx, der neben Dallago die Nacht auf der Kommandobrücke verbracht hatte, folgte der weisenden Hand des Kapitäns mit dem Blick.

»Was für ein Boot ist das?« fragte er.

Der Kapitän sah eine Weile angestrengt hinaus: »Das kann ich nicht so glatt sagen. Ein Fischerboot? Es sieht nicht wie ein Fischerboot aus ...« Und nachdem er das Fernrohr benutzt hatte, fuhr er fort: »Ein Fischerboot ist es nicht ... es ist, wie wenn es von dieser Nacht arg mitgenommen wäre ... ich sehe den Stumpf eines Mastes ...«

»Ist jemand drinnen?«

»Das kann ich nicht ... ich glaube nicht ... wenn er nicht auf dem Boden liegt. Es treibt steuerlos. Sonderbar ... ich denke beinahe ...«

»Was denn?«

»Es könnte ja schließlich sein, wir sind ja wieder ungefähr in der Nähe von Antothrake ... ich wette ... ja, es ist wohl das Boot vom Schloß unseres Herrn.«

»Das ist Ihnen möglich zu erkennen?«

»Man bekommt den Blick dafür. Wenn man ein Schiff oder ein Boot einmal gesehen hat, so vergißt man nicht, wodurch es sich von anderen unterscheidet. Ich wette, daß es das Boot von Antothrake ist ... es wird sich losgerissen haben ... halt ... warten Sie!« Er hob das Fernrohr rasch auf und sagte: »Ein Mensch ... ich sehe einen Menschen ... er richtet sich auf und sieht nach uns herüber ... es ist ... wissen Sie, wer das ist?« fragte er, indem er das Fernrohr sinken ließ.

»Wer ...? Wer kann es sein?«

»Dieser junge Mensch ist es ... dieser Dichter ...«

»Adalbert?«

»Ja ... sehen Sie, Sie müssen es jetzt schon mit freiem Auge sehen ... er winkt ... er hat uns erblickt und winkt. Er ist in Not ...«

Im gleichen Augenblick einander zugewandt, versuchte jeder auf dem Gesicht des anderen zu lesen, und sie sahen denselben Gedanken zugleich auch im anderen entsprungen. Nach einem Zögern gab Dallago dem Steuermann den Befehl, den Kurs auf das treibende Boot zu richten. Im helleren Licht erkannte nun auch Hainx den Mann im Boot, der auf den Knien lag und mit einem Fetzen des Segels oder einem Taschentuch winkte.

»Hören Sie,« sagte Hainx plötzlich, indem er seine Hand auf den Arm des Kapitäns legte, »was denken Sie über diese Nacht? Was wird Bezug tun?«

Mißtrauisch sah Dallago den Frager an: »Ich weiß, es nicht.«

»So viel ist sicher, daß er sich an allen rächen wird, die seine Hoffnungen zerstört haben. Ich habe gehört, wie er dem Meer geflucht hat ... dem Meer ...«

Erschauernd wiederholte der Kapitän: »Dem Meer!«

»Und nicht weniger Hoffnung hat er auf dieses Weib gesetzt ... auf Bianca. Sie hat seine Hoffnung nicht erfüllt. Er wird sie strafen ... an allem, was sie liebt ...«

»Er ist der Herr! Er hat die Macht ...«

Die Regina maris war dem Boot näher gekommen, und Adalbert hatte, jetzt seiner Rettung gewiß, das Winken eingestellt. Mit einer heiseren Stimme sprach Hainx nach einem kleinen Schweigen weiter: »Wissen Sie, Kapitän, daß dieser Mensch, daß Adalbert Biancas Bruder ist?«

»Wirklich ... ihr Bruder? Und sie weiß es nicht ...?«

»Sie weiß es nicht. Aber glauben Sie, daß Bezug untröstlich wäre, wenn die Regina maris heute Adalbert nicht aufgenommen hätte ... oder sagen wir mit Bedacht auf die Grammatik: aufnehmen würde ...«

Der Gedanke stand da, von Hainx in Worte gewandelt, er war lebendig geworden und übte seine Gewalt aus. Noch immer aber war in Dallago der Instinkt des Seemannes mächtig, und noch war er nicht ganz von Hainx gewonnen.

»Sind Sie Ihrer Leute sicher?« fragte Hainx.

»Ich kann ihnen befehlen, was ich will.«

»Und kein Wort kommt über dieses Schiff hinaus ...«

»Kein Wort ...«

»Ich will Ihnen etwas sagen: Adalbert ist der Geliebte Elisabeths ...«

Hainx sah eine Flamme auf Dallagos Gesicht. Dann folgte etwas, dessen sich Hainx nicht versehen hatte. Dallago, der zuerst einen Schritt zurückgetreten war, stürzte sich plötzlich auf ihn, faßte ihn am Hals und begann ihn zu würgen. Überrascht wehrte sich Hainx gegen diesen Angriff, und als es ihm gelungen war, ein wenig Luft zu bekommen, rief er den Wütenden an: »Was fällt Ihnen ein? Sind Sie wahnsinnig?«

Keuchend stand ihm der Kapitän gegenüber: »Was sagen Sie ... was sagen Sie?«

»Ich sage, daß er ihr Geliebter ist ...«

Alles, was Dallago von seiner Leidenschaft zu dulden gehabt hatte, fiel ihn in dieser einen Sekunde in glühenden, raschen Erinnerungsbildern an, er versuchte in einem tollen Wirbel vergebens festen Stand zu gewinnen. An das Geländer der Brücke geklammert, schrie er Hainx an: »Ihr Geliebter?«

»Und er ist in Ihrer Hand«, sagte Hainx leiser.

Da wandte sich Dallago zu dem Mann am Steuerrad, deutete auf das Boot, das nun in weniger als Rufweite vor dem Schiff lag und setzte dann die rechte Hand senkrecht, in rechtem Winkel mit der Handschneide auf den Rücken der Linken. Der Steuermann sah den Kapitän erschrocken an und überwand sein Zögern erst, als er die finstere Wiederholung des Befehles in den Augen Dallagos sah. Mit einem kleinen Ruck am Rade veränderte er ein wenig die Richtung des Schiffes. Er nahm die gerade Linie auf Adalberts Boot. Einige Matrosen der Deckwache kamen langsam zur Kommandobrücke. Sie hatten das Boot bemerkt und wollten Dallagos Befehle einholen. Aber er winkte ihnen zornig, mit einer Handbewegung, die ausdrücken sollte, daß sie sich um nichts zu kümmern und an ihre Plätze zu gehen hätten. Adalbert hatte sich in seinem Boot erhoben und sah, sich an den Stumpf des Mastes haltend, dem Schiff entgegen.

Die Regina maris hielt unverändert ihren Kurs, der das Boot gerade überschnitt.

Jetzt war sie heran, aber anstatt zu wenden und ein Boot auszusetzen oder sachte an des kleine Wrack heranzugleiten, fuhr sie mit unveränderter Geschwindigkeit darauf los. Es war nur eine Sekunde, die Hainx und Dallago den köstlichen Anblick der fürchterlichen Wandlung von freudiger Hoffnung in Entsetzen auf Adalberts Gesicht darbot. Sie standen beide vorgebeugt und genossen das Schauspiel.

»Soll ich einen Gruß bestellen?« schrie Hainx hinunter.

Dann knirschte etwas unter dem Kiel der Regina maris, ein kleiner Ruck ging durch ihren ganzen Körper ... ein erstickter Schrei kam herauf, und dann verfolgte das Schiff wieder stetig seinen Kurs. Als sie zurücksahen, schaukelten einige Trümmer auf den Wogen, auf einem von ihnen klebte etwas wie ein menschlicher Körper.

Hainx lächelte.

Auf einmal erstarrte dieses Lächeln. Auf den Stufen zur Kommandobrücke stand Bianca, wie es schien, im Begriff hinauf zu steigen, aber auf halbem Wege von allen Kräften verlassen. Sie hatte die Nacht auf Deck zugebracht, in einem Winkel hinter Tauen zusammengekauert, immer in Angst, von Bezug aufgesucht und gerichtet zu werden. Endlich, gegen Morgen war sie in Schlaf verfallen, aus dem sie erst durch ein Gespräch zweier Matrosen erweckt wurde, die sich in ihrer Nähe halblaut unterhielten. Ohne daß sie die Worte verstand, sah sie doch aus den Gebärden und den sprechenden Mienen der Italiener, daß sie sich in Aufregung befanden. War wieder etwas vorgefallen? Was hatte es da wieder gegeben? Sie sah, daß die Aufmerksamkeit der Leute auf das Meer gerichtet war; verwirrt und erschreckt und in der Befangenheit des Schlafes alles noch auf den Unfall der Nacht beziehend, lief sie zur Bordwand. Sie kam gerade zurecht, um ein Boot mit einem Menschen unter dem Kiel des Schiffes verschwinden zu sehen und einen erstickten Schrei zu hören.

Was war da geschehen? An das Tau der Treppe geklammert stand sie da, und Hainx las in ihrem Blick die fürchterliche Frage.

»Ein zweiter Unfall,« sagte er, »es ist eine schlimme Nacht gewesen. Ahriman war losgelassen.«

»Was ist geschehen?«

»Ein Boot ... es ist uns ... wir haben es übersegelt ... ein Unfall ...«

»Ein Unfall?« Es war eine drohende Frage.

Und sie erhielt eine drohende Antwort: »Ich rate Ihnen, an nichts als an einen Unfall zu denken ...«

Nella sah plötzlich die Gestalten des Kapitäns und Hainx' sich ins Breite ziehen, verschwimmen und sich miteinander zu einem Klumpen vereinigen. Dann sah sie nichts mehr.


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