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Adalbert und Regina. Der Kampf um die Ordnung

An dem Lärm, den die Spatzen in dem großen Birnbaum vor dem Fenster vollführten, erkannte Adalbert, daß der Morgen da war. Mit einem Lichtzeichen vermochte der Tag sich in Reginas Zimmer nicht anzukündigen, denn die Laden waren ganz fest verschlossen und außerdem noch die Vorhänge vorgezogen. Aber das wichtige Getue der Spatzen war zu Adalberts Wecker geworden.

Er erhob sich und kleidete sich an. Dann stand er eine Weile ganz still und horchte auf Reginas Atemzüge. Sie waren fest und regelmäßig, tönende Wellen, die im Dunkeln sachte an ein weiches Ufer kamen. Das tat Adalbert immer so gern: so im Finstern stehen und auf Reginas Atem horchen. Da kam aus diesem gleichmäßigen Heben und Senken ein festes Vertrauen über ihn, eine Lichtgläubigkeit und Zukunftsfreude, aus der er immer neue Kräfte schöpfte. Und nun öffnete er vorsichtig die Laden, zog die Vorhänge zurück und machte das Fenster auf. Die Sonne war schon richtig herauf, und es war das gute Recht der Spatzen, in dem alten Birnbaum ihren Morgenspektakel zu vollführen.

Mit einem tiefen Aufatmen legte sich Adalbert ins Fenster. Da waren unten im Garten zwei Wächter, die gegen die Mauer gelehnt dastanden und leise miteinander sprachen, indem sie dabei an Grashalmen sogen. Aus den Ställen kam das Brüllen der Kühe, und die Müllerin ging eben mit dem Milcheimer über den Hof. Hier lebten sie wie auf einer Insel, mitten im Tumult und dem Entsetzen der Todesangst, auf einem Felsen, den das Meer des Grauens nicht zu erreichen vermochte. Die Knechte und Mägde waren nicht zu halten gewesen, sie waren geflohen, trotz aller Warnungen des Müllers. Aber Enzberger und seine Frau besorgten selbst die Wirtschaft, sie nahmen die dreifache Arbeit auf sich, und Adalbert und Regina und die Rumänen halfen ihnen redlich dabei. Freilich auch mit allerbestem Bemühen konnte nur das Wichtigste vollbracht werden, nur das Unumgängliche – aber immerhin: man hatte sich nicht ergeben und aus der fortgesetzten Tätigkeit ein großes Vertrauen auf Rettung gewonnen ...

Diesen Dingen dachte Adalbert nach und der glücklichen Botschaft, die vor einigen Tagen auch zu ihnen gedrungen war. Und das alles schien ihm so in den sonnigen Morgen hineinzupassen, daß er leise vor sich hinzusummen begann.

»Guten Morgen«, sagte Regina hinter ihm und legte die Arme auf seine Schultern. Adalbert wandte sich um, und da stand sie vor ihm, im Hemd, mit bloßen Füßen, wie sie eben aus dem Bett gesprungen war. Er faßte sie um die Hüften, zog sie an sich und küßte sie innig und lang. Ihr schlanker Körper war kühl und hart wie Bronze.

Aber da sah sie die zwei Rumänen unten an der Mauer stehen. Sie entwand sich dem Geliebten: »Warte doch, wenn die hinaufschauen ...«

»Zieh dir schnell etwas an und komm zu mir ... der Morgen ist ganz wunderbar.«

»Ja – gleich ... aber nicht umdrehen! Hörst du ... wenn du dich umdrehst, dauert's noch einmal so lang.«

Lächelnd legte sich Adalbert wieder ins Fenster, recht behaglich, mit breiten Armen und hörte, wie hinter ihm Röcke raschelten und Schnüre gebunden wurden. Dann klappte ein Gummiband. »Au«, sagte Regina und ließ ein paar helle, kichernde Laute folgen. Und schon war sie bei ihm, ganz ehrbar in Röcken und Bluse und Strümpfen. Nur die Schuhe waren nicht zu finden gewesen. Die hatte ihr Adalbert gestern abend abgezogen und Gott weiß wohin verschleppt.

»Guten Morgen«, sagte sie noch einmal, als sie sich neben ihn lehnte. Und dabei sah sie ihn mit einem glücklichen Lächeln von der Seite an.

»War's schön heute nacht?« fragte er kühn und drängte seinen Arm ganz nahe an den ihren, indem er gleichzeitig ihre Hand ergriff.

»Aber geh ... frag' doch nicht so!« Sie wurde ganz rot und tat, als ob sie erzürnt wäre. Aber gleich machte sie es wieder gut. »Wie kannst du so fragen?« sagte sie ganz leise und zärtlich.

Enzberger rief etwas unten über den Hof seiner Frau zu, die eben in die Tür getreten war. Zwei der Rumänen kamen mit großen Strohbündeln beladen aus der Scheune und gingen in den Pferdestall.

»Weißt du,« sagte Regina nach einer Weile nachdenklich, »manchmal fällt es mir doch so ein bißchen schwer aufs Herz.«

»Was denn?«

»Na ... daß ... dieses ... daß es nun doch zwischen uns geschehen ist. Daß wir uns ...«

»Aber geh ... das darf dir keine bösen Gedanken machen.«

»Ja – es ist mir, als ob Eleagabal Kuperus ... er hat es doch von uns verlangt, daß wir uns nicht ... Und wir waren ihm ungehorsam. Wir haben ihm soviel zu verdanken und waren ihm doch ungehorsam. Und seitdem ist er auch nicht mehr in die Mühle gekommen. Ist dir das nicht aufgefallen? Als ob er es wüßte ...«

»Er hat mir das Versprechen zu einer Zeit abgenommen, wo noch kein Mensch etwas von den schrecklichen Dingen geahnt hat, die nachher eingetreten sind. Aber ... dann ist das gekommen ... Die Erde wird untergehen! haben wir das nicht alle fest geglaubt?«

»Wir haben es doch glauben müssen! Aber ich habe mich gar nicht gefürchtet, Adalbert, mit dir ... ich habe vielleicht gar nicht das richtige Gefühl dafür gehabt, weil ich dich so sehr liebe ...«

»Gefürchtet? Nein, ich habe mich auch gar nicht gefürchtet. Das kann ich nicht sagen. Aber eine Unruhe war doch in mir. Das hast du doch empfunden, nicht wahr? Wäre das nicht gekommen, so hätte ich mich bemüht, mein Versprechen zu halten. Aber nun – sollten wir auch da noch einander fern bleiben, wenn der Untergang bevorstand? Das war etwas Unvorhergesehenes, wie die ersten Nachrichten von draußen gekommen sind – Enzberger hat sich ja sehr bemüht, uns alles zu verheimlichen, aber schließlich war es doch nicht zu verbergen ... ja, wie das Gerücht auch uns erreicht hat, da war ich sehr niedergeschlagen. Und dann – dann ist jener Abend gekommen, an dem wir alle Bedenken abgeschüttelt haben. Weißt du noch? Es war doch so selbstverständlich, nicht wahr ... Das war über alle menschlichen Kräfte. Den Untergang vor Augen ... bedauerst du es?«

Regina schüttelte den Kopf, ohne Adalbert anzusehen. Ihre Finger spielten auf dem Fenstersims mit den Überresten des Futters, das sie den Vögeln hinzustreuen pflegte.

»Und von da an,« fuhr Adalbert fort, »von dieser Nacht an wußte ich, daß die Erde nicht untergehen könne. Es stand in mir geschrieben, eingegraben, eingeprägt: es kann nicht sein. Ich war davon überzeugt, daß diese Erde nicht zertrümmert werde. Es ist vielleicht ein Wunder ...«

»Es ist ein Wunder,« wiederholte Regina, »ein Wunder! Und dein Vertrauen ... sie alle haben begonnen, dir zu glauben ... sie alle haben zu dir aufgesehen. Und wenn sie nicht in Verwirrung und Raserei verfallen sind, wie alle andern, so hast du das bewirkt, du allein ...«

»Du hast mich lieb, Regina, und darum siehst du darin etwas Besonderes. Enzberger ist ein Mann, und ich glaube, daß er bis zum letzten Augenblick ausgehalten hätte, auch wenn er vom Untergang überzeugt gewesen wäre. Aber wenn ich diesen großen Glauben gewonnen habe ... wem ist im letzten Grund dafür zu danken? ... Dir ... und dem Wunder ...«

»Schau,« lenkte Regina ab, »da unten kommt Johanna.«

Die Alte kam eben auf den Hof, durch das kleine Tor, das ihr einer der Wächter auf ihr Klopfen geöffnet hatte. Sie schleppte sich ein paar Schritte und sank dann müde auf den Hackstock, der neben dem großen Holzstoß stand. Enzberger trat zu ihr und begann ein Gespräch.

»Er war wieder die ganze Nacht draußen«, sagte Adalbert, »und ist um Bezugs Haus geschlichen. Er belauert ihn ... ich möchte Johann nicht zu meinem Feind haben. Er ist unheimlich in seinem Haß. Vielleicht deshalb, weil er nicht an Bezug heran kann ...«

Regina sann eine Weile vor sich hin: »Nein ... es ist eigentlich zu komisch, nicht? Nun ist unsere alte Johanna gar kein Weib, sondern ein Mann. Und die ganzen Jahre habe ich immer daran geglaubt, daß er ein Weib ist. Aber der Vater hat es doch gewußt ... nicht wahr?«

»Ja – dein Vater hat es gewußt. Es muß etwas Fürchterliches in dem Leben dieses Mannes liegen. Ein schreckliches Erlebnis.«

»Ich kann mich noch gar nicht daran gewöhnen, ihm Johann zu sagen und von ihm zu sprechen, als von einem ›Er‹. Und als er damals davon begann ... es war mir, als ob er ein Testament machen wollte vor dem Untergang. Ich konnte es zuerst gar nicht fassen! Jetzt freilich, wo ich eigentlich erst recht weiß, worin –« sie brach ab und wurde wieder sehr rot. Dann schlug sie eine andere Richtung ein: »Ich glaube immer, wenn dieses Gerücht nicht gekommen wäre ... er hätte uns bis ans Ende seiner Tage dabei gelassen ... daß er die alte Johanna ist.«

Adalbert richtete sich auf: »In drei Tagen ...«, sagte er.

»In drei Tagen? Was ist in drei Tagen?«

»Hast du es vergessen? Weiß Gott, sie denkt nicht einmal dran. Oder eigentlich schon übermorgen ... Wahrhaftig, übermorgen ... also: ich weiß es ja selbst nicht ganz genau ... für übermorgen ist doch der Weltuntergang angesagt ...«

»Ach so ... ja, daran habe ich nicht gedacht.«

»Der Tag wird kommen,« sagte Adalbert und streckte die Hand mit übertriebener Heimlichkeit aus, »der Tag wird kommen. Und dann wird noch ein Tag kommen. Und noch ein Tag ... und noch viele Tage ... unzählige Tage ... und Nächte!« fügte er leise hinzu und zog Regina vom Fenster zurück, um sie zu küssen.

Sie sagte nichts, schmiegte sich an ihn und zitterte ein wenig.

»Aber man sollte nicht darüber scherzen,« fuhr er ernsthaft fort, »man sollte nicht scherzen. Denn draußen sind Millionen von Unglücklichen, die noch nicht an ihre Rettung glauben können ... sie toben in ihrer Verzweiflung gegen sich und die Welt ... das ist eine traurige Geschichte.«

»Du glaubst, daß sie sich noch immer nicht beruhigt haben?«

»Ich habe einen Sturm auf dem Meer mitgemacht. Wenn das Wasser einmal recht in Bewegung ist, dann beruhigen sich die Wellen auch nicht sofort in dem Augenblick, in dem der Wind aufhört. Sie müssen ihre Kraft erst ausschwingen ... die armen Teufel, die so um ihr Leben fürchten, können nicht begreifen, daß sie nichts mehr zu befürchten haben.«

Eine halbe Stunde später gingen sie nebeneinander durch den Garten. Und da begann Adalbert von Kuperus zu sprechen. Er konnte es doch nicht glauben, daß der Alte in eine andere Stadt gezogen sein könnte, also geflohen sozusagen. Das sah dem Wesen Eleagabals so gar nicht ähnlich. Aber immerhin blieb es doch höchst seltsam, daß der Alte dem Taumel der Menge nirgends und niemals entgegengetreten war.

Der eine der Rumänen, der sich die deutsche Sprache einigermaßen angeeignet hatte, vermittelte den Verkehr zwischen der Mühle und der Stadt. Er war auch heute nacht fort gewesen und brachte nun Nachricht heim. Da waren vor allem einige Flugblätter, die neue Beobachtungen der Astronomen aller Weltteile meldeten, Bestätigungen der guten Botschaften. Der Terror wandte sich ganz deutlich von der Erde ab, und es war unzweifelhaft, daß diese gerettet sei. Man hätte die Beobachtung schon weit früher machen müssen, wenn nicht der bewölkte Himmel eine Zeitlang alle astronomische Arbeit unmöglich gemacht hätte. Und es war ganz heiter anzusehen, wie – kaum daß man die Angst vor der Vernichtung abwerfen durfte – schon unter den Gelehrten ein Streit um die Priorität der Entdeckung ausgebrochen war. Aus den bestimmten Versicherungen der Astronomen hatten die staatlichen Organe neuen Mut gewonnen und machten Versuche, die Ordnung wiederherzustellen. Sie hatten sich an alle besonnenen Elemente um Beistand gewandt und einen Aufruf zur Bildung von Bürgergarden erlassen. Aber noch immer wagte das Volk nicht an die Rettung zu glauben und setzte seine blinden Rasereien fort. Noch immer zogen die bewaffneten Horden durch die Straßen, plündernd und mordend, von den aus Abgründen hervorgebrochenen Gelüsten beherrscht, während ihnen die neuen Kämpfer für den Bestand der Gesellschaft nur zaghaft und nicht mit genügender Macht entgegentraten. Der Taumel hatte sich sogar noch ausgebreitet, auch auf dem Land begann man mit Raub und Brandstiftung. Die Bauern, die in der Stadt keinen Trost gefunden hatten und unter der allgemeinen Not am meisten litten, kehrten jetzt in ihre Dörfer zurück, vom Wahnsinn des städtischen Pöbels angesteckt, halb verhungert und aller Zuversicht beraubt.

Der Bericht Marconianus und gewisse seltsame Äußerungen Johanns gaben Adalbert den ganzen Tag keine Ruhe. Er tat die Arbeit, die ihm Enzberger in Hof und Garten zuteilte, aber dabei ließen seine Gedanken nicht ab, alledem nachzuhängen, was er gehört hatte. Da rafften sie sich endlich in der Stadt auf, sammelten sich und versuchten, die Massen zur Vernunft zu bringen. Alle Besonnenen waren zum Beistand aufgerufen, und er sollte auch jetzt nicht daran teilnehmen? Es war ihm unmöglich, untätig zu bleiben. Er fühlte den Ruf auch an sich gerichtet. Und noch ein anderes kam dazu. Wenn Johann damit recht hatte, daß Bezug irgendwie an der Erregung dieser schrecklichen Krankheit der ganzen Menschheit seinen Anteil hatte? Daß er ihr das Gift auf teuflische Weise eingeimpft oder die Keime zur Entfaltung gebracht hatte? War es dann nicht um so mehr seine Pflicht, sich an der Wiederherstellung der Ordnung zu beteiligen? Gerade weil er selbst zu denen gehört hatte, denen Bezug einmal ein unerbittlicher Herr gewesen war, und weil er diese Schmach noch immer auf sich fühlte?

In der Dämmerung suchte er Johann in seiner Kammer auf. Der Alte lag angekleidet auf dem Bett und fuhr aus seinem leichten Schlaf auf, als Adalbert eintrat. Zwischen zwei Nächten, die er dazu verwendete, um Bezugs Villa zu umlauern, genügten ihm ein paar Stunden eines stets des Erweckens gewärtigen Schlummers. Während Johann auf dem Bettrand blieb, zog Adalbert einen Stuhl heran und setzte sich dem Alten gegenüber. Dann begann er, indem er seine Hand vertraulich auf das Knie Johanns legte: »Du hast vorhin ein Wort gesagt, das mir im Kopf herumgeht. Ich möchte dich fragen ... warum glaubst du eigentlich, daß Bezug in dem allen seine Hand hat ...?«

Und als der Alte schwieg, fuhr Adalbert fort: »Ich glaube, du kennst mich jetzt schon lange genug ... du kannst jetzt schon wissen, daß man mir vertrauen darf.«

Da räusperte sich der Alte gewaltig und klopfte die Pfeife, die er vor dem Einschlafen ausgeraucht hatte, an seinem Holzbein aus: »Ich weiß es eigentlich nicht ... ich kann es dir nicht sagen. Aber sieht es ihm nicht ähnlich? Ist es nicht ganz aus seinem Wesen: alles in Angst und Schrecken zu versetzen ... alles durcheinander zu hetzen, bis die Menschen zu Bestien werden? ... wer kann es sonst gewesen sein, der ihre Furcht so schrecklich aufgewühlt hat? Wenn ich in der Nacht um seine Villa gehe, da wird es mir so gewiß, wie die Hoffnung, daß ich mich rächen werde. Ich brauche keine Beweise. Übrigens – ich habe gesehen, daß er bisweilen nachts seine Villa verläßt und in die Stadt fährt. Was macht er dort, wenn er nicht deshalb hinfährt? ... es macht ihm Vergnügen zu sehen, wie sie in dem Abgrund, in den er sie gestürzt hat, miteinander ringen.«

»Und warum lauerst du immer nachts vor seinem Haus?«

»Warum? Weil ich mich an ihm rächen will. Ich weiß, daß es mir gelingen wird. So gut er auch bewacht ist ... er hat eine Menge Leute rings um das Haus gestellt ... und er geht keinen Schritt ohne zwei Begleiter, die wie große, bissige Hunde sind. Aber ich werde ihn mir fangen ... trotz seiner Begleiter und Wachen ... er wird mir nicht entgehen ... nicht entgehen ...«

Johann war aufgestanden und zum Fenster getreten, indem er Adalbert den Rücken wandte. Und der wußte jetzt, daß es vergebens sein würde, ihn noch weiter zum Sprechen bringen zu wollen.

Die ganze Nacht wälzte Adalbert Pläne in seinem Hirn, während Regina ruhig neben ihm atmete. Dieses regelmäßig leichte Geräusch, das an ein dunkles Ufer herankam, und dem er sich sonst mit Rührung und Entzücken hingab, hatte in dieser Nacht gar keine Macht über ihn. Er hörte es nicht einmal. Immer drängender empfand er es als seine Pflicht, sich zum Kampf gegen die Feinde der Ordnung einzufinden und sich vor sich selbst zu rechtfertigen. Und als die Spatzen zu lärmen begannen, war er zu einem Entschluß gekommen. Jetzt war die Entscheidung da, heute und morgen mußten alle Kräfte eingesetzt werden. Es war ihm unmöglich, sich länger hier verborgen zu halten. Wenn er an Regina dachte und an die Angst, die sie um seinetwillen ausstehen würde, dann wollte ein Zagen über ihn kommen. Aber es mußte eben ertragen werden, und er war gewiß, daß alles gut ausgehen würde.

Vorsichtig stand er auf, öffnete den Fensterladen nur ein wenig und schrieb ein paar herzliche und scherzhafte Abschiedsworte auf ein Blatt Papier. Dann kleidete er sich an und schlich auf den Hof hinunter. Er hatte ganz seine Wächter vergessen und erschrak fast, als er Marconianu an das Tor gelehnt fand.

»Ich will auf ein paar Stunden in die Stadt,« sagte er, »mir selbst ansehen, wie es zugeht.«

Marconianu stieß zwischen den Zähnen ein eigentümliches Zischen hervor, auf das sogleich zwei der Rumänen aus ihren Winkeln kamen. »Wir begleiten Sie, Herr«, sagte Marconianu.

Adalbert versuchte abzuwehren: »Es ist nicht nötig. Gebt euch keine Mühe! Ich bin in ein paar Stunden wieder zurück.«

»Nein, Herr, es ist unser Schwur, über Sie zu wachen, Herr! Wie können wir Sie denn allein lassen? Das darf nicht sein.«

»Es ist mir lieber, wenn ihr bleibt. Ich lasse euch als Wache für Regina zurück, versprecht mir, gut über sie zu wachen.«

Aber die Rumänen ließen sich von ihrem Amt nicht abbringen, und Marconianu bestand darauf, mit Adalbert in die Stadt zu gehen. Inzwischen waren auch die beiden anderen Wächter aus der Schlafkammer gekommen, und um die Leute in der Mühle nicht aufzuwecken, mußte es Adalbert geschehen lassen, daß ihm alle fünf folgten.

Er ging mit Marconianu voran und ließ sich noch eingehender über alles berichten, was dieser in der Stadt gesehen hatte.

In der Nacht hatte es geregnet, und ein leichter Nebel schwamm über der großen Wiesenfläche der Mulde. Die Weiden längs des Flusses standen mit dicken nassen Köpfen da, und wo der Nebel von einer Strömung ergriffen und umhergewirbelt wurde, kam in dem Trichterloch ein Stück der dunkelgrünen Grasfläche zum Vorschein. Die Sträucher am Weg hingen voll grauer Tropfen, die wie erloschene, stumpf gewordene Perlen waren. Und der Himmel ließ wenig Hoffnung auf Besserung des Wetters zu. Er war von einer öden, fast gleichförmigen, trüben Verschwommenheit, in der einzelne dunkler gefärbte Stellen trieben. Die Dinge, an denen Adalbert vorbeikam, schienen zu atmen, und jedes von ihnen hatte seine eigene Dunsthülle um sich.

Die Straße war vollkommen menschenleer und auch das Dorf, durch das sie jetzt kamen, schien ganz verödet. Ein paar Häuser waren niedergebrannt, und der Rauch der Trümmer mischte sich mit dem Nebel und gab ihm einen scharfen, ätzenden Geruch und Geschmack. Zwischen den verkohlten Balken und den zusammengebrochenen Mauern lagen zwei Tote. Auf einen der spitzen Zaunpfähle des Gartens hatte man eine Gans gespießt. Sie ließ den Kopf hängen, und die Flügel waren weit ausgebreitet, als hätte sie zu fliegen versucht, um sich zu befreien. Die dem Feuer zugekehrt gewesene Hinterseite war versengt und halb gebraten.

Das waren böse Vorzeichen dessen, was Adalbert in der Stadt erwartete. Aber wenn es so zuging, dann war es um so notwendiger, sich gegen die Zerstörer zu wenden.

Als sie an das Ende des Dorfes kamen, hörten sie vor sich im Nebel das Rollen eines Wagens. Und in diesem Augenblick kam eine furchtbare Aufregung über Adalbert, die Ahnung einer Begegnung. Und ehe er sich zur Besonnenheit zurückzuführen vermocht hatte, war der Wagen schon heran. Es war ein elegantes, leichtes, mit einem Pferd bespanntes Gefährt ... und seine Lenkerin war Elisabeth. Sie trug ein schwarzes Seidenkleid und eine kurze Jacke, und die Zügel lagen straff in ihren mit gelben Handschuhen bekleideten Händen.

Zwei Schritte vor Adalbert stand der Wagen still und Elisabeth beugte sich vor, um ihm ins Gesicht zu sehen. Er fühlte sich wie in einem Wirbel von hochgespannten elektrischen Strömen. Es waren Bezugs Augen, die er auf sich gerichtet sah, und er wußte, daß er sich zur Wehr zu setzen habe, wie gegen Bezug selbst.

»Wir haben uns lange nicht gesehen, Adalbert«, sagte Elisabeth.

Jetzt sah er auch ihr blasses, müdes, verfallenes Gesicht ... und um zwischen sich und ihr eine Schranke aufzurichten, trat er einen Schritt zurück und zog förmlich den Hut ab.

Sie lachte: »Es ist nicht nötig ... ich weiß schon. Man hat ein kleines Weibchen zu Haus. Ich wünsche einen fröhlichen Ehestand!« Dann sah sie die Rumänen an, die neben Adalbert getreten waren. »Und eine ganze Leibgarde hast du auch. Die kleine Frau ist wohl besorgt? Ja ... so kostbare Güter müssen wohl behütet werden ... Addio, Liebster! Und grüß' mir die kleine Frau.« Und lachend riß sie an den Zügeln. In gutem Trab rollte der Wagen an Adalbert vorbei, in den Nebel hinein.

Er setzte seinen Weg fort, und es war ihm, als habe er eine Vision gehabt. Seine Vergangenheit war wieder lebendig geworden, und so sehr er auch durch Reginas Liebe gefestigt war, diese Erscheinung hatte wieder Unruhe über ihn gebracht. Aber es war nicht die Unruhe eines Wunsches, sondern die Unruhe der Reue, als ob er jene verderbliche Leidenschaft noch nicht gesühnt hätte, und als ob sein neues Glück unverdient und darum von Gefahren umstellt sei. Erst als sie in die Vorstadt kamen, wichen diese lähmenden Gefühle vor den Schrecken der Verwüstung, die er zu sehen bekam. Er wollte vor allem Eleagabal Kuperus aufsuchen und schlug den Weg zum Domberg ein. Sie mußten einige Male aufgeregten Horden von Plünderern ausweichen, und da Adalbert unnötige Kämpfe vermeiden wollte, durch Seitengassen vordringen. Von den Bemühungen der Staatsgewalt zur Wiederherstellung der Ordnung war bis jetzt noch wenig zu sehen. Nur auf dem Domberg fanden sie etwa zwanzig Mann einer in der Eile aufgestellten Polizeitruppe, die das Palais des Bischofs hinter dem Chor des Domes zu beschützen hatte.

Eleagabals Haus zeigte noch alle Spuren des Sturmes. Die großen Wunden in dem faltigen Gesicht, die zerschlagenen Fenster, die zerspaltene und geschändete Tür. Von dem Nachtregen waren die Fresken der Wand hervorgerufen worden. Und als Adalbert vor dem Haus stand, fand er die Ähnlichkeit der beiden Frauen in dem Urteil Salomos mit Elisabeth und Regina noch deutlicher als jemals. Er wußte nicht, ob er inzwischen seinen damaligen Eindruck so sehr verarbeitet hatte oder ob mit den Bildern eine Veränderung vorgegangen war, ein leiser Verfall, eine Zermürbung der Linien und Farben, so daß sie noch mehr in jene Ähnlichkeit hineingewachsen waren. Es war ihm fast schmerzlich, daß die gute Mutter auf dem Bild, die Reginas Züge hatte, von einem Stein getroffen worden war, mitten auf die Brust, so daß die Ziegel unter dem Bewurf wie blutiges Fleisch hervorsahen.

Zaghaft wie vor einer großen Entscheidung berührte Adalbert die Klingel an Eleagabals Tür. Nun sollte er erfahren, ob der Alte die Stadt verlassen hatte oder, wenn er geblieben war, ob er von dem Bruch des Versprechens wußte, kraft jenes eigentümlichen Scharfblickes, der Kuperus auch das Verhüllte zu offenbaren schien.

Die Tür öffnete sich ... Eleagabal war also da ...; Adalbert bedeutete den Begleitern, ihn zu erwarten, und trat ein. Als er von dem wolfsgesichtigen Diener erkannt worden war, ging er durch die bekannten Korridore und Räume. Es fiel Adalbert auf, daß sie ganz kahl und schmucklos waren, aber als er sich mit einer Frage an den Diener wandte, schüttelte dieser nur stumm den Kopf.

Eleagabal Kuperus kam Adalbert entgegen, faßte seine beiden Hände und drückte sie. Seine Augen waren so gut und freundlich, und sein groteskes Lächeln zeigte an, daß er entweder von der Übertretung seines Gebotes nichts wußte oder doch nicht böse war.

»Endlich, endlich findet einer den Weg zu mir!« sagte er.

»Wir haben von Tag zu Tag gewartet, Vater, wir konnten nicht denken, daß du uns ganz vergessen haben solltest. Warum bist du nicht gekommen? Eine Zeitlang waren wir sehr in Sorgen um dich ...«

»Ihr hättet ruhig sein dürfen. Das hätte mir nur Spaß gemacht, wenn mir die Menschen nicht leid getan hätten.«

»Wir kennen dich und deine Macht, und es gelang uns schließlich auch allen, wieder ruhig zu werden.«

»Und hat euch der Untergang der Erde keine schlaflosen Nächte gemacht?«

»Ich muß sagen, das hat uns ein wenig an den Nerven gekitzelt. Und manchmal war wohl so ein bißchen Fieber dabei. Aber – wir haben uns schließlich alle zu der Zuversicht erhoben, daß es unmöglich sei, daß dies geschehen könne ... und: wir haben recht behalten.«

Eleagabal strich den Patriarchenbart und kratzte sich dann ganz würdelos hinterm Ohr: »Ja – ihr seid also unzufrieden mit mir, ihr draußen in Enzbergers Mühle. Das ist ein Vorwurf für mich ...«

Da wurde Adalbert ganz verlegen und versuchte, sich wieder zurecht zu rücken: »Nein – was denn? – das fällt uns ja nicht ein! Gar nicht ... wie werden wir Eleagabal einen Vorwurf machen wollen ...«

»Laß nur. Es wäre ja eigentlich die Sache des alten Kuperus gewesen, etwas dagegen zu tun ... wenn ich auch sonst nur eingreifen darf, sobald ich darum angegangen werde. Ich hätte es eben drangesetzt – was ich noch dranzusetzen habe. Aber ...«, und nun wurde die Miene des Alten tiefernst, die Runzeln des Gesichtes schienen sich nach einem geheimen Gesetz zu ordnen, so daß er mit einmal doppelt so alt aussah als sonst ... »ich bin inzwischen zu einer Erkenntnis gekommen. Und soweit ich sie in Worte fassen kann, will ich sie dir mitteilen. Ja, es ist eine böse Krankheit über die Welt gekommen. Aber es ist eine Krankheit, die auf lange hinaus alle üblen Säfte aufzehrt, die alle Abfallstoffe im Körper der Menschheit in Fiebergluten verbrennt und den Organismus reinigt und befreit. Und bei einer solchen Krankheit ist es die Sache des verständigen Arztes, ruhig abzuwarten, ob der Patient kräftig genug ist, die Krisis zu überstehen. Hat er sie einmal überstanden, so wird er besser und stärker dastehen, als je zuvor. Man muß solchen Prozessen den Weg freimachen. Sie wirken, wie alles Böse in dieser Welt, schließlich zum Guten. Und so ist es vielleicht die höchste Weisheit des Weisen, dem Schlimmen nicht entgegenzutreten und es in seinen Retorten unter Schäumen und Zischen endlich zur Klärung gelangen zu sehen. Wer kann wissen, ob die aufgespeicherten Giftstoffe nicht in einer anderen Weise in dem Blutumlauf der Menschheit einmal wirklich zersetzend und zerstörend gewirkt hätten.«

Adalberts Kriegslust war gedämpft: »So rätst du mir also umzukehren? Soll ich untätig bleiben? Ich bin gekommen, um mich unter die Kämpfer für die Ordnung zu stellen. Ich habe es für meine Pflicht gehalten, in die Bürgergarden, oder wie sie sonst heißen mögen, einzutreten ...«

»Nein, so meine ich es nicht,« sagte Eleagabal, und sein Lächeln war wieder da, »du sollst an dem großen chemischen Prozeß teilnehmen. Als Ferment, als chemische Kraft in den Retorten. Du hast das rechte Gefühl gehabt. Und ein feines Ohr für deine Pflicht. Es gibt Augenblicke, in denen wir aus uns heraustreten müssen, in denen wir nicht hinten bleiben dürfen. Selbst wenn wir uns eigentlich sagen könnten, daß es auf uns nicht ankommt. Geh nur – aber komm uns gesund zurück.« –

Adalbert fragte bei dem Führer der Wachmannschaft vor dem bischöflichen Palais an, wo er sich mit seinen Begleitern als Freiwilliger zu melden habe, und wurde in das Rathaus gewiesen. Dort ging es etwas kopflos und bunt durcheinander. Es war eine Menge von Leuten da, die Befehle erteilten, und nur wenige, die es über sich brachten, sie auszuführen. Jeder war von ehrgeizigen Plänen besessen, von dem Wunsch, sich auszuzeichnen, Beachtung zu finden und später vielleicht für besondere Verdienste belohnt zu werden. Man hat alle Uniformstücke hervorgeholt, die in den Magazinen als Reserve aufbewahrt wurden, und sie in großen Stößen auf dem Hof aufgestapelt und stritt nun darüber, wie eine Art von gleichmäßiger Bekleidung für die Bürgergarden herzustellen sei und welche Abzeichen man ihnen am besten geben könne. Die Militärbehörden hielten seit dem frühen Morgen mit den Häuptern der Stadt Beratungen über die Abgrenzung der Wirkungskreise der Zivil- und Militärverwaltung ab. Bisweilen kam eine Abteilung Soldaten, winzige Reste der Garnison, in das Rathaus marschiert, um sich Verhaltungsmaßregeln zu holen, denn die telephonische Verbindung zwischen den Amtsgebäuden der Stadt und den Kasernen war vom Pöbel zerstört worden. Einzelne Führer von besonderer Tatkraft hatten kleine Truppen von Freiwilligen um sich zu versammeln gewußt und zogen, wenn sie mühsam ein wenig Ordnung in die Reihen gebracht und die Bewaffnung durchgeführt hatten, nach den bedrohtesten Punkten ab.

Adalbert und seine fünf Rumänen schlossen sich einem solchen Häuflein an und halfen das Postgebäude besetzen und gegen den Pöbel verteidigen. Das Haus war am Tag vorher gestürmt und zum Teil zerstört worden, und eine Anzahl von Mechanikern war dabei, so rasch als möglich die Apparate wieder instand zu setzen. Man war seit vierundzwanzig Stunden von der Außenwelt abgeschnitten, empfing keine Telegramme mehr und konnte keine abgehen lassen, da auch das Bahnpostamt zerstört worden war. Mit Bewunderung erfüllte Adalbert der Mut der braven Telephonistinnen und Telegraphistinnen, die sich zum größten Teil wieder zum Dienst eingefunden hatten, sobald sie hörten, daß das Direktionsgebäude wieder in den Händen der Ordnungspartei sei. Sie konnten freilich vorläufig noch keinen Dienst machen und mußten sich darauf beschränken, zuzusehen wie die Angriffe des Pöbels abgewiesen wurden. Adalbert hatte ein Jagdgewehr und einen Revolver als Waffen erhalten und verteidigte mit seinen Rumänen eines der Fenster des großen, zu ebener Erde gelegenen Packraumes.

Bis Mittag hatte man die Stürmenden dreimal zurückgeschlagen. Sie kamen mit wildem Geschrei angelaufen, ohne sich nach Deckung umzusehen, fanatisiert durch die Todesangst und den Haß gegen die Männer, die sich ihnen entgegenzustellen wagten. Und sie fielen haufenweise in den engen Straßen in die Pfützen, die sich nach einem neuerlichen heftigen Regenguß gebildet hatten.

Im Laufe des Nachmittags waren die Verteidiger auf etwa tausend Mann angewachsen, und der Kommandant, ein pensionierter Major mit einer etwas brüchig gewordenen Löwenstimme, konnte etwa die Hälfte seiner Mannschaft abgeben, die gemeinsam mit verschiedenen anderen Abteilungen zur Eroberung des Bahnhofes vorgehen sollte. Der Bahnhof befand sich noch immer in den Händen der Brüder des roten Todes und war von ihnen zu einer starken Festung umgewandelt worden. Nach dem Tod des Nikolaus Zenzinger hatte der Dreifaltigkeitsschuster die Führung des Bundes übernommen und hatte eine noch blutigere und grausigere Herrschaft auszuüben begonnen.

Der Kampf um das Bahnhofsgebäude war heftig und lange unentschieden. Erst gegen Abend gelang es in den Frachtenbahnhof einzudringen und eines der wenigen Geschütze, die von den Artilleristen bei ihrer Desertion nicht unbrauchbar gemacht worden waren, günstig aufzustellen. Mit Einbruch der Dämmerung war die Stellung in den Händen der Ordnungspartei. Über achthundert Tote und Verwundete aus den Reihen der Brüder lagen auf den Schienen, in den Wartesälen und den Restaurationen des weitläufigen Baues. Es war zum Schluß mit furchtbarer Erbitterung gekämpft worden, in den rücksichtsvollsten Seelen war ein geiler Blutdurst erwacht. Und die sanftmütigsten Vertreter bewährter Humanitätsideale, Professoren, Lehrer, Beamte, zeigten im Siegesjubel nicht übel Lust, den verwundeten Feinden einfach die Hälse abzuschneiden.

An Adalberts Seite waren zwei seiner Begleiter gefallen. Die anderen drei hatten leichte Wunden, nur er selbst war unverletzt geblieben und verbrachte die Nacht auf einer Bank im Wartesaal dritter Klasse, den Kopf auf dem zusammengerollten Mantel eines gefallenen Lokomotivführers. –

Nach der Begegnung mit Adalbert war Elisabeth weitergefahren, zuerst in schnellem Trab, dann, als sie genügend weit entfernt zu sein glaubte, in langsamem Tempo.

Sie versuchte sich zu sammeln; nach diesem wirbelnden und sprühenden Ausbruch einer Leidenschaft, der sie sich noch immer nicht entwunden hatte.

Müde hatte sie die Heimkehr nach der Villa angetreten. Eine Nacht voll entsetzlicher Wollüste lag hinter ihr. Der Klub der babylonischen Jungfrauen hatte ein Fest gefeiert. Er war in diesen Tagen des Schreckens so angewachsen, daß sich die Gruppe in der Stadt selbständig gemacht und von der Hauptstadt losgetrennt hatte. Und die Intensität der Lüste war so grauenhaft geworden, daß sie mit der Grausamkeit zu einer lodernden Flamme verschmolzen war. Die Gräfin, der die Leitung der Orgien zustand, hatte eine Steigerung zu ersinnen gewußt, die alle bisherigen Künste hinter sich ließ. Man hatte das große Heiligtum aus dem Dom gestohlen, das Grabtuch Christi, und es hatte dazu dienen müssen, die Ruchlosigkeit der Opfer für Astaroth durch die besondere Wollust der Gotteslästerung zu erhöhen. Man hatte das Tuch auf den Boden gebreitet und sich darauf gewälzt, in den Verzückungen des Dienstes der babylonischen Göttin, nackt, in den schamlosesten Verschlingungen, unter wüstem Gekreisch und atemlosen Krämpfen. Man hatte sich darein gehüllt, um widrige Enthüllungen vorzubereiten. Man hatte es sich zugeworfen und zu Tänzen verwendet, die sich im Bannkreis der widrigsten Symbole bewegten.

Die Gräfin war allen andern darin voran gewesen. Sie war unerschöpflich in Einfällen, die auf die Schändung des Heiligtums und auf den Triumph des Fleisches abzielten. Und sie hatte eigenmächtig etwas getan, was bisher noch niemals geschehen war, sie hatte die Dirnen der Stadt zu dem Feste zugezogen. Und als ihr deshalb jemand Vorstellungen gemacht hatte, hatte sie mit einem Lachen geantwortet, daß im Dienste der Astaroth alle Frauen gleich seien. Und wenn es ihr Zweck gewesen war, in dieser Erniedrigung und Gleichstellung mit den verachtetsten Frauen die Gier und die Schamlosigkeit aller bis zum äußersten zu treiben, so war es ihr gelungen.

Die Männer, die diesem Fest zugezogen worden waren, hatten gegen Morgen die Marter der Lust nicht länger ertragen. Sie waren zusammengesunken, entkräftet, unfähig, dem Schlafe länger zu widerstehen. Einen hatte man tot hinausgetragen. Es war ein hübscher junger Bursche gewesen, ein herzkranker Mensch, der den Aufregungen dieser Nacht nicht gewachsen war.

Elisabeth hatte in der Morgendämmerung das Fest verlassen, nach einem ernstlichen Kampf mit der Gräfin, die sich das Recht angemaßt hatte, sie zurückhalten zu wollen. Mit wahnsinnigem Geschrei hatte sie sich in die Arme Elisabeths festgekrallt und behauptet, es sei niemandem gestattet, gegen ihren Willen zu gehen. Ihre Augen hatten gefunkelt, und ihr Atem war heiß und erstickend gewesen. Der Zwang der Masken war in dieser Nacht gefallen, man hatte sie einander abgerissen, um die Verzerrungen der Wollust auch in den Gesichtern der Dienerinnen Astaroths zu lesen. Und so hatte Elisabeth erkennen müssen, wie sie von der Gräfin gehaßt war.

Und nach dieser Nacht der Abscheulichkeiten hatte Elisabeth Adalbert begegnen müssen. Gerade jetzt war alles das noch einmal überwältigend vor sie getreten, was sie an Neuem und Entzückendem durch ihn kennengelernt hatte. Wer trug die Schuld an ihrem seelischen Zusammenbruch, dem der körperliche Verfall nicht mehr fern sein konnte, als er? Oder vielmehr: nicht er, sondern dieses Weib, dieses armselige Geschöpf, das ihn an sich gezogen hatte. Es war eine Art von Liebeszauber dabei wirksam, es konnte nicht anders sein. Denn keiner der Männer, die je nach ihrem Besitz gestrebt hatten, war wieder aus ihrem Bann gekommen. Hecht? Er hatte sein Wort gehalten und sich getötet. Und wer sie einmal besessen hatte wie Hainx, der war für alle Zeit an sie verloren. – Sie wirkte wie ein Naturgesetz, unerbittlich, ohne daß es eine Gegenwehr gab. Es war nicht anders möglich, als daß hier eine Art von Zauber gegen sie angerufen worden war, ein mächtigerer Zauberer als alle Geheimmittel, über welche die alte Thumas verfügte.

Und wie, wenn Regina aus der Welt geschafft würde, wenn sie nicht mehr war – würde dann nicht Adalbert ihr wieder zufallen, wie man einer Naturkraft folgen muß, wenn die Hemmungen ihrer Wirkung beseitigt sind? Sie fühlte, daß dieser Gedanke schon lang in dämmernden Tiefen in ihr gewesen war, aber jetzt, als er so unverhüllt vor ihr stand, durchfuhr es sie mit einem starken Strahl. Sie hielt ihr Pferd an und schaute um sich.

Durch den lichter werdenden Nebel sah sie das Wirtshaus zum »General Laudon« und auf der anderen Seite der Straße die burgartige Mühle Enzbergers. Langsam fuhr sie weiter, und während sie an den hohen Mauern mit den Schießscharten vorbeikam, begann sie ihren Plan auszubauen, der ihr Adalbert wiedergeben sollte.

Er war in die Stadt gegangen, mit den fünf Leuten, die immer um ihn waren. Regina war nun mit den Müllersleuten in der Mühle allein. Es kam darauf an, sie herauszulocken und in ihre Gewalt zu bringen. Wie konnte das sicherer geschehen, als indem Elisabeth die Angst um den Geliebten wirksam werden ließ? Mußte Regina nicht in Angst um Adalbert sein, der sich in die Gefahr begeben hatte, in diesen Kessel voll Verwirrung und Grauen? Es galt Regina eine Nachricht zukommen zu lassen, die ihre Furcht ganz groß und wild werden ließ und sie dazu brachte, den Schutz der Mühle zu verlassen.

In diesem Augenblick entsann sie sich der geschickten Boten des Klubs der babylonischen Jungfrauen, die in der Bestellung geheimer Nachrichten das Unmögliche zu leisten imstande schienen. Und es stand sogleich in ihr fest, daß sie sich ihrer bedienen müsse ... dies war der Weg ...

Dies war der Weg ...

Sie wandte ihr Pferd und fuhr zur Stadt zurück, die mit verworrenem Getöse von Schüssen und wildem Geschrei kochend im Nebel lag.

Als sie an den Festungsmauern von Enzbergers Mühle vorüberkam, sah sie nach den Blumentöpfen an den Fenstern hinauf und lächelte mit einem grausamen und harten Mund.


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