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Nellas Tagebuch

Wenn ich jetzt zurückdenke ... was war es, das mich in die Hand dieses Menschen gegeben hat? Ehrgeiz? Ich hatte ihn nicht, bevor er mir nicht eingeredet hat, daß ich ihn habe. Der Wunsch, meinen Bruder zu finden? Wie soll ich ihn suchen, wenn ich an einen Ort gebunden bin? Und dann, ob ich ihn überhaupt erkennen würde? Wie viele Jahre sind das her, seit ich den Wald verlassen habe! Ob er sich nicht so sehr verändert hat wie ich. Ich weiß, er würde mich nicht wiedererkennen. Die schwere Krankheit damals. Alle Entbehrungen unseres Wanderlebens! Dann das Furchtbare, dem ich durch meine Flucht entgehen wollte und das mir doch nicht erspart blieb. Aber es war doch wenigstens nicht der eigene Vater. Wie soll man einem solchen Menschen entgehen, sobald er es sich erst nur ernstlich vorgenommen hat, seinen Willen durchzusetzen. Wie es war? Es ist keine Schuld von meiner Seite dabei. Es ist ein Unglück. Ich war ahnungslos und folgte seinem Befehl, denn er hatte mir zu befehlen als mein Direktor. Und wie gut alles vorbereitet war. Die ganze Bande fort und nur seine zwei Leib-Banditen im Wagen versteckt. Und ich ... kaum, daß ich den Wagen betreten hatte, überfallen, auf den Rücken geworfen, gebunden ... Ich will nicht sagen, auf welche scheußliche, bestialische, ihm so bequeme Art gebunden. Und wehrlos ... wehrlos ihm ausgeliefert.

Ich glaube, es muß schön sein, lieben zu dürfen. Zu können. Ich meine nicht den Seeleneinklang, der scheint mir ganz unirdisch, ganz außerhalb alles Erreichbaren. Wenigstens für unsereinen. Aber selbst die irdische Liebe, das Körperliche. Es muß wunderbar sein, sich einem Mann hinzugeben, freiwillig, wie im Rausche oder auch in freudiger Besonnenheit. Der Gedanke: jetzt will ich erleben, was wohl doch von allen Dingen auf der Welt für uns das höchste ist.

Aber dazu gezwungen zu werden! Bei klarem Bewußtsein: mein Körper wehrt sich gegen dich. Du bist mir widerwärtig. Und wehrlos liegen zu müssen, während er ... ich bin geschändet! Wir Frauen werden früher reif.

Als mein Bruder noch nichts von diesen Dingen ahnte, war ich schon durch meinen Instinkt und durch die Beobachtung der Bauern in den Dörfern belehrt. Ich habe ganz ruhig daran gedacht, auch einmal selbst an einem Sommerabend ... ach, warum soll ich hier nicht aufrichtig gegen mich sein? Ich habe es gewünscht. Es war Neugierde und Verlangen. Es war ganz selbstverständlich. Eine Frau, die nicht so empfindet, ist wohl nicht ganz wahrhaft. Aber man hat mich um meine Ruhe und meine freudige Erwartung gebracht. Zuerst der Vater! der Greis! Wie seine Hände gezittert haben, wenn er über meine Schultern und Arme strich. Es war widerlich ... abscheulich!

Und dann das andere. Dieses Gräßliche. Er stand vor mir und lachte. »Jetzt hab' ich dich doch, Nellachen. Bist noch ein halbes Kind aber so ist's mir gerade recht.« Ich hab' ihn angespien. »Macht nichts«, hat er gesagt, ein rotkariertes, von Schmutz zusammengeklebtes Taschentuch hat es abgewischt. Und dann ... wie er sich mit allem Behagen vor mir ausgezogen hat. Und die zwei Banditen an der Tür ... grinsend vor Vergnügen. Und wie die Kerle draußen waren, ist es geschehen.

Jetzt sitzt der Ekel in mir. Sie haben mich um die Liebe gebracht. Ich weiß nicht, ob ich noch jemals zu jenem Glück gelangen werde, das zuerst in meinen Vorstellungen war. Oder vielmehr, ich weiß, daß es damit vorbei ist. Wie man für alle Zukunft eines Gedankens satt werden kann, der uns aufgezwungen wurde, so ist es mir ergangen. Mein Körper kommt mir wie vergiftet vor. Jede Berührung macht mir Übligkeiten. Die schöne Gesundheit alles Geschlechtlichen ist mir fremd geworden.

*

Ich weiß, daß Bezug mit mir unzufrieden ist.

Niemals war ich im Zweifel darüber, was er von mir will, von Anfang an nicht. Oder ... oder ... ich will doch lieber vorsichtig sein, vielleicht bilde ich mir das auch nur ein, daß ich niemals in Zweifel gewesen wäre. Habe ich mich nicht doch täuschen lassen? Wir Frauen sind ja gern dazu bereit.

Manchmal ist es mir, als sei ich mir über alles klar.

Und dann wieder: es ist keine Spur von Klarheit in mir.

Wie es mit Bezug war? Sie haben mich überredet, und ich habe mich überreden lassen. Heute scheint es mir so, als ob Bezug den Biancini bestochen hätte. Und mein Ehrgeiz? Es war doch auch Ehrgeiz dabei; es ist wahr, er mußte erst zur Flamme in mir werden. Aber der Funke war da.

Mein Ehrgeiz hat seine Befriedigung gefunden ... Ich glaube, sie haben mich alle gern, die Kollegen und das Publikum. Und der Direktor auch. Zuerst war er nicht sehr entzückt von mir. Jetzt will er es freilich wegleugnen. Aber ich habe es deutlich gesehen. Ich erinnere mich genau. Zuerst sind wir in Bezugs Automobil in die Stadt gefahren. Es war sehr schön. Ich muß mich sehr kindisch benommen haben, denn Bezug hat immer gelächelt, und der Chauffeur hat sich einige Male umgedreht, bis es ihm Bezug verboten hat. Mein Gott, es war das erstemal, daß ich in einem Automobil saß. Und ich habe dann gesagt: »Ich glaube, daß das Automobil eine besondere Bedeutung für mein Leben haben wird.« Und der Bezug hat gelacht: »Sie können recht haben.« Drei Tage später habe ich ein Automobil gehabt.

Ja ... also ... zuerst, das erste war, daß wir in ein feines Restaurant gefahren sind. In ein ganz feines. In einem Extrazimmer war schon gedeckt. So wie damals hab' ich noch niemals vorher gegessen, und auch nachher hat's mir nie mehr so geschmeckt. Und Bezug war sehr anständig. Er hat sich zwar einen kleinen Rausch angetrunken, aber er hat mich mit keinem Finger angerührt.

Wie das alles noch lebendig ist vor mir.

Ich war doch noch ein dummes Mädel. In diesen paar Monaten erst bin ich reif geworden.

Aber so ganz harmlos und unbefangen war ich nicht. Alle Leute haben mich für ungeheuer naiv gehalten. Biancini war ein bißchen in mich verliebt und ich glaube deshalb, weil ich so heiter war. Es ist ja meine eigenste Natur, aber ich muß mich doch wundern, daß sich meine Natur doch wieder so durchgesetzt hat. Damals ... wie ich meinem ersten Direktor davongelaufen bin, hätte ich nicht gedacht, daß ich mich jemals wieder erholen könnte.

Es war mitten in der Nacht, und der Mondschein war so hell. Die Schatten der Pappeln wie dicke schwarze Kleckse auf der Wiese. Wir waren vierzehn Menschen in dem kleinen Schlafwagen. Meine Nachbarin, Rosita, die Feuerfresserin, die hat niemals anders geschlafen als mit dem Arm auf meiner Brust. Es war schwer aufzustehen, ohne sie zu wecken. Und wenn ich heute daran denke, so begreife ich noch immer nicht, wie ich es gemacht habe, aus dem Wagen zu entkommen. Trotz meiner Angst ... ganz lautlos. Und noch weniger begreife ich, daß ich es zustande gebracht habe, an ihm vorüberzukommen, ohne ihm einen Stoß mit dem Fuß zu versetzen. Mit offenem Mund ist er dagelegen, schnarchend ... der Hund! Es war mir, als verstelle er sich, als schlafe er gar nicht ... als passe er mir auf. Die Augenlider waren nicht ganz geschlossen, so ein Spalt war offen ... und wie jetzt ein Mondstrahl auf sein Gesicht fiel, hab' ich einen feuchten Glanz in diesem Spalt gesehen. Ich hab' zuerst geglaubt, daß er mich anblinzelt ... es war ein Glück, daß ich den Schrei zurückgehalten hab' ... aber dann, wie ich gesehen hab', daß er fest schläft, hab' ich schon den Fuß gehoben, um ihn ins Gesicht zu treten ... den Hund!

Ich glaube, das war schon der Anfang vom Fieber!

Wie ich endlich draußen war, bin ich über die Wiese gelaufen, von einem Pappelschatten zum andern, und dann war ich im Wald. Da war aber kein Aufhalten mehr. Ich bin die Straße bergab gelaufen. Ohne zu wissen, wohin es geht. Und dann bin ich immer verwirrter geworden, und die Bäume haben sich mir vorne entgegengestellt und sind erst auseinander gewichen, wie ich schon ganz heran war. Dann erinnere ich mich ... der Wald war zu Ende und ein Hügelland vor mir ... Kornfelder weit und breit. Ich muß auf schmalen Feldwegen gegangen sein, denn ich weiß, es war, als ob ich durch Wasser ginge. Ringsum hat es gerauscht. Und auf einmal war ich in einem Tal ... auf einer eisernen Brücke bin ich über einen Fluß gekommen. Drüben, im Mondschein, auf einem Hügel, war ein Schloß. Franz kennt das Schloß. Er sagt, es ist ein Barockbau. Dann war ich auf dem Marktplatz in einer kleinen Stadt. Das Schloß im Mondschein drüber wie im Märchen. Mitten auf dem Marktplatz war ein alter Brunnen. Aus einer Röhre rauschte das Wasser. Da bin ich Gott weiß wie lange gesessen. Ich habe überlegt, wo ich hingehen soll. Aber die ganze Stadt war im tiefsten Schlaf. Wen sollte ich wecken? Da bin ich aufgestanden und um den Platz gegangen. An einer Ecke war ein Pfahl mit einem Arm, auf dem ein Name stand. Der Arm zeigte in eine Straße hinein, und in meinem Fieber war es mir, als weise er mich aus der Stadt hinaus. Ich gehorchte und ging. Eine endlose Straße ... immer weiter, bis mir das Bewußtsein entschwunden war. Vielleicht war die Gleichgültigkeit, die mich zuletzt beherrschte, das Schönste, was ich jemals erlebt habe.

Sie haben mich auf der Straße aufgelesen und in das Spital gebracht. Mein Fieber war hartnäckig. Neun Wochen lag ich krank. Meine schönen Haare sind damals dünn und krank geworden und mußten abgeschnitten werden. Ich muß mich wundern, daß sie mir wieder gewachsen sind.

Von Biancini war es im Anfang wirklich nur Mitleid, daß er mich in seine Truppe aufgenommen hat. Ich war recht armselig und eher eine Last als ein Mitglied, bei dem man aufs Verdienen rechnet. Aber in ein paar Wochen war ich wieder heraus. Und dann kam auch meine Heiterkeit wieder. Es ist mir gelungen, mein Erlebnis ganz tief in mich zu versenken, wie man die Toten ins Meer versenkt. Franz hat mir erzählt, daß man ihnen einen Stein um die Füße bindet und sie von einem Brett ins Wasser schiebt. Franz war auch Matrose. Was war er nicht alles!

Ich habe mich auch äußerlich verändert damals. Wie ich vor den Spiegel getreten bin ... zum erstenmal. Da war ich ein ganz anderer Mensch. Meine Züge waren ganz anders. Ich glaube wirklich, Adalbert würde mich nicht mehr erkennen. Selbst, wenn es mir gelingen sollte, ihn zu finden. Aber wo soll ich ihn finden? Ich habe mich genau nach ihm erkundigt. Die Bauern haben mir gesagt, daß mein Vater jetzt mit einem jungen Weib allein in der Höhle lebt. Mit einem Bauernmädel aus dem Dorf. Und Adalbert ist fort. Niemand weiß wohin. Wo soll ich ihn da suchen? Ich weiß doch erst jetzt, wie weit die Welt ist. Ich war in Ungarn, in Böhmen, in Tirol, in Polen, in Sachsen, was weiß ich wo überall.

*

Ich weiß, was Bezug will. Was alle Männer von uns Frauen wollen. Sie mögen sich anstellen wie immer. Ihre Wünsche sind stärker als alle Verstellungskünste. Und obzwar wir Frauen uns so gerne täuschen lassen, gelingt es ihnen niemals, uns zu täuschen. Ausgenommen, wenn wir uns selbst täuschen lassen wollen. Bezug hat es auch mit Gedichten versucht. Als ob er der Mann wäre, Gedichte zu machen. Aber sie haben mich so freundlich angesprochen, so verwandtschaftlich berührt. Sie waren wie Liebkosungen. Weich und schmeichelnd. Franz hat auch Gedichte gemacht. Aber sie waren nicht so schön, wie die, die mir Bezug gebracht hat. Ob der Dichter noch lebt, von dem er sie hat?

Endlich hat eines doch den Ausschlag gegeben: ich hatte es satt, zu wandern. Ein Wunsch, der damals im Fieber zuerst in mir wach geworden ist, als ich das Schloß im Mondschein sah. Könntest du doch so über einer kleinen Stadt wohnen, in einem Schloß. Nachts an das Fenster im Schlafzimmer treten und hinunterschauen, auf den verschlafenen Marktplatz, auf dem der alte Brunnen rauscht.

Sie haben mir so viel von Bezugs Macht und Herrlichkeit erzählt. Und daß ich durch ihn berühmt werden muß.

Ich bin ja auf dem Wege dazu. Kutschenreuter hat zwar im Anfang sehr mißtrauisch dreingeschaut. Wenn ich allein gekommen wäre, hätte er mich wohl sofort wieder weggeschickt. Aber Bezug hat mich zu ihm gebracht, und da hab' ich gleich gesehen, was sein Wort zu bedeuten hat. Kutschenreuter hat mich engagiert.

Das war unser zweiter Weg in der Stadt. Gleich nach dem Frühstück im Restaurant. Und dann sind wir in meine Wohnung gefahren. In – meine Wohnung. Fünf Zimmer, eines schöner als das andere. Mit einer Menge von Dingen, mit denen ich nichts anzufangen wußte. Jetzt habe ich das alles gelernt. Ich habe eine Kammerzofe. Und die alte Frau hat mir auch vieles gezeigt. Sie ist sehr freundlich zu mir, die Alte. Aber ich kann sie doch nicht leiden. Sie hat einen tückischen Blick. Tückisch, jawohl! Es kommt mir vor, als ob sie mich immer belauere. Auch wenn sie nicht da ist, belauert sie mich, plötzlich tritt sie in mein Zimmer, als ob sie mich überraschen wollte. Ich schreibe darum nur bei Nacht.

*

Warum schreibe ich? Warum habe ich mir dieses Buch angeschafft, um meine Erlebnisse aufzuzeichnen?

Ich habe eigentlich nichts zu tun. Meine Nummern brauche ich doch wirklich nicht mehr zu proben. Ich fahre am Abend zur Vorstellung und komme sofort, wenn ich fertig bin, wieder nach Haus zurück. Bezug erwartet mich, ich schlüpfe in meinen Seidenschlafrock.

– Seidenschlafrock! Ich! Nella! In einem Seidenschlafrock. Ich kann nicht sagen, daß es mir kein Vergnügen macht. Er sitzt mir gegenüber und schaut mich so an ... so ... immer fragen seine Augen, ob ich heute abend einwilligen werde. Aber ich kann nicht! Ich kann nicht. Ich weiß, er erwartet es von mir. Nach den ungeschriebenen Gesetzen, die in meinen Kreisen gelten, darf er es erwarten. Er bezahlt meine Wohnung, meine Seidenschlafröcke, die rote Stehlampe ist von ihm. Nun, ich nehme alles das an. Und sollte dafür ... aber ich kann nicht.

Aber was wollte ich denn eigentlich? Ach ... warum ich schreibe? Warum? Tagsüber kommt Bezug niemals. Ich bin frei. Frei? Nein, ich bin eine Gefangene. Eine Gefangene. Jawohl. Ich habe wenigstens das peinliche Gefühl, daß ich gefangen gehalten werde. Dieses alte Weib ist meine Kerkermeisterin. Bezug scheint ihr die Macht über mich gegeben zu haben. Trotz aller Freundlichkeit kann sie mich nicht darüber täuschen, daß sie mich belauert. Ich habe lange darüber nachgedacht, an wen sie mich erinnert. Die vorgequollenen Augen, die immer bereit zu sein scheinen, sich krampfhaft zu verdrehen. Und dann diese widrigen, dicken, blutroten Lippen in dem aufgedunsenen Gesicht. Ich habe lange nachgedacht, wem sie so furchtbar ähnlich sieht. Heute endlich bin ich daraufgekommen. »Signor Francisco« hat mir einmal ein Buch gegeben über die Giftmorde in Paris zur Zeit eines französischen Königs. Es war damals ganz modern, seine nächsten Verwandten zu vergiften. Es war wie eine ansteckende Krankheit. Und die Frau, die damit den Anfang gemacht hat, mit dieser scheußlichen Mode, hat, ich glaube, Frau von Brinvilliers geheißen. Vorne in dem Buch war eine Abbildung: die Frau von Brinvilliers auf dem Wege zur Hinrichtung. Da hat sie solche Augen und einen solchen Mund in dem aufgedunsenen Gesicht wie die Frau Anastasia. Wie heißt sie – Thumas! Wirklich, das ist die Ähnlichkeit, die sie mir so widerlich macht. Der Giftmischerin sieht sie ähnlich. Morgens geht sie immer mit einem Tuch auf dem Kopf und einer Nachtjacke herum. Und genau so war auch die Frau von Brinvilliers auf dem Wege zur Hinrichtung gekleidet.

Ich kann mit ihr nicht sprechen. Ich bring' es nicht über mich. Und so bin ich den ganzen Tag allein. Wenn ich ausgehen will ... die Frau Thumas geht mit. Wenn ich im Auto fahren will – Frau Thumas sitzt neben mir. Da bleib ich lieber zu Haus. Allein!

Ich lese jetzt sehr viel. Aber ich muß doch mit jemandem sprechen können. Mit der Alten will ich nicht sprechen. Und mit Bezug wird es mir auch schwer. Er wird mir immer unheimlicher. Jetzt sitze ich, wenn alles schläft, und schreibe. Und bilde mir ein, ich spreche mit meinem Bruder.

Gute Nacht, Adalbert! Wo du auch seist, tausend Grüße in deinen Traum.

*

Franz! »Signor Francisco«, Pistolenkunstschütze und Hundedresseur! Warum habe ich mich damals nicht dir hingegeben? Es zog mich ja ein wenig zu dir, und ich weiß, du hast mich sehr geliebt. Aber ich wartete noch, denn es schien mir, als wäre der Richtige, von dem ich das Geheimnis erfahren dürfte, noch immer nicht da. Ich wartete, bis der Direktor sich mit Gewalt nahm, was ich ihm nicht freiwillig geben wollte. Ich hätte nicht warten sollen, vielleicht wäre alles anders geworden. Ich käme mir nicht vergiftet vor, und ich hätte keinen Ekel vor der Liebe der Körper. Und dann hätte ich ihm auch ein Recht gegeben, mich zu verteidigen. Es ist eine sonderbare Welt, die Welt der Zirkusleute. Die Geschlechter vermischen sich nach Gefallen. Aber niemals würde einer wagen, gegen ein Weib Gewalt zu gebrauchen, das schon einem anderen gehört. Wenn sie freiwillig zusagt, ist es etwas anderes. Nur das Weib, das keinem andern gehört, ist geschlechtlich rechtlos.

Er hat mich geliebt. Ich hätte mich ihm anvertrauen sollen. Er hat mich geliebt. Ich weiß, wenn ich ihm gesagt hätte, was mir geschehen ist, er hätte den Direktor erschossen. Er hätte ihn gerade zwischen die Augen getroffen, wie er seine Kartenblätter und seine Glaskugeln getroffen hat. Aber ich habe ihm nichts gesagt.

Er hat schon einen Menschen erschossen. Im Duell. Sein ganzes Leben hat er mir erzählt: Nur ich weiß es, nur mir und sonst vielleicht niemandem vorher. Und er wird es auch niemandem nachher erzählen.

Er war Student. Und ich glaube, er hat Vermögen gehabt. Seine Leute haben sich von ihm losgesagt. Und dann hat es ihn in der Welt umgetrieben, von einem Beruf zum andern. Er war in Amerika; was weiß ich, was alles. Matrose war er und Zeitungsausträger, Prediger bei irgendeiner neuen Sekte, Jäger in irgendeinem wilden amerikanischen Gebirge. Dann ist er auf den Gedanken gekommen, zu den Artisten zu gehen. In Japan hat er ganz neue Sachen gelernt. Und er war der beste unter uns. Er hätte ganz gut in einem großen Zirkus oder Varieté auftreten und viel Geld verdienen können. Aber er war lieber bei kleinen Truppen und zog von Dorf zu Dorf. Darin war er ganz anders als ich. Er hatte sich nicht nach Behagen und Reichtum gesehnt. Es war vielleicht zuviel Unruhe in ihm.

Ich habe immer den Eindruck gehabt, daß er sich niemals so wohl befunden hat, als wenn er mir von seinem Leben erzählen konnte, oder mir zuhörte.

Ich verdanke ihm viel. Mein Vater hat uns, mir und meinem Bruder, schreiben und lesen gelehrt; das war alles. Aber Franz war ein ungemein gescheiter Mensch. Er war ja Student und hatte furchtbar viel gelesen. Einen kleinen schwarzen Koffer hatte er, ganz voll Bücher. Und die hat er mich nach und nach alle lesen lassen. Dann haben wir darüber zu sprechen begonnen, und manchmal gefiel mir das, was er zu sagen wußte, noch besser, als ich es in dem Buch gelesen hatte. Wenn ich mich jetzt einigermaßen ausdrücken kann, wenn ich imstande bin, ein Buch mit Verständnis zu lesen, so verdanke ich das ihm. Sein Andenken will ich mir bei den besten Erinnerungen bewahren.

Bei den schönsten Erinnerungen.

*

Wie lange ist es her, daß ich nichts in dieses Buch eingetragen habe? Es müssen wohl sieben oder acht Wochen sein. Was hätte ich schreiben sollen?

Ich war ja krank, rasend, wahnsinnig vor Ekel. Ekel vor ihm, vor mir, vor der Welt.

Es ist geschehen! Es ist ihm gelungen. Ich habe mich lange genug gesträubt, aber endlich hat er doch seinen Willen durchgesetzt. Aber wie ist es geschehen. Es war nicht anders, nicht besser als damals im Schlafwagen. Der Direktor hat sich den Pferdeknecht und den Clown zu Hilfe genommen. Bezugs Helfershelfer waren die Frau Thumas und der Wein. Ein Höllenwein. Ich trinke diese süßen, schweren Weine gerne. Er weiß seine Bundesgenossen gut zu finden.

Ich war schon in der denkbar besten Stimmung. Im Zirkus ein Jubel, Blumenkränze, Körbe, festliche Aufregung, ein ungeheueres Getöse. Ich stehe unter einem ganzen Regen von Sträußen. Und ich frage verwundert, was die Leute wollen. Der Kutschenreuter kommt, gratuliert mir und lacht, wie er mein dummes Gesicht sieht: »Sie wissen nicht« – ich bin die einzige von allen Mitgliedern, der er Sie sagt. Sonst sagt er allen du, sogar der Schulreiterin und der Miß Wanda, der Seejungfrau – »Sie wissen nicht, warum die Leute so schreien? Heute haben Sie doch Namenstag: Bianca!« Ich heiße hier auf Bezugs Wunsch Bianca Semonski. Es ist ja wohl gleichgültig, wie man heißt, wenn man ganz allein auf sich steht. Meinen wirklichen Namen habe ich ihm nicht gesagt. Also darum haben die Leute so geschrien, und darum die Rosen und Veilchen. Ich habe mich von Herzen darüber gefreut, und wie ich ein paar Kußhände hinauswerfe, da geht es noch toller los. Sie haben mich alle lieb. Ich fühle es, und ich bin ihnen dankbar.

Und wie ich nach Hause komme, natürlich mit der Thumas neben mir im Automobil, ist auch zu Haus alles festlich beleuchtet. Der Kronleuchter brennt und alle Lampen in allen Zimmern, und in meinem Schlafzimmer steht eine nackte Frau aus Bronze, die vor einem rot strahlenden Feuer tanzt. Es ist eine wunderbare Figur, und das Feuer legt seinen Schein so warm von unten auf die braunen, harten Glieder. Das ist Bezugs Namenstagsgeschenk. Und Blumen überall, daß es ganz schwül in allen Räumen ist. Ich bin noch so im Feuer, im Rausch, noch von der Vorstellung her, daß ich Bezug um den Hals falle und ihm einen Kuß gebe. Hinterdrein hat's mich geschaudert, aber es war zu spät, ich konnte mir nicht einmal die Lippen abwischen. Er schaut mich an und fragt: »Und heute?« Aber ich habe den Kopf geschüttelt. Ich war schon wieder bei Besinnung und mir klar darüber, daß ich nicht kann. Nicht kann. Da hat er das gekränkte Gesicht angenommen wie immer, und ich hab' mir gedacht, es ist damit abgetan, wie immer.

Aber es war nicht damit abgetan. Es sollte diesmal anders kommen, ganz anders. Wir setzen uns also zum Tisch, und die Mahlzeit war fein, denn Bezug ist ein Kenner, und er hat diesmal das Menu selbst zusammengestellt. »Es sollte unser Hochzeitsmahl sein«, sagte er und lächelte wehmütig. Und ich lasse mich durch die Wehmut täuschen und bekomme beinahe Mitleid mit ihm. Und um ihm einen Trost zu geben, um ihm zu erklären, warum es mir nicht möglich ist, warum ich meinen Körper hasse, erzähle ich ihm die Geschichte von meinem ersten Direktor. Und da funkelt es so grün in seinen Augen, daß ich erschrecke. Aber er fängt gleich darauf von etwas anderem zu sprechen an, von meinem Triumph und von der Begeisterung der Leute heute im Zirkus.

»Ich habe es gewußt, daß du Erfolge haben wirst. Du hast einfach alle so bezaubert wie mich.« Es muß wohl schon so von der Natur eingerichtet sein, daß wir Frauen den Verstand verlieren, wenn man von unseren Erfolgen spricht. Die Thumas sitzt mir gegenüber und fängt auch an, wie ein Wasserfall zu sprechen, wie beliebt ich bei den Leuten bin und wie ich heute gefeiert worden bin. Bezug hat ihr eine Loge gekauft und ich glaube, sie bewacht mich auch von dort. Sie macht also ihr süßestes Gesicht und spricht unaufhörlich von meinem Triumph und was weiß ich was alles. Und Bezug trinkt auf mein Wohl und meinen Erfolg und meine Zukunft. Und ich stoße immer an und lache, denn so lustig habe ich den Bezug noch niemals gesehen. Es war wieder so ein süßer, schwerer Wein.

Und auf einmal kommt mir der Einfall: du könntest doch dem Bezug von deinem Bruder sagen, er wird dir behilflich sein, ihn zu suchen. Und schon will ich anfangen, davon zu sprechen, aber irgend etwas hindert mich daran. Irgend etwas warnt mich. Ich werde also nachdenklich und schweige und denke darüber nach, was mich wohl zurückhält. Und ohne darauf zu achten, trinke ich immer mehr.

Zum Schluß kommt ein grüner Likör in ganz kleinen, spitzen Gläsern. Wir trinken einige davon, und ich werde wieder lustig und vergesse Adalbert und alles. Und dann fängt der Kronleuchter an zu tanzen und senkt sich vor meinen Augen fast bis auf den Tisch herab. Und dann wirbelt alles um mich, ich höre jemanden laut lachen, ohne Ende ... das werde ich wohl selbst gewesen sein und dann verliere ich die Besinnung ...

Damals mußte ich bei vollem Bewußtsein die Schmach erdulden, ohne mich wehren zu können. Diesmal ist mir wenigstens das erspart geblieben. Aber um so schrecklicher war das Erwachen.

Ich liege nackt auf meinem zerwühlten Bett und neben mir, eng an mich gepreßt, schläft Bezug. Wenn eine Waffe da gewesen wäre, ich hätte an ihm vielleicht getan, wie Judith an Holofernes ...

*

Es hat sich etwas ereignet. In meinem eintönigen Leben ist wieder etwas geschehen. Mein Stubenmädel ist mir schon einige Tage so sonderbar vorgekommen. Sie hat mich immer angesehen, als ob sie mir etwas sagen wollte, irgendein Geheimnis, mit dem sie sich nicht heraustraut. Und gestern nach dem Kämmen habe ich endlich erfahren, was sie mir zu sagen hat. Ich war sehr freundlich gegen sie und habe mich nach ihrer Familie erkundigt, nach ihren Geschwistern und nach ihrem Liebsten. Daß muß ihr Mut gemacht haben. Denn wie ich sie entlassen habe, hat sie mir einen Brief zugesteckt: »Verraten Sie mich nicht!« Und war fort.

Verraten Sie mich nicht? Ich war erstaunt und habe gezögert, den Brief zu öffnen. Auf dem Umschlag war keine Adresse.

Adalbert, Geliebter, von wem glaubst du, ist dieser Brief gekommen? Von ihm, von Franz, »Signor Francisco«, dem Freund. Er hat mich gesucht, im Zirkus gesehen – Bianca Semonski! Wie konnte er wissen, daß es Nella ist – und hat mich in meiner Wohnung zu finden gewußt. Er will mich sehen. Und auch ich will ihn sehen. Aber bin ich nicht eine Gefangene? Lauert nicht die Thumas an allen Schlüssellöchern, so daß ich erst immer nachsehen muß, ob die Klappen heruntergelassen sind. Keine meiner Türen hat einen Schlüssel, ich kann mich nicht einsperren. Wie soll ich das anfangen, mit Franz zusammenzukommen?«

»Jeden Tag um vier Uhr nachmittags bin ich vor deinen Fenstern. Wenn ich kommen darf, so winke mir.«

Ich war aufgeregt und dachte nach, bis mir der Kopf schmerzte. Nachmittags um halb vier Uhr war ich am Fenster. Wir wohnen in einer Gasse, die noch nicht ganz ausgebaut ist. Gegenüber ist ein großer Holzplatz, eine lange öde Mauer zieht sich die Straße entlang. Gegen vier Uhr kam er langsam um die Ecke. Er war so unauffällig als möglich gekleidet. Früher hatte er immer einen großen Kalabreser und eine flatternde Krawatte getragen. »Aus Geschäftsrücksichten« ... hat er gesagt, »Der Kunstschütze muß einen Kalabreser haben, damit man sieht, daß er geradewegs aus Mexiko kommt.« – Er war aus Jägerndorf in Schlesien, der Franz. – »Genau so wie der Jockeireiter eine englische Reisekappe und einen Schal um den Halskragen tragen und wie er in Hemdärmeln herumgehen muß, damit man es ihm glaubt.«

Aber diesmal war er ganz anders angezogen. Er hat eher ausgesehen wie ein Lehrer vom Land. Damit man nur ja keinen Verdacht hat, daß er irgend etwas mit der Kunst zu schaffen habe. Er geht die Mauer entlang, ohne aufzuschauen, nur gerade meinem Fenster gegenüber macht er einen raschen Blick zu mir herauf. Er hat mich gesehen, aber mit keinem Zucken hat er sich irgendwie verraten. Was soll ich tun? Ich möchte ihn sehen und sprechen! Aber wie kann ich die Thumas los werden?

*

Bezug wird immer unheimlicher und abscheulicher. Wie widerwärtig ist mir seine Gier nach meinem Körper. Wie hasse ich diesen Körper und diese rohe Liebe, die mir bisher nichts als Ekel verursacht hat. Und ich sah ihr mit so wundersamen Erwartungen entgegen. Aber wenn er mich herumzerrt und abdrückt und mich zu seinem Willen zwingen will, da leiste ich Widerstand, selbst auf die Gefahr hin, wieder diese häßliche, furchtbare Fratze bei ihm zu sehen, wie unlängst, als er mich mit der Faust ins Gesicht schlug.

Jawohl: er hat mich geschlagen. Geschlagen! Mit der Faust. Am nächsten Tag hat er mir einen Anhänger gebracht, ein wunderbares Stück, kostbar ebenso sehr durch seine überaus feine Arbeit als durch die Steine, von denen jeder ein Vermögen bedeutet. »Reize mich nicht,« hat er gesagt, »ich bin jähzornig! Warum wehrst du dich noch? Bin ich dir so zuwider?« Was sollte ich darauf sagen? Hab' ich wirklich noch ein Recht auf diesen geschändeten, verunglimpften Körper? Ist es nicht gleichgültig, was mit ihm geschieht?

Aber doch: im Innersten empört sich etwas gegen Bezug. Noch immer, trotzdem ich fühle, wie er alles versucht, mich ganz zu unterwerfen. Er ist ein Tyrann, der seine Macht schamlos ausnützt. Und meine Gefangenschaft wird immer unerträglicher. Mehr als je belauert mich die Thumas. Es ist, als habe sie den Auftrag, strenger zu sein. Vielleicht sagt Bezug irgend etwas, daß ich gerne aus meinem Gefängnis ausbrechen möchte. Er ist ein Raubtier und hat Raubtierinstinkte. Feine Witterung. Ich vermute, er ahnt etwas, daß Franz da ist und daß ich auf ihn meine Hoffnungen setze.

Unlängst hatte ich einen Auftritt mit der Thumas. Mira, das Stubenmädchen vermittelte meine Korrespondenz mit Franz und trägt die mündlichen Grüße hin und her. Ich habe die Mira sehr lieb. Und ich habe begonnen, ihr einiges von dem zu verraten, was in uns vorgeht. Wir müssen aber sehr vorsichtig sein und können uns nur flüsternd unterhalten zwischen lauten Bruchstücken eines unverfänglichen Gespräches, denn die Thumas steht immer hinter der Tür. Und da sehe ich vor ein paar Tagen, während mich die Mira kämmt und mir leise von Franz erzählt, plötzlich im Spiegel, vor dem ich sitze, wie sich die Tür des Schlafzimmers leise, ganz leise öffnet. Nur ein ganz schmaler Spalt. Aber ich habe es doch bemerkt, denn ich bin auch sehr vorsichtig geworden.

»Kommen Sie nur herein, Frau Thumas!« rufe ich. – Sie erscheint in der Tür und weiß nicht recht, was sie sagen soll. Aber da ist der Zorn über mich gekommen. »Ich rate Ihnen aber, klopfen Sie das nächste Mal an, wenn Sie herein wollen, verstehen Sie! Ich habe diese Schleicherei und Lauerei satt.«

Da veränderte sich aber auf einmal ihr ganzes Gesicht und sie zischt mich an wie eine Schlange, die man getreten hat: »Nicht so hochmütig, mein Pupperl! Was sind Sie hier? Sie haben es nicht nötig, mit mir so zu sprechen.«

Ich aber auch nicht faul, springe auf und schreie: »Hinaus, Sie altes Scheusal, Sie Spionin, Sie Giftmischerin!«

Ich habe dabei nur an die Frau von Brinvilliers gedacht, mit der sie eine Ähnlichkeit hat. Aber, weiß Gott, es hat ihr einen tüchtigen Ruck gegeben. Sie wird ganz fahl, ballt die Fäuste, knirscht mit den Zähnen, und einen Augenblick hat es so ausgesehen, als ob sie sich auf mich stürzen wollte. Dann knickt sie ein, macht die gewissen frommen, hervorgewälzten Augen ... faustgroß ... schlägt sie vorwurfsvoll zum Himmel auf und geht hinaus. Die Mira aber, die mit einer Schlummerrolle in der Hand hinter mir steht, zur Verteidigung gerüstet, fängt zu tanzen an, küßt mir die Hände, und ihre Augen funkeln nur so vor Freude und Vergnügen. »Der haben Sie's gegeben, Gott sei Dank, Gott sei Dank!«

Es hat mir augenblicklich wohlgetan. Aber ich weiß, daß ich an der Alten jetzt eine erbitterte Feindin habe. Das erste war, daß sie sich bei Bezug beklagt hat. Und Bezug hat mir sein Mißfallen ausgedrückt. »Ich wünsche nicht, daß du mit der Thumas so umspringst. Ich schätze sie sehr hoch, und sie hat mein volles Vertrauen.«

»Aber sie horcht an den Türen!«

»Unsinn, das bildest du dir ein. Weil du ein schlechtes Gewissen hast. Nicht wahr?«

Das ist alles, mehr habe ich nicht erreicht. Und die Thumas geht herum, mit einem gekränkten Gesicht, hinter dem sie ihren Haß versteckt, spricht kein Wort und lauert nach wie vor, nur geschickter.

*

Und es ist uns doch gelungen, unsere Wächter zu überlisten. Ich habe Franz gesprochen. Ich habe ihn gesprochen und ich – werde fliehen.

Der Zufall ist uns zu Hilfe gekommen. Wir sind dahintergekommen, daß die Thumas manchmal nachts aus der Wohnung verschwindet. Die Mira behauptet, daß die Alte noch einen Liebhaber hat und ihn besucht. So viel ist gewiß, daß sie nachts aufsteht und davon geht. Dabei aber sperrt sie die Wohnung von außen ab, daß wir nicht hinaus können. Unlängst wird mir nachts ein wenig übel, und ich rufe die Mira und schicke sie um die Hoffmannschen Tropfen, die in der Hausapotheke in der Speisekammer sind. Die Thumas hat aber die Schlüssel der Speisekammer, und so mußte also die Mira in das Schlafzimmer der Alten gehen. Da war sie nicht wenig erstaunt, daß die Alte nicht im Bett liegt. Sie sucht in der ganzen Wohnung, aber die Alte ist nirgends zu finden.

Da war auch unser Plan schon fertig. Die Mira hat einen Wachsabdruck vom Schloß machen müssen – wie die richtigen Verbrecher – und wir haben danach einen Schlüssel anfertigen lassen und gleich auch einen zweiten Schlüssel vom Schlafzimmer der Thumas.

Und gestern, wie die Thumas wieder nachts ausgeflogen ist, war Franz bei mir. Er ist vom Garten aus in das Haus gestiegen und dann hat ihm die Mira mit unserem Diebesschlüssel die Wohnung geöffnet.

Er sieht nicht gut aus, der arme Kerl. Ich glaube, er hat sich sehr um mich gekränkt. Meine Hände hat er gefaßt und gehalten, als ob er sie nicht mehr lassen wollte. Die gute Mira war gerührt, ich glaube, sie hat geweint. Dann ging sie hinaus.

»Diesem Menschen,« sagte Franz, »gerade diesem Menschen hast du dich ausgeliefert! Gerade ihm!« Und er hat mir die schrecklichsten Sachen von der Macht Bezugs erzählt und von der Gewissenlosigkeit, mit der er diese Macht gebraucht. Die ganze Welt habe sich vor Bezug in acht zu nehmen. Es könnte sein, sagt er, daß sie eines Tages erwacht und sich von ihm gefesselt sieht.

Wir haben beschlossen, zu fliehen. Mir ist sehr bang ums Herz, denn wenn Bezug wirklich so mächtig ist, so wird er uns zu finden wissen. Aber wir wollen es doch wagen. Wenn ich nur nicht so ängstlich wäre. Aber ich weiß nicht, ich kann nicht so freudig sein und hoffen. Franz hätte mir nicht solche Schaudergeschichten von Bezug erzählen sollen.

Unser Plan ist sehr einfach. Morgen – morgen! – soll es geschehen. Franz wird mich holen, auf demselben Weg wie gestern wird er kommen. Mira wird ihm die Tür öffnen, nachdem sie vorher die Alte in ihrem Schlafzimmer eingesperrt hat, damit sie nicht hinauskann, wenn sie erwacht. Und wir werden gehen, Mira mit, in einem Wagen fahren wir zur zweitnächsten Bahnstation und dann davon.

Ich habe ihn geküßt, den lieben, tapferen Burschen, und sein Händedruck war ein schweigendes Gelöbnis.

*

Es ist vorbei. Es ist mißlungen ...

Vollständig mißlungen. Ich kann mir nicht erklären, wie Bezug dahinter gekommen ist, aber soviel ist gewiß, daß er rechtzeitig die Tür meines Gefängnisses, die schon offen war, wieder zugeschlagen hat.

Vor drei Tagen war es. Oder vor drei Nächten. Zwei davon habe ich durchweint. Erst heute finde ich wieder Kraft, um alles niederzuschreiben. Für dich Adalbert, obzwar ich weiß, daß du diese Aufzeichnungen niemals lesen wirst!

Alles war genau erwogen und wohl vorbereitet. Ich sollte mich wie sonst immer in mein Schlafzimmer begeben und mich zu Bett legen, um die Alte sicher zu machen. Mira aber hatte aufzupassen, ob die Thumas wieder ausflog, und wenn sie daheim blieb, die Tür zu versperren. Dann sollte sie mich holen. Es durfte nicht später werden als zwölf Uhr. Wir hatten mit dem Wagen länger als drei Stunden bis zu unserer Bahnstation zu fahren. Und von dort ging der Zug um vier Uhr.

Ich war wohl aufgeregt, aber nicht so, daß das Gelingen unserer Flucht durch mich hätte in Frage gestellt werden können. Im Gegenteil: ich war trotz einigen Herzklopfens und beschleunigten Atems meiner so ziemlich sicher und wußte bestimmt, daß ich im Augenblick der Gefahr imstande sein würde, rasch und kaltblütig zu handeln. In dieser aus Zuversicht und Erregung gemischten Stimmung erhielt ich mich bis gegen zwölf Uhr.

Es war in der Wohnung längst still geworden, und ich verstand nicht, warum Mira noch immer nicht gekommen war. Die Thumas mußte doch längst zu Bett gegangen sein. Warum zögerte Mira so lange; sie wußte doch, daß uns die Zeit nicht allzureichlich bemessen war. Einmal war es mir, als höre ich im Nebenzimmer die Tür gehen, als ob sie ganz leise geöffnet würde. Ich horchte gespannt auf, aber ich mußte mich wohl getäuscht haben, denn niemand kam, um mich zu holen. Und nun, als so Minute um Minute verstrich, begann ich unruhig zu werden, meine Zuversicht sank, und immer ängstlicher sah ich nach der Uhr. Ich sah, wie sich die Zeiger immer mehr näherten, und dieses langsame Näherkriechen regte mich so auf, daß ich mich bemühte nach der anderen Seite zu sehen. Aber unwiderstehlich war die Macht, die mir den Kopf zurückdrehte und meine Blicke auf das altertümliche Zifferblatt meiner in Gold und Elfenbein ausgeführten Empireuhr heftete. Schon war der Winkel zwischen den beiden Zeigern ganz spitz geworden. Mein Körper war von kaltem Schweiß bedeckt. Und Mira kam noch immer nicht. Endlich hielt ich es nicht länger aus, hier zu liegen und mein Schicksal zu erwarten. Ich wollte selbst handeln, selbst eingreifen, nachsehen was geschehen sei. Rasch war ich angezogen und nahm die kleine Reisetasche, die ich schon vorher gepackt und hinter dem Sofa versteckt hatte. Im roten Licht meiner Ampel sah ich, daß die beiden Zeiger nun ganz übereinander standen. Und nun gab es zwölf helle, dünne, silberne Schläge. Bei Tage spielte die Uhr noch ein kleines Stückchen, ein französisches Menuett oder so etwas. Bei Nacht aber war sie so freundlich, zu schweigen.

Ich wartete, bis der zwölfte Schlag verklungen war. Dann öffnete ich leise die Tür zum Salon. Hier war es ganz dunkel ... kein Laut. Wo mochte Mira sein? Leise rief ich ihren Namen. Ich tappte mich in die Mitte des Zimmers und schaltete das elektrische Licht ein. Es wurde hell.

Da schrie ich auf ... und die Reisetasche fiel mir aus der Hand.

In einem der Fauteuils, die Arme auf den Lehnen, die Beine weit von sich gestreckt, mit einem grünen Schimmer in den Augen, sitzt – Bezug. Er sitzt und schaut mich schweigend an. Ich starre ihn an und kann kein Wort sagen. Ich glaube, das Schweigen muß eine Ewigkeit gedauert haben.

Endlich sagt er: »Die Mira ist nicht da! Sie wird nicht kommen.« Und wie ich noch immer keine Antwort geben kann, fährt er höhnisch fort: »Ich habe es nicht gern, daß du nachts herumfährst. Du könntest dich erkälten. Es ist kein gutes Wetter draußen. Und wenn du schon Lust hast, Ausflüge zu machen, so hättest du doch vorher von mir Abschied nehmen können. Das hab' ich mir doch um dich verdient. Meinst du nicht auch?«

Ich lasse mich in einen Sessel fallen und fange an zu weinen. Aus Zorn, Überraschung, Scham, Verzweiflung. »Hör' auf zu heulen!« schreit er, und dann hebt er meine Reisetasche auf, die neben ihm auf dem Boden liegt und sagt wieder in seinem höhnischsten Ton: »Und nur so wenig Gepäck? Man muß sagen, du bist bescheiden. Ist das alles, was du mitnehmen wolltest?« Dann läutet er, und die Thumas erscheint, mit einem zuckersüßen Arsenikgesicht, strahlend vor Vergnügen und voll ironischer Höflichkeit. Er läßt Tee bringen und sitzt mir gegenüber, schlürft eine, zwei Tassen aus und spricht dabei immer mit seinem gemeinen Lächeln von meinem »Ausflug« und von der Unvorsichtigkeit, bei so schlechtem Wetter reisen zu wollen. Die Thumas geht ab und zu und frohlockt. Es war eine fürchterliche Stunde. »Trink«, schreit er mich plötzlich wieder an, und mit zitternden Händen hebe ich meine Tasse und gehorche ihm.

Seine Augen brennen auf mir, und ich fühle, wie seine unlauteren Triebe wach werden. Er schiebt endlich seine Tasse von sich und steht auf. »Komm!« sagte er heiser. Ich lehne mich zurück und tue, als ob ich ihn nicht verstünde. »Schau mich nicht so an! Geh voran ins Schlafzimmer.« Ins Schlafzimmer! Ich fange an zu zittern und kann mich nicht rühren. Da faßt er mich an den Armen und zieht mich empor. Brutal, mit festem Griff, gegen den es kein Wehren gibt. Ich habe noch jetzt Flecken an den Armen. »Geh voran!« Und mit Stößen treibt er mich vor sich her ... ins Schlafzimmer ... keuchend wie ein gieriges Tier ... und wirft mich auf das Bett, von dem ich mich eine Stunde vorher erhoben habe, um zu fliehen.

*

Ich bin seine Gefangene und werde es bleiben, so lange es ihm gefällt. Und ich habe die Ahnung, daß er mich eher töten, als mich freigeben wird. Ich bin seinem Willen und seinen wilden Gelüsten preisgegeben, diesen Gelüsten, die etwas Tierisches an sich haben. Er hat gesehen, daß ich ihn verabscheue und hat entdeckt, daß ich fliehen will. Und ich glaube, das ist noch ein Reiz mehr für ihn. So genießt er seine Macht noch mehr, wenn er eine Widerstrebende täglich seinem Willen unterwirft. So kommt noch der Genuß der Grausamkeit hinzu.

Seine Macht ist ohne Grenzen. Mira ist verschwunden. An ihre Stelle ist ein anderes Mädchen getreten. Eine mürrische, häßliche, rothaarige Person, die vortrefflich zu der Thumas paßt und sich aufs beste mit ihr versteht. Jetzt habe ich also zwei Wächter, und der Gedanke an Flucht ist Wahnsinn. Und Franz ist auch verschwunden. Ohne Nachricht. Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist. Wenn ihm nur nichts zugestoßen ist. Ich stehe den ganzen Nachmittag am Fenster, aber Franz kommt nicht.

Es ist alles vorbei. Und ich bin so müde, daß ich auch gar keinen Versuch mehr machen würde, zu fliehen.

Die Leute lieben mich und geben mir immer neue Beweise der Zuneigung. Und es gibt eine Menge von Menschen, die sich um meine Freundschaft bewerben. Aber sie tun es scheu und immer wie in Angst vor Bezug. Seine Nähe scheucht sie fort. Und ich selbst nehme ihnen wohl allen Mut. Denn, wenn ich im Hintergrund ihrer Gefühle das Verlangen nach meinem Körper entdecke, nach diesem geschändeten und vergifteten Körper, so erfaßt mich der Ekel. Der Ekel!

Da ist der Statthaltereirat Pensinger. Der Rennstallbesitzer Tintler. Und dann der Doktor Störner, ein Journalist. Der ist mir von allen der liebste. Ein spöttischer Mensch, mit einer Zeitung hinter sich, ist eine Macht, vor der sich alle fürchten. Aber was ist er gegen Bezug? Was kann er gegen Bezug?

*

Immer deutlicher wird es mir, daß Bezugs Grausamkeit zu seinen Genüssen gehört. Er fängt an seltsame Dinge von mir zu verlangen. Zu irgendeinem geheimen Zweck, den er mir nicht nennen will, muß ich einen neuen Tanz studieren. Einen gefährlichen Tanz. Ein aufregendes und nervenzerrüttendes Spiel. Eines meiner Zimmer ist seltsam verändert worden, von der Decke hängen zwei Pendel herab, die durch ein Uhrwerk in Schwingung versetzt werden. Und dann ist eine Reihe von Statuen aufgestellt worden, und zwischen diesen Statuen und den Pendeln muß ich tanzen. Bei der Aufführung werden die Pendel scharf geschliffen sein, sagt Bezug. Scharf geschliffen! Ist das nicht eine ausschweifende und wahnsinnige Phantasie, die auf solche Dinge verfällt. Täglich muß ich einige Stunden üben. Und Bezug überwacht meine Arbeit und meine Fortschritte. Und ungeduldig drängt er, ich solle mich beeilen.

*

Nun weiß ich, wozu mein Pendeltanz dienen sollte. Oder vielmehr, ich weiß es nicht. Aber die Aufführung ist vorbei. Gott sei Dank!

Ich war in Bezugs Palast. Es ist wirklich ein Palast. Fürstlich! Bezugs Vermögen muß unermeßlich sein. Ich habe ja nicht viel von seinem Haus gesehen, denn es ging auf Hintertreppen in ein Zimmer, wo griechische Gewänder für mich bereit lagen, in denen ich den griechischen Statuen ähnlich sah. In diesen Gewändern habe ich tanzen müssen, in rotem Licht auf einer kleinen Bühne, zwischen den steinernen Gestalten, von den scharfen Pendeln umsaust. Sie waren wirklich scharf geschliffen, wie es Bezug gesagt hatte. Scharfe Halbmonde aus Stahl, die zischend hin und her schwangen. Vor einer Menge von Menschen habe ich getanzt, die ich in dem dunkeln Zimmer vor mir undeutlich wahrnehmen konnte und deren keuchendes Atmen ich hörte. Ich hatte nicht viel Zeit zu beobachten, denn meine ganze Aufmerksamkeit war auf meinen Tanz gespannt. Ein falscher Schritt, und die Pendel hätten meinen Leib zerrissen. Es war furchtbar, und als ich zu Ende war, lag ich halb ohnmächtig. Mein Herz schmerzte mich, und es war, als kehre es sich in meinem Leib um und um.

Gott sei gelobt, daß es vorbei ist.

*

Nun habe ich wieder lange nichts geschrieben. Und heute ... trotzdem ich von meinen Erlebnissen ganz erfüllt bin ... will es mir mit dem Schreiben durchaus nicht ...

Nein ... ich bin einfach unfähig. Ich kann es nicht. Ich habe diesem Buch schon alles anvertraut, was mir zugestoßen ist, Beschämendes und Empörendes, Dinge, die mich krank und verzweifelt gemacht haben, ich habe mich nicht gescheut, alles Ekelhafte und Niedrige zu erwähnen – hier aber will ich schweigen, und ich darf es tun. Wie sollte ich auch Worte finden? Mit einem Tier ... es ist ja furchtbar traurig, aber wie konnte er das von mir verlangen! Und ich war zuerst voll Mitleid, wollte ihn pflegen. Wie kommt es, daß gerade ich zu solchen Abscheulichkeiten verurteilt sein soll. Wüßtest du, Adalbert, wie es deinem Schwesterlein ergeht, deiner Nella!

Der Gedanke an ihn ist mir noch näher als sonst. Der junge Mann, den ich auf der Insel kennengelernt habe, der hat mich so sehr an den Bruder erinnert. Nicht irgendeine äußerliche Ähnlichkeit, mein Bruder muß ganz anders aussehen ... aber eine große Ähnlichkeit des Wesens. Es war gleich ein Vertrauen da. Und dann die Gleichheit unserer Schicksale; das hat sofort eine innige Verwandtschaft fühlen lassen. Ich muß sagen, nie hätte ich geglaubt, mich einem Fremden so vollkommen erschließen zu können. Und – es ist lächerlich, aber einmal war ich nahe daran, ihn zu fragen, ob er nicht mein Bruder sei. Mein Bruder! Zur rechten Zeit habe ich mich noch zurückgerissen. Wie hätte er gelächelt. Merkwürdig: und ich weiß nicht einmal seinen Namen. Er soll ein großer Dichter sein. Wenn ich doch einmal in einer Zeitung etwas über ihn lesen könnte. Aber es ist mir strenge verboten, Zeitungen zu lesen. Ich soll nicht erfahren, was in der Welt vorgeht. Warum nicht? Einmal hat mir der Doktor Störner eine Nummer seiner Zeitung zugesteckt, in der er etwas über mich geschrieben hat. Es war sehr lieb und so eingehend, als sei ich eine große Künstlerin. Wirklich, wie über eine große Künstlerin. Ich habe mich sehr gefreut und habe die Zeitung nachts unter meinem Kopfpolster gehabt, dann früh habe ich sie in meinen Toilettentisch versteckt, aber als ich sie abends wieder herausholen wollte, war sie fort.

Ich bin schlimmer gefangen als je. Und die alte Thumas, das Scheusal, wird immer bösartiger und quält mich immer mehr. Wie es scheint mit Zustimmung Bezugs, von dem es immer deutlicher wird, daß er mich haßt. Nicht einen Schritt mache ich unbewacht. Ich muß äußerste Vorsicht anwenden, um nicht einmal nachts beim Schreiben erwischt zu werden. Das neue Mädel ist die Helfershelferin der Alten.

Nicht einmal die Fahrt nach Triest habe ich allein machen dürfen. Die Thumas hat mich hingebracht, und gleich am Bahnhof hat mich wieder Hainx übernommen.

Ich bin doch ein recht oberflächliches Geschöpf. Bei ein wenig Sonnenschein und Freude und Freiheit bin ich gleich verwandelt und so heiter, als ob nichts Schweres und Düsteres in mir wäre. Ich fühle es, ich könnte vielleicht ein guter Mensch sein, wenn sich mein Leben anders gestaltet hätte. Wie war ich so froh und voll Zuversicht, als ich auf das Schiff kam. Und mit welcher Freude bin ich an meine Arbeit gegangen, den Kranken zu pflegen. Aber wie hat sich dann alles gewendet.

Und noch ganz zuletzt, dieses Schreckliche. Der Kranke – mein Gott, ich glaube, sein Wahnsinn war unheilbar, und so war es vielleicht noch nicht das Furchtbarste, was ihm geschehen konnte. Aber dann – der Mord! Ich glaube, ich möchte fast sicher behaupten, daß es ein Mord war. Und ihre Drohung hat mich darin noch bestärkt. Wer wohl der Arme gewesen ist? Ich wage niemand darum zu fragen.

Unter solchen Menschen lebe ich. Solche Menschen wie Dallago und dieser Hainx sind Bezugs blinde Werkzeuge. Ich bin seit meiner Rückkehr in beständiger Angst. Ich muß es mir selbst gestehen, in Angst.

*

Meine Angst ist wohl nicht grundlos. Ich glaube, daß Bezug mich haßt. Er schreibt mir die Schuld am Tod seines Sohnes zu. Mir? Nein – ich kann nicht anders, und wenn die fürchterlichen Stunden noch einmal kämen, so könnte ich wieder nicht anders handeln. Wie kann man von einer Frau so Widriges und Niedriges verlangen? Ich liebe das Leben, aber gewiß: ich würde eher sterben als das über mich ergehen lassen.

Aber wie soll Bezug das einsehen, der keinen andern Willen kennt als den seinen, und keine anderen Ziele gelten lassen will als seine?

Er haßt mich, und ich habe mich vor ihm zu hüten. Aber wie kann sich ein Gefangener vor seinem Kerkermeister hüten? Jetzt kommt er selten zu mir, und ich sehe an dem veränderten Wesen der Thumas, an ihrer steigenden Frechheit, daß ich auf keinen Schutz zu rechnen habe, wenn ich mich bei Bezug über sie beklagen wollte. Sie schränkt mich überall noch mehr ein, lacht mir offen ins Gesicht, wenn ich ihr einen Befehl gebe, und macht mit Vorliebe alles das, von dem sie weiß, daß es mich ärgert. Die Bücher, die ich liebe und die ich früher lesen durfte, verschwinden allmählich, und es bleiben nur jene abscheulichen und obszönen Schmöker zurück, die mir Bezug früher zugetragen hat, um durch ihre Lektüre meine – wie er glaubte – trägen Sinne anzustacheln. Die unzüchtigen Bilder, die mir ein Greuel sind, finde ich alltäglich überall herumliegen. Ich mag diese Bilder nicht sehen und diese Bücher nicht lesen und so bin ich zur schrecklichsten Langeweile verurteilt.

Und Bezug ist mir rätselhafter als je. Wenn er kommt, sitzt er mir gegenüber und starrt mich lange an, ohne zu sprechen. Seine Blicke sind unheimlich, bohrend, furchterregend. Ich versuche es, irgend etwas vorzubringen, nur um dieses Schweigen zu brechen. Aber seine Antworten sind kurz und ablehnend, und dann starrt er mich wieder an. Ich habe ihn gefragt, warum er nicht spricht. »Was hätten wir uns noch weiter zu sagen?« hat er geantwortet. Wie ein Opfertier unter den Blicken des Opferers – so komme ich mir vor.

Ich habe Angst. Ich habe Angst.

Manchmal erwache ich nachts über einen Schrei, den ich selbst ausgestoßen habe. Alles das quält mich so, daß ich selbst im Schlaf keine Ruhe finde. Ich bin von Finsternissen und Gefahren umgeben.

*

Heute habe ich Bezug gefragt, warum er mich nicht freigeben will. Seit ich zurückgekehrt bin, haben mich seine Begierden nicht mehr belästigt, und ich habe ganz leise zu hoffen begonnen, daß er meiner überdrüssig ist. Wäre es doch nur so! Wäre es so!

Aber er will mich nicht freigeben. Er sieht mich an, als ob mir seine Blicke auf dem Gesicht zurückbleiben sollten wie Feuermale. Und auf meine Frage hat er geantwortet: »Warum ich dich nicht freigeben will? Weil ich etwas Besonderes, etwas ganz Kostbares haben will, für mich allein, um das mich alle Welt beneidet.«

»Und das bin ich?«

»Das bist du! Du bist der Liebling des Publikums. Alle verehren dich. Aber ich möchte gern, daß du sie noch mehr entzückst, rasend machst, durch irgend etwas Neues, das du bringst.«

Ich muß gestehen, diese Art von Wahnsinn ist mir unverständlich. Wenn ich etwas hatte, machte es mir immer Vergnügen, es mit anderen zu teilen. Aber vielleicht muß man so sein wie Bezug, um es in der Welt weiter zu bringen.

*

Bezug ist damit herausgekommen, was er von mir verlangt: Ich wage nur mit Schaudern daran zu denken. Er hat von mir verlangt, daß ich den Looping the Loop im Automobil versuchen soll. Wie kann man da »versuchen«? Entweder es gelingt sogleich, oder man ist tot. Und ich liebe mein Leben. Trotz allem. Irgendwoher fühle ich noch immer einen Schimmer kommen: die Hoffnung, daß ich einmal frei werden kann. Aber mein Kampf gegen Bezugs Wunsch wird schwer sein. Er scheint es sich fest in den Kopf gesetzt zu haben, und dann ist er unerbittlich und hart wie Granit.

Allerlei verrückte Ideen rasen mir durch den Kopf. Heute habe ich daran gedacht, wenn er mich weiter quält, vor das Publikum zu treten: mitten in der Manege die Hände zu falten und ihnen zurufen, sie mögen mich beschützen ... vor Bezug! Das gäbe wohl keinen schlechten Tumult: »Rettet mich vor Bezug. Er will mich umbringen.«

Manchmal ist mir doch, als wäre das wirklich seine geheime Absicht. Er ist nun wieder freundlicher und gesprächiger geworden. Will er mich täuschen? Er hat mir gestern gesagt: »Ich habe dir alles vergeben.«

Ich war stolz genug, darauf zu antworten: »Ich bedauere selbst den Tod deines Sohnes. Er tut mir leid, der arme Mensch. Aber hier ist nichts zu vergeben. Über diese Dinge kann nur die Frau selbst entscheiden, die es angeht.«

»Als ob du noch –«, sagte er wütend, aber er unterbrach sich sogleich. In diesem einzigen Augenblick schien es mir, verschiebe sich eine Maske und es komme darunter das wahre Gesicht in einer schrecklichen Verzerrung zum Vorschein. Ich weiß, was er sagen wollte. Ich weiß es.

*

Oh, der Schurke weiß seinen Willen durchzusetzen. Er weiß zu erreichen, was er will. Ich werde nun doch tun müssen, was er von mir verlangt. Kann ich anders: der Preis, den ich dafür erhalten soll, ist zu hoch. Ich soll erfahren, was aus meinem Bruder geworden ist. Aus dir, Adalbert, an den ich bei jeder Zeile dieser Aufzeichnungen gedacht habe.

Heute abend, nach der Vorstellung, war er bei mir. Er sitzt in seiner Sofaecke, raucht und schaut den blauen Wolken nach. Solange die alte Thumas da war, hat er über allerlei belanglose Dinge gesprochen. Dann aber, wie sie draußen ist, lehnt er sich noch mehr zurück und fragt plötzlich, ohne mich anzusehen: »Warum hast du mir nie etwas von deinem Bruder gesagt?«

Mir war es, als habe sich die Wand gespalten und irgendeine Erscheinung sei hervorgetreten. Wenn ich über irgend etwas in meinem langen Kampf gegen Bezug stolz war, so war es, daß ich damals die Versuchung überstanden habe, ihm von Adalbert zu erzählen. Das hat mich immer froh gemacht, so oft ich daran dachte. Mein Heimlichstes und Heiligstes hat er doch nicht gewußt. Und nun auf einmal fragt er mich nach meinem Bruder. Wie mag er es erfahren haben?

Nach einer Weile sagt er: »Wenn du mir es früher gesagt hättest, so wüßtest du schon längst, was aus ihm geworden ist. Ich hätte euch selbst zusammengeführt.«

Da hab' ich mich nicht länger halten können: »Wo ist er? Wo ist er?«

Aber Bezug lacht: »Du hättest mir früher dein Vertrauen zeigen sollen. Da hätte ich mich gefreut und hätte dir beim Suchen geholfen. Und du weißt, wenn Bezug jemand finden will, so dauert es nicht lang.«

Ich hab' aber immer heftiger gefragt, wo mein Bruder ist. Da sieht er mich wieder so durchdringend an, daß ich glaube, seine Blicke müssen Wunden hinterlassen: »Du willst es also wissen? Du liebst ihn wohl sehr? Nicht wahr! Gut, du sollst es erfahren. Aber jetzt stelle ich eine Bedingung.«

»Welche Bedingung?«

»Kannst du das nicht erraten? Ich will, daß du meinen Wunsch erfüllst. Meinen Wunsch, du kennst ihn ja ... du sollst sie rasend machen. Du sollst noch wertvoller werden. Im Looping the Loop ...«

»Das ist niederträchtig ...«

»Gut,« sagt er und steht auf, »dann reden wir nicht mehr davon.«

*

Ich werde es doch tun. Ist der Preis nicht zu schön? Er selbst zeigt mir den Weg zur Freiheit. Ich weiß, Adalbert wird's gelingen, was Franz nicht gelungen ist. Warum sollte ich nicht also ein bißchen Gefahr und Todesangst auf mich nehmen? Um diesen Preis! Ich fürchte die Gefahr nicht so sehr als die Todesangst. Ich habe ihm erklärt, daß ich tun werde, was er will. Und seine Augen haben geleuchtet. Ich bin entschlossen. Ganz entschlossen. Ich rede mir ein, daß ich viel ruhiger bin, seit ich alle Ungewißheit abgeworfen habe. Aber in der Nacht kommt es wieder über mich wie ein graues Gespenst. Alle diese Ängste, diese schlimmen Ahnungen, die mich seit meiner Rückkehr nicht verlassen wollen, sind gesteigert, zusammengeflossen in ein einziges Beben, das mich mit der Dämmerung überfällt. Ich habe eine Vision gehabt, so wirklich wie ein Bild, was sage ich, wie ein Bild ... wie das Leben selbst! Ich habe mich mitten in der Manege gesehen, blutig, mit zerschmetterten Gliedern, und das Automobil in Trümmern neben mir. Und ringsherum das Publikum mit entsetzten, erstarrten Gesichtern. Und aus der Luft kam eine leuchtende Hand und wies auf Bezug, der neben mir stand. »Dieser ist es«, sagte eine Stimme, und dann fegte ein Sturm über die Arena hin und riß das Dach fort. Ich sah einen leuchtenden Sternenhimmel über dem Amphitheater und sah, wie der blutige Körper da unten aus dem Staub der Arena höher und hoher schwebte, und obzwar ich den Leib wie ein Fremdes vor mir sah, hatte ich doch zugleich die Empfindung des Höhersteigens ...

Ich werde noch wahnsinnig vor Angst.

*

Ich habe die erste Probe hinter mir. Ich habe schon einmal mit dem Leben abgeschlossen gehabt. Niemand ahnt, wie fürchterlich das ist. Ich muß sagen, es war ein angenehmes Gefühl, als ich bewußtlos wurde. In dem Augenblick, in dem ich durch die Schleife sauste und unten und oben verkehrt war, sah ich unten den Direktor und den Chauffeur und die Kollegen. Es war mir, als werde mir die Erde und der Himmel zugleich weggerissen und als schwebe ich im Bodenlosen. Diese Empfindung war so überwältigend, daß ich glaubte, mein Körper müsse bersten, zerspringen wie ein überfüllter Ballon. Ein fürchterlicher Druck, der von innen wirkte ... dann verlor ich die Besinnung.

Ich bin lange bewußtlos gelegen, sagte der Doktor Schwartzkopf. Und er will mir verbieten, die Fahrt noch einmal zu wagen. Aber ich lasse es mir nicht verbieten. Ich bestehe darauf. Werde ich nicht dich, mein Adalbert, dadurch erringen? Der Doktor ist besorgt, daß mein Organismus nicht widerstandfähig genug sei. Er hat mich untersucht und hat den Kopf geschüttelt. Mein Herz ... sagt er. Ach was! Das Schwerste ist hinter mir: die erste Fahrt.

Wenn nur diese Angst nicht wäre, die mich so schwach macht. Diese fürchterliche Angst. Aber Bezug! Ist es im Bereich des Möglichen gelegen, daß ein Mensch den anderen so quält? Ich glaube, das ist seine Rache an mir. Aber er könnte sich an dem genügen lassen, was ich schon ausgestanden habe und könnte mir sagen, wo ich Adalbert finde. Er schweigt. Ich habe ihn angefleht. Er hat mir geantwortet: »Am Abend der Vorstellung sollst du es hören. Ehe du hinausfährst.« Ich will mich nicht mehr zu einer Bitte erniedrigen.

*

Morgen werde ich wissen, was mit dir geschehen ist, mein Bruder.

Es ist Mitternacht, wie damals, als ich mit Franz fliehen wollte. Die Zeiger auf meiner Empireuhr decken sich. Ehe der Stundenzeiger zweimal den Weg um das Zifferblatt zurückgelegt hat, werde ich es wissen. Und meine Fahrt wird geschehen sein. Nur dieses einzige Mal. Das habe ich mir ausgedungen. Ein einziges Mal soll es geschehen. Denn es ist mir doch, als sei das ein Frevel. Gegen wen? Vielleicht gegen mich selbst. Aber wie kann das ein Frevel sein, was zuletzt dazu führen soll, daß ich meinen Bruder wiederfinde? –

Wenn nur die furchtbare Angst nicht wäre. Es kauert etwas hinter mir im Zimmer, eine schattenhafte Hand reckt sich nach der Uhr, und es ist, als ob die Pulsschläge des Pendels stiller würden, wie ein Herz, dessen Arbeit ermattet.

Wenn ich nur nicht so allein wäre. So ganz allein. In dieser Nacht soll ich Kräfte sammeln, ich sollte einen ruhigen Schlaf tun. Wie gerne möchte ich schlafen. Und ich wage es doch nicht. Ich fürchte mich vor dem Nichts, vor der Bewußtlosigkeit des Schlafes. Der Schlaf ist dem Tod zu sehr ähnlich. Und ich will vom Tod nichts wissen. Doktor Schwartzkopf hat es vorausgesehen, daß ich nicht werde schlafen können, und hat mir Tropfen verschrieben. Die soll ich nehmen und ich werde schlafen. Dort stehen sie. Aber ich nehme sie nicht, nein, ich nehme sie nicht. Ich will nicht schlafen.

Ich will lieber wachend den Tag erwarten ... es ist besser, Angst zu haben, als nichts zu wissen. Wenn ich Angst habe, so fühle ich doch, daß ich lebe ...


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