Rudolph Stratz
Seine englische Frau
Rudolph Stratz

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15

Ein starker kurzer Aufschrei aus ein paar hundert Kehlen durchhallte den Saal der Baumwollbörse in Liverpool. Es war der Ruf, der sich gewohnheitsmäßig jeden Nachmittag ein paar Minuten nach drei Uhr wiederholte, wenn von New-York, wo es jetzt eben erst zehn Uhr morgens war, die dortigen Anfangskurse in Baumwolle eintrafen. Ein Angestellter in Uniform stand auf der erhöhten Plattform in der einen Ecke des Raums und notierte an der riesigen Tafel die einzelnen, einander rasch folgenden Ziffern. Unten im Saal kritzelten die Bleistifte in den Notizbüchern, wurde in fliegender Eile die Marge, die Preisspannung, berechnet . . . Die paar Punkte Unterschied bedeuteten unter Umständen ein Vermögen.

Mac Cornick, der schottische Baumwollimporteur, stand träumerisch und phlegmatisch im Haufen der anderen Börsenbesucher, die jetzt, nach der ersten Aufregung, plötzlich in Schweigen verfallen waren und sich kaltblütig und herausfordernd, die Hände in den Hosentaschen, gegenseitig musterten – hier Hausse – dort Baisse – lauernd, wer den ersten Vorstoß führen würde. Er überflog noch einmal seine laufenden Engagements und nickte. Das Geschäft stand gut.

Drüben hob ein langer dürrer Gentleman den Arm und rief entschlossen mit einem näselnden Kehlton, der sofort den Amerikaner verriet: »I say! . . . 37½!«

Es wirkte wie ein Trompetenstoß! Ein wildes Stimmengewirr hinterher, erregte Gesichter, fuchtelnde Hände . . . Der Kampf flackerte eine Sekunde hellauf und ebbte wieder in eine tiefsinnige Stille vor dem Sturm. Mac Cornick hatte vorläufig genug. Er ging die Galerie entlang, von deren Wänden reihenweise die lebensgroßen Ölgemälde der Bürgermeister von Liverpool niederschauten, und fuhr mit einem der vielen, ununterbrochen im Inneren des Wolkenkratzers auf- und niedersausenden Lifts hinauf in den Arbitration-Room.

Die Nordfenster des langen schmalen Raums waren von oben durch Holzverschläge abgeblendet, so daß das Licht klar und doch gedämpft auf die vielen Kästen mit den für Handel und Wandel auf der ganzen Erde maßgebenden Baumwollproben fiel. Ein paar Herren standen mit ernsten Gesichtern, blaue Tüten in der Hand, vor einem der geöffneten Schübe und verglichen. Der Schotte nickte den Geschäftsfreunden flüchtig zu und frug einen Diener: »Mr. Fleck nicht hier?«

»War hier, Sir! Ist, glaub' ich, hinauf in den Kaffeeraum, Sir!«

»Danke!«

Der Baumwollmann stellte sich wieder in einen der Lifts und durchmaß die letzten, von Reihen von Kontoren eingenommenen Stockwerke des Gebäudes bis unter das flache Dach. Dort hatten die Börsenleute ihr Klubrestaurant, hoch über der tief unten wimmelnden Stadt. Man genoß durch die großen Glasfenster einen weiten Überblick über das hügelige Häusermeer Liverpools. Junge Mädchen in weißer Schürze und in weißen Häubchen gingen umher und bedienten. Die Scheiben des Restaurants zitterten leise in dem rauhen Herbststurm, der von der Irischen See herüberblies. Es war schon Mitte November. An dem niederen Himmel jagten sich die zerrissenen, grauen Wolken. Hier oben, wo man wie in einer Laterne saß, konnte man glauben, ihnen ganz nahe zu sein.

An einem Tisch hatte eine Gruppe aus Manchester herübergekommener Baumwollspinner Platz genommen. Unter diesen Lancashire-Leuten war auch Augustus Fleck der Jüngere. Er tat gerade, was er alle Tage tat: Er schimpfte wütend auf Deutschland. Und sah doch, so sehr er sich Mühe gab, sich durch den zahnbürstenartig kurzgeschnittenen Schnurrbart und die nachlässige Haltung zu anglisieren, äußerlich mit seiner kurzen, dicken Gestalt und dem runden Gesicht keineswegs einem Briten ähnlich. Mac Cornick setzte sich zu ihm. Solange die anderen Gentlemen da waren, sprachen sie beide auch nur vom Geschäft im allgemeinen, vom großen Eisenbahnstreik, von der Kriegsgefahr zwischen Deutschland und England, die jetzt, nachdem sie monatelang als schwarze Wolke am Himmel gestanden, sich wieder einmal allmählich verzog. Dann, als die anderen Spinner gegangen, rückten sie zusammen und erörterten ihre eigenen Angelegenheiten. Gott sei Dank: die schwersten Zeiten nach dem Sturze des Hauses Wilding und Kompanie waren für sie jetzt, nach Ablauf eines halben Jahres, überwunden. Man hatte erkannt, daß die beiden Firmen Fleck and Son und Mac Cornick immer noch gut waren. Der Schwiegervater hatte sie nicht mit in den Strudel gezogen. Und tüchtige Geschäftsleute waren sie beide – der Schotte wie der Jingo. Das wußte jeder, den es anging, zwischen New-York und Bremen.

Es dämmerte schon, als sie ihre Besprechungen beendet hatten. Augustus Fleck der Jüngere sah nach der Uhr und erhob sich. Es war Zeit zum Zug nach Manchester.

»Du gehst wohl noch ins Kontor?« frug er den anderen, seinen dicken Paletot zuknöpfend.

»Nur auf einen Sprung! Ich fahre dann noch hinunter an den Landungssteg!«

»Jetzt . . . in der Dunkelheit?«

»Ja . . .« meinte der Importeur ein wenig zögernd.

»Es ist doch gar kein Dampfer fällig . . .«

»Das nicht. Ich möchte vor dem Dinner einmal hinüber nach Birkenhead . . .«

Mr. Fleck schwieg. Mac Cornick fügte entschlossen hinzu: »Ich habe mit meiner Frau gesprochen! So geht das nicht weiter!«

Sie fuhren im Lift an einem Stockwerk mit offenstehenden Baumwollkontoren nach dem anderen vorbei und hinab in die Tiefe. Als sie vor der Börse standen, sagte der junge Manchestermann eisig beim Abschied: »Tu, was du willst! . . . Mich kümmert's nicht! Ich hab' meine Gründe!«

»Nichts ist stichhaltiger als die! . . .«

Sie trennten sich. Mac Cornick gab unten in seinem Baumwollbureau noch einige Anordnungen, bürstete sich die weißen Flocken vom Ärmel und begab sich hinunter zum Fluß. Es war schon dunkel, als er dort ankam. Ein feiner Sprühregen klatschte nieder. Draußen, auf der schwarzen Wasserfläche, stöhnte der Wind. Der Dampfer, dessen Umrisse man nur unbestimmt in der Finsternis erkennen konnte, war voll von schwarzen, sich fröstelnd aneinanderdrängenden Menschen. Er ging, bald nachdem der Schotte ihn betreten, unter dem Heulen der Dampfpfeife ab. Man hätte glauben können, er stäche in die offene See – so lange, wohl zehn Minuten und mehr, währte die Fahrt durch das Dunkel des Mersey nach dem jenseitigen Ufer.

Endlich schimmerten drüben die Lichter von Birkenhead. Die Hafenstadt und Vorstadt von Liverpool lag düster im Regentriefen des Novemberabends. Der Sturm brüllte den Fluß hinauf, fegte um die Ecken, warf einen fast zu Boden. Das war man hier und überall an der Seeseite gewohnt. Aber Mac Cornick war doch froh, als er einen Wagen fand und dem Kutscher sein Ziel, eine Straße noch jenseits der Vorstadt Claughton, bezeichnete. Der Cabby wunderte sich über den Liverpooler Gentleman. Das dort war eigentlich nicht recht mehr eine respektable Gegend. Dort wohnten mehr schon bessere Arbeiter. Er trieb sein Pferd an, überkreuzte den Hamilton Square, fuhr ein paarmal fehl und hielt endlich vor einem zweistöckigen Backsteinhäuschen, das genau so aussah wie hundert andere rechts und links von ihm, wie tausende und zehntausende in Birkenhead und Liverpool und ganz England.

Der Baumwollgroßhändler stieg aus und bedeutete dem Kutscher, zu warten. Er musterte prüfend das kleine Haus und auf seinem kühlen Antlitz war ein ernstlicher Widerwillen vor einer solchen Art zu wohnen. Dann zuckte er die Achseln und schellte.

Eine schlanke blonde junge Frau im Hauskleid öffnete und schaute spähend hinaus, wer der Besucher sei. Jetzt war der draußen wahrhaft erschrocken: Eine Lady, die eigenhändig das Haustor aufmachte . . . Das war ein Ding, das eigentlich im Vereinigten Königreich keinen Platz hatte. Das war fast schon ein Zeichen des Niedergangs der britischen Rasse. Aber Edith Merker versetzte, ganz unbefangen, ihren Verwandten erkennend: »William? Wirklich? . . . Oh . . . ich bin so froh! . . . Tritt ein! . . . Mein Mann ist schon zu Hause . . .«

Der Schotte legte seinen nassen Havelock ab und konnte sich, während er den Regenschirm in die Ecke stellte, nicht enthalten, in einem ernsten und verweisenden Ton zu fragen: »Hast du denn kein Hauspersonal?«

»Oh! Ich habe! Es ist eine Irin! Hörst du – da hinten rumort sie in der Küche! . . . Hellie! Mac Cornick ist gekommen!«

Es war ein freundliches, helles und behagliches Gemach zu ebener Erde, in das sie ihren Gast führte. Die Enge der vier Wände fiel nicht auf. Überall im Inselreich waren ja die Räume klein. Neben dieser Wohnstube war noch ein winziges Eßzimmer. Der Tisch schon sauber zu der Abendmahlzeit gedeckt. Ein paar Blumen darauf. Kamingeflacker. Die englische Gabe, überall und mit geringen Mitteln den Eindruck von Komfort zu erzeugen. Helmut Merker saß und las. Neben ihm am Boden spielte die kleine Mary. Es war ein trauliches Bild, wenn man wie Mac Cornick aus Nacht und Sturm kam. Die beiden Männer reichten sich die Hand und setzten sich, Edith ihnen gegenüber. Der Baumwollimporteur schwieg und schaute sich unbehaglich in dem Raum um. Er fühlte sich bedrückt. So sah also die Armut aus, britische Armut. Er mißbilligte, wie jeder Gentleman auf den drei Inseln, streng die Armut. Und was das wahrhaft Betrübende war: diese Paupers hier waren seine Verwandten.

Er überlegte seine Worte. Er war ein Christ. Mangel an Geld war eine Heimsuchung Gottes. Er wollte also diese schon vom Herrn geschlagenen Menschen, die dabei ganz frisch und gesund aussahen, nicht unnötig verletzen. Kranken und Leuten ohne Scheckbuch war man Mitleid schuldig. So begann er schonend: »Ich hoffe, es geht euch gut?«

»Sehr gut!«

»Sie haben immer noch Ihre Stellung bei der Manners Company Ltd. inne, Mr. Merker?«

»Ja!«

»Sind Sie mit Ihrem Salär zufrieden?«

Der andere machte eine Handbewegung durch sein kleines Reich.

»Sie sehen, ich kann leben!«

»O ja . . . ich sehe!« Mac Cornick unterdrückte den Nachsatz: »Aber wie?« . . . Ein Mann, der arbeiten mußte, um Bäcker und Fleischer zu bezahlen . . . Es war ja eigentlich beklemmend für ein eingetragenes Mitglied der Liverpooler Baumwollbörse. Die junge Frau neben ihm sagte: »Erzähle doch: Ich hab' ja schon eine Ewigkeit nichts mehr von den Meinen gehört . . .«

»Ja . . . da du das Haus meiner Frau, deiner Schwester, drüben in Liverpool mit keinem Fuß betrittst . . .«

Edith Merker legte die Hände ineinander und versetzte ruhig: »Lieber William . . . diese Rücksicht sind wir euch schuldig! Wir sind untergetaucht. Wir arbeiten hart um unser Leben. Das ist in euren Augen ein Verbrechen. Leute wie wir können nicht zu euch, sogar wenn ich etwas dazu anzuziehen hätte, was nicht der Fall ist!«

»Aber wir sind so traurig, daß . . .«

»Im Gegenteil! Ihr seid froh, daß wir euch nicht kompromittieren! Sonst würde meine Schwester viel öfter einmal nach uns sehen! Vor acht Wochen war sie zuletzt hier!«

»Ja. Sie hat daheim bitterlich in der Erinnerung an euch geweint . . .«

». . . Es wäre weise von ihr, wenn sie das uns überließe!« sagte Edith Merker. »Wie geht es ihr denn sonst?«

»Nach Wunsch!«

»Und mother?«

»Danke. Sie macht eben einen Trip nach Schottland!«

Edith und ihr Mann sahen sich an. Es war geradezu gespenstig: Ma änderte sich nicht! Mit dem wenigen Geld, das ihr die Schwiegerkinder zahlten, schoß sie nach wie vor ruhelos in der Welt herum, auf der alten Jagd nach Vergnügungen. Nur nicht mehr nach Paris und Nizza, sondern nach ganz kleinen, billigen englischen Seebädern, nicht mehr im Kreise ihrer bisherigen Bekannten, sondern wahllos anderen alten, ebenso grauhaarigen und unermüdlichen Ladies des Mittelstandes zugesellt.

»Und Dickie?«

»Dickie? . . . Nun, er hat sein kleines Haus auf dem Lande, nahe bei Manchester . . . Da lebt er nun mit seiner Familie!«

»Und was tut er?«

»Er hat einen guten Golfgrund in der Nähe . . . Da ist er den größten Teil des Tags!«

»Und Fred . . .«

»Fred hat sich neulich in Burke beim Lawn-Tennis einen zweiten Preis geholt! Seine Freunde waren sehr stolz auf ihn. Ich glaube sogar, sie trugen ihn auf den Schultern davon. Er lebt da und dort bei seinen Freunden. Er ist überall willkommen, wo guter Sport ist!«

»Also mit einem Wort: es wird weiter gefaulenzt!« sagte Helmut Merker kaltblütig. Der Großkaufmann zog die Brauen hoch.

»Das klingt, als ob Sie stolz auf Ihre jetzige Lage wären, Mr. Merker!«

»Na – wir fallen doch wenigstens niemandem zur Last! . . . Das ist doch was – nicht wahr, Edith?«

»Ja!«

»Findest du wirklich, Edith, daß dein Mann recht hat?«

»Oh . . . ich denke: Ja! Was er will, das will ich auch!«

Helmut Merker lachte.

»Uns hat das Schicksal tüchtig zusammengehämmert – meine Frau und mich! Uns kriegen Sie nicht auseinander, Mr. Mac Cornick!«

»Nichts ist mir erfreulicher, als das zu hören!« sagte der Schotte. »Und doch . . . Es ist nun einmal unsere Anschauung: selber sein Geld arbeiten lassen, ist gut! Aber für andere um Geld arbeiten . . . ist Ihnen das nicht selber peinlich, Mr. Merker?«

»Ich stehe doch nicht hinter dem Ladentisch!« sagte der junge Mann. »Ich arbeite in einem geschlossenen Kontor gegen ein, wie ich zugebe, nicht gerade fürstliches Gehalt. In der gleichen Stellung könnte ich zum Beispiel in Deutschland ruhig Reserveoffizier sein. Das ist nun wieder mein Kriterium, Mr. Mac Cornick! Ich bin Deutscher!«

»Aber Sie leben in England, dem sind Sie Rücksicht schuldig!«

»Habe ich je die englischen Gesetze verletzt? . . . Ich bin mir keiner Verfehlung bewußt!«

»Sie haben Verwandte!« sagte der Schotte ernst und würdig. »Oder vielmehr: Mrs. Merker hat Verwandte, denen es nicht gleichgültig sein kann, daß ein Glied ihrer Familie sich in solch einer niederen Lage befindet. Es ist uns peinlich! Es schadet uns in der öffentlichen Achtung! Es wird darüber geredet . . . Wir haben das ein halbes Jahr mitangesehen, weil wir genug mit uns selbst zu tun hatten. Aber nun muß hierin eine Änderung eintreten, Mr. Merker!«

»Inwiefern?«

»Sie müssen diese bezahlte Tätigkeit hier aufgeben und als Gentleman leben!«

»Wovon denn?«

»Lassen Sie das unsere Sorge sein! Wir werden Rat schaffen! . . . Wir sind es Ihrer Frau schuldig!«

»Das heißt: ich soll mich mit Dickie und Fred an der allgemeinen Bummelei beteiligen?« sagte der junge Deutsche. »So ist's doch gemeint? Eine kleine Rente . . . ein Häuschen auf dem Lande . . . auf Lebenszeit eingemottet . . . Danke gehorsamst . . . Ist nicht mein Fall . . .«

»Man könnte ja sehen, ob sich nicht bei mir eine Form der Tätigkeit . . .«

»Sie wissen so gut wie ich, daß ich von Baumwolle nichts verstehe! Bei Ihnen unnütz herumsitzen und mich dabei noch niederträchtig behandeln lassen, als der arme deutsche Vetter, der da das Gnadenbrot ißt . . . ja . . . Herrschaften! Ihr denkt immer, ihr Engländer habt das Selbstgefühl in Erbpacht genommen. Bitt' um Vergebung, Sir. Das haben wir auch!«

»Sie führen eine aufreizende Sprache, Mr. Merker! Statt mir dankbar zu sein . . .«

»Sie wollen doch nicht uns eine Wohltat erweisen,« sagte Helmut Merker, »sondern Ihr wertes Ich vor der Unannehmlichkeit, arme Verwandte zu haben, schützen! . . . Tut mir leid! . . . Es wäre mir auch lieb, wenn ich das große Los gewänne! Bis dahin verdiene ich mir mein Brot selber!«

Mac Cornick wandte sich an die junge Frau. »Edith . . . ich hoffe ernstlich, wenn ich es auch nicht sehe, daß du entrüstet darüber bist, wie Mr. Merker mit deiner Zukunft spielt . . .! . . . Nein? . . . Findest du denn nicht, daß das, was er sagt, höchst unbillig ist . . . unweise . . . unenglisch . . .? . . . Ich weiß wirklich keine stärkeren Ausdrücke mehr . . .«

»Wenn er sagt, er will lieber arbeiten, als dein Geld nehmen, so muß er es eben! . . . Er war früher zu wenig stolz. Aber jetzt ist er es so sehr. Ich liebe es an ihm. Ich bin selber stolz darauf!«

»Es mag ein deutscher Standpunkt sein, auf ein Salär von drei Pfund wöchentlich stolz zu sein!« sagte der Schotte trocken. »Darüber will ich mit einem Ausländer nicht rechten. Aber du bist Engländerin! Überlege es dir wohl, ehe du die Hand deiner Landsleute und Verwandten zurückstößt.«

»Hast du je gefunden, daß ich schon als Mädchen besonders nachgiebig war?« frug die junge Frau freundlich.

»Nein! Nichts warst du weniger!«

»Darum eben gib dir keine Mühe. Es ist umsonst. Ich geh' mit meinem Mann durch dick und dünn!«

»Gute Nacht!« sagte Mac Cornick, verließ das Haus und fuhr nach Liverpool zurück.

Der Regen schüttete durch die sternlose Nacht hernieder. Er goß ebenso die nächsten Tage und Wochen und hüllte alles – die weite Stadt, den weiten Fluß, den weiten Himmel in ein eintöniges fließendes Grau. Der Seewind blies und brachte von Norden, von der Insel Man her, ein kurzes, stiebendes, weißes Flockengewimmel. Bleierner Nebel brütete wieder über der Welt – britischer Winter mit seinem Gerüttel an den klapperigen Fenstern, seiner Zugluft durch dünne Backsteinwände, seinem sengend flackernden Kamin. An dem rückte man jetzt enger noch als sonst zusammen, der Teekessel summte sein Lied, die bläulichen Wolken der Stummelpfeife kräuselten sich an der niederen Decke – nichts unterbrach die Stille dieser Abende, das Gleichmaß der Tage, und Helmut Merker sagte einmal zu seiner Frau, die, die kleine Mary auf dem Schoß, neben ihm saß: »So ungefähr muß einem Taucher zumut sein, wenn er ganz unten auf dem Grund des Meeres angekommen ist! . . . Der hört und sieht gerade so viel von der Welt wie wir . . .«

Die englischen Verwandten hüllten sich jetzt ganz in Stillschweigen. Man hatte jenseits des Mersey den Kopf voll von dem fieberigen Zickzack der Baumwollkurse und dem drohenden Streik der Webstuhlarbeiter, der Eisenbahnen, der Karrenführer, aller möglichen Arbeitsbienen in der großen Drohnenwelt des Vereinigten Königreichs. Man dachte mit Absicht nicht mehr an Mr. Merker und seine Frau da drüben in Birkenhead. Ein Clerk war kein Gentleman. Ein Mann, der freiwillig Clerk blieb, war ein Verrückter. Dem mochte der Arzt helfen. Oder der Seelsorger. Andere Briten konnten das nicht.

Aus Deutschland kam auch nur selten ein Lebenszeichen. Alle vier Wochen ein Brief, kritzelig, von zitternder Hand, mit dem Poststempel Erbach im Odenwald. Was die Mutter schrieb, war immer das gleiche: »Ich danke Gott von Herzen, daß es Euch in England so gut geht und Du Dich in Deinem neuen Beruf so wohl fühlst! Aber Kinder . . . seid doch bei Euren Automobilfahrten recht vorsichtig! Ihr fahrt immer so schnell. Ich weiß es noch von hier. Es muß ja nicht sein. Man kommt ja immer noch früh genug zum Ziel – nicht wahr?«

Das war ihr frommer Glaube, in dem sie auch der Bankerott des Hauses Wilding und Kompanie nicht erschüttert hatte. Sie hatte das Ehepaar Merker immer so in Glück und Glanz gesehen, daß sie es sich unter anderen Verhältnissen nicht recht vorstellen konnte. Ihr Sohn ließ sie dabei. Er war nur besorgt, wenn einmal die Zeilen der Mutter ausblieben. Das kam gegen Ende des Winters ein paarmal vor. Frau Direktor Merker kränkelte. Sie konnte sich von den Folgen einer schweren Influenza nicht recht erholen. Sie schrieb einmal: »Kinder – ich glaube, ich mache es nicht lange mehr! . . . Einmal vorher möchte ich Euch noch sehen! . . . Gott geb' es, daß mein Wunsch in Erfüllung geht!«

Und wieder, wie so oft in diesem letzten Jahr, fühlte Helmut Merker die Umwertung von Raum und Zeit durch das Geld. Früher wäre ihm solch eine Reise von Liverpool bis an den Rhein eine Kleinigkeit gewesen. Jetzt gab es keinen Urlaub und die paar Zehnpfundnoten, die sie beide noch besaßen, mußten für Fälle dringendster Not aufgespart bleiben.

Der April war da – ein April, wie damals, als er vor Jahren zum erstenmal als junger Leutnant seinen Fuß auf englischen Boden gesetzt. Schneeschauer über gelben Schlüsselblumen und Narzissen, Sonnenblitze durch Regentau auf grünem Gras, Wind . . . Wind . . . Wind . . . mochte der Himmel blauen oder grauen. An Sonntagnachmittagen, wenn alle respektablen Leute über das Wochenende hinaus auf dem Lande waren und Helmut Merker mit seiner Frau drüben in Liverpool zwischen festtäglich gekleideten Kommis und Fabrikarbeitern spazieren ging, schaute er oft, auf der freien Riesenfläche rings um St. George's Hall, zwischen den Statuen englischer Staatsmänner und Menschenfreunde stehend, hinab auf die große Stadt, oder er überblickte am Fuß der Wolkenkratzer des Ufers den majestätischen Spiegel des Mersey, auf dem sich die Schiffe des weltumspannenden Handelshafens wie Nußschalen in den Docks verloren, und prüfte die fern, mitten im Strombett lagernden Windhunde des Ozeans, die Riesendampfer der Cunard-Linie, die im Winter über und über vereist, wie schwimmende Gletscher, den Fluß heraufgekeucht waren und jetzt schmuck und ungeduldig in der Frühlingssonne schimmerten, und sagte nachdenklich zu der blonden Frau an seinem Arm: »Ja . . . wenn die Briefe aus Erbach nicht immer wären, Edith . . .«

Sie verstand ihn nicht und schaute ihn fragend aus ihren blauen Augen an. Er ergänzte: »Ich meine: wenn Mama nicht wäre . . . das vor allem hält mich von der Idee zurück . . .«

Er schaute wieder nach dem »Olympic«, dessen unwahrscheinliche Größe sich in schwarzer, schlanker Linie vom Grau der Wellen abhob, und meinte: »Der geht nun nach Amerika! In sechs Tagen ist man drüben! Dort gibt es Möglichkeiten . . . hier bleibt ja doch alles beim Alten! Man kommt nicht weiter!«

»Aber drüben kann man ganz untergehen, Hellie!«

»Freilich!« sagte er. »Ich weiß es wohl! . . . Es handelt sich um Tod und Leben!«

Er brach ab und kam nicht mehr darauf zurück. Eine Woche später waren sie des Sonntags wieder von Birkenhead hinüber nach Liverpool gefahren und gingen bei klarem Frühlingsschein inmitten des Volks im Wavertree-Park spazieren. Sie waren jetzt schon so anspruchslos geworden, daß sie sich über alles freuten – über die warme Sonne – über die zahmen Schwäne auf den Gewässern – den weiten Blick ins Grüne – die Orchideenpracht und das Palmengefieder im Gewächshaus. Dort hatten sie ihren Nachbarn getroffen, der das Häuschen zu ihrer Linken bewohnte, Mr. Morton, den Maschinenbauer, der, glattrasiert und im Zylinder, mit der Würde eines Gentleman zwischen seinen Angehörigen dahinschritt. Sie hatten ihm und Mrs. Morton die Hand geschüttelt und die Hoffnung auf gutes Wetter ausgesprochen und waren dann weitergegangen. Plötzlich fühlte Edith, daß ihr Mann sie rasch in einen Seitenweg ziehen wollte. Sie lachte und frug: »Oh . . . Hellie . . . Was tust du? . . . Es kann doch niemand von meinen Verwandten hier sein . . . Heute am Sabbat doch sicherlich nicht . . .«

»Von deinen nicht, aber von meinen!« sagte er finster. »Siehst du drüben nicht den Wolfgang Wilding? Ich hab' ihn gern, aber ich hab' jetzt gar keine Lust . . .«

»Er hat uns schon bemerkt!« meinte die junge Frau und blieb stehen. Jetzt waren in ihr die englischen Erziehungsinstinkte so stark, daß sie dem herantretenden Frankfurter Patrizier freundlich wie sonst als Lady die Hand entgegenstreckte und mit sonnigem Lächeln sagte: »Oh . . . Herr von Wilding . . . Ich bin so froh, Sie zu sehen!«

Das geübte Auge des jungen Weltmannes vor ihnen erkannte natürlich sofort die Einfachheit ihres Äußeren, die Zurückgebliebenheit in der Mode. Den schlichten Hut. Den ärmlichen Schirm. Er ließ sich nichts merken, sondern lachte unbefangen und erklärte sein Hiersein: »Ich bin nämlich eben mal schnell um die Welt gerutscht. Im November von Berlin fort . . . Ceylon . . . Hinterindien . . . China . . . Japan . . . na . . . so der ganze Schwamm . . . und jetzt von den States hier herüber . . . mit der Cunard-Linie . . .«

»Warum nicht mit einem deutschen Schiff?« frug Helmut Merker. Er mußte etwas sagen und fühlte doch gerade diesem Vetter gegenüber die Befangenheit der Armut. Wolfgang von Wilding lachte wieder: ». . . Weil ich gern ganz dumm und schläfrig in der Ecke sitze und zuhöre, was sich die Engländer so untereinander zu erzählen haben! Wenn sie wüßten, wer ich bin, vertrauten sie mir ihre Herzensgeheimnisse gegen Deutschland ganz gewiß nicht an. Es wäre auch sehr unhöflich von ihnen. Euch kann man nicht über den Weg trauen, Verehrteste!«

»Euch?« sagte Edith. »Oh . . . wir sind Deutsche!«

»Mehr als je in meinem Leben!« ergänzte ihr Mann.

»So? . . . Na . . . das freut mich! . . . Ich hatte gehört, du seist jetzt ganz nach England verzogen . . .«

»Das allerdings!«

»Und hier in den Betrieb von Verwandten in Liverpool oder Manchester eingetreten . . . so hat man mir gesagt . . . verzeih . . . ich weiß ja nichts Genaueres . . . Du warst ja mit einem Schlag uns in Deutschland so völlig aus dem Gesichtskreis gerückt, und ich trat meine große Reise an . . . na . . . Es geht dir aber doch gut?«

Die Frage klang unsicher. Niemand konnte besser als dieser junge Diplomat den Abstand zwischen dem verwöhnten Ehepaar von einst und diesen beiden einfachen, ruhigen, trotz ihrer Jugend ernsten Menschen ermessen. Helmut Merker sagte gelassen: »Wolfgang . . . wenn du jetzt ein Brite wärest, gingst du schnell an uns vorbei. Nach englischer Ansicht ist die Berührung mit einem Mann ohne Geld gefährlicher als Typhus und Pest. Ein Gentleman sieht gern einem Tiger ins Auge, aber nicht einem Pauper. Und wir sind Paupers . . .«

»Na . . . so arg wird es doch . . .«

»Obwohl du Diplomat bist, Wolfgang – diesen Zweifel bringst du doch nicht glaubwürdig heraus! . . . Du weißt es besser! . . . Du brauchst uns ja nur anzusehen! . . . Wir machen auch gar kein Hehl daraus. Wir sind über viele Dinge hinaus – weißt du . . .«

Es widerfuhr dem jungen Weltmann selten, daß er nicht gleich eine gewandte Antwort fand. Aber diesmal schwieg er, und sein Vetter fuhr fort: »Ein großer Schritt . . . vom Dandy zum Clerk. Der bin ich nämlich . . . trag' es mir, bitte, nicht nach . . . aber leben muß der Mensch – und ein noch viel größerer Schritt für Edith von Belgravia nach Birkenhead . . . da drüben, wo die Schornsteine rauchen. Da wohnen wir. Ich kann dich kaum einladen, unser Haus zu betreten . . . Was haben wir denn heute zum Essen?«

Edith lachte.

»Kalte Hammelkeule! Peggy kocht doch am Sabbat nicht!«

»Na – was das betrifft . . .« sagte Wolfgang von Wilding. »Herrschaften: ich hab' Hunger! Wenn ihr mich mitnehmen wollt . . . Ich freu' mich riesig, daß ich euch getroffen hab'!«

Wenn er es nicht schon geahnt hätte, wie es um das Ehepaar Merker stand, so hätte es ihm, der England und die Engländer kannte, der Anblick ihrer Straße, ihres Hauses verraten. Hier wohnte man nicht. Das schlug aller Respektabilität ins Gesicht. So wenig Leute, die etwas auf sich hielten, in Paris auf dem Montmartre, in London auf der Surrey-Side, in Berlin im Scheunenviertel ihr Heim aufschlugen, so wenig zog man in solch eine Vorstadt hinaus. Man war deklassiert. Wollte es sein. Der Hausherr sagte es auch, als sie bei einem Pint Ale aus Zinnkrügen vor der kalten Hammelkeule saßen, die Edith eigenhändig auftrug. Denn Peggy, die irische Magd, war nicht salonfähig. Er trank dem anderen zu, unwillkürlich mit der Armbewegung des preußischen Offiziers: »Ich glaube, du bist der erste Gast, Wolfgang, den wir hier überhaupt zum Dinner haben! Wir leben hier gewissermaßen inkognito! . . . Es stört uns auch niemand! Es ist merkwürdig, wie rasch der Mensch vergessen wird!«

Wolfgang von Wilding ging, solange man bei Tisch war, nicht weiter auf diese Dinge ein. Aber als nach aufgehobener Tafel Edith hinaufgegangen war, um ihr Töchterchen zu Bett zu bringen, und die beiden Männer sich Pfeife und Zigarre anzündeten, hub er an: »Also leichten Herzens bist du nicht aus Deutschland und aus der Armee weg?«

»Ich bin Soldat mit Leib und Seele!«

»Ich meine nur, weil du doch damals in Alsheim freiwillig . . .«

»Das war die große Dummheit meines Lebens . . . Was seitdem geschehen ist, das scheint mir wie eine Strafe dafür. Sogar der totale Zusammenbruch meines Schwiegervaters. Und nun hier das Schuften um das tägliche Brot!«

»Ich dacht' immer, deine Frau hat so reiche Verwandte!«

»Hat sie auch! Die finden unsere Existenz hier höchst unchristlich! . . . Nach ihrer Meinung soll unsereins essen, trinken, schlafen und Sonntags dem Lord in der Kirche danken, daß man nischt zu tun braucht. Wie ich das abschlug, da sagten sie sich: Na . . . wenn sich ein Pauper mit Gewalt nicht speisen lassen will, dann kann man ja die Bibel wieder auf das Stehpult legen und auf die Baumwollbörse gehen! Schluß!«

»Du . . . das gefällt mir aber sehr an dir!« sagte Wolfgang von Wilding nachdenklich. »Früher warst du nicht so . . .«

»Nee – wahrhaftig nicht! . . . Man lernt immer 'was zu, wenn es einem schief geht!« erwiderte der junge Hausherr. Seine Frau kam herein, brachte eine Flasche Portwein, die sie inzwischen selbst in der Eile über die Straße geholt, und zwei Gläser, nickte ihnen zu und ging wieder. Er schaute hinter ihr her.

»Du hast die Edith doch auch früher gekannt, Vetter! . . . Kannst du dir das jetzt so bei ihr vorstellen . . .? Das ist nicht nur heute abend so, dir zu Ehren . . . nein . . . so ist das immer, seit wir in des Deubels Küche sind! . . . Als es uns noch gut ging, hat sie mich allein gelassen . . . Jetzt in der Not ist sie mein Kamerad! Und ich glaube, sie hat noch nie darüber nachgedacht, ob das ihre Pflicht ist oder nicht . . . Sie tut's eben . . . Sie würde, wenn wir an irgendeiner wüsten Insel Schiffbruch litten, mit derselben stoischen Ruhe am Ufer hocken und ein Feuer anzünden! Sie weiß selber nicht, wie tapfer sie ist. Lieb gehabt hab' ich sie immer. Aber achten tu' ich sie jetzt ganz anders und noch viel mehr wie früher . . .«

»Ihr gefallt mir alle beide!« sagte Wolfgang von Wilding wieder, in einem herzlicheren Ton, als es sonst seine glatte, liebenswürdige Weltmannsart war. Sein Vetter kam wieder auf das zurück, was ihn im Stehen und Gehen, im Wachen und Träumen beschäftigte: das deutsche Heer.

»Was gäbe die Edith jetzt bei uns daheim für eine famose kleine Offiziersfrau! Jetzt hat sie sich die Hörner abgelaufen! Jetzt würde sie sich so gut bei uns einleben! . . . Jetzt wäre sie nicht mehr eine englische Lady in einem preußischen Regiment, sondern würde eine Deutsche durch und durch, und würde mich verstehen und meinen Beruf und was Dienst heißt . . . Und gerade, wenn man so weit ist, ist's eben dadurch auch zu spät und das Tor zu . . .«

Er versank, den blauen Wolken seiner Pfeife nachschauend, in Träumen: »Wie ich vor anderthalb Jahren nach Deutschland zurückging, um wieder Soldat zu werden,« sagte er, »da hatten wir glücklich gerade noch zwölftausend Mark von unserem Kommißvermögen nicht verputzt! Die ließ ich natürlich meiner Frau. Und die hat es ebenso natürlich in den paar Monaten darauf, ehe der Alte umschmiß, gewissenhaft für Handschuhe oder Blumen oder was weiß ich, ausgegeben! . . . Hätten wir nur das bißchen Geld noch besessen – es hätte genügt, uns zur Not und mit Anstand bis zum Hauptmann erster Klasse über Wasser zu halten. Wir hätten in Deutschland in der Front bleiben können. So geht's! Hunderttausend schmeißt man ungestraft hinaus und über die letzten Groschen kommt man zu Fall . . .«

Er kam im Laufe des Abends mit einer unstillbaren Sehnsucht, einer unbewußten Hartnäckigkeit immer wieder auf die preußische Armee zurück.

»Mein Oberst in Czenstowitz war so ein tadelloser Kerl! Wie ich mich bei ihm abmeldete, hielt er meine Hand lange fest und sagte: ›Ich lasse Sie ungern ziehen . . . Wenn sich Ihre Verhältnisse wieder bessern sollten, was ich zu Gott hoffe . . . wir halten Ihnen, solange wir können, bei uns einen Platz offen!‹«

Und wieder nach einem Schweigen fügte er hinzu: »Ein Jahr war ich auf Urlaub. Dann war ich wieder ein halbes Jahr in der Front. Nun bin ich ein Jahr ganz weg. Zusammen zwei Jahre bei insgesamt dreizehn Jahren Dienstzeit . . . Das ist nicht so schlimm. Da stellt einen Majestät bei guter Empfehlung immer noch wieder an. Aber natürlich . . . die Zeit verrinnt . . . jeder Tag entfernt einen weiter von der Möglichkeit. Es ist besser, man denkt gar nicht darüber nach. Es ist ja doch alles vorbei . . .«

»Und deine Tätigkeit hier als Kaufmann macht dir gar keinen Spaß?«

Helmut Merker zuckte die Achseln.

»Lieber Wolfgang . . . du bist noch nicht verheiratet! Sonst wüßtest du, daß es eine verflucht ernste Sache ist, für Frau und Kind zu sorgen. Dagegen tritt alles andere zurück, auch ob man Freude an seinem Beruf hat oder nicht!«

Er stand auf, ging zur Türe, um zu lauschen, ob Edith noch oben sei, kam zurück und sagte, sich wieder setzend, halblaut: »Schau mich doch mal an, alter Kerl, ob ich von Gottes und Rechts wegen in ein Kontor taug'? . . . Ich zög' wahrhaftig lieber den Säbel, als daß ich die Feder in die Tinte tauche, und säße lieber auf dem Gaul als auf dem Drehschemel! Und wenn es wenigstens ein sicheres Brot wäre . . . Ich bin doch kein gelernter Kaufmann! Im Handumdrehen wird man das nicht!«

»Aber du hast doch hier die Stellung gefunden!«

»Ja, Liebster . . . durch Empfehlung! . . . Der alte Mr. Mathes aus London hat hier immer noch viel zu sagen! Aber – offen gestanden – er liegt so gut wie im Sterben. Er kann den Verlust von gut elf Zwölftel seines Vermögens nicht verwinden. Er macht es höchstens noch ein Vierteljahr! Und was dann aus mir hier wird, wenn man auf ihn keine Rücksicht mehr zu nehmen braucht . . .«

Er leerte den Rest in seinem Portweinglas, klopfte seine kurze Pfeife aus, stopfte sie neu und sprach dabei zwischen den Zähnen: »Schließlich bleibt einem doch nur Amerika! Dort kann jeder wenigstens hoffen, so lange, bis er stirbt! . . . Es ist freilich erst recht ein Sprung ins Dunkle! . . . Ich bin kein großer, geschäftlicher Kopf! . . . Ich gäb' einen guten Compagniechef ab – ich könnt' es vielleicht bis zum Regimentskommandeur bringen oder gar, bei viel Glück, bis zur Brigade . . . aber hier . . . ja nun . . . das Leben muß gelebt werden . . . Gib mir mal dein Glas! . . . Du trinkst ja nichts!«

Der junge Diplomat war schweigsam und nachdenklich geworden. Er brach zeitig auf. Er wollte am nächsten Tag mit dem ersten Frühzug nach London weiter. Sein Vetter begleitete ihn, der sich in diesen nächtlichen Vorstädten nie zurechtgefunden hatte, den weiten Weg bis nach Liverpool zurück. Als sie an der Lime-Street-Station vorbeikamen, von der aus Wolfgang von Wilding in wenigen Stunden die Stadt verlassen sollte, blieb er plötzlich stehen und frug: »Kann ich dir nicht irgendwie behilflich sein, Helmut?«

»O doch!«

»Wie denn? . . . Bitte . . . sprich . . .«

»Wohin gehst du jetzt?«

»Zuerst zu meinem alten Herrn nach Frankfurt, um mich von der Weltumsegelung zurück zu melden, und dann weiter nach Berlin!«

»Also . . . wenn du in Frankfurt bist . . . Es ist ja für dich mit eurem Auto nur ein Katzensprung . . . kaum ein paar Stunden . . . fahre einmal nach Erbach hinüber und schau nach meiner Mutter!«

»Ja. Gern.«

Sie waren bis zu dem nahen Adelphi-Hotel weitergeschritten und hatten unter dessen Portal Halt gemacht. Helmut Merker fuhr fort: »Ich bin in Sorgen um ihr Befinden. Mein Ludwigshafener Bruder schreibt mir ja öfters darüber. Aber er ist selbst Sohn und sieht das, was er gerne sehen will . . . Ich möchte, daß einmal ein Dritter mir ganz reinen Wein einschenkt. Willst du das?«

»Du kannst dich auf mich verlassen!«

Herr von Wilding hatte noch manches auf dem Herzen, was er dem Vetter sagen wollte. Aber nun war es zu spät. Helmut Merker drückte ihm stumm die Hand, ging mit großen Schritten quer über den Platz und die abfallende Ranelaghstreet hinunter und war schon im Dunkel der Nacht verschwunden . . .

Wenn die großen Liverpooler Dampfer von Amerika kamen oder dorthin abgingen, machten sie an dem Uferkai hinter dem riesigen Zollgebäude fest. Da war dann immer ein buntes Leben. Cab auf Cab mit Reisenden rollte unter die hölzerne Überdachung der Docks, Frachtwagen mit Haufen von Schiffskoffern knarrten heran, Agenten, Makler, Clerks liefen mit Papieren in der Hand, die Dampfkräne ächzten und sandten ihre eisernen Schwebeketten auf die steinerne Fläche vor der hochragenden Bordwand des Riesen nieder, weinende Damen wanderten mit Blumen über die langen, zum Verdeck führenden Laufstege, deren Eingänge nach der Stadt zu Schutzleute bewachten.

Viel Volk sammelte sich immer davor und sah sich das Schauspiel an. Unter ihm stand in diesen Tagen, wenn ihn der Weg in Geschäften von Birkenhead nach Liverpool führte, ein paarmal auch Helmut Merker und betrachtete diese seltsame Mischung von Schicksalsernst und gleichgültiger Alltäglichkeit, die jede Abfahrt eines solchen Dampfers mit sich brachte, und sah die Europamüden, die da mit Sack und Pack, ohne sich umzuschauen, ihr schwimmendes Obdach für die nächste Zeit erklommen, und dachte sich: Wer weiß: Bald bist du auch darunter und gehst einer Zukunft entgegen, die noch unsicherer ist als alles bisher . . .

Acht Tage, nachdem Wolfgang von Wilding Liverpool verlassen, erhielt er einen Brief von ihm aus Frankfurt, gerade in dem Augenblick, als er auf die Trambahn springen wollte, um sein Kontor aufzusuchen. Unterwegs las er die Zeilen.

»Lieber Vetter Helmut!

Gestern war ich bei Deiner guten Mutter und saß zwei Stunden bei ihr. Ich hab' ihr viel von Euch erzählt und in der Form, wie sie selbst sich Euer Leben ausmalt. Ich wäre noch länger geblieben. Aber sie war zu erschöpft. Ich habe dann auch noch mit dem Arzt geredet, und getreu dem Versprechen der Wahrheit, das ich Dir gegeben habe, möchte ich Dir raten: Benutze, wenn Du irgend kannst, die kommenden Pfingsttage zu einer Fahrt hierher! . . . Schiebe es nicht zu lange auf . . . Niemand vermag vorherzusagen, was eintreten könnte und wann. Es besteht in diesem Augenblick keine unmittelbare Gefahr. Aber Du verstehst schon, lieber Helmut, was ich meine.

Wenn Du hierher kommst, dann gehe, bitte, nicht an meinem Vater in Frankfurt vorbei. Ich habe ihm von Dir berichtet. Er würde Dich aus bestimmten Gründen sehr gerne einmal wiedersehen!

Ich selbst sitze hier neben dem gepackten Koffer und fahre heute nacht nach Berlin in die Wilhelmstraße zurück. Bismarck wußte, warum er als Referendar schaudernd aus dem Staatsdienst floh. Aber ich bin kein Bismarck und bleibe. – Ich küsse Frau Edith in wahrhafter Hochachtung die Hand und drücke die Deine als

Dein Wolfgang.«

Helmut Merker steckte den Brief zu sich und ging langsam, mit gesenktem Haupt, den kurzen Weg von der Haltestelle bis zu seinem Bureau. Er verbrachte den Vormittag in schweren Gedanken und tat nur mechanisch sein Werk. Dann mußte er noch einen aus New-York gelandeten Geschäftsfreund, der Zollschwierigkeiten hatte, hinüber nach Liverpool und in den großen, von dem ragenden Uhrturm flankierten Wolkenkratzer des Amtsgebäudes am Ufer begleiten. Der Nachmittag verstrich und es dunkelte, bis er zurückkehrte und gleich den Weg nach seinem Heim einschlug.

Edith öffnete ihm. Sie sah blaß und erregt aus.

»Wo warst du denn?« sagte sie. »Ich habe seit drei Stunden nach dir telephoniert und dich nicht gefunden!«

»Ja, wie soll man drüben am Hafen einen Menschen finden? Ist etwas geschehen?«

»Eine Depesche ist gekommen! Von deinem Bruder aus Ludwigshafen. Da!«

Er las: »Fahre so rasch wie möglich nach Erbach. Befinden ernst.

Leopold.«

Die beiden sahen sich einen Augenblick schweigend an. Dann versetzte Edith: »Wir müssen gleich reisen. Gottlob haben wir den Sparpfennig.«

»Und Klein-Mary?«

»Ich hab meiner Schwester Jane telephoniert. Sie war schon hier und hat sie abgeholt. Sie behält sie unterdessen bei sich!«

»Ja . . . und der Urlaub . . .«

»Heute ist doch schon Montag. Übermorgen schließt doch alles über Pfingsten!«

Ihr Mann riß seinen Zylinderhut vom Haken und eilte nochmals in die Nacht hinaus. Nach einer Stunde kam er zurück.

»Gott sei Dank, der Chef war noch in seiner Office . . . Ich kann sofort reisen! Ich habe acht Tage frei! Wir müssen gleich packen!«

»Es ist schon alles gepackt, Hellie! . . .«

»Dann erreichen wir noch den Nachtzug nach London, und sind morgen abend in Deutschland!« Er atmete schwer auf. »Ich fürchte, zum letztenmal für immer in Deutschland, Edith . . .«



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