Rudolph Stratz
Seine englische Frau
Rudolph Stratz

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Erstes Buch

1

Es ist ein Spion!« sagte der alte britische Gentleman vom Lande zu den beiden Misses. ». . . Ein deutscher Spion . . .«

Jener deutsche Spion, von dem der Engländer jeden Morgen und jeden Abend in jedem Pennyblatt las, der überall im Inselreich war, wie Wind und Luft. Und ebenso unfaßbar und unsichtbar war wie diese. Der alte Herr vom Lande war förmlich erleichtert, daß der einmal körperliches Leben gewonnen hatte, in Gestalt dieses blonden jungen Teutonen, der hoch da oben auf steilen Kreideklippen saß und auf die Stadt Dover herniederschaute.

Zwei Scoutboys in Khaki und Schlapphut hatten ihn zuerst entdeckt, sommersprossige halbwüchsige Späherknaben der Jugendwehr, die der General Baden-Powell angelsächsische Tugend lehrte: wie die Rothäute im Freien abkochen, jeden Tag ein gutes Werk tun und an den Küsten auslugen, ob die Deutschen noch nicht kämen . . .

Da war endlich einer. Ein unverkennbarer Germane. Er zeichnete sich mit seinem Strohhut, seinem aufgedrehten Schnurrbart, seinem gebräunten jugendlichen Gesicht scharf von dem Blaßblau des halbbewölkten, winddurchbrausten Aprilhimmels ab. Unter seinem Grassitz schossen die weißen Felswände senkrecht ein paar hundert Fuß tief in den schneeigen Gischt der Brandung und die grauen Wogen des Kanals. Der junge Mann ließ schwindelfrei die Beine über dem Abgrund baumeln. Er beugte sich zuweilen vor, sann und machte dann geheimnisvolle Einzeichnungen in ein kleines Notizbuch, das er auf den Knieen hielt.

Gerade unter ihm, wie auf einem Präsentierbrett, lag der Hafen von Dover mit den wichtigen Neubauten des Admiralitätspiers, auf dessen Betonblöcken Hunderte von Arbeitern geschäftig wie Fliegen zwischen Zuckerstücken umherkrochen, lag der Leuchtturm, erhob sich mitten im Wasserbecken das Panzerfort und streckte schweigsam, schneckengleich seine Fühlhörner, zwei baumlange Kanonenrohre, in die Welt hinaus . . . Der alte Herr vom Lande, der auf ein paar Tage an die Seeseite gekommen war, um ein wenig Salzluft zu schnappen, hatte sorgenvoll den Kopf geschüttelt, als ihn die beiden atemlosen Späherknaben auf den Spion da oben aufmerksam machten. Er kam gerade von der Beschäftigung, die einem respektablen englischen Gentleman in seinen Jahren angemessen war: er hatte Golf gespielt. Ein kleiner Junge trug ihm das Futteral mit Schlagstöcken nach. Er selbst wandte sich an die beiden ältlichen Misses, die kurz geschürzt, das Rakett in der Hand, auf dem Weg zum Tennisplatz waren. Sein Gesicht drückte gekränkte Achtbarkeit aus. Er wies in die Höhe.

»Wir sind auf Schritt und Tritt von Spionen umringt!« wiederholte er nachdrücklich. »Ich glaube nicht, daß die deutschen Kellner in meinem Hotel Kellner sind! Es sind deutsche Offiziere. Der erste Gang der deutschen Geschäftsreisenden, die ich hier auf der Bahn traf, wird in Berlin nach dem Kriegsministerium sein. Nichts wäre törichter als zu leugnen, daß die vielen deutschen Barbiere in England ihre Helfershelfer vorstellen. Ich wage zu behaupten, daß mehr als eine der deutschen Gouvernanten, denen wir unsere Häuser öffnen, militärisch geschult ist und ihre Wahrnehmungen an das ›Vaterland‹ berichtet. Das alles ist kein Geheimnis. Aber da oben zeigt er sich wahrhaft zynisch offen!«

Die Möwen schrieen und flatterten um die weißen Kreideklippen, als wollten sie das Vereinigte Königreich warnen, unten dröhnte und schwappte der Schaumgürtel des Meeres, der Wind stöhnte. Der junge Mann oben, dem alle Blicke galten, drückte sich den Strohhut fester auf den blonden Kopf. Dann kritzelte er wieder verdächtig in seinem Buch.

»Oh . . . ich entsinne mich!« sagte die ältere der beiden Misses zwischen ihren breit entwickelten Schneidezähnen hervor, »ich hab' ihn gestern schon drüben nahe bei Fort Bourgoyne gesehen.«

»Und ich spät nachts noch von meinem Fenster aus auf der Esplanade!« ergänzte die Jüngere. »Er schwenkte seinen Stock und pfiff. Vielleicht gab er verabredete Zeichen!«

»Es muß etwas geschehen!« erklärte der alte Herr vom Lande bestimmt. Das Fieber des Sportmanns, dem unvermutet ein seltenes und gefährliches Wild vor die Flinte kommt, hatte ihn erfaßt. Er schickte die Knaben in Khaki wieder nach oben. Sie sollten den Fremden belauern. Während die Jungen sich geduckt und vorsichtig an den Nichtsahnenden heranpirschten, schaute sich der Gentleman selbst nach hinten um. Überall' um ihn war in der Talsenkung hinter dem Schloß von Dover jetzt, in diesen ersten Nachmittagstunden, der Sport im Gang. Die Soldaten aus der nahen Kaserne traten sich den wuchtigen Fußball zu, junge Leute aus der Stadt übten das Cricket, Burschen aus dem Volke tummelten sich mit Lederbällen, die kleinen Golfkugeln schossen wie die Mäuse hunderte von Schritten weit zwischen den roten Fähnchen über den saftigen grünen Rasen, junge Mädchen standen in Reih und Glied und schossen mit Pfeilen nach der Scheibe, drüben flogen die Lawn-Tennis-Bälle – ganz England schien ein einziger großer Spielplatz, und da oben saß der Feind . . .

Eine Anzahl Offiziere hielt mitten im Hockey inne, als der Warnungszug sich ihnen nahte, voraus der alte Herr, dann die beiden Misses, der Golfjunge, zwei Foxterrier und mehrere Neugierige. Ein Hauptmann im weißen Flanellanzug zuckte die Schultern: »Viel Neues wird der Deutsche da oben nicht sehen, Sir!«

»Well, Captain,« sagte der Gentleman erregt und außer Atem. »Lassen Sie die deutschen Spione nur gewähren! Wenn es zu spät ist, ist es zu spät! . . . Ich werde auf jeden Fall Nachricht an die Behörden schicken, was hier vorgeht!«

Er schrieb ein paar Zeilen auf seine Visitenkarte und sandte den Golfjungen damit im Trab bergab.

Der Offizier war jetzt auch nachdenklich geworden. »Man könnte ja hingehen und nachsehen, was er treibt!« schlug er vor.

Im selben Augenblick kam einer der Späherknaben in langen Sprüngen heran.

»Nun – was ist mit ihm?«

»Er singt!«

»Er singt?«

»Ja. Er liegt lang auf dem Rücken und singt! Dann setzt er sich wieder auf und schreibt in sein Buch!«

»Vorwärts!« sagte der alte Herr entschlossen. »Dies Buch darf nicht außer Landes gehen!«

Sie stiegen in schweigendem Zug die grünen Hügel hinan. Den Fremden konnte man jetzt nicht sehen. Überhaupt nichts als ein Stück Rasen, den weiten Himmel und das weite Meer. Das rauschte fernhin, in unruhigem, sonnenüberglitzerten Silbergrau. Drüben zur Rechten war am Horizont ein weißer Flimmer. Die Kreide der französischen Küste. Calais. Boulogne. Sturm kam von dort, pfiff hier oben über die kahle Höhe, nahm den Atem, ebbte ab und in der plötzlichen Stille hörte man auf einmal wieder ganz in der Nähe den Deutschen singen. Er lag auf dem Grasboden, die Hände unter dem Kopf verschränkt, ganz wie es der Späherknabe gemeldet. Dessen Kamerad kauerte zehn Schritte abseits in einer Bodenfurche und belauerte den Fremden so atemlos gespannt, mit funkelnden Augen, wie der Vorstehhund das Moorhuhn im Lager, ohne daß jener eine Ahnung davon hatte.

Der schlug vielmehr im Ruhen gemächlich ein Bein über das andere, schaute hinauf in die hohe Himmelswölbung mit ihren fliegenden weißen Wolken und ihrem Sonnenblau und sang mit fröhlicher, ungeschulter Stimme:

»Winterstürme wichen dem Wonnemond,
in mildem Lichte leuchtet der Lenz . . .«

Die Briten verstanden die deutschen Worte nicht, keiner von ihnen sprach eine Silbe Deutsch. Immerhin machte sie das stutzig. Ein jodelnder Spion? . . . Aber vielleicht war das gerade teutonische Hinterlist, sich harmlos zu geben . . .

». . . durch Wald und Auen
weht sein Atem,
weit geöffnet
lacht sein Aug'.«

Der Deutsche sang in heller Begeisterung. Förmlich andächtig. Er war ein hübscher Mensch. Groß, schlank, zu Ende der Zwanzig, mit kurzem blondem Haar und Schnurrbart und von der Sonne gebräuntem Gesicht. Auf dem lag ein lustiges Lächeln, Zufriedenheit mit Gott und der Welt und sich selber und seinem Schicksal. Lieber Himmel ja: Urlaub . . . Freiheit . . . 'n bißchen Geld in der Tasche . . . um einen der Frühling . . . Und wenn es auch nur ein englischer Frühling war, mit kalter Seebrise und kühler Sonne und einer kurzen, grauströmenden Regenhusche, dort weit überm Meer . . . die wilden Narzissen beugten doch ringsum tausendfach ihre gelben Blüten im Wind, das Gras war grün, und aus ihm wuchsen blaue Veilchen, und ganz in der Ferne spielte jemand einen schottischen Dudelsack . . . seltsam, träumerisch . . . Man konnte die Augen schließen . . . ein bißchen schlafen . . .

»Guten Tag, Sir!«

Der englische Captain hatte sich in seinem weißwollenen Sportanzug neben dem Deutschen niedergesetzt und nickte ihm lächelnd zu.

Der andere erwiderte es freundlich. »'Tag, 'Tag!«

Die beiden muskulösen jungen Männer schauten sich prüfend an. Dann meinte der Brite harmlos: »Schon lange im Lande, Sir?«

»Nein . . . erst seit vorgestern . . .«

»Und immer hier in der Gegend?«

»Ja. Ich sammle mir noch ein bißchen Mumm, bis ich nach London rutsche! . . . Es hapert bei mir noch mit dem Englisch! Wissen Sie . . . ich hab' vorläufig noch so meine eigene Aussprache . . .«

»Nach der zu urteilen, sind Sie ein Deutscher, Sir!«

Der junge Mann lachte. Auch in seinen blauen Augen war ein lustiger Schein.

»Na . . . und ob!« sagte er.

»In Deutschland dient ja jeder, nicht wahr?«

»Freilich!«

»Sie wohl auch?«

»Gewiß! Ich bin sogar Offizier!«

»In der aktiven Armee?«

»Ja. Bei der Infanterie!«

Es war ein nachdenkliches Schweigen. Hinter dem Rücken der beiden sammelten sich immer mehr Neugierige und beobachteten in stoischer britischer Ruhe und mit offenem Mund das Verhör, von dem nur der Deutsche selber noch nichts merkte.

Der Captain riß ein paar Gräser aus dem Boden und meinte, da ihm nichts anderes einfiel, gewöhnheitsmäßig: »Ein schöner Tag heute, Sir!«

»Ja. Ganz nett! Ein bißchen frisch!«

»Gedenken Sie noch länger zu bleiben?«

»Ich weiß noch nicht! Ich plane noch einen Besuch in der Nähe.«

»Sie waren auch schon drüben, auf der anderen Seite, bei den Forts?«

»Ja. Wie geht's übrigens Ihrer verehrten Frau Tante, wenn ich fragen darf? Ist die alte Dame wohl und munter?«

»Welche Tante meinen Sie, Sir?«

»Na . . . irgendeine werden Sie doch haben! Wenn Sie mich so ausforschen, muß ich doch auch ein bißchen Interesse für Sie zeigen!« sagte der junge Deutsche und lachte wieder.

Der Brite stimmte nicht mit ein. »Es hat seine Gründe, Sir. Es hat seine Gründe. Ich bitte Sie um Verzeihung! Ein Gentleman kümmert sich bei uns gewiß nicht um den andern. Aber Sie sind Ausländer und . . .«

»Na . . . hören Sie! Wieviel Landsleute von Ihnen ich unterwegs in Deutschland getroffen hab' . . . wenn ich die hätte alle ausfragen wollen, woher und wohin . . .«

»Aber Sie sind Offizier!«

»Glauben Sie denn, daß ich Ihnen von hier oben aus Ihrem offenen Allerweltshafen was wegschauen kann?« frug der deutsche Leutnant belustigt. »Das würde Ihnen bei uns jeder Fähnrich sagen, daß hier nichts zu holen ist – aber auch nichts!«

»Ich weiß es selber, Sir! Ich bin auch Offizier!«

»Oh . . . freut mich, Sie kennen zu lernen, Herr Kamerad!« Der Deutsche streckte im Sitzen dem Angelsachsen unbefangen die Hand hin.

Der drückte sie und sagte dann zurückhaltend: »Sie haben aber auch an sonstigen Stellen sich Aufzeichnungen gemacht!«

Die ganze Zeit über hatten seine Augen das verdächtige Notizbuch gesucht. Jetzt, bei einer raschen Bewegung des andern, sah er es. Es lag da am Boden. Ein dünnes, schwarzes Heft. Unscheinbar, wie es jeder Schuljunge besitzen konnte. Und doch standen vielleicht alle Geheimnisse des Inselreichs darin. Der Captain ließ den Blick nicht von dem unheimlichen Ding.

»Sie würden sich und uns viel Sorge ersparen, Sir,« begann er langsam, argwöhnisch, »wenn Sie mich einmal einen Blick in dies Buch tun ließen!«

Jetzt erst wurde der blonde Deutsche stutzig.

»Sie wollen mich wohl hier richtig ausspionieren – was?«

»Oder Sie uns, Sir!«

Das entscheidende Wort war gefallen. Der Brite fügte hinzu: »Nur einen Blick, bitte!«

Er hatte die Absicht, das Heft, wenn er es einmal in Händen hielt, um keinen Preis wieder herzugeben. Sein Gegner zuckte die Achseln.

»Können Sie Deutsch? Nicht? Na – was hilft es Ihnen dann?«

»Es könnten doch Pläne und Skizzen darin sein!«

Der Hauptmann versuchte mit einem blitzschnellen, zäher Sportgewandtheit entstammenden Griff sich des Notizbuches zu bemächtigen. Aber der Leutnant war noch flinker. Er sprang auf die Beine, steckte es hastig in die Innentasche seines grauen Reisejacketts, knöpfte das zu, stülpte sich den Strohhut auf und versetzte scharf und bestimmt: »Lassen Sie gefälligst diese Scherze unterwegs, wenn ich bitten darf! . . . Darin versteh' ich keinen Spaß!«

Hinter ihm klang ein sonderbares, unartikuliertes, dumpfes Geräusch von vielen Stimmen. Der Deutsche drehte sich um.

»Gerechter Strohsack!« sagte er. »Was ist denn das für eine Menagerie?«

Es standen da wohl drei, vier Dutzend Menschen, die sich inzwischen angesammelt hatten: alte Gentlemen, Laufburschen, Misses, Soldaten, Arbeiter, Sportsleute. Und die meisten von ihnen ließen dies düstere Brummen eines Bärenzwingers ertönen.

»Sagen Sie mal: ist den Leuten übel? Haben die was Unverdauliches gegessen?«

»Sie grunzen Sie aus!« erklärte der Captain. »Sie geben ihre Beunruhigung und ihr Mißfallen über Sie zu erkennen!«

Der deutsche Spion lachte und klopfte sich die Erdspuren von seinen Kleidern.

»Na – dann will ich das Volksfest hier nicht weiter stören und den Schwerpunkt meiner Tätigkeit wo anders hin verlegen! Empfehle mich gehorsamst, meine Herrschaften! Schön klingt's nicht!«

Der alte Herr vom Lande trat ihm finster in den Weg. Der andere blieb ärgerlich stehen. Er wurde ernster. »Hören Sie mal, Verehrtester, lassen Sie mich gefälligst ungeschoren! Ich habe mich, gerade weil ich Offizier bin, gehütet, einer verbotenen Stelle im Festungsbereich nahezukommen, ich habe meinen Paß, ich habe meinen regulären Urlaub nach England . . . England ist, wie es doch allgemein heißt, das Land der Freiheit . . . Na also . . . bitte . . .«

»Aber das Buch!«

»Das Buch geht Sie den Kuckuck was an! 'Morgen!«

Er ging mit langen Schritten den Berg hinab, der Stadt zu. Der Captain gesellte sich hartnäckig zu ihm, dahinter die andern, zündete sich eine kurze Stummelpfeife an, paffte und meinte mit gewinnendem Lächeln: »Es ist nun einmal mit Ausländern solch ein Ding, Sir! Man kennt Sie nicht, Sir! Man weiß nicht, woher Sie kommen! . . . Man kann sich an niemanden halten, Sir! . . . Sagten Sie nicht, daß Sie jemanden hier besuchen wollten?«

»Ja. Ganz in der Nähe!«

»Auch einen Deutschen?«

»Nein. Einen Engländer. Sein Vater wurde schon als Deutscher vor vierzig Jahren bei Ihnen naturalisiert!«

»Und Sie kennen ihn?«

»Na . . . 's ist doch mein Onkel!«

»Ich bitte Sie inständig, Sir: Nennen Sie mir seinen Namen!«

»Mr. John Wilding!«

»Oh! Mr. John Wilding auf Rosemary-Hills?«

»Ja. Ich glaub', so heißt seine Klitsche!«

M. Wilding . . . Rosemary-Hills . . . Der Deutsche hörte es hinter sich flüstern . . . überall . . . Er wandte sich um und sah, daß sich die Gesichter verändert hatten. Man schaute ihn freundlicher an. Es lag beginnende Achtung in den Blicken. Beruhigte Respektabilität. Ein guter Name war da gefallen!

»Mr. Wilding! Oh . . . ich treffe ihn häufig auf der Bahn nach London!« sagte der Captain leutselig. Und die eine späte Miß versetzte: »Ein herrlicher Besitz, Rosemary-Hills!« Und die andere erklärte ehrfurchtsvoll dem alten Herrn vom Lande: »Ein sehr reicher Mann! Ein Citymann! Chef des Bankhauses Wilding und Kompanie.«

»Oh . . . das ist Ihr Onkel!« sprach der britische Offizier, und es lag in seiner Stimme etwas wie: Warum haben Sie denn das nicht gleich gesagt? . . .

»Ja. Sein Vater und der Vater meiner Mutter waren Brüder. Aus einer alten Patrizierfamilie. Aus Frankfurt am Main. Und wie die Preußen 1866 Frankfurt annektierten, da ärgerte das den alten Wilding, den Vater Ihres jetzigen hier, so, daß er mit seiner ganzen Familie und seinem Geld nach England auswanderte und englisch wurde.«

»Ach ja . . . ich erinnere mich jetzt . . . Ich habe so etwas einmal vernommen!«

»Viel haben wir eigentlich in Deutschland seitdem nicht mehr von ihm gehört! Aber ich dachte mir, wo ich doch nun schon mal in England bin, warum soll ich da nicht schauen, was aus den englischen Wildings geworden ist? Gerade gestern abend habe ich eine Karte geschrieben, ich käme dieser Tage einmal in Rosemary-Hills heran!«

»Antwort haben Sie noch nicht?«

»Nein!«

»Wie wäre es, wenn Sie telephonierten, Sir? . . . Rosemary-Hills liegt ganz nah von hier. Die Bürgschaft eines Gentleman wie Mr. Wilding würde natülich alle Schwierigkeiten beseitigen!«

Der junge Deutsche schüttelte den Kopf.

»Nee! Danke! Hab' ich nicht nötig, mich dort gleich als steckbrieflich verfolgten Verbrecher einzuführen! Ich weiß auch mit englisch Telephonieren nicht Bescheid! Ich hab' überhaupt diese ganze Affenkomödie hier dick! Guten Morgen, Sir!«

Er sprang nun den Abhang hinab, ohne sich weiter um seinen Begleiter zu kümmern, der einen Augenblick nachdenklich stehen blieb und dann in eine Kneipe, eine Saloonbar, in einem der ersten Häuser am Weg eintrat, wo er sicher war, eine sehr gemischte Gesellschaft, aber auch einen Telephonanschluß zu finden. Die große Masse der Neugierigen wanderte unverdrossen der Spur des Spions nach. Als er sein Hotel unten am Hafen erreichte, stand draußen auf der Straße schon eine ganze Mauer von Menschen, und innen traten ihm zwei Gentlemen entgegen, die eben seinen Koffer oben im Zimmer durchsucht hatten.

»Himmeldonnerwetter!« sagte er, erhitzt sich den Strohhut zurückschiebend. »Jetzt geht's mir aber doch allmählich übers Bohnenlied! . . . Was fällt Ihnen denn ein? Wer sind Sie denn nun wieder?«

»Die Obrigkeit, Sir! Bedaure, Sir, aber es ist unsere Pflicht. Sie haben Verdacht erregt . . .«

»Haben Sie etwas Verdächtiges gefunden?«

»Nichts!«

»Na also! Und hier ist mein Paß! Und damit basta!«

Der Beamte in Zivil nahm den Paß, buchstabierte in den lateinischen Schriftzügen herum und frug dann höflich: »Sie sind der königlich preußische Oberleutnant Helmut Merker im 12. badischen Infanterieregiment Nummer 198 zu Alsheim an der Bergstraße – wo liegt dieser Platz, Sir?«

»In der badischen Pfalz, nahe am Rhein!«

». . . Neunundzwanzig Jahre alt, protestantisch . . . was heißt das hier? . . . l . . . e . . .«

»Ledig! . . . Ich hab' noch keine Frau! Leider! . . . Vorschriftsmäßig geimpft bin ich auch . . . Einmal vorbestraft mit drei Mark wegen eigenmächtigen Öffnens einer Eisenbahnschranke . . .«

»Danke, Sir!« Der Beamte gab ihm den Paß zurück. »Was sind Ihre Eltern, Mr. Merker?«

»Mein seliger Vater hat sich als Gymnasialdirektor durchs Leben geschlagen. Meine Mutter lebt als Witwe in Erbach im hessischen Odenwald . . . Sie haben von ihr für die Sicherheit des britischen Reiches wenig zu fürchten! Sie ist eine stille Frau!«

»Danke recht sehr, Sir! Sie haben Geschwister?«

»Und ob! Die sind noch viel gefährlicher als ich! Mein ältester Bruder ist Chemiker in Ludwigshafen, und im Vertrauen: Reserveleutnant beim Großen Generalstab! Mein jüngster Offizier der Handelsmarine. Sie können sich vorstellen, wie der erst spioniert! Über den mittleren wollen wir lieber den Mantel der christlichen Liebe breiten. Meine Schwester ist an einen höchst gefährlichen Oberlehrer namens Nägelein verheiratet, Sir! Einen Alldeutschen! Er verzehrt jeden Morgen drei Engländer zum Frühstück!«

»Bitte, bleiben Sie ernst! Was ist der Zweck Ihres Aufenthaltes in England?«

»Mich über Ihre Landsleute zu wundern!« sagte der Leutnant Merker. »Kinder . . . ich hätt' Euch für klüger gehalten! Betrachten Sie nur um Gottes willen diese Volksversammlung da draußen! Gilt die wirklich mir?«

»Sie waren unvorsichtig, Sir! Sie sollen verdächtige Eintragungen in ein Notizbuch gemacht haben . . . Ich muß um Einsicht in dies Buch bitten . . . Oh, Sir . . . Sie wechseln ja die Farbe . . . Sie werden unruhig . . .«

»Der Gentleman wird immer unruhig, wenn die Rede auf dies Buch kommt!« versetzte ein Herr trocken.

Der Beamte beharrte: »Bitte um das Buch, Sir! Sie stehen vor der Obrigkeit!«

Der junge Deutsche schwankte, dann griff er in die Rocktasche und überreichte das Heft.

»Lesen können Sie's ja doch nicht! Es sind deutsche Schriftzüge!«

»Und was enthalten sie, Mr. Merker?«

»Mein Ehrenwort: nichts Staatsgefährliches!«

»Aber was?«

»Das ist meine Sache!«

Die Briten schüttelten den Kopf und schauten ratlos auf die geheimnisvollen, kurz abgebrochenen Zeilenreihen. War denn niemand da, der das in das Englische übertrug? Die Kellner im Hotel? Aber der alte Herr vom Lande, dem die Sorge um das Wohl Britanniens auf dem Gesicht geschrieben stand, hob beschwörend die Hand. Das waren ja alles Deutsche! . . . Er hatte sich schon erkundigt: der Oberkellner hieß Karl Ruhsam. Er besaß in seinen glattrasierten Zügen etwas, was an Moltke und seine Schule erinnerte. Die jüngeren Kellner konnten noch weniger den schnurrbärtigen teutonischen Offiziertypus verleugnen! Was? Der Barbier von der Ecke? Der könne Deutsch? Aber um Gottes willen! Der Mann hieß ja Friedrich Dümmler! Er stammte aus Pirna in Sachsen. Er gab es offen zu . . .! Überall Teutonen! Von neuem wurde man nervös. Die Unruhe verbreitete sich bis hinunter in den Speisesaal. Dort frug eine schwerhörige, grauköpfige Lady ihre Gesellschafterin, was denn die vielen Leute auf der Straße bedeuteten, und die schrie in das Hörrohr: »Man hat einen deutschen Spion gefangen!« und die alte Dame fing an zu weinen. Inzwischen war der Captain nachgekommen und in den Hotelflur getreten. Er verkündete in versöhnlichem Ton: »All right! Gentlemen! Ich habe an Mr. Wilding telephoniert und befriedigende Antwort erhalten. Mr. Merker ist in der Tat dort dem Namen nach wohlbekannt. Es ist schon ein Automobil von Rosemary-Hills unterwegs. In einer Viertelstunde spätestens muß es hier sein! Dann klärt sich ja alles auf!«

»Hoffentlich!« sagte der Leutnant. »Herrschaften . . . nehmt mir's nicht übel: aber Ihr blamiert euch ja vor ganz Europa und den umliegenden Ländern!«

»Wie denken Sie unterdessen über ein Glas Brandy und Soda, Mr. Merker?«

»Na, meinetwegen . . .«

Man setzte sich um einen Tisch, den Staatsgefangenen in der Mitte. Die Gentlemen zündeten ihre Pfeifen an und verteilten ihre Beine auf verschiedene Stühle. Das trotz der Frühlingswärme draußen flackernde Kaminfeuer sengte ihnen die Stiefelsohlen. Es war ganz gemütlich. Es herrschte ein kurzes Schweigen, in dem alle dem gleichen Gedanken nachzuhängen schienen. Einer von ihnen gab dem plötzlich Ausdruck und unterbrach die Stille: »Warum bauen Sie die deutsche Flotte, Mr. Merker?«

»Weil wir's für nötig finden, Sir!«

»Und weswegen nötig?«

»Weil unser Seehandel der zweitgrößte der Welt ist nach dem Ihren, Sir!«

Die Briten rauchten nachdenklich. Der Captain meinte: »Den Handel schützt man mit Kreuzern, Sir, nicht mit Dreadnoughts!«

Der Leutnant Merker hob den Kopf.

»Hat nicht Euer Minister im Jahre 1849 erklärt, er würde die deutsche Flagge auf dem Meer als Seeräuber betrachten? Schön! Um das zu verhindern, bauen wir Dreadnoughts!«

Er wurde lebhaft. Seine blauen Augen leuchteten.

»Und Ihr werdet uns nicht daran hindern! Ich bin im Binnenlande aufgewachsen, wenig vom Rhein weggekommen, höchstens mal in die Schweiz und so . . . Ich hab' dieser Tage zum erstenmal in meinem Leben die See geschaut . . . Und unsere Schiffe darauf . . . Und den Hamburger Hafen und in ihm das größte Segelschiff der Erde . . . und das war deutsch . . .«

»Die ›Potosi‹,« murmelte einer der Briten.

»Und da . . .« Helmut Merker sprang auf und deutete durch das offene Fenster. »Da sehen Sie hinaus, Gentlemen, wenn's beliebt!«

Weit draußen, jenseits des Hafens, im freien Kanal stiegen nah und fern die Rauchsäulen der Dampfer empor, die im Engpaß zwischen England und Frankreich ihren Weg suchten. Mitten unter ihnen zog ein Ozeanriese von unwahrscheinlicher Größe seine Bahn. Alles andere neben ihm wurde klein. Das Wasser schäumte in weißem Schwall vor seinem Bug, hoch oben vom Mast flatterte die schwarz-weiß-rote Fahne und in ihr das Eiserne Kreuz.

»Der ›Imperator‹!« sagte der Leutnant Merker, sein Fernglas einsteckend, mit vor Stolz geröteten Wangen. »Das größte Schiff, das je auf der Erde fuhr! Und wem gehört es? Uns! Der Hamburg-Amerika-Linie! . . . Ja, sollen wir solche Schiffe draußen in der Welt schutzlos lassen, damit jeder Schmierlümmel in Haiti oder Liberia sie kapern kann, bloß weil es Euch so paßt? . . . Nee, Verehrteste – das kann kein Mensch verlangen!«

In seine Worte klang von fern das Rollen eines Automobils. Es bog dumpf tutend um die Ecke und hielt vor dem Hotel. Helmut Merker streifte es nur mit einem flüchtigen Blick. Es ging ihn nichts an. Sein Onkel saß nicht darin, noch sonst ein alter Herr, sondern drei gleichgültige, blau, grün und weiß verschleierte Misses. Die eine von ihnen wickelte sich aus ihrem Gesichtsschutz heraus und kletterte aus dem Wagen. Sie trug unter dem weißen Schleier ein weißes Automobilhäubchen mit weißseidenen Rosetten an den Seiten. Ihr dicker weißer Tuchmantel war offen und ließ darunter ein weißes Kleid sehen – alles an ihr war weiß.

Lang und schlank, etwas vornübergebeugt, ging sie, in der sorglos schlenkernden Haltung einer Engländerin, die schmalen Schultern lässig bewegend, die Hände in den Taschen, in langen weißen Schuhen unter dem kurzen Rock, nach dem Eingang des Hauses. Ihr jugendliches Gesicht war trotz vieler Sommersprossen sehr hübsch. Es hatte einen freimütigen Ausdruck, drollig von dem Häubchen aus Großmutterzeiten überschattet, unter dem ein paar hellblonde Haarsträhne windzerzaust hervorlugten. An der Tür blieb sie stehen, nickte, immer mit einer selbstverständlichen Sicherheit des Auftretens, dem Wirt zu, der sich höflich verbeugte, und wechselte mit ihm ein paar Worte, lachte dann auf, frischer und lebhafter, als der junge Deutsche bisher bei den kühlen, fischblütigen Misses beobachtet hatte, und kam zu seinem Erstaunen, ihn unbefangen aus ihren blauen Augen musternd, schnurstracks auf ihn zu. Vor ihm stehen bleibend, streckte sie ihm eine schmale, sehnige Sportshand entgegen und sagte belustigt in einem englisch betonten, aber ganz gutem Deutsch: »Also Sie sind der Vetter aus Deutschland! Oh . . . Sie machen ja hier nette Geschichten . . .«

Sein Unverständnis erkennend, setzte sie hinzu: »Vater ist nicht in Rosemary-Hills, sondern schon seit gestern in der City, niemand ist in Rosemary-Hills. Ich wollte auch gerade mit meinen Freundinnen nach London. Da meldet mir der Butler, es wäre hier mit Ihnen ein Unglück passiert, da bin ich rasch noch herüber . . .«

»Ein Unglück nicht!« sagte Helmut Merker, immer noch betroffen. »Nur . . . die Engländer hier benehmen sich ein bißchen auffallend töricht . . . Verzeihung . . . Es sind ja Ihre Landsleute . . . Sie betrachten sich wohl doch schon ganz als Engländerin?«

»Oh, als was denn sonst? Mein Großvater wurde doch schon englisch!«

Es klang ein wenig hochmütig von ihren roten Lippen.

Er fuhr fort: »Na also, jedenfalls: ich bin der harmloseste Tourist von der Welt und verbitte mir diese Scherze hier. Bitte, führen Sie das doch Ihren verehrten Landsleuten hier mal zu Gemüte! . . . Kommen mir die Kerle hier über meinen Koffer, veranstalten außen auf der Straße das reinste Volksfest, knöpfen mir mein Notizbuch ab . . .«

Das junge Mädchen wandte sich suchend um und erblickte das verhängnisvolle schwarze Heft in der Hand des einen Beamten, der nachdrücklich auf englisch sagte: »Da der Gentleman sich hartnäckig weigert, uns mitzuteilen, was er da hineingeschrieben hat . . .«

»Lassen Sie mich einmal schauen! Ich kann doch Deutsch, so gut wie Englisch!«

»Hier, bitte!«

»Nee . . . Hören Sie . . . Lassen Sie das gefälligst! Das Buch gehört mir!«

»Sie sind sehr ängstlich!« rief der alte Herr vom Lande. »Das ist verdächtig!«

Der Captain nickte und tat einen Zug aus seiner Stummelpfeife.

»Well . . . ich lege fünf zu zwei«, meinte er befriedigt, »daß wir jetzt ein Verzeichnis aller Küstenbatterien zu hören bekommen!«

Und der eine Beamte forschte mit maliziösem Lächeln: »Wie denken Sie über die Landung in England, Sir? Sie sind ja ganz verwirrt und aufgeregt!«

»Ich denke gar nichts, sondern will mein Eigentum wiederhaben! Geben Sie mal gleich her, Cousine!«

Aber Miß Wilding trat gewandt einen Schritt zur Seite und klappte das Buch auf. Er stampfte ungeduldig mit dem Fuß.

»Sie sollen da nicht hineingucken, sag' ich!«

»Oh . . . das ist meine Pflicht als Britin!«

Sie sprach das ganz kühl und geschäftsmäßig und fing aufmerksam an zu lesen, während er zornig die Lippen zusammenbiß und dann achselzuckend ein paar Schritte bis zum Fenster machte, sich umwandte und auf das Meer hinaussah, an dessen Horizont langsam der »Imperator« verschwand. Ringsum war Stille und Erwartung. Dann hörte sr plötzlich hinter sich ein helles Mädchenlachen.

»Keine Sorge, Ladies und Gentlemen! . . . Das sind keine Staatsgeheimnisse . . .«

»Sondern?«

»Gedichte!«

»Oh . . .«

»Ja. Patriotische Gedichte . . . Deutschlands Größe . . . Seine Zukunft auf dem Wasser . . . Und so mehr . . .«

Old England sah sich verblüfft an. Hierzulande machte kein Gentleman Gedichte, nicht einmal, wenn er krank war. Er ritt auf die Jagd oder spielte Polo oder fischte. Das junge Mädchen trat immer noch fröhlich lachend zu Helmut Merker, der sie gereizt und doch halb, wie um sich zu verteidigen, anfuhr und dabei das Heft in seine Tasche gleiten ließ.

»Das geht doch weiß Gott niemanden etwas an . . . Das ist mein Privatvergnügen . . . Wenn man mal 'raus aus allem ist . . . ganz frei . . . zum erstenmal draußen in der weiten Welt . . . und in so einer festlichen Stimmung . . . ich hab' immer schon mal Verse gemacht . . . auch früher schon im Kasino . . . zu Kaisers Geburtstag . . .«

»Oh . . . die Gedichte sind gewiß sehr schön!« Sie sprach es versöhnlich, da sie sah, daß ihre Heiterkeit ihn kränkte. »Sie müssen sie mir später einmal vorlesen!«

»Fällt mir nicht ein!«

Sie schaute ihn verblüfft an. Beide schwiegen. Dann versetzte sie mit angelsächsischem Gleichmut: »Ich habe jetzt hier mein Bestes getan. Ich gehe jetzt weiter nach London! Wenn Sie Pa dort morgen sprechen wollen – es ist noch ein Platz im Auto frei. Kommen Sie mit?!«

»Die Leute lassen mich ja hier nicht weg. Sie sind ja rein aus dem Häuschen!«

O nein! . . . Man war jetzt allseits befriedigt. Die Sache war erklärt. Es war nur ein Mißverständnis gewesen, nicht der Rede wert! Man war wirklich traurig, dem Gentleman Ungelegenheiten bereitet zu haben. Aber vielleicht handelte der Gentleman künftig auch weise, wenn er in der Nähe von Festungen mehr Vorsicht walten ließ – ein Händegeschüttel . . . Good bye, Sir . . . Auch draußen auf der Straße lichtete sich die enttäuschte Menge. Nur die hartnäckigsten Neugierigen umstanden noch das Automobil, in dessen Decken und Kissen Miß Wilding, sich zum Aufbruch rüstend, herumwirtschaftete. Dabei rief sie mit heller Stimme und ganz gelassen in das Haus: »Well – fahren Sie mit?«

Er wußte es selbst nicht . . . Es kam alles so plötzlich . . .

»Ja, eigentlich habe ich in dem Nest hier wirklich nichts mehr verloren!«

»Dann machen Sie sich fertig! Ich setze Sie, wo Sie wollen, in London ab!«

Der Koffer war schon ohnedies gepackt. Die Rechnung rasch bezahlt. Helmut Merker trat an den Wagen und dachte sich dabei: Was ist das eigentlich alles für eine komische Kette von Dingen! Das junge Mädchen nickte ihm zu, mit dem ruhigen Vertrauen, das man einem Gentleman entgegenbringt, und stellte ihn ihren beiden Freundinnen vor: Miß Hunter – Miß Fife, Vollblutengländerinnen, die kein Wort Deutsch verstanden und bedeutend älter waren als sie selbst mit ihren dreiundzwanzig oder vierundzwanzig Jahren. Dann war da noch Mac Gregor, ein stachelhaariger, menschenfeindlicher schottischer Otternhund. Damit war man beisammen, und das mächtige Auto rasselte auf und schoß dann beinahe lautlos davon, gen Norden, auf Canterbury zu. Der Chauffeur hatte einen anderen Weg in Vorschlag gebracht, aber vor einem kleinen Zug zähen Eigensinns um die Mundwinkel seiner jugendlichen Herrin war sein Einspruch im Entstehen verstummt. Er schien sie schon zu kennen . . .

Helmut Merker saß ihr im Wagen gegenüber. Sie hatte ihren weißen Schleier nur um die Ohren geknüpft. Das Gesicht blieb über dem hochgeklappten Halskragen frei. Er sah ihre klaren, regelmäßigen Züge. Es war eine eigene Reinheit darauf. Seelisch und ebenso in der Tönung der Haut, trotz der vereinzelten Sommersprossen. Der Wind rötete ihre Wangen und ließ ihre blauen Augen feucht schimmern. Dadurch wurde sie noch hübscher. Wie sie zuweilen an ihm vorbei die ihr entgegenfliegende Straße hinabspähte, trug ihr Antlitz, trotz seiner unbekümmerten Jugendlichkeit, einen eigenen gespannten und aufmerksam herben Ausdruck. Das mußte, schien ihm, der Sport machen. Die Gewohnheit des Zusammenreißens der Nerven bei jedem Wind und Wetter. Sie erzählte auch, daß sie das Auto oft eigenhändig steuere. Dann sagte er, sich den Hut bei der sausenden Fahrt fester auf den Kopf drückend: »Ein Glück nur, daß Sie wenigstens daheim waren! Hat denn der Onkel meinen Brief nicht erhalten?«

»Ich weiß nicht. Er hat nichts davon erzählt!«

»Komisch! Ich schrieb gestern, ich käm' mal bei Euch vorbei!«

»Ach – das hat Papa wohl wieder vergessen!«

Die harmlose Bemerkung verstimmte ihn etwas. Er fühlte sich leicht verletzt – eigentlich nicht nur seinetwillen, sondern mehr in seiner Würde als deutscher Offizier . . . Wenn sich schon ein solcher bei diesen Halb- oder Dreiviertelengländern anmeldete, konnten sie doch weiß Gott . . . Da kam eben gleich zu Anfang der britische Dünkel heraus.

Seine Begleiterin bemerkte es nicht. Sie fuhr fort: »Pa vergißt alles, was nicht zum Geschäft gehört. Er hat nur Sinn für die City. Er ist zufrieden, wenn er in seinem Office in Old Broadstreet sitzen kann. Da arbeitet er vom Morgen bis zum Abend. Wir lachen immer schon darüber . . .«

»Was macht er denn eigentlich für Geschäfte?«

Sie überlegte.

»Ich glaube, viel nach Südamerika . . .«

»Und womit denn?«

»Ja . . . mir scheint mit Salpeter . . . und anderem . . . ich weiß wirklich nicht.«

Er war erstaunt, daß sie das nicht besser wußte. Er frug: »Wo ist denn Ihre Frau Mutter?«

»Mammy? . . . Die sitzt noch an der Riviera! Der ist's hier noch zu kalt. Die kommt nicht vor dem ›Grand National‹ heim!«

›Grand National‹ . . . Sie erkannte an seinem Gesichtsausdruck, daß er nicht verstand, was das hieß: Die Liverpooler Frühlings-Steeplechase, das größte Hindernisrennen der Welt! Wie man das nicht wissen konnte, war ihr unbegreiflich. Und zugleich war die Reihe des Erstaunens an ihm: Eine alte Dame, die durch ganz Europa fuhr, um ein paar Pferde laufen zu sehen, und danach ihre Lebenseinteilung regelte! Und die Tochter fand das offenbar ganz in der Ordnung. Er lenkte das Gespräch ab und forschte weiter.

»Wir haben einander leider so völlig aus den Augen verloren, wir Wildings daheim in Deutschland und Ihr hier – ich weiß gar nicht recht Bescheid: Sie sind doch Jane?«

Sie beugte sich seitwärts aus dem Wagen, um nach einem entgegenkommenden Hindernis, einem Trupp Hammel, zu sehen, und schüttelte, gegen den Wind zwinkernd, den blonden Kopf.

»Das ist meine ältere Schwester, an Mac Cornick verheiratet, den Baumwollenmann in Liverpool – das heißt, meistens sind sie ja in Cheshire . . . Galt-y-Bladur heißt ihr Platz dort . . . Ich bin Edith . . .«

Sie sprach es englisch, wie ›Idis‹ aus. Er übersetzte es unwillkürlich in das deutsche Edith, sah mit Wohlgefallen in das schöne Mädchengesicht ihm gegenüber und meinte dann: »Ich freue mich, daß Ihr hier immer noch so das Deutschtum pflegt!«

»Wieso?«

»Nun – Sie sprechen doch ausgezeichnet Deutsch!«

»Ich? Ja. Das ist aber eigentlich ein Zufall. Die Miß Cook, die einstige Gouvernante meiner Mutter, hat später ein Mädchenpensionat in Hannover gegründet. Da wurde ich aus alter Anhänglichkeit hingeschickt, weil mother doch immer auf Reisen und Pa immer im Geschäft war. Auf vier Jahre. Jane auch, meine Schwester. Meine Brüder können lange nicht so gut Deutsch!«

»Also sind Ihre Eltern doch nicht eigentlich deutschfreundlich?«

Sie lachte.

»Pa ist nicht Freund und nicht Feind. Papa macht Geld!«

»Und Ihre Mutter?«

»Oh – Mammy ist das ganz egal, wo wir herstammen. Sie selber ist doch reine Engländerin von Geburt!«

Er verstummte. Da war wieder dies Fremdartige – dies eigentümlich Insulare! In Deutschland hätte man liebevoll nach den Spuren der Ahnen geforscht, von Geschlecht zu Geschlecht, die Überlieferung fortgepflanzt. Hier kümmerte man sich nicht darum. Man war britisch und war zufrieden. Auch mit sich selbst. Dies junge Mädchen vor ihm war offenbar auch ganz von ihrer eigenen Vortrefflichkeit überzeugt. Sie besaß eine Sicherheit, um die man sie beneiden konnte. Es war um sie ein Hauch von Gesundheit und Lebensfrische . . . gepflegte Haut, gepflegte Haare, gepflegte blendendweiße Zähne – viel Wasser und Seife – guter Hunger und Schlaf. Erkältung schien sie nicht zu kennen. Sie fuhr immer noch mit zurückgeschlagenem Schleier und halboffenem Mantel gegen den pfeifenden Wind. Zuweilen zeigte sie ihm mit ausgestreckter Hand irgendwo auf einem Hügel ein langgestrecktes, parkumgebenes Schloß im Tudorstil und nannte ihm den Herzog oder Lord, dem es gehörte. Sie wußte alle diese Namen auswendig, wußte auch, wie die Peers miteinander verwandt waren, was sie taten und trieben. Aber als er harmlos frug: »Verkehrt Ihr denn auch bei solchen Leuten?« war sie förmlich entsetzt. Welche Idee! Bei einem Lord! Papa war doch Citymann. Nein. Aber man kannte diese Familien. Jedermann in ganz England kannte sie . . .

Das Auto sauste gleichmäßig dahin. Eintönig glitt draußen, im ersten Frühlingsgrün, die britische Landschaft vorbei – Bäume und Wiesen, Wiesen und Bäume, weidende Rinder und Hammel und wieder Hammel und Rinder – kein Kornfeld, keine Kartoffeläcker, kein Bauernhof. Am Himmel ein blasses Blau, Wolkenflug, salzgesättigte Brise. Ein Städtchen . . . lange Reihen winziger, wie eben aus der Spielzeugschachtel gepackter roter Backsteinhäuschen, Rauch, Schmutz und Schlackenlager einer Fabrik, wieder der weite, baumbestandene englische Park. In der Ferne erschien geisterhaft wie ein Schattenbild die Kathedrale von Canterbury und verschwand. Helmut Merker frug: »Nicht wahr, Ihr älterer Bruder ist doch verheiratet?«

»Bill? Ja! . . . Sie sollten einmal zu ihm gehen! Auf die Insel Wight. Sein Sitz heißt ›The Bungalow‹, bei Bonchurch! . . . Es ist ein zu lieblicher Platz.«

»Und was macht er denn da?«

Sie verstand ihn nicht recht.

»Nun, er lebt dort! Nach London kommt er eigentlich wenig. Nur Pa zuliebe manchmal. Er liebt die City nicht. Er ist auch nicht für Sport. Fred – der ist vielmehr ein Sportcharakter!«

»Das ist Ihr jüngerer Bruder?«

»Ja. Er ist augenblicklich in York beim Cricketmatch!«

Der Leutnant Merker schwieg und dachte sich: Komische Familie! Wie eine Handvoll Flöhe! Da und dort! Wenn man sich die Wirtschaft daheim vorstellte, bis man glücklich die elenden sechs Wochen Auslandsurlaub sich herausgeschunden hatte . . . Es fiel ihm ein, daß er sich doch auch einmal mit Ediths Freundinnen beschäftigen müsse, und er begann ein Gespräch mit den Misses, die sich seit einer Stunde über das gleiche Thema unterhalten hatten . . . dunkelblau oder hellblau . . . Oxford oder Cambridge . . . das große Wettrudern auf der Themse . . .

»Deswegen muß ich doch nach London!« erläuterte Edith. »Morgen nachmittag ist es! . . . Morgen abend habe ich drei Kasten Handschuhe gewonnen!«

»Oder auch nicht!« rief Miß Fife. »Cambridge hat achtunddreißig Schläge in . . .«

Edith Wilding warf den hübschen blonden Kopf ins Genick und hob beinahe beschwörend, abwehrend die Hand. Sie war viel lebhafter als die nüchtern frostige, hagere Vollblutmiß ihr schräg gegenüber. Sie ließ die nicht zu Ende reden.

»O nein! . . . Viel Volk, das die Oxforder am Werke gesehen hat, hat mir gesagt, daß sie um zwei Längen besser sind als hellblau . . .«

Der deutsche Vetter vor ihr mußte über diese Leidenschaft lachen. Er erkundigte sich: »Das gibt wohl morgen einen Riesenzauber auf der Themse?«

»Ja. Ich übernachte heute schon draußen in der Nähe bei Miß Fife. Wissen Sie: Man muß nicht in Mortlake bleiben! Man muß sich auf die andere Seite übersetzen lassen! Auf dem linken Ufer sind nicht so viel Leute! . . . Es hat auch keinen Zweck, daß ich mich erst auf der Tribüne hinsetze! Wenn die Oxforder voraus sind, halt' ich es doch nicht aus auf meinem Platz . . .«

Sie schleuderte ihrer Freundin einen herausfordernden Blick zu und wiederholte in zäher Sportbegeisterung: »Mr. Fleck zahlt mir morgen drei Kasten Handschuhe!« – und dann zu ihrem Gast: »Augustus Fleck, der Schwager meines Bruders Bill! Er wäre nichts für Sie! Ein Jingo! Er mag die Deutschen nicht!«

»Daher sein Name!« versetzte der Leutnant trocken.

»Ja, aber das ist schon lange her! Er zieht sein Geld aus Manchester. Der Vater ist Spinner!« Es kam ihr nicht in den Sinn, den Vetter auch einmal nach seinen Verwandten in Deutschland und nach seinen Lebensverhältnissen zu fragen. Das interessierte sie offenbar gar nicht. Für Nichtenglisches hatte sie keine Neugier. Sie wickelte sich in ihren dicken, weißen Mantel und meinte wohlwollend: »Besuchen Sie nur morgen Papa! Er wird so froh sein! Aber gehen Sie besser zu ihm in die City, Old Broadstreet 202. In unserem Haus draußen in Belgravia finden Sie keine Katze. Pa ist auch jetzt immer in seinem Klub. Weil niemand von uns da ist – wissen Sie . . .«

»Ja, warum lassen Sie denn den alten Herrn so allein?«

Wieder begriff sie nicht ganz.

»Es ist doch sein freier Wille. Er wäre doch überall willkommen, bei Jane in Wales und bei Bill im Bungalow – und ich ginge gleich mit ihm nach Paris! mother auch. Aber er ist nicht aus der City wegzubringen.«

»Und was haben Sie in nächster Zeit vor?«

»Wir machen morgen abend einen Trip nach Schottland zu Freunden. Ich hoffe, ich werde ein paar gute Tage in Edinburg haben! Vielleicht können wir schon fischen!«

»Nur ein paar Tage? Lohnt denn das die weite Reise?«

»Es sind doch nur acht Stunden mit dem ›Fliegenden Schotten!‹« erwiderte sie erstaunt. Sie schien das ganze vereinigte britische Königreich so ungefähr als einen großen Tummelplatz für Sport und Spiel zu betrachten, in dem man nach Belieben hin und her rutschte. Sie war ihm so fremd in ihrer Art. Und doch gefiel sie ihm ausnehmend. Es war ihm trübe und ungeduldig bei dem Gedanken zumut, daß er morgen nur den alten Mr. Wilding und nicht sie sehen sollte. Aber offenbar hatte sie am kommenden Tag weder für den Vater noch gar für ihn Zeit. Sie sorgte für sich. Und für ihr Vergnügen. Sogar in der Art, wie sie jetzt im Wagen den anderen zunickte: »Well! Wir sind bald da!« und dabei behaglich die Schultern dehnte und die geschmeidigen Arme von sich streckte, lag eine gesunde selbstsüchtige Frische. Und er überschlug im Geist ihren Tageslauf: Morgen bei der Regatta, die Nacht durch nach Schottland und dort gleich wieder an die Forellen oder Lachse. Was Nerven sind, das weiß die nicht . . .

Sie waren schon vor einiger Zeit in eine jener langen Reihen niederer Backsteinhäuser hineingefahren, die sich in all diesen Städten und Städtchen zum Verwechseln glichen. Aber diesmal nahm die schnurgrade Straße kein Ende mehr. Auch nach den Seiten hin nicht. Man erhaschte bei einer Wegüberführung einen Blick über Flächen von vielen Tausenden von Dächern, die sich wie die Wellen des Ozeans bleich und grau bis an den Horizont dehnten. Auch die Luft wurde grau. Es dämmerte. Mit seltsamer Geschwindigkeit brach die Nacht herein, lange vor der Zeit. Die Straßenlaternen schimmerten durch gelblich zähen, fast undurchdringlichen Nebel. Man sah kaum mehr zwanzig, dreißig Fuß weit. Das Auto fuhr im Schritt, eingekeilt in einen immer betäubender werdenden Verkehr von Wagenburgen und Fußgängermassen und winkenden Schutzleuten, und Edith Wilding schrie ihrem Begleiter durch den Lärm ins Ohr: »Wo soll ich Sie in London absetzen?«

Er wußte es nicht. Da faßte sie die Sache praktisch auf. Sie rief: »Warum sollen Sie viel Geld zahlen? Als einzelner Herr gehen Sie gut in ein Terminushotel!« Und als er vor Charing Croß neben ihrem Auto stand und von ihnen Abschied nahm, reichte sie ihm so gleichmütig freundlich die Hand aus dem Wagen, wie sie es bei jedem anderen Gentleman auch getan hatte.

»Grüßen Sie morgen Pa von mir!« hörte er noch einmal ihre helle Stimme. Dann ging das Auto rückwärts, schwankte und schoß in der Richtung nach dem Trafalgarplatz davon.



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