Rudolph Stratz
Seine englische Frau
Rudolph Stratz

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3

Zu komisch, daß wir uns hier erst, auf englischem Boden, über den Weg kommen! Du bist doch so nahe von uns in Garnison, Helmut! Du hättest längst meine Eltern in Frankfurt aufsuchen sollen!«

Wolfgang von Wilding, der Oxforder Cecil-Rhodes-Stipendiat, reichte seinem Besucher, der ihm im vordersten der drei Zimmer seiner Collegewohnung gegenübersaß, Feuer für seine Zigarre. Er war ein paar Jahre jünger als Helmut Merker – gut gewachsen und tadellos gekleidet, mit länglichem, kluggeschnittenem Gesicht und der kühlen neudeutschen Sicherheit eines jungen Mannes aus bestem Hause. Denn es war nichts Geringes, dem Frankfurter Patriziergeschlecht der Wildings anzugehören. Er fügte hinzu: »Wir sind doch schließlich leibliche Vettern!«

Der andere räusperte sich.

»Na gerade deswegen können wir unbefangen darüber reden! Du weißt so gut wie ich, daß unsere Kreise verschieden sind und die Deinen die Heirat meiner Mutter nie gebilligt haben! Mein seliger Vater hat's ja schließlich bis zum Gymnasialdirektor gebracht! Er war ein angesehener Mann. Aber was ist das gegen euch! . . . Ihr mit euren Millionen und dem neuen preußischen Adel und dein Vater Geheimer Kommerzienrat und . . .«

»Gott . . . das ist doch alles nur äußerlich!«

»Wir dagegen schlagen uns nur so eben mit Anstand durchs Leben. Ich bin ja Leutnant – aber mit einer verflucht geringen Zulage, die mir meine Mutter und mein ältester Bruder geben können. Der ist Chemiker. Mein anderer Bruder Offizier in der Handelsmarine. Das alles . . .«

»Eines versteh' ich nicht recht!« sagte der junge Patrizier. »Deine Mutter hat doch seinerzeit eine Mitgift erhalten, wie sie unseren Verhältnissen entsprach. Wenn wir auch damals lange nicht so viel hatten wie jetzt, so muß es doch schon eine ganze Ecke gewesen sein!«

Der Leutnant Merker zuckte die Achseln.

»Ich habe doch noch einen dritten Bruder!« sagte er. »Hugo heißt das Gewächs. Wo er augenblicklich steckt, wissen die Götter. Hoffentlich drüben in Amerika. An den hat Mama so ziemlich alles verschwendet. Und alles umsonst. Einfach um die Ecke! Fort mit Schaden!«

»Ach so! Na ja . . . so ungefähr dachte sich das mein Vater auch . . . Also . . . du kommst einmal nach Frankfurt, Vetter!«

Helmut Merker antwortete nicht. Es ging ihm durch den Kopf: Nein. Als armer Verwandter mag ich nicht in der Bockenheimer Landstraße antreten. Dazu muß man reich sein. Reich werde ich nie in meinem Leben. Höchstens durch eine Heirat! . . . Wenn ich dann da mit meiner Frau erscheine . . .

Und im selben Augenblick – es war lächerlich – sein Herz klopfte – er erschrak über seinen eigenen Einfall – sah er im Geist diese Frau vor sich. Lang, schlank, blond, unbekümmert, mit sportmäßig schlenkernden Schultern, lachend, daß die gesunden weißen Zähne blitzten, ein paar Sommersprossen in dem reizenden Gesicht . . . Edith Wilding . . . um Gottes willen! . . . Und dann plötzlich: Ja – warum denn nicht? . . . Und wieder: Ach Unsinn . . .

Er wandte erregt den Kopf zur Seite und schaute zum Fenster hinaus. Weithin dehnten sich da die uralten Bäume und grünen Wiesenflächen des Collegeparks. Zahmes Damwild äste auf ihnen. In der Ferne Sport- und Spielplätze aller Art, dahinter der Spiegel der Themse mit den Bootshäusern. Auf der anderen Seite sah man durch das Studier- und das Schlafzimmer in den Hof des College – ein Traum des Mittelalters – dämmernde Kreuzgänge, hohe Spitzbogen, bunte Kirchenfenster, Efeu an uralten Mauern – ein feierliches Schweigen der Vergangenheit über dieser Stille und Leere. Denn die Studenten waren alle fort, auf Osterferien. Nur der junge Deutsche, dem die Reise in die Heimat zu weit gewesen, war geblieben. Draußen sonnte sich ein mächtiger schneeweißer Angorakater auf dem Kies. Auch dies Tier hatte eine vornehme Ruhe an sich. Es war hier alles halb wie in einem Kloster, halb wie auf dem Schloß eines Lords – ein Edelrost der Jahrhunderte über den Dingen.

»Und solche drei Zimmer wie du hat hier jeder im College?«

»Jeder.«

»Und du sagst: solche Colleges sind an die vierzig in Oxford?«

»Ja. Und in Cambridge auch!«

»Und du kommst natürlich hier mit deinem Cecil-Rhodes-Stipendium gar nicht aus?«

Wolfgang von Wilding lachte.

»Nee – weiß Gott! Ich brauche gut das Doppelte und Dreifache. Und dabei treibe ich so wenig Sport wie möglich! Sonst erst . . .«

Er brach ab und fügte ernster hinzu: »Ich hab' mich selbst gemeldet! Ich wollte her! Gerade als angehender Diplomat. Da bin ich ein weißer Rabe. Denn ich war in Deutschland nicht Korpsstudent! Ich hab' nie Sinn für diese Biertümpelei in unseren kleinen Universitäten gehabt. Die jungen Gentlemen hier, die reisen von Oxford aus um die Welt, schießen Tiger, reiten auf Elefanten, kennen in unserem Alter alle fünf Erdteile aus eigener Anschauung. Und bei uns in Göttingen oder so stecken sie sich inzwischen in Bierverruf, halten Biergerichte ab, trinken Bierjungen . . . Und pfropfen dann nach drei Semestern die herkömmliche Juristerei drauf. Und wenn sie dann auf das wirkliche Leben losgelassen werden, dann blamieren sie uns ja manchmal ganz nett . . . Das mach' ich lieber nicht mit!«

Helmut Merker hatte nur halb zugehört. Seine Gedanken waren immer wieder bei Edith.

»Sag mal, bei den hiesigen Wildings hast du dich gar nicht gezeigt?« frug er.

»Nein! Erstens habe ich keine Lust, frühere Deutsche kennen zu lernen, die es nicht mehr sind. Ich bin Preuße und Deutscher durch und durch!«

»Ich auch!«

»Na hoffentlich! Und zweitens: Solche Leute wie die Wildings hier können überhaupt nicht mehr taxieren, wer von uns zu ihnen kommt! Sie legen immer noch den Maßstab an uns wie zur Postkutschenzeit. Alle Welt hier. Wir sollen für sie die armen deutschen Vettern bleiben und sind es weiß Gott längst nicht mehr. Na – und diesem Dünkel setze ich mich gerade bei Verwandten am wenigsten aus!«

»Eigentlich hast du ja recht!« sagte der Leutnant ein bißchen gedrückt. Er entsann sich seines Empfangs in der City. »Hör mal: Sind denn diese englischen Wildings wirklich so reich?«

»Sie haben natürlich Geld! Viel Geld! Nach unserem Begriffe! Es kommt eben darauf an, ob man den englischen oder den deutschen Gradmesser nimmt. Hierzulande ist solch ein Riesenreichtum . . . Da verschwindet der einzelne!«

»So toll, wie man es sich bei uns vorstellt, ist es also wohl doch nicht mit ihnen,« sagte Helmut Merker, in der Erinnerung an das kleine Kontor in der City und das kleine Haus im Westen Londons. Eigentlich stimmte ihn diese Entdeckung froh. Es war doch gut, wenn der Abstand zwischen ihm und Edith nicht zu ungeheuerlich war. Er dachte sich: Sonst schmeißen sie mich ja unbesehen hinaus, wenn ich . . . Und dann kam es ihm wieder verrückt vor, daß er überhaupt mit derlei Hoffnungen spielte.

Neben ihm versetzte der Vetter: »Du wunderst dich über den Luxus hier? Glaub mir: die jungen Gentlemen hier kommen aus solchen Verhältnissen und kehren in solche zurück. Denen ist das so selbstverständlich wie das tägliche Brot. Nach ihrer Überzeugung hat der liebe Gott Weltall und Menschheit ausschließlich zur Bequemlichkeit des englischen Volkes geschaffen! . . . Es geht ihnen zu gut! Faul sind sie, Liebster . . . faul . . . faul bis zum Exzeß! Satt! . . . Übersatt! Sie wollen sich nicht mehr rühren, außer beim Sport! . . .«

Er nahm den Hut und begleitete seinen Gast durch die altertümlichen Gassen und Plätze von Oxford zur Bahn. Überall ragten efeuumsponnen die Zinnen und Türme und Kapellenkuppeln der Colleges, von denen jedes mit seinen Höfen, Parken und Spielgründen eine kleine Stadt für sich bildete.

»Das ist doch nun eine Universität!« sagte er. »Bei uns wird geehrt, wer etwa seinen Doktor summa cum laude macht. Darum kümmert sich hier kein Kuckuck. Die acht Burschen, die du vorige Woche in London das Wettrudern gegen Cambridge gewinnen sahst – das ist hier unser ganzer Stolz. Das sind Halbgötter auf Lebenszeit. Es ist kein Ernst hier . . . ewige Spielerei . . . Zurückgebliebenheit . . . der Sport macht die Leute unmodern und unpraktisch. Es wird sich noch einmal manches an ihnen und ihrer Selbstgerechtigkeit rächen. Wenn ich's ihnen sage, lachen sie mich aus . . . Na, ich danke dir schön für deinen Besuch! . . . Auf Wiedersehen in Frankfurt! Wo bleibst du denn jetzt über Ostern? . . . In London? . . . Aber Menschenskind, da ist's ja zum Auswachsen . . . da ist ja keine Seele . . . nee . . . hör mal . . . das ist eine Kateridee! Ich bin froh, daß ich zu Bekannten aufs Land gehen kann . . .«

»Ich hab' aber keine Einladung!« versetzte Helmut Merker in einer unwillkürlichen Erbitterung. Er beugte sich aus dem Fenster des Eisenbahnwagens, reichte dem Vetter die Hand zum Abschied, und der Zug setzte sich in Bewegung.

Draußen vor den Fenstern des Wagens war das alte, sich überall gleichbleibende Bild – die weiten Rasenflächen, die weidenden Hammel und Rinder, das Städtchen mit seinen winzigen, wie auf eine Schnur gereihten Backsteinhäuschen, die Fabrik inmitten von Schlackenbergen, auf parkgrünem Hügel das Tudorschloß des Lords – Helmut Merker sah das alles mit leeren Augen. Zerstreut. Unzufrieden mit dieser Fahrt nach England, auf die er sich so gefreut hatte, und die nun ohne rechten Sinn und Verstand verlief. Längst war sein ursprünglicher Reiseplan umgeworfen. Wohl hatte er von London aus ein paar Sehenswürdigkeiten besichtigt, Kathedralen und Festen des Mittelalters – aber es war ihm ganz gleich gewesen, wo und wann sich Heinrich der Achte mit Anna Bullen getroffen, und welche Leute die Nacht vor ihrer Hinrichtung in diesem oder jenem Turm gesessen – es zog ihn immer wieder an die Themse zurück. Er klebte an seinem Hotel in Charing Croß. Er harrte dort. Alle Welt hatte ihm ja übereinstimmend versichert, die englische Post sei zuverlässig. Die Briefe wurden pünktlich überallhin an eine angegebene Adresse nachgesendet. Aber ihm schien es doch sicherer, hier an Ort und Stelle das versprochene Lebenszeichen von Edith Wilding zu erwarten.

Seine Ungeduld wuchs. Sein Herz tat ihm förmlich weh, als er wieder in London vor der Schranke des Postverschlags in seinem Hotel stand und der Clerk innen trocken sagte: »Nichts da, Herr!« Eine tiefe Traurigkeit kam über ihn. Das war nun schon eine Woche her, seit er und Edith sich am Tag der Regatta getrennt. Er sagte sich bitter: Nun ja – die hat dich vergessen! Die ist doch solch ein Flatterkopf! Nur auf ihr Vergnügen erpicht. Sie braucht Leute, die ihr helfen, die Zeit totzuschlagen. Wer da ist, ist ihr recht. Wer nicht da ist – auch gut . . .

Und doch konnte er sich nicht von der Hoffnung und nicht von London trennen. So brachte ihm sein britischer Aufenthalt einen anderen Gewinst als er gedacht. Er lernte wirklich das steinerne Meer an der Themse kennen. Er durchstreifte in seiner fiebernden Unruhe nach allen Richtungen die größte Stadt, die die Erde je geschaut. Er sah in Piccadilly die athletischen, glattrasierten Angelsachsen der oberen Zehntausend in gesättigter Ruhe auf dem Weg zu ihren Klubpalästen und sah in Whitechapel Hunger, Laster und alle Not der Erde aus ausgemergelten Zügen grinsen. Er sah im Hydepark die Viererzüge und Automobile, die Schwärme von berittenen Gentlemen und Ladies und in der City auf den Gassen zum Fluß hinab in zerlumpte Kohlensäcke gehüllte Gestalten, die kaum mehr etwas Menschliches an sich hatten. Er sah die Spelunkenschwestern der Heilsarmee mit Halleluja und Paukenschlag gerettete Seelen aus der Destille zum Betsaal schleppen und sah die eleganten, jungen Suffragetten mit stoischer Ruhe, das Banner der Frauenrechte in der Hand, im Gewühl an den Straßenecken stehen oder, auf dem schmutzigen Boden knieend, mit Kreide ihr »votes for women« auf die Pflastersteine kritzeln, er sah die Anarchisten mit blutroten Fahnen unter freiem Himmel zu Mord- und Brandreden versammelt und Schutzleute, die ihnen, die Hände auf den Rücken gelegt, gähnend zuhörten. Er erkannte, daß es nichts gab, was man in dieser Stadt der siebeneinhalb Millionen nicht finden konnte – außer vielleicht einen unhöflichen Menschen. Und drang man durch den tosenden, menschenwimmelnden bleichen Nebel des Inneren gen Osten, hinunter ans Wasser, so ragten da die Waldungen der Schiffsmasten, dehnten sich die Docks, krächzten die Kranen in den Speicherluken, wirrte es wie in Ameisenhaufen, war ein Hauch des Meeres, der Weite – ein Ahnen, daß das eigentliche Großbritannien über See lag und dieser Welthafen und diese drei Inseln des Vereinigten Königreichs nur seine Vorposten bildeten.

»Noch immer keine Briefe für mich?«

»Nein, Sir!«

Helmut Merker stampfte mit dem Fuß und ging, wie er es jeden Tag zehnmal tat, die große Bummelstraße, den Strand, entlang. Die Zeichen der nahenden Osterfeiertage mehrten sich schon: Überall waren Anschläge mit Anzeigen von Sonderzügen. Ganz London, schien ihm, rüstete sich zum Aufbruch. Nur ihn hatte man vergessen. Am nächsten Vormittag – es war bereits der Gründonnerstag, trieb ihn die Ungeduld in die City, in Old Broadstreet, bis vor das Kontor von Wilding und Kompanie. Er hatte nicht die Absicht, wieder einzutreten. Der alte Herr hatte ihn damals nicht gerade ermutigend empfangen. Er wollte bloß sehen. Auf irgend einen merkwürdigen Zufall warten. Aber zu seinem Kummer war auch da überall schon großer Kehraus. Flucht aus der Stadt. Die Buchhalter schlossen ihre Kassenschränke, die Chefs ihre Bureaus, die Türhüter die Haustore. Die eisernen Rollläden rasselten herunter. Er drehte sich um und wanderte hinaus nach Westen, nach Belgravia, wo die vornehme Welt wohnte. Er fand den Grosvenorplatz. Er fand auch in der Nähe das Wildingsche Haus. Alle Fenster waren dicht verhängt. Es befand sich offenbar keine Menschenseele darin. Enttäuscht machte er auch da kehrt. Er war so unmutig und, eigentlich ohne Grund, niedergeschlagen, daß ihm, als er in der Abenddämmerung sein Stübchen betrat, schon der Gedanke kam: Am Ende reise ich einfach von England ab. Aber wohin mit dem schönen Urlaub? Nach Frankreich durfte er als Offizier nicht. Bloß Belgien und Holland – das war doch jammerschade! Überhaupt – es war doch lächerlich, sich so in die Flucht schlagen zu lassen . . . Mochten sich also die Wildings nicht weiter um ihn kümmern und er sich nicht um sie. Er blieb stehen. Ein freudiger Schrecken durchzuckte ihn. Sein Auge fiel im Zwielicht auf etwas Weißes auf dem Tisch. Es war ein Brief. Seine Adresse in großer steiler englischer Damenhandschrift. Er riß den Umschlag auf und las:

»Lieber Vetter!

Vorgestern bin ich aus Schottland zurückgekommen. Ich hatte da eine gute Zeit. Wir fanden guten Sport und ich habe da viel gefischt. Mein größter Lachs wog sechs Pfund. Aber andere fingen viel besser. Das Wetter war nicht gut. Es hat oft geregnet. So war das Wasser kalt und wir hatten viel darin zu stehen und das war nicht angenehm.

Wir sind jetzt alle, ich und die Eltern und die Geschwister, hier im Bungalow bei Bonchurch, bei meinem Bruder. Ich habe Ma erzählt. Sie wäre so froh, wenn sie mit Ihnen . . .«

Das war durchgestrichen und es ging weiter:

». . . mit Dir zusammen sein könnte. Pa auch. Auch mein Bruder Dickie, dem der Bungalow gehört. Er und seine Frau lassen Dich bitten, ob Du nicht jetzt, nach dem Guten Freitag, über das lange Wochenende zu ihnen hinauskommen willst. Man kann in diesen Feiertagen wenig Sport haben. Aber Bonchurch ist ein lieblicher Ort. Wir hoffen, daß das Wetter gut werden mag. Und wir hoffen, daß Du kommst.

Yours truly

Edith Wilding . . .«

Auf dem Kaiufer, das im Osten das weite Hafenbecken von Portsmouth einsäumte, schlenderte Helmut Merker am Sonnabendmorgen in einem wilden Fieber von Ungeduld auf und ab. Vor ihm lag die graue, silberglänzende Wasserfläche von Spithead. Dahinter ein langgestreckter dunkler Streifen. Die Küste der Insel Wight. Er konnte sie deutlich mit bloßem Auge erkennen und mußte doch hier unnütz ein paar Stunden warten. Er hatte übersehen, daß sich an diesen Feiertagen alle englischen Fahrpläne änderten.

Er sagte sich im Auf- und Abgehen: Ist das vielleicht ein Zeichen? Soll ich noch umkehren? Das ist verrückt. Sie hat mich doch eingeladen. Sie hat an mich gedacht. Aber wie? Ja, wer mir das sagen könnte! Wer mir überhaupt raten könnte! Das Leben ist nicht so leicht, als man glaubt. Wieder riß er seine Uhr heraus und zählte erbittert die Minuten . . . Gräßlich, wie schneckengleich die dahinschlichen. Da hörte er hinter sich eine Stimme: »Helmut . . . Donnerwetter ja . . .«

Ein kräftiger Schlag auf die Schulter traf ihn. Hinter ihm stand, als er sich umdrehte, ein junger Offizier der deutschen Handelsmarine – lustige blaue Seemannsaugen in dem kastanienbraun gebrannten Gesicht, das trotz seiner kaum fünfundzwanzig Jahre schon ein kurzgeschnittener, krausblonder Vollbart umrahmte, auf der Mütze die gekreuzten Anker und Schlüssel, das Wappen des Norddeutschen Lloyd.

»Kurt!« Der Leutnant erkannte seinen jüngeren Bruder und schüttelte ihm überrascht die Hand. »Kerlchen – wo kommst denn du auf einmal her?«

»Ich?« Der junge Seemann lachte. »Na – aus New-York. Wir müssen in Southampton einen Tag liegen. Kleiner Maschinendefekt. Da bin ich eben auf einen Sprung herüber, um mir mal die Bullerians da draußen anzusehen!«

Es rauchte nah und fern auf der Reede von Portsmouth. Schwere, düstergraue, schwimmende Festungen lagen träge im Wasser, streckten schweigend ihre langen Geschützrohre aus den Kuppeln der Panzertürme. Kurt Merker, der Kaiserliche Leutnant zur See der Reserve, prüfte zwinkernd, sachkundig diese Dreadnoughts und Invincibles und fuhr fort: »In Bremen muß ich gleich weiter! Wir schicken einen Dampfer erster Güte nach Australien, um unsere Baumwollonkel aus Melbourne und Sidney abzuholen. Alle Plätze schon gebucht. Es kann sein, daß ich dort abgelöst werde und gleich wieder zur Aushilfe über Japan und durch die States nach New-York gehe. Zum Frühlingsgeschäft. Dort wird jetzt alles hingebracht, was schwimmen kann. Siebzehntausend Yankees warten bei uns drüben auf die Überfahrt!«

»Da kommst du ja rund um die Welt!« meinte der Landoffizier, und der Seemann erwiderte flüchtig, den Blick auf den Panzern draußen: »Na ja . . .! Ich war's schon zweimal!«

Für ihn war trotz seiner jungen Jahre der Begriff des Erdkreises sehr zusammengeschrumpft. Er fühlte sich hier in der Seebrise und dem Hafengeruch von Tang und Teer dem Älteren überlegen. Er lachte.

»Na – was machst du denn so in England, du kleene Landratte? . . . Gefällt's dir? Das glaub' ich! . . . Aber laß dir nur nicht zu sehr von den Englishmen imponieren! Sei ja kein deutscher Michel! Wir sind auch nicht von Pappe! Wir haben ihnen schon eine höllische Ecke abgeguckt! Mehr als den Brüdern lieb ist . . .«

Der Infanterieleutnant nickte. Sein Bruder erschien ihm jetzt auf diesem Boden vertrauter als sonst, wenn er auf Urlaub in die Pfalz kam. Er begriff ihn hier viel mehr, hier in seinem Lebenselement, der See. Er sagte: »Weißt du, hier wird einem erst so klar, was dein Lloyd bedeutet oder die Hamburg-Amerika-Linie . . .«

». . . Und unsere Schlachtflotte!« ergänzte der Schiffsoffizier. Er schirmte die Augen mit der flachen Hand und schaute wieder nach den feuerspeienden Ungetümen draußen. »Gott sei Dank! . . . Wir können ihnen wenigstens jetzt mörderisch die Zähne weisen, wenn's durchaus sein muß! Glaub' mir, das ist das einzige Mittel, sich bei den Kerlen hier in Respekt zu setzen – und wenn sie dir auch zehnmal das Gegenteil versichern!«

Er wurde ernster und wies auf ein seltsames Schiff, das unwahrscheinlich, wie ein Traumbild vergangener Zeiten zwischen den modernen Mordmaschinen mitten im Hafen lag – ein altfränkischer, dreimastiger Segler, drei weiße Linien von Stückpforten an den hohen Bordwänden: Nelsons »Victory«, die Siegerin von Trafalgar.

»Damals haben sie alle Meere in der Tasche gehabt!« sagte Kurt Merker. »Da gab's eigentlich nur noch die britische Flagge und der Rest war Seeräuber. Aber die Zeiten sind vorbei. Es wächst ihnen über den Kopf. Sie können's nicht mehr schaffen. Du – ich muß jetzt weg. Sonst versäume ich den Zug nach Southampton. Viel Vergnügen in Old England! Ich schreib' dir mal aus Suez oder Vancouver oder sonst woher . . .«

Er drückte dem Bruder die Rechte und eilte sich, fortzukommen. Drüben, am Landungssteg, lag jetzt auch der Dampfer nach der Insel Wight bereit. Helmut Merker betrat ihn rasch und entschlossen. Das Zusammentreffen mit dem Bruder hatte ihm Mut verliehen. Stolz. Er fühlte sich als Deutscher. Er sagte sich: Herrgott – was brauch' ich mich denn vor einer kleinen Engländerin zu fürchten? Oder gar vor einer Halbengländerin! . . . Zur Hälfte ist sie doch von Abkunft deutsch . . .

Er ging durch die sauberen, stillen Straßen von Bonchurch. Freundliche kleine Häuser im Villenstil säumten sie. Südliches Immergrün umbuschte die Mauern. Bunte Blumen schwankten im Wind. Zuweilen sah man am Ende der Gasse stahlblau in der Tiefe ein Stückchen Meer. In einem dieser ländlichen Ruhesitze wohnten wohl auch die Wildings. Sein Herz klopfte. Er hatte sich am Bahnhof ungefähr nach der Richtung erkundigt. Aber nun führte der Weg steil bergab, verlor sich in Schluchten und üppigen Gärten, aus denen kaum einmal ein Dach oder ein Türmchen lugte. Es war niemand da, an den er sich wenden konnte. Nur dort, in der Ferne, stand ein junges Mädchen, ganz in Weiß, einen Strohhut auf dem Kopf, einen Tennisschläger in der Hand. Mit dem winkte sie plötzlich, ihren langen dünnen Arm erhebend und sich auf die Fußspitzen stellend, um sich besser bemerkbar zu machen. Er wandte sich unwillkürlich um. Nein. Hinter ihm war keine Menschenseele. Das lachende Nicken des blonden Kopfes da drüben galt ihm. Es war Edith. Jetzt erkannte er sie. Sie mußte Luchsaugen haben, daß sie ihn noch früher gesehen hatte . . .

Er lief auf sie zu. Sie kam ihm fast ebenso rasch mit ihren langen, schlenkernden Schritten, in denen eine sorglose Energie lag, entgegen. Sie schien ihm reizender als je. Sie schüttelten sich beide kräftig die Hände. Dann meinte er, freudig erregt und noch halb atemlos von der Eile: »Wie nett, daß wir uns hier zufällig treffen!«

»Ich weiß doch den Zug . . . Ich bin dir ein Stück entgegengegangen!«

Er war ganz gerührt.

»Ach . . . ich dank' dir, Edith!« sagte er herzlich

Sie lachte.

»Für die hundert Schritte?«

»Es ist so nett von dir! Ich fürchtete schon, du hättest mich längst wieder vergessen!«

»O nein!«

Sie sprach das ganz einfach und offen. Es war volle Ruhe auf ihren klaren, regelmäßigen Zügen. Aber es klang ernster. Oder es schien ihm so. Es drang ihm ins Herz.

»Was hast du denn die ganze Zeit gemacht?« frug sie, wahrend sie zusammen weiterschritten.

»Nichts Gescheites! Soll ich dir einmal die Wahrheit sagen?«

Sie machte große Augen über diese Gewissensfrage eines Gentleman.

»Aber das tut man doch immer!«

»Na ja . . . also . . . ich hab' nichts getan, als auf einen Brief von dir gelauert, Edith! . . . Die ganze geschlagene Zeit. Ich bin rein die Wände hinaufgegangen vor Ungeduld, bis eure Einladung mit Gottes Hilfe endlich kam!«

»Da wird dich jetzt der Bungalow am Ende enttäuschen, wenn du so viel . . .«

»Ach . . . der Bungalow! . . . Auf dich hab' ich mich doch so riesig gefreut, Edith . . . das übrige ist mir alles egal!«

Sie antwortete nichts. Zum erstenmal zeigte sie Spuren von Befangenheit. Es war eine leise Röte auf ihren Wangen. Sie schaute im Gehen zu Boden und schlug dabei zerstreut mit dem Rakett durch die Luft. Sie war still geworden. Er auch. Er wagte nicht zu reden. Er fürchtete, durch irgend etwas Alltägliches diese seltsame, ahnungsvolle Frühlingsstimmung zu zerstören, die plötzlich über ihnen war, die um sie war, in diesen schattigen Schluchten, diesem südlichen Pflanzenwuchs, dieser weichen, an ferne Gestade erinnernden Luft. Ihre raschen Tritte hallten gleichmäßig ineinander. Sonst war da kein Laut. Kein Blatt regte sich. Es war wie in einem Traumland.

Dann kamen Leute. Edith Wilding gab mit einer leichten Neigung des Kopfes ein paar Herren die Erlaubnis, sie zu grüßen. Sie fing wieder an, mit ihrem Gefährten zu plaudern. Sie wies ihm die Sehenswürdigkeiten am Wege: da die Cottage eines Baronets, dort der schloßartige Sitz eines Chicagoer Stahlkönigs, der immer nur auf vierzehn Tage im Jahr hierherkam. Er mußte über die Fülle von Abwehr und Abscheu lachen, mit der sie von den Amerikanern sprach. Er wies auf den nächsten, vornehm zurückgezogenen Landsitz zur Rechten und forschte scherzend: »Und welcher Lord wohnt da?«

Ein großes, bizarres Gebäude in halb indischem Stil erhob sich mit vorspringenden Verandadächern auf einem Hügel. Ein farbiger Teppich von Beeten umlagerte es weithin und ging zum Meer hinunter in einen schattigen Park über. Nach rückwärts sah man die Glasdächer von Treibhäusern, Stallungen, eine Automobilgarage. Gärtner waren am Gitter tätig. Die roten Westen von Dienern schimmerten fern auf der Freitreppe.

»Das ist der Bungalow!« sagte Edith Wilding unbefangen, öffnete die Tür mit einem Schlüsselchen und trat ein. Er folgte ihr in gedrückter Stimmung. So großartig hatte er sich das nicht gedacht . . .

»Das ist ja ein Riesending!« versetzte er, und sie schüttelte den Kopf.

»Ach – das ist doch nur Dickies Sommersitz! . . . Aber du mußt einmal nach Rosemary-Hills kommen, zu den Eltern! . . . Das ist ein schöner Platz.«

Ein Haushofmeister nahm ihn in Empfang und wies ihm sein Zimmer an. Während sich der Leutnant Merker von dem Reisestaub befreite, wurde ihm bei dem Blick über die weite blaue See da unten kummervoll ums Herz. Er war doch weiß Gott ein unverzagter Kerl. Aber der Abstand hier war zu groß! Die Leute hatten zu viel Geld! Es war ja sündhaft! Niemand konnte das nach ihrem Londoner Auftreten ahnen! Es dämmerte ihm jetzt, daß man England nicht in den Städten, sondern auf dem Land und über See suchen mußte . . .

Unter seinem Fenster hörte er Stimmen. Eine helle, wohlbekannte, die leidenschaftlich: »Out! . . . Out!« schrie. Er schaute hinaus. Da war ein Tennisplatz. Weißgekleidete Gestalten darauf. Edith unter ihnen. Sie unterbrach ihr Spiel, als er kam, und stellte ihn vor. Erst ihrem Bruder Dickie, dem Hausherrn, einem rosigen, glattrasierten, wohlgenährten und wohlwollend lächelnden Dreißiger, und dessen Frau, einer spitzen, hageren kleinen Dame, die mit ihrem Gatten eben erst heimgekommen war. Weiter ihrem jüngeren Bruder Bill, einem Junggesellen, mit einer Stummelpfeife in dem gleichfalls bartlosen, humoristisch zwinkernden, hageren Sportgesicht und den Händen in der Hosentasche, dann einer Anzahl anderer Herren und Damen, deren Namen Helmut Merker nicht verstand. Einer dieser Gentlemen kam ihm bekannt vor. Es war ihm, als hätte er diesen stämmig und rundlich, ganz unenglisch gebauten Herrn mit dem zahnbürstenartig kurzgeschnittenen blonden Schnurbärtchen und der großen Glatze schon irgendwo getroffen. Aber er konnte sich nicht entsinnen wo. Er entnahm nur aus den Gesprächen, daß dies Mr. Augustus Fleck der Jüngere aus Manchester, der Schwager des Hausherrn, war.

Nach diesem allgemeinen Händegeschüttel war für jedermann der Zwischenfall erledigt. Kein Mensch frug den Neuangekommenen weiter nach »wie« und »was«. Es war ein Gentleman mehr über das Wochenende da. Gut. Das Lawn-Tennis nahm seinen Fortgang. Die Bälle flogen. Helmut Merker hatte sich gesetzt und sah Edith zu, die mit ihrem Bruder Bill gegen Augustus Fleck und dessen Schwester Lucy, die kleine, schmächtige Frau des Hauses, spielte. Es war ein heißer Kampf zwischen den beiden Geschwisterpaaren. Bill schlug weitaus am besten. Er war, wie der junge Deutsche neben sich sagen hörte, ein Champion in allen möglichen Sportarten. Aber auch die anderen verstanden ihr Handwerk. Sie tummelten und wirrten sich durcheinander, vor der steilen Richtertreppe, auf der der faule Dickie Wilding behaglich mit hochgezogenen Knien thronte. Helmut Merker unten hatte nur Augen für Edith. Er verlor sich in Träumen. Er verfolgte ihre schlanke Gestalt in dem weißflatternden Rock, den blitzschnell den Ort wechselnden langen weißen Schuhen, den kämpfenden weißen Arm, wie ein flimmerndes Lichtbild in Sonne und Luft, eine Erscheinung, die plötzlich in nichts zergehen mußte. Es war Leidenschaft in ihren Bewegungen. Sie machte Sätze wie ein junges Füllen, schnellte sich in die Höhe und streckte sich, um einen Ball noch zu erhaschen, duckte sich lauernd nieder, mit einem gespannten Sportausdruck auf den gar nicht mehr mädchenhaften Zügen, mit erwartungsvollen Augen, zusammengebissenen Lippen. Alles an ihr war Leben. Selbstvergessenheit. Sie war mit Leib und Seele bei der Sache und, dank der Meisterschaft ihres Bruders, der sie wahrend des Spiels mit halblauten Grobheiten überhäufte, schließlich auch Siegerin. Lachend, rasch atmend und erhitzt trat sie vor den deutschen Vetter hin, strich sich die wirren Haare aus der Stirne und meinte: »Das war ein gutes Spiel – war es nicht? Was denkst du?«

»Oh . . . ihr sagt schon ›du‹ aufeinander!« versetzte trocken Bill Wilding hinter ihr und schloß vielsagend sein rechtes Augenlid. Er und sein älterer Bruder sprachen viel schlechter Deutsch als ihre Schwester. Sie hatten große Mühe damit. »Ihr habt eine Bruderschaft zusammen gemacht – ja?«

Wieder färbten sich die Wangen des jungen Mädchens noch ein wenig röter, als sie ohnedies schon durch den Eifer des Spiels waren. Sie ließ den anderen nicht antworten, sondern versetzte rasch: »Es ist jetzt Zeit, sich zum Dinner umzuziehen, Vetter!« Und dann in einer plötzlichen Besorgnis: »Du hast doch einen Frack mit?«

»Ja. Zum erstenmal in meinem Leben. Man muß sich doch nach den Landessitten richten!«

»Man sollte sich überhaupt überall auf der Welt nach England richten!« sagte von drüben Mr. Augustus Fleck. Der junge Offizier sah den vierschrötigen kleinen Herrn, der äußerlich so wenig einem Briten ähnelte, erstaunt an. Aber er sagte nichts. Der andere fuhr fort: »Kultur und England – das ist ja ein und derselbe Begriff!«

Helmut Merker lachte.

»Und was bleibt da für uns minderbegabte Nationen übrig? – Für uns Deutsche zum Beispiel?«

»Ich finde,« versetzte Augustus Fleck kühl und es lag eine unverkennbare Herausforderung in der Art, wie er seinen Gegner ansah. »Ich finde, daß der Deutsche im Ausland nichts besseres tun kann, als so rasch wie möglich im Angelsachsentum aufzugehen!«

»Nanu!«

»Schließlich tut er's ja doch! . . . Je zeitiger, je besser! . . . Es ist der einzige Weg nach oben, Sir!«

»Na – Sie scheinen ihn ja eingeschlagen zu haben!« meinte der junge Offizier kaltblütig. »Trotz Ihres Namens!«

»Für meinen deutsch klingenden Namen kann ich nichts. Ich bedaure, daß ich ihn als Engländer führen muß. Ich würde ihn gerne ändern!«

»Wir würden Ihnen auch keine Träne nachweinen, Sir!«

Die beiden jungen Männer sahen sich gereizt an. Helmut Merker hatte wider Willen einen roten Kopf bekommen. Diese absichtliche Herausforderung ging ihm doch über den Spaß. Und zum Überfluß fügte jener höhnisch hinzu: »Ich bin traurig, Sir, es sagen zu müssen! Aber ich bin Germanophobe!«

»Na . . . Sie müssen's ja wissen! Sie sprechen aber noch Englisch mit deutschem Akzent, Mr. Fleck . . . Beinahe wie ich . . .«

»Und trotzdem bin ich britischer Imperialist . . .«

»Da lassen Sie sich nur ja nicht von Ihren neuen Landsleuten auslachen . . .«, sagte der Leutnant trocken. Jetzt klang preußische Kasinoschärfe durch seine Worte.

Der Deutschenfresser vor ihm fuhr auf: »Sir . . . ich verbitte mir . . .«

»Ich mir schon lange, Sir . . .«

Der Hausherr trat breit und behäbig dazwischen.

»Gentlemen! Es sind Ladies hier!« mahnte er phlegmatisch, und durch die plötzliche Stille sagte Edith zornig zu Augustus Fleck: »Unausstehlich sind Sie . . . seit neulich . . . seit dem Oxford-Cambridge-Rennen!«

Im selben Augenblick wußte der junge Deutsche, wo er seinem Feind schon einmal im Leben begegnet war. Draußen am Themseufer. Da hatte Edith jenen mitsamt all ihren anderen Bekannten stehen lassen und sich an seiner, Helmut Merkers, Seite im Gewühl verloren. Er begriff nachträglich: das war Absicht gewesen. Das hatte Mr. Fleck gegolten. Und der schroffe Ausbruch von Deutschenhaß da drüben war der Rückschlag und hieß auf Deutsch Eifersucht . . .

Eifersucht . . . Also war anderen schon etwas aufgefallen! Leuten, die Edith Wilding länger und besser kannten als er! Zu anderen Zeiten hätte ihn das selig gemacht, seinen Wagemut erhöht. Aber jetzt grübelte er in seinem Zimmer, während er sich umkleidete. Trübsinn erfaßte ihn. Er zog die Knöpfchen durch die Hemdbrust und sagte sich: Sie ist ja viel zu reich. – Er legte vor dem Spiegel die weiße Binde um und wiederholte: Rasend reich! – Er fuhr in den Frack und seufzte und gestand sich, während er auf das Heulen des Gongs hin die Treppe hinabstieg: Blödsinnig – unerhört reich! Die nimmt mich ja nie . . .

Unten im Drawing-Room war jetzt auch der Vater John Wilding. Der alte Citymann begrüßte seinen deutschen Neffen freundlicher als damals, mit Geschäftsorgen beladen und im Ärger über Geldverluste, in seinem Kontor. Es war ein guter Ausdruck in seinen alten, ein wenig müden Augen. Er hatte immer etwas Insichgekehrtes, beinahe Gedrücktes. Still saß er inmitten der lachenden und schwatzenden Tafelrunde. Deren Mittelpunkt war seine Frau. Lang, geräuschvoll, lebendig hager, den Kopf fortwährend nach rechts und links drehend und in ständigem Salonlächeln ihre großen, weißen, englischen Schneidezähne zeigend, glich Mrs. Wilding in ihrer schlanken, hohen, von hinten gesehen geradezu mädchenhaften Gestalt ihrer Tochter Edith. Ihr Gesicht war in ihrer Jugend wohl reizvoll gewesen. Jetzt wirkte es leer. Es erschien Helmut wie eine verwitterte Fassade, hinter der nichts mehr wohnte. Sie erzählte fortwährend und aufgeregt von der Riviera. Sie schätzte die Orte dort nur nach Zahl und Art des vorhanden gewesenen ›people‹, der englischen Besucher, ein. Je mehr, je besser. Und am besten, wenn Mitglieder des englischen Hochadels sich darunter befunden hatten. Einer von diesen, ein steinalter Earl, war in Mentone gestorben, und Helmut Merker hörte, wie sie ganz gerührt sagte: ›Poor old Lord Dingsda . . .‹, so als hätte sie mit dem Verstorbenen mindestens einen Scheffel Salz gegessen. So viel wußte er jetzt auch von England, daß Welten zwischen der Frau eines Citymannes und einem Peer lagen. Es war nur blinde Vergötterung. Andächtiger, verzückter Aufblick nach oben, in das Reich der Schlösser und neunzackigen Kronen. Hier und überall im Lande. Diese alte Mrs. Wilding, diese fahrige, grauhaarige, unermüdliche und dabei wolfshungrige Lady, war nur eine unter tausend. Sie war wie ein Sinnbild dieser ganzen gesellschaftlichen Heuchelei. Ihre Tochter Edith erschien ihm jetzt auf einmal in ihrer unbefangenen Mädchenfrische förmlich ein bißchen deutsch dagegen. Deutsch wie der Vater, der schweigsam, ein unscheinbarer kleiner Herr, oben am Tisch saß.

Edith Wilding war jetzt nicht mehr die gelenkige Sportsmiß mit flatternden Röcken und wilden Sprüngen wie am Nachmittag. Sie hatte sich ganz in eine gemessene, junge Salondame verwandelt. Sie trug ein ausgeschnittenes weißes Kleid mit lichtgrünem Überwurf, der ihr hochfrisiertes Haar noch lichtblonder erscheinen ließ. Lebensgroße rosa Rosen waren da und dort in erhabener Stickerei in den Schnee des Gewandes eingefügt. Es sah seltsam aus, eigentlich ein bizarrer englischer Geschmack – aber es wirkte. Ihre weißen, ein wenig schmächtigen Schultern und Arme schimmerten im Kerzenlicht. Sie saß Helmut Merker gerade gegenüber. Er hörte, wie ihre Schwägerin Lucy ihr zurief: »Edith – warum hast du dich denn heute so hübsch gemacht?«

»Wieso denn?« frug das junge Mädchen unbefangen, den Suppenlöffel vor sich in der Luft, und ihr Bruder Bill, der Sportmann, musterte sie humoristisch. »Well! Sie hat ihr bestes Pferd aus dem Stall gezogen!«

Miß Wilding tat, als hörte sie das nicht, sondern beschäftigte sich gleichmütig mit ihrer Suppe. Wenn sie wie jetzt den Kopf etwas vorbeugte, war ein Orchideenbusch in der Mitte der Tafel zwischen ihr und ihrem deutschen Vetter, so daß er sie nicht mehr sehen konnte. Er bemerkte nur auf den Gesichtern ringsum einen komischen Ausdruck, ein Lächeln, ein Einverständnis, so als wüßten sie alle etwas, was er nicht wußte und was ihn doch betraf, ihn am meisten. Wieder bekam er Herzklopfen. Das Blut stieg ihm heiß zu Kopf. Er vermied es, Edith noch einmal mit den Blicken zu suchen. Er schaute nach dem Ende der Tafel, wo John Wilding sich mit dem alten Mr. Fleck über Geschäfte unterhielt. Der greise Manchestermann sah mit seinem glattrasierten, nüchtern strengen Geierkopf weit britischer aus als sein Sohn, der Imperialist. Er und der Hausherr sprachen über den Scheck New-York, der wieder um so und so viel angezogen hatte. Es schien, daß sie sich über Wallstreet ärgerten. Der junge Deutsche verstand keinen Pfifferling davon. Er hatte nur immer wieder das Gefühl: diese Leute hier im Lande geben Gold mit der Rechten in die Welt hinaus und raffen mit der Linken das Gold wieder ein. Selber tun sie nichts . . .

Etwas Kaltes, Feuchtes berührte seine herabhängende Rechte. Er machte eine rasche Bewegung. Edith hatte es bemerkt. Sie schaute ihn über den Tisch fragend an. Er rief ihr freudig zu: »Mac Gregor hat mich erkannt! Er ist eben gekommen und hat mir die Hand geleckt!«

Das schien ihm wie ein Glückszeichen, dieser Willkomm des alten grämlichen Burschen. Ihr auch. Sie nickte erfreut. Ihrer beider Augen lachten einander zu. Dann wurden sie plötzlich befangen und schauten schnell nach zwei verschiedenen Richtungen auseinander.

Bald darauf brachen die Damen auf. Die Herren hatten sich erhoben und rückten dann nach englischer Art noch einmal zusammen. Sie plauderten über die sommerliche Segelwoche in dem nahen Cowes. Die versprach glorreich zu werden. »The Kaiser« wurde erwartet, der König von Spanien und andere mehr. Helmut Merker hörte nicht zu. Er träumte, die Zigarre zwischen den Lippen, vor sich hin und dachte an Edith, bis ihn sein Nachbar herzlich fragte: »Kennen Sie Mr. Jones, Sir?«

»Welchen Mr. Jones?«

»Na – den, der immer die Portweinflasche vor sich stehen läßt!«

Der junge Deutsche hatte es in der Tat vergessen, die unermüdlich kreisende Karaffe weiter zu geben. Er lachte und holte das Versäumte nach und dachte wieder an Edith. Und sie an ihn . . .

Sie hatte das Damenzimmer verlassen und war, ein Tuch um die Schultern werfend, über die Freitreppe in den Garten hinabgestiegen. Die Luft war weich und still, vom Salzhauch der See gesättigt. Kein Windstoß rührte die Kronen der Palmen, die Agavenstauden, das Lorbeergrün umher. Ein würziger Duft stieg aus dem feuchten, fetten, englischen Rasen. Die Wiesenflächen und Parkhecken dehnten sich weithin in bläulichem Mondschein. Tief unten ruhte in seinem Schimmer still wie eine Riesenschüssel geschmolzenen Silbers das Meer.

Das junge Mädchen ging lässig den Kiesweg entlang. Sie setzte sich auf eine Bank am Weg, schlug ein Bein über das andere und legte die Hände nach hinten über die Lehne. Sie drehte dem Haus den Rücken zu. Sie wandte auch nicht den Kopf danach. Wenn sie hier saß und die schöne Frühlingsnacht genoß, und wenn die Herren genug Portwein getrunken hatten und aufstanden, und wenn jemand sie dann sah und kam – ja – da konnte sie nichts dafür. Sie war dann sehr überrascht über dies Spiel des Zufalls . . .

Und da klangen Schritte den Weg entlang. Immer näher. Sie rührte sich nicht. Es nahm jemand Platz, dicht neben ihr, erfaßte plötzlich leise ihre Hand . . . sie fuhr auf und hatte Mühe, eine Bewegung der Ungeduld zu unterdrücken. Das war ja ihr Vater . . .

Der kleine Herr lächelte sie freundlich an. Er war im Frack, mit bloßem Kopf. Im Mondschein war sein graues Haar beinahe weiß. Dadurch sah er älter aus als sonst. Eine Weile schwiegen beide. Sie in verbissenem Ärger. Er in stilles Sinnen verloren. Endlich hub er an: »Ich hab' von einem peinlichen Auftritt heute nachmittag gehört, Edith . . .«

»Ach . . . es war nicht der Rede wert, Pa! Augustus hat sich ungehörig benommen. Wir haben ihn ja auch bei Tisch weit weg von dem anderen gesetzt, damit es nicht wieder Streit gibt!«

»Hm . . . du nimmst ja sehr Partei für den anderen!«

»Nein – Pa! Aber wenn ein Ausländer und nun gar ein Deutscher bei uns zu Gast ist, muß er besonders geschützt werden. Ich hab' Dickie gehörig meine Meinung gesagt, daß er nicht energisch genug war . . .«

»So?« meinte der alte Citymann nach einer Pause. »Nun ja . . . der junge Mann reist ja auch Dienstag wieder ab, und es ist gut. Aber Augustus bleibt. Er ist doch schließlich beinahe dein Schwager . . .«

»Ich hab' ihn mir nicht als Verwandten ausgesucht! Wenn mein Bruder und seine Schwester sich heiraten – was geht das mich an?«

Es klang schnippisch und trotzig. Sie machte eine Bewegung, sich zu erheben und ins Haus zu gehen. Ihr Vater, der immer noch ihre Hand in der seinen hatte, hielt sie mit sanftem Zwang zurück.

»Früher warst du netter zu ihm, Edith . . .«

»Ich hab' auch jetzt nichts gegen ihn, Pa! Ich find' ihn nur gräßlich! Er soll mich in Ruhe lassen!«

»Was mißfällt dir denn an ihm so?«

»Ach . . . Pa . . . das kann man nicht so sagen . . . das weiß ich selber nicht . . . Ich mag ihn eben nicht! . . . Und jetzt weniger denn je . . .«

Wieder wechselten Vater und Tochter eine Weile kein Wort. Plötzlich fing der alte Großkaufmann von etwas ganz anderem an.

»Du glaubst nicht, mein Kind,« sprach er gedrückt, »was an Geld aufgeht! Zuweilen bitte ich Mutter und die anderen, sich ein wenig einzuschränken. Niemand kümmert sich darum. Im Gegenteil. Die Antwort ist, daß ich womöglich noch acht Tage früher als sonst ein neues Scheckbuch brauche . . .«

»Ja, aber – Pa . . . die Firma . . .«

»Die Firma Wilding und Kompanie, Kind – die ist jetzt wie eine Kuh, an der viel zu viel Hände zugleich melken. Mutter mit ihrem Aufwand, Dickie hier mit seiner großen Familie, Bill mit seinem Sport – an meinen Schwiegersohn Mac Cornick muß ich auch einen Zuschuß zahlen – du brauchst Geld – ich muß schließlich auch leben, so wenig dazu nötig ist . . .«

»Pa . . . wir sind doch reich . . .«

»Wir sind wohlhabend, Edith! Aber ein Geschäft ist wie eine Maschine, die bedient sein will. Sonst wirft sie keine Zinsen ab. Kind: ich bediene diese ganze große Maschine von London bis Valparaiso und hinüber nach New-York seit Jahren ganz allein. Deine Brüder rühren keinen Finger. Und wenn, so haben sie nicht genug gelernt. Sie kommen nur und stören mir das Geschäft. Ich mache allein Geld für euch alle. Ich fange an, alt zu werden! Ich bin manchmal so müde . . . so müde . . .«

Edith küßte ihn herzlich mitten auf die Stirne.

»Du mußt dich mehr schonen, Pa!« sagte sie strahlend.

»Ja – wie? . . . Bezahlte Kräfte . . . die kriegt man . . . aber lieber Gott . . . Ich hab's eben erst wieder mit meinem Prokuristen Hinrichsen erlebt . . . der geht nun auch. Er war meine rechte Hand . . . Nein . . . sieh mal: jemand wie Augustus Fleck . . .«

Das junge Mädchen rang die Hände.

»Pa! . . . Bist du denn schon wieder bei Augustus?«

»Er ist ein energischer, umsichtiger Kopf . . .«

»Ja. Ich glaub's ja gern, daß er was von seiner Baumwolle versteht!«

»Er würde sich auch rasch in andere Branchen einarbeiten! . . . Augustus Fleck als mein Schwiegersohn . . .«

Der alte Herr sprach es leise und gedrückt, wie mit schlechtem Gewissen. Er wagte nicht weiter zu reden. Edith Wilding sprang ungestüm mit einem Satz auf die Beine.

»Pa . . . Nun hört aber alles auf . . .!« rief sie empört.

»Du brauchst nur ›ja‹ zu sagen, Edith! . . . Er wäre ja glücklich . . .«

Das junge Mädchen lachte plötzlich aus vollem Hals. Sie faßte die Sache jetzt heiter auf.

»Ich soll mich . . .? . . . Wegen eurem Salpeter oder eurer Baumwolle soll ich mich . . .? Guter alter Pa . . . was hast du aber auch für Ideen?«

»Mir ist das Herz so schwer, Kind!« murmelte der alte Wilding. Er entschuldigte sich schon fast. Sie beugte sich nieder, schlang ihre langen, dünnen, weißen Mädchenarme um seinen grauen Kopf, küßte ihn wieder zärtlich und sprach beinahe zu ihm wie zu einem betrübten Kind. Sie tröstete ihn. Sie belehrte ihn förmlich.

»Pa – ich werde sparen! . . . Hole dir doch den faulen Dickie heran! Und Bill! Wofür hast du denn deine Söhne? Oder nimm dir einen Sozius!« Soviel wußte sie als Kaufmannstochter doch von Geschäften. »Aber daß ich deswegen – Pa . . . ich bin starr . . . ich bin noch ganz entsetzt, daß man mir so etwas zumutet! . . . Nein – Pa! Ich heirate, wen ich will . . . Und wenn der Rechte kommt, dann frag' ich weder euch noch sonst jemanden!«

»Es war ja auch nur so ein Gedanke!« sprach John Wilding kleinlaut. Er kam sich angesichts der lachenden Entrüstung seiner schönen Tochter nun selbst beinahe verbrecherisch vor. Er schaute still zu ihr empor, wie sie da lang und schlank und weiß im Mondlicht vor ihm stand, den blonden Kopf trotzig in den Nacken geworfen.

»Geh jetzt, Kind!« versetzte er leise. »Ich möchte gerne noch ein wenig allein sein!«

Sie küßte ihn zum drittenmal, gab ihm einen gleichmütigen Klaps auf die Schulter, als Zeichen, daß sie nicht mehr böse sei und den ganzen Vorfall nicht mehr ernst nehme, und wandte sich ab. Er hörte ihre elastisch schlenkernden Schritte sich entfernen und im Hause verhallen. Es wurde ganz still. Der alte Citymann saß stumm da, die erloschene Zigarre in der Hand. Er sah auf das weite Meer hinaus. Hell lag der Mondschein auf seinen gramvollen Zügen.



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