Rudolph Stratz
Seine englische Frau
Rudolph Stratz

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6

Weihnachten war schon vorbei. Es war der letzte Tag im Jahr. Aber noch lag kein Schnee auf diesen gesegneten Hängen des deutschen Südens an der Bergstraße. Es war mehr wie ein Winter in Italien, lauer Regen, linder Wind, graue weiche Luft. Das trübe Leuchten, das den Lauf der Sonne anzeigte, neigte sich schon, früh am Nachmittag, drüben im Westen über der Hardt zur Rüste, als der Zug an der Station Alsheim hielt und Frau Emma Nägelein, die Schwester Helmut Merkers, im Aussteigen energisch zu ihrem Gatten, dem Oberlehrer, sagte: »Natürlich hast du eine falsche Ankunftszeit geschrieben. Es ist niemand da!«

Der Gymnasiallehrer, eine kräftige, vollbärtige, bebrillte Erscheinung, schaute aus seinen leuchtenden Blauaugen prüfend um sich. Er faßte den Fall ruhig auf.

»Wir nehmen eine Droschke, liebe Emma, und fahren mit unserem Handgepäck zu deinen Geschwistern!«

Und im Wagen erläuterte er: »Wenn ich Geschwister sage, so habe ich allerdings mehr und in erster Linie deinen Bruder im Auge. Denn seine Frau – ich muß gestehen, eine Deutsche wäre mir lieber! . . . Es kommt nun einmal nichts Gutes über den Kanal!«

»Sei so gut und lasse deine ewigen Predigten hier unterwegs. Niemand kann dafür, wo er geboren ist. Edith auch nicht!«

Frau Nägelein war blond, rundlich und kleinstädtischresolut. Ihr Gatte fügte sich.

»Ich mache ihr ja auch keine Vorwürfe!« sprach er und stieg aus der Droschke, die vor der Villa hielt. »Was ist denn das für ein nächtlicher Geselle in schwarzem Leder? He . . . Sie da . . . guter Freund! Sind die Herrschaften zu Hause?«

»I don't speak German, Sir!«

Der Chauffeur Robinson schüttelte auf der Schwelle der Garage den Kopf. Aus dem Hause trottete ein alter grauer Otternhund. Eine hagere, ältliche Zofe rief ihn zurück.

»Mac Gregor! Come here again!«

»Hörst du diese Leute?« sprach der Oberlehrer dumpf zu seiner Frau. »Emma . . . mir schwant Böses! . . . Wie einen das Frauenzimmer majestätisch anschaut! . . . Wir möchten zu Herrn und Frau Leutnant Merker, meine Beste! Wir sind über Neujahr hier eingeladen!«

»What do you want, Sir, please?«

Der Altphilologe und seine Frau verstanden kein Englisch. Sie schauten sich ratlos um. Ein paar unverkennbare britische Misses traten, ihre nassen Regenschirme zusammenklappend, von der Straße her mit der Sicherheit von Hausgästen in den Flur. Die eine überblickte die Sachlage und schrie aus voller Kehle in die Treppenwölbung hinauf: »Halloah, Edith! Any one for you!«

»What's the matter?« Über dem Geländer oben erschien Ediths blonder hübscher Kopf und spähte in das Zwielicht hinab. »Oh . . . wer ist da?«

Doktor Nägelein warf sein bärtiges Haupt zurück und drückte sich die Brille fester, um nach oben zu schauen.

»Nur ein paar Deutsche!« verkündete er. »Nicht mehr! . . . Und beide leider der Landessprache hier im Hause nicht mächtig!«

»Ach . . . ihr seid's!«

Frau Leutnant Merker flog in ein paar langen Sätzen die Stiege hinab. Sie hatte immer noch ihre ungestümen angelsächsischen Bewegungen des Lawn-Tennis- und Cricketplatzes an sich. Sie schüttelte denen unten herzlich mit ihrer langen nervigen Sporthand die Rechte, daß ihnen die Finger schmerzten.

»Oh – ihr seid früher gekommen? All right . . . Ich bin so froh . . . Gleich wird euer Zimmer fertig sein! Kommt hier herein! Wir haben hier Tee. Da sind meine Freundinnen aus London: Miß Hunter und Miß Fife. Sie können leider kein Wort Deutsch. Wie ich diesen Herbst, während Hellie im Manöver war, nach England ging, hab' ich sie mir eingeladen . . . Die Meinigen kommen im Frühjahr . . . Das wird eine gute Zeit . . . Da ist Jam . . . habt ihr Cakes . . .?«

Sie plauderte unbefangen heiter, jung und gesund. Vor ihr war ein Fünfuhrtee, die Blüte englischer Kultur, aus Sandwiches und Backwesen und hundert Niedlichkeiten aufgebaut. Die Fenster standen trotz der Winterkühle weit offen. Es zog empfindlich herein. Gegenüber flackerte und glühte backofengleich ein Kamin und erhellte die heimatlichen britischen Turfbilder an den Wänden. Neben einem Anrichtetisch stand groß, breitschultrig, in Kniehosen und Wadenstrümpfen, der Butler, der Haushofmeister. Doktor Nägelein betrachtete ihn mißbilligend und glaubte in den unbewegten, glattrasierten Zügen des Mannes das gleiche Gefühl zu lesen. Sein Auge fiel auf einen Stoß englischer Romane. Daneben die ›Daily Mail‹ . . . ein halbes Dutzend ›Ladies-Magazines‹ – England überall . . .

»Wie es mir geht?« sagte inzwischen Edith Merker zu der Schwester ihres Mannes. »Oh – so gut! Hellie und ich sind so zufrieden miteinander! . . . Ich habe mich hier schon ganz eingelebt . . .«

»Wahrhaftig?«

»Ja. In England wundern sich alle, wie man so rasch deutsch werden kann! Und es ist mir doch gar nicht so schwer gefallen. Some tea, please?«

Die kleine Frau Nägelein hatte etwas Humoristisches an sich. Als sie oben im Gastzimmer mit ihrem Mann allein war, platzte sie los. Der Oberlehrer ging düster auf und nieder. Er stieß mit dem Fuß einen der mächtigen englischen Tubs zur Seite, die in verschwenderischer Fülle und in allen Formen zum Wassergeplantsche bereit standen und schloß klirrend die sperrangelweit offenen Fenster.

»Emma – nun weiß ich doch, wie es in einem englischen Hause ausschaut, ohne daß ich je in England war!«

»Sie hat eben das Geld!«

»Das ist's!« Der Schulmann blieb ingrimmig stehen, »Auri sacra fames . . . Diese Leute plündern die ganze Welt und vergiften damit unser Deutschtum! . . . Und wir sind immer noch gegen sie wehrlos . . . nationale Chamäleons . . . Mimicry . . . Vierzig Jahre nach Sedan . . . Gerechter Bismarck . . . steh uns bei!«

»Sei still! Uns tun sie nichts!«

»Weh tut's mir! Früher trieben die Franzosen bei uns Seelenfang. Jetzt die Briten! . . . Merkst du, wie die Rasse auf alles abfärbt? Ich bin überzeugt, die Mäuse unter den Dielen pfeifen hier auf englisch, die Uhr dort drüben tickt englisch – es hat sich um die beiden herum ein englisches Fluidum gebildet, das . . . In wenigen Tagen will er ja auch mit seiner Frau auf sechs Wochen mit Urlaub nach Ägypten . . . Schließlich werden sie ihn noch ganz einseifen . . .«

»Mach dich jetzt lieber fertig!« sagte seine Frau. »Es geht bald zu Tisch!«

Der Philologe seufzte auf und legte den schwarzen Bratenrock an. Er war der einzige, der an der Tafel dies Kleidungsstück trug. Alle anderen Gäste des Silvesterdinners, wohl zwanzig, waren in Frack und weißer Binde. Auch der Hausherr selber und ebenso sein ältester Bruder, der Ludwigshafener Chemiker, ein kluger, mit Schmissen übersäter alter Korpsstudent, der mit seiner Frau, einer eleganten jungen Mannheimerin, auf Geschäftsreisen weit in der Welt herumgekommen war und fließend Englisch sprach. Das ärgerte Doktor Nägelein bis ins Innerste. Ein deutscher Offizier in diesem Schwalbenschwanz vom Strand der Themse und der Seine.

Mißvergnügt musterte er die Tafelrunde. Ihm schräg gegenüber saß die junge Frau des Hauses. Ihre weißen, englisch mageren Schultern schimmerten im Kerzenlicht, eine Perlenschnur um den Hals hob den zarten Glanz ihrer Haut. Sie trug eine seegrüne Robe. Ihre Freundinnen, die Misses, flimmerten ebenso in Blau und Rot, auf dem Tisch rankten sich Orchideen, Butler, Diener und Offizierburschen reichten Eisblöcke mit Kaviar herum, Schalen mit frappiertem Sekt – und das alles bei einem gemütlichen Zusammensein im Hause eines einfachen Infanterieleutnants! Rings um Doktor Nägelein herum wurde nur Englisch gesprochen. Ein halbes Dutzend Angelsachsen war eigens aus Homburg vor der Höhe herübergekommen, um hier, wenn auch Frau Leutnant Merker etwas von ›French cook‹, von französischer Küche, gemurmelt hatte, ihr richtiges heimisches, etwas verspätetes Christmasdinner zu haben, mit dem mächtigen Puterhahn und bläulichem Flammengezüngel um den Londoner Plumpudding. Links von Edith saß der Mittelpunkt der Gesellschaft. Ein Herr mit einem glattrasierten Gesicht, dessen Falten wie aus Stein gehauen schienen, so gleichmäßig blieb ihr Ausdruck. Er wurde Sir Edward genannt. Die Hausfrau war gegen ihn von einer aufgeregten Liebenswürdigkeit und ebenso ihr Gatte drüben zu dessen Frau. Sie schienen beide unendlich stolz darauf, dies steifleinene Ehepaar unter ihrem Dach zu wissen, das ihnen Empfehlungsschreiben nach Ägypten mitzugeben versprach. Doktor Nägelein glaubte zu verstehen, daß es sich namentlich um einen Lord in Kairo handelte, den Schwager dieses Sir Edward, und daß bei der Aussicht auf eine Bekanntschaft mit Seiner Herrlichkeit ein Sonnenstrahl über Ediths hübsches frisches Antlitz glitt. Sie beugte sich vor und rief, voll Eifer, einen Ausspruch ihres großen Gastes den anderen zugänglich zu machen: »Weißt du, was Sir Edward eben sagt: Alle Parlamente der Welt sollten sich einigen und kein Geld mehr für Kriegschiffe bewilligen!«

»So?«

»Sir Edward muß es doch wissen. Er ist doch M. P.«

Ein Mitglied des britischen Unterhauses. Nach ihrer Ansicht war Westminster der Sitz aller politischen Weisheit auf Erden.

»Und wer verfolgt dann zum Beispiel die Seeräuber?«

Edith Merker wandte sich um Auskunft an den Sir und verdolmetschte: »Die englischen Schiffe!«

»Ach so – die sollen bestehen bleiben?«

»Ja natürlich! . . . England sorgt dann für Ruhe überall.«

»Na – dann sag ihm doch, bitte: So dumm sind wir nicht mehr! . . . Wir bauten flottweg weiter!«

»Sir Edward meint, er sei traurig, das zu hören! . . . Das müsse einmal zu einem Kampf mit ungleichen Kräften führen. Und einen solchen zu beginnen, deute auf irregeleiteten Idealismus . . .«

»Und Idealismus soll da wohl ein Tadel sein!« sprach der bisher so stille Oberlehrer Nägelein. »Ach nein – meine Liebe . . . Er ist es nicht immer! . . . Im Gegenteil . . .« Seine blauen Augen flammten hinter den Brillengläsern auf und verklärten sein Gesicht.

»Scheltet mir nur unseren deutschen Idealismus nicht!« sagte er. »Es ist das Beste, was wir haben! . . . Wenn wir's nicht mehr haben, sind wir am Ende! Er hat uns über zwei Jahrtausende weggetragen – von der Völkerwanderung zu Luther und Bismarck! . . . Immer nur, wenn wir bereit waren, alles zu opfern, haben wir alles wiederbekommen. Das predige ich meinen Jungen in der Schule jeden Tag. Ich bin ein stiller Mensch und leb' in einem engen Kreis! Aber das laß ich mir nicht nehmen! . . . Ich fühl' zu deutlich: das brauchen wir, wenn mal wieder die Not Eisen bricht! So . . . nun kannst du weiter englisch reden, Helmut, ich spreche keinen Ton mehr!«

Es war ein Schweigen nach seinen Worten. Die Briten hatten das Deutsch des Gentleman nicht verstanden, die anderen machten nachdenkliche Gesichter. Erst nach einiger Zeit kam die Unterhaltung wieder in Gang. Nach aufgehobener Tafel setzte sich Wolfgang von Wilding, der von seinem Frankfurter Weihnachtsurlaub herübergekommene Cecil-Rhodes-Stipendiat, zu dem Hausherrn. Er hatte eine sonderbar sichere und kaltblütige Art, mit den Briten umzugehen. Er war beinahe kurz angebunden mit ihnen. Aber es wirkte. So schienen sie es untereinander gewohnt. Höflichkeit unter Männern dünkte ihnen komisch. Der junge Patrizier drehte ihnen unbekümmert den Rücken zu, saß rittlings auf einem Stuhl und sagte gleichmütig: »Du . . . laß dir bloß von der Gesellschaft nicht zu sehr imponieren! . . . Du warst bloß sechs Wochen und später acht Tage in England! . . . Glaub mir, ich kenne sie besser!«

»Was meinst du damit?«

»Was ich dir an deinem Hochzeitstag in London gesagt hab': Kopf hoch, alter Kerl! Nacken fest! – Mit denen ist nicht zu spaßen!« Er beugte seinen Scheitel näher zu seinem Nachbar und dämpfte ein wenig seine Stimme: »Kind Gottes! Sie buttern dich ja ein! Nach Noten! Merkst du's denn nicht?«

Helmut Merker war es unbehaglich zumut.

»Du bist noch nicht verheiratet, Wolfgang!« sagte er zu dem Jüngeren. »Man ist schließlich seiner Frau Rücksichten schuldig . . .«

Der andere lachte.

»Deine Frau ist reizend! Du kannst dafür täglich dem Schöpfer auf den Knien danken! . . . Aber eben darum . . . sieh mal: Leute wie dein guter Schwager da drüben in seinem feierlichen Pathos sind ja nicht so ganz mein Fall! Aber recht hat er! . . . Er ahnt, wo für dich die Gefahr steckt. Hüte dich!«

»Kinder – ihr seid heute die reinen Unken!« sagte Helmut Merker lächelnd. Er war in rosiger Laune. Man sollte ihn diesen Abend nicht ärgern! Er freute sich über seine Frau, über sein Haus, über seine Gäste. Er war ein liebenswürdiger Wirt! Gegen sie alle. Voll einer gewissen, nachlässigen, natürlichen Vornehmheit. Der Luxus, der ihn umgab, seine fast gleichmäßige Beherrschung zweier Sprachen, der tadellose Sitz seines Fracks, alles hatte etwas Selbstverständliches. Die englischen Besucher waren sehr zufrieden mit diesem deutschen Gentleman. Sie standen, die Gläser in der Hand, mit den anderen an den geöffneten Fenstern, durch die die Winterluft kalt in Hitze und Helle der Räume strömte, und horchten auf den ersten Glockenschlag der Mitternacht . . .

»A happy new year!« rief Edith fröhlich und schwenkte ihr Punschglas. »Prost Neujahr« rief ihr Mann. Alle Gläser klangen zusammen. Es war für einen Augenblick – aber auch nur für einen Augenblick – eine Art teutonisch-angelsächsische Verbrüderung. Drüben im Städtchen flammte über dem Militärkasino, wo die unverheirateten Herren Silvester feierten, rotes bengalisches Licht auf. Man drängte sich in der Villa an die Fenster, um das zu sehen. Helmut und Edith benutzten die Gelegenheit und traten unbemerkt auf der anderen Seite auf den Gartenbalkon hinaus. Da standen sie still, mit bloßen Köpfen, unter dem eiskalten, sternübersäeten Winterhimmel, und hielten sich umfaßt, zwei dunkle Schatten in der Nacht. Die weite Rheinebene vor ihnen war voll Lichtpünktchen. Überall klangen und sangen von unsichtbaren Türmen die Neujahrsglocken, und in dies Friedliche und Träumerische der Jahreswende krachten die Schüsse, tönte Johlen und Schwärmerknattern. Die junge Frau fühlte einen Kuß auf ihren Lippen. Sie sah den blonden Kopf ihres Mannes zu sich hinuntergebeugt. Sie hörte seine leise und innige Stimme: »Dies Jahr war wie ein Wunder in meinem Leben. Ich bin ihm so dankbar. Es hat mir armem Kerl mehr gebracht, als ich je hab' hoffen und träumen dürfen!«

»Oh – mir auch!«

Sie sprach es nicht gefühlvoll, sondern mehr im Ton ruhiger Überzeugung. Die beiden küßten sich wieder. Eine gute Weile blieben sie noch Hand in Hand, aneinandergelehnt, und schauten in die Finsternis hinaus. Dann erschrak Edith. Um Gottes willen: Sir Edward wartete da drinnen! Was sollte er denken? Richtig: als sie, von der Lichterhelle geblendet, wieder in die Zimmer traten, hatte der große Gast schon sein Automobil unten im Hof bereit stehen. Er und sein Gefolge kehrten noch in dieser Nacht nach Homburg zurück. Das Ehepaar begleitete sie bis an die Haustüre. Doktor Nägelein hörte im Oberstock, wie Frau Edith unten strahlend noch einmal etwas von: ›Thank you very much!‹ und von Seiner Lordschaft und Ägypten rief, und biß sich die Spitze einer Havanna ab – das seltene Kraut wuchs hier förmlich wild in allen Räumen – und murmelte: »Verrückt . . .«

Als Helmut Merker wieder heraufkam, rückte sein Bruder, der Chemiker, seinen Klubsessel zu ihm in die Ecke und frug wie beiläufig: »Sag mal: wie stehst du denn nun mit deinem Regiment?«

Der Leutnant war erstaunt.

»Na – famos! . . . Vorgestern hättest du das ganze Bataillon hier genießen können! Großer Bierabend mit Damen und Weihnachtsbescherung! Ein Riesenklimbim! . . . Die Edith hat sich schließlich meine Uniformmütze aufgesetzt und als Tischälteste präsidiert!«

»So was macht sie mit?«

»Mir zuliebe alles! An sich ist ihr Zigarrenrauch und Bier gräßlich. Sie sitzt natürlich lieber im Drawing-Room und hat Leute im Frack um sich!«

Die beiden Brüder schwiegen. Auf dem klugen Antlitz des Ludwigshafener Chemikers spielten Schatten des Zweifels. Endlich meinte er nachdenklich: »Mit den Frankfurter Wildings verkehrst du auch?«

»Ab und zu!«

»Und durch die mit anderen dortigen Krösussen? Und auch deine Frau mit den englischen Badegästen in Homburg?«

»Auch in Wiesbaden! Da sind jetzt viel Amerikaner! . . .«

»Du führst also eigentlich so ein Doppelleben?«

»Wieso?«

»Na – an den geraden Wochentagen bist du, soweit ich sehe, Leutnant bei den Hundertachtundneunzigern in Alsheim! Und an den ungeraden fährst du als unabhängiger Kosmopolit übers Land. Weißt du . . . ich beneide dich um deine Elastizität!«

Helmut Merker war ein wenig ärgerlich, daß man ihm heute gar keine Ruhe ließ. Er sagte in der kühlen, gedämpft zurückhaltenden Sprechweise eines Klubmanns: »Lieber Leopold . . . Ich hab' doch nun einmal das Geld! . . . Unserm alten Herrn in London macht es einen kindischen Spaß, immer mehr drüben zusammenzukratzen und an die Seinen zu verteilen! Soll ich ihm seine hochanständigen Schecks zurückschicken? Da wäre ich doch schön dumm!«

»Das sage ich ja auch nicht, sondern . . .«

»Ja, also bitte: Wohin denn mit dem Mammon? Hier am Ort kann ich keine großen Sprünge machen, eben der Kameradschaft wegen. Ich muß mich doch nach dem Regiment richten. Die Leute sind ja alle in einer ganz netten Assiette! Aber natürlich: im Vergleich mit uns . . . soll ich mir deswegen meine Riesenzulage sauer kochen lassen? . . . Wir sind doch jung – wollen auch was vom Leben haben: Ich bin's Edith schuldig . . . Na gut – da wird eben der Motor angekurbelt! . . . Los! Das schadet doch niemandem!?«

». . . als höchstens dir!«

»Ich fühle mich pudelwohl . . .,« sagte der Leutnant gleichmütig und gähnte.

»Aber es muß doch schließlich zu einem von beiden führen: Entweder Unlust am Dienst oder Überdruß an diesem Sir Edward und den Seinen. Und ich fürchte fast das erstere!«

Helmut Merker lehnte sich nachlässig zurück.

»Sei unbesorgt: ich tue meinen Dienst! . . . Ganz wie zuvor! Und hab' dabei den anerkannt ekelhaftesten Compagniechef im ganzen Regiment! Ein Kommißknüppel erster Güte!«

Nach einer Pause fügte er hinzu: »Das muß man im Gegenteil doch anerkennen, daß ich jetzt lediglich aus freien Stücken diene! . . . Daß ich es absolut nicht mehr nötig hab', mir auf dem Exerzierplatz die Beine in den Leib zu stehen und mit meiner Frau hier in dem Nest zu verschimmeln . . . und daß ich trotzdem . . .«

». . . Und daß du trotzdem in zwei Hälften auseinanderfällst, mein Sohn!« sagte Doktor Leopold Merker und erhob sich. »Und kitten kann dich keine Menschenseele, wenn du nicht selber stand hältst und dies Old-England zum Teufel jagst! Na – Schluß! Ich hab' das Meine getan!«

Sie gesellten sich wieder zu den Übrigen. Helmut Merker blieb den Rest des Abends nachdenklich. Er saß schweigend zwischen den anderen und drehte seinen blonden Schnurrbart. Schatten lagen auf seinem hübschen Gesicht. Er war froh, als endlich alles aufbrach und die Fremdenzimmer oben sich füllten und er mit seiner Frau allein war. Er ging mit ihr hinüber in ihre eigenen Räume. Sie war in ein weißes Negligé geschlüpft, stand vor dem großen Spiegel und kämmte ihr goldhelles Haar, das ihr frei über die Schultern herniederhing. Ihre Wangen waren gerötet: . . . Sir Edward hatte zweimal von dem Trüffelpüree genommen . . .!

»Herrgott – dieser Sir Edward kommt mir nun auch schon nachgerade zum Halse heraus!« versetzte ihr Mann ungeduldig und schob einen Stuhl, der ihm im Wege stand, unsanft zur Seite. Sie sah ihn entsetzt an. Diese Sprache war ihr ganz neu.

»Oh!« sprach sie langsam. Es lag eine Welt von Erstaunen und Mißbilligung darin. Sie erschien ihm in diesem Augenblick mit ihrem halboffenen Mund so englisch wie nur möglich. Er mußte selber lachen.

»Verzeih!« sagte er. »Ich will dem langweiligen Burschen ja nicht unrecht tun! Es war ja reizend, daß er kam.«

»Oh . . . ich war so froh!«

Allmählich glätteten sich ihre rosigen Züge wieder. Er streichelte ihr die Wangen.

»Na ja – du bist ja auch ein dankbares Publikum! Ich meine nur: Wenn man so ganz unter diese Leute hineingerät . . .«

»Oh – was für Leute?«

»Na – deine verehrten früheren Landsleute mein' ich! Von denen wimmelt es doch am Nil. Ganz Ägypten ist doch englisch!«

Ihr Blick war verständnislos. Was konnte einem denn Angenehmeres widerfahren als der Verkehr mit recht vielem und recht ausgewähltem britischen Volk. Sie sprach mißtrauisch: »Du hast gesagt, wir gehen nach Ägypten!«

»Gewiß! . . . Aber schließlich: die Riviera wäre doch auch 'ne nette Gegend! Da treffen wir mehr Deutsche! Das hat doch auch was für sich – nicht?«

»Du hast gesagt, wir gehen nach Ägypten!«

»Aber heut hab' ich ein bißchen ein Haar darin gefunden! . . .«

»Du hast gesagt, wir gehen nach Ägypten!«

Sie wiederholte es beharrlich, mit stiller britischer Zähigkeit. Sie hätte es nach ihrem freundlich-bestimmten Gesichtsausdruck auch noch zwanzigmal hintereinander erklärt, wenn es nötig war. Dabei bürstete sie sachlich und ruhig ihr langes seidenes Haar. Sie sah reizend aus. Er gab ihr von hinten einen Kuß auf den Hals.

»Du bist ein gräßlicher blonder Eigensinn! . . . Warum hast du dich denn so auf Ägypten verbissen?«

»Verbissen? Gar nicht! . . . Wenn man sich bei mir daheim etwas vornimmt, so muß man es tun – außer man wird krank. Wir haben die Schiffskarten. Wir haben die Empfehlungsbriefe! Was soll ich denn sagen, wenn ich die nicht ausnutze? . . . Sir Edward verzeiht mir das nie! Und mit Recht!«

Die junge Frau setzte sich, kreuzte die bloßen weißen Arme über der Brust und frug, immer noch erstaunt: »Warum fürchtest du dich denn auf einmal vor Ägypten?«

»Weil dort Engländer sind und die Engländer die Deutschen hassen! Und du bist jetzt eine Deutsche!«

Edith sprang auf.

»Ja. Ich bin eine Deutsche! . . . Ich bin dir als Frau hierher gefolgt. Die Meinen haben mir alle abgeredet – viel mehr noch als du weißt! Ich hab' es doch getan! Ich lebe hier an einem sehr kleinen Platz. Unser Haus ist auch klein. Wir haben wenig Leute. Wir sind hier in sehr einfachen Verhältnissen . . .«

»Na . . . ich danke gehorsamst . . .«

»Ich habe hier keinen Sport! . . . Man kann keine Golfgründe pachten. Es gibt keine Fuchsjagden, wo ich mitreiten kann. Ich kann nur Lawn-Tennis spielen. Es ist sicherlich nicht gut für meine Gesundheit . . .«

»Aber ich bitte dich, Edith . . .«

»Ich bin von meiner ganzen Familie getrennt. Von allem, was bisher um mich war. In einem Land, wo ich nie das Meer sehe und wo es im Sommer fast so heiß ist und so viel Mücken sind wie in Indien! Ich habe keine Freundinnen hier. Die Damen sind gut zu mir. Aber ich bin doch eine Ausländerin. Mich mögen sie. Aber die Engländer im allgemeinen gar nicht. Wenn sie ihren Kaffee haben und beisammen sitzen, so verstehe ich vieles nicht, was sie reden, oder es langweilt mich . . .«

»Ja . . . ja . . . Schatz – das weiß ich ja alles . . .«

»Nun sag selbst: habe ich je mit einem Wort geklagt?«

»Nein!«

»Habe ich nicht immer ein heiteres Gesicht gemacht? Sogar vorgestern, auf dem schrecklichen Bierabend? Oh . . . how awfully . . . Meine Haare sind jetzt noch voll Rauch . . .«

Sie schüttelte ihre blonden Haarwellen, die ihr Antlitz wie das einer Märtyrerin mit einem goldenen Schein umrahmten, und fuhr fort: »Habe ich mich nicht an alles gewöhnt? . . . Bin ich nicht mit dir in die Kaserne gegangen zu den Soldaten und hab' in der Küche Suppe aus dem großen Kessel gegessen und hab' dem Feldwebel die Hand gegeben und seiner Frau auch und hab' gesagt, ich sei so froh, sie zu sehen? . . .«

»Ja, ja, ja!« bestätigte der Leutnant Merker halb lachend.

»Nun wohl, Hellie – das ist deine Welt und ich bin darin, und es ist meine Pflicht – und ich bin deine Frau. Aber manchmal muß ich auch einen Schritt in meine Welt machen dürfen und darin einen Atemzug tun. Das ist fair play! Du hast gesagt, wir gehen nach Ägypten!«

Er hielt sich die Ohren zu, als das schon wieder kam. Aber er hörte doch ihr bestimmtes, ganz freundliches, gar nicht aufgeregtes: »Oh, Hellie! Ein Gentleman hält sein Wort!«

Er wurde zornig.

»Seit ich dir das versprochen hab', haben sich unsere Beziehungen zu England wieder elend verschlechtert. Wenn man da fühlt, daß eine innere Stimme . . .«

»Es ist keine innere Stimme, sondern deine Verwandten. Oh – ich hab' es doch gesehen. Ich sehe manches, wovon ich nicht rede! . . . Es sind alles Antibriten . . . Der zornige blonde Mann, dein Schwager, an der Spitze. Du hättest wegen ihnen eine Deutsche heiraten müssen, mit einem Kochlöffel in der Hand . . .«

»Laß doch diese Scherze! . . . Und kurz und gut: ich möchte nicht nach Ägypten!«

»Ich gehe!«

»Allein?«

»Oh – du wirst schon mitkommen!«

Sie war ganz starr vor Eigensinn. Der schaute ihr förmlich aus den Augen. Sie schwieg. Sie wartete zäh, bis er wieder reden würde. Denn er war an der Reihe. Aber er blieb vor Ärger stumm. Sie folgte gelassen seinem Beispiel. Und mit einem innerlichen Schrecken merkten beide, während sie schlafen gingen: das war der erste ernstliche Zank in ihrer Ehe. Eigentlich kein Zank. Es gab keinen Streit und keine Tränen. Es tat sich plötzlich eine Kluft auf. Es war eine Entfremdung – nicht in dem, was sie einander waren – sie hatten sich ja so lieb und gerade jetzt, wo sie gegenseitig trotzten und sich nicht ansahen, mehr denn je – sondern in dem, woher sie kamen und wohin sie wollten. Deutschland und England stritten in ihnen. So hart und bitter wie draußen in der großen Welt.

Der Gutenmorgenkuß war zögernd-frostig. Edith schwieg mit eiserner Beharrlichkeit, während sie zusammen beim Frühstück saßen. Er beobachtete sie stumm. Ihrem Appetit schadete es Gott sei Dank nichts. Sie kaute friedlich wie immer und musterte dabei die Stöße eingelaufener Glückwunschkarten. Sie begleitete ihn auch ohne Widerspruch des Mittags zwischen zwölf und eins auf die Neujahrs- und gleichzeitig Abschiedsbesuche vor der Reise und schritt neben ihm zu Fuß an dem klaren Wintertag durch die frostglitzernden Straßen des Städtchens dahin. Sie war blaß. Sie sah traurig aus. Sie ließ den Kopf hängen. Sie, seine liebe, kleine, goldene Edith . . . Sie, der er alles im Leben verdankte. Es fiel ihm ein, was sie diese Nacht gesagt hatte: ›ich sehe nie das Meer‹. Es hatte einfach geklungen. Ohne alle Rührsamkeit. Aber man mußte England kennen, um zu wissen, was das hieß: Das Meer, das überall das Vereinigte Königreich umbrandete, dessen stürmender Atem die Luft bis weit in das Binnenland hinein mit Salzhauch füllte – das Meer, dessen Urkraft er selbst damals gerade auf den Klippen von Dover besungen, ehe er seine jetzige Frau zum erstenmal geschaut . . . Thalatta . . . Thalatta . . . du ewiges Meer.

Er fühlte ein schlechtes Gewissen ihr gegenüber. Sie hatte doch nun einmal zur Hälfte britisches Blut. Sie erschien ihm wie eine weiße Möwe, die man fern von der See in einem Käfig eingesperrt hielt. Einmal mußte doch solch freier Vogel seine Schwingen regen und hinausfliegen dürfen in die Weite. Und er mit . . .

Herrgott . . . er war doch nicht sein Compagniechef, der Hauptmann Grempe, der mit einer alten Mannschaftshose im Kopf aufstand und mit einem schadhaften Magazingewehr auf der Seele schlafen ging! Sein Gesichtskreis war weiter! Sollte er sich vor den paar Engländern da unten am Nil fürchten? Es war ja lächerlich! Er . . . ein guter Deutscher . . .

Zu Hause sah er zu seinem Erstaunen leere offene Koffer herumstehen. Edith hatte sie, ohne ihm ein Wort zu sagen, vom Boden herunterholen lassen. Nie hätte sie sonst am hohen Feiertag den Dienstboten solch einen Sabbatbruch zugemutet. Aber heute war das Absicht. Sie prüfte und ging dann gleich geschäftsmäßig ans Werk und versenkte eigenhändig ein Bündel Spitzenwäsche auf den Grund des einen Koffers. Da hörte sie über sich die Stimme ihres Mannes: »Du – leg doch auch gleich was von meinen Plätthemden dazu! . . . Ich komm' sonst damit nicht aus – ich kenn' das schon . . .«

Er hielt ihr auf den Armen einen ganzen Stoß gestärkter Wäsche hin. Sie schaute mit einem Sonnenschein auf den frischen Zügen über die Schulter zu ihm auf. Dann richtete sie sich empor. Die Plätthemden fielen zu Boden. Die beiden hielten sich umschlungen und küßten sich und lachten . . .



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