Rudolph Stratz
Seine englische Frau
Rudolph Stratz

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8

Zum Donnerwetter: die ganze Compagnie ist außer Tritt – bloß der Herr Leutnant Merker hat welchen!« Der Hauptmann Grempe jagte, den Säbel in der Rechten, ein wenig im Sattel vornüber, im kurzen Hoppelgalopp seines schon betagten Schlachtrosses um »die achte« herum wie der Schäferhund um die Herde. »Herrrr . . . schließen Sie sich der Mehrheit an . . . wechseln Sie den Tritt, wenn ich bitten darf – ja?«

Der Unteroffizier neben Helmut Merker grinste verstohlen in sich hinein. Der selber zuckte, obwohl er im Dienst war, kaum merklich die Schultern – eine Bewegung, die dem Compagniechef nicht entging und dessen Grimm noch mehr reizte. Lieber Gott – das konnte doch mal passieren, daß man beim Aufmarschieren aus Sektionskolonne links in Zugfront nicht gleich in Tritt kam . . . das heißt: eigentlich passierte es allerdings nur, wenn man nicht aufpaßte! Der Oberleutnant Merker gestand sich das selbst zu. Er war mit seinen Gedanken wo anders gewesen. Es war aber auch eine verrückte Idee von dem alten Grempe – jetzt plötzlich, mitten im August, noch einmal Compagnieschule zu üben . . .

»Beine 'raus – zusammengerissen! . . . Die Compagnie hat mir, scheint's, durch Felddienst und Schießen so was Geniales bekommen! . . . Das ist ein Schützenklub – aber keine Königliche Truppe – die Herren Offiziere natürlich immer ausgenommen . . . Aber ich bringe Ordnung in das Volksfest . . . Wartet nur! . . . Wenn es euch Spaß macht, bis mittag hier draußen auf dem Exerzierplatz zu bleiben: ich hab' Zeit . . .«

Man hörte die im Zorn sich beinahe überschlagende Stimme des Hauptmanns durch den aufgewirbelten Staub. Ihn selbst sah man nur undeutlich wie ein Schattenbild von Mann und Roß bald da, bald dort. Die Sonne glühte auf die weite, von den anderen Compagnien längst verlassene Fläche. Eine Wolke von Schweiß und Menschendunst, ein Geruch von Stiefelschmiere und Leder brütete über der kleinen, unermüdlich nach dem Willen ihres Häuptlings bald nach rechts, bald nach links stampfenden, sich aufblätternden und zusammenziehenden, Schlangen- und Linealform annehmenden Kriegsmaschine. Der Oberleutnant Merker fand im stillen dieses Abäschern der Mannschaft in der Hundstagshitze sehr unnötig. Die Kerle waren ja schon viel zu schlapp. Es konnte jetzt nichts mehr klappen. Aber der Compagniechef wetterte weiter: »Ihr Zug hat schon wieder keine Richtung, Herr Leutnant Merker! . . . Die Gewehre liegen wie Kraut und Rüben! Die Leute verwerfen sich im Oberkörper wie die alten Ägypter! . . . Am linken Flügel machen sie durch die Bank krumme Kniee . . . So stell' ich mir die selige Bürgerwehr vor . . .«

›Natürlich marschieren sie krumm, weil sie müde sind!‹ dachte sich Helmut Merker wieder. Sagen durfte er nichts. Der Hauptmann richtete sich in seinen kurzgeschnallten Steigbügeln auf. »Ja – wenn ich von den Herren eben gar nicht unterstützt werde und am wenigsten gerade von dem Oberleutnant der Compagnie . . . jawohl, Herr Leutnant Merker – Sie meine ich . . . Sie machen ein so eigentümliches Gesicht, als ginge Sie die ganze Geschichte nichts an! Herr Leutnant, ich bitte Sie dringend, das zu lassen . . . Sie haben es wirklich nicht nötig! Ihr Zug ist der schlechteste von allen dreien und das will wahrhaftig was heißen! Kein Wunder, wenn man ewig auf Urlaub ist . . .«

Der Hauptmann Grempe war schon heiser. Aber er strengte dafür seine Stimme nur noch mehr an. »Herr Leutnant Merker!« da und »Herr Leutnant Merker!« dort . . . Er ritt auf ihm herum. Immer wieder hallte der Name über den Exerzierplatz. Über den trabte der Major mit seinem Adjutanten, Leutnant Flülein, dahin, von den Schießständen zurückkehrend. Er näherte sich den drei Staffeln von Pickelhauben und Gewehren, um die der Hauptmann Grempe kreiste. Er war jetzt oft wie durch Zufall in der Nähe der »Achten«, seit in der die Beziehungen zwischen Compagniechef und Oberleutnant in letzter Zeit immer hochgradiger gespannt geworden waren, und meinte, in einiger Entfernung haltend, zu seinem Begleiter: »Das geht so nicht weiter! Der Hauptmann Grempe ist ja eine Seele von einem Menschen, aber er versteht mir den Merker nicht zu behandeln! Er macht mir den Mann rein kopfscheu. Er treibt ihn mir noch aus dem Dienst. Ich werde dieser Tage mit dem Oberst sprechen. Der Merker muß in eine andere Compagnie!«

Das Erscheinen des Bataillonskommandeurs hatte auf den Compagniechef abkühlend gewirkt. Er setzte sich im Sattel zurecht und wurde stiller. Sein Zorn vergrollte wie ein abziehendes Gewitter und er selbst zog bald mit der erschöpften Mannschaft heim in die Kaserne, deren hohe rote Dächer fern in der Sonnenglut flimmerten. Kaum waren dort auf dem Hof die Leute weggetreten, so ging Helmut Merker, zornig seinen Säbel in die Scheide stoßend, auf einen Herrn der Compagnie zu und sagte: »Also, meine Geduld ist zu Ende, Olszinski! Jetzt beschwere ich mich!«

Der über und über bestaubte lange schlanke Leutnant von Olszinski zuckte die Achseln.

»Worüber denn? Geschimpfe im Dienst! . . . Ist ja blödsinnig, aber sein gutes Recht!«

»Also ich schicke ihm einen Herrn auf die Bude! Ich . . .«

»Nicht zu machen, Merker! Seien Sie doch vernünftig!«

»Oder ich setz' einfach meinen Helm auf und geh' zum Oberst und . . .«

»Lassen Sie das nur ja unterwegs! Gegen diese Art Behandlung ist man wehrlos! Da hilft nur ein dickes Fell!«

Helmut Merker schwieg ärgerlich. Eigentlich sah er es ja auch ein: der Hauptmann bot ihm keine Handhabe. Er hielt sich innerhalb der dienstlichen Grenzen. Als die beiden Leutnants zusammen die Kaserne verließen, zündete er sich eine Zigarre an und frug erbittert: »Was hat er denn nur gegen mich? Ich hab' ihm doch nichts getan!«

Der Leutnant von Olszinski lachte.

»Vielleicht ärgert er sich, daß Sie zwei flotte Gäule im Stall stehen haben und er kraucht hier seit Menschengedenken auf seiner alten Himmelsziege herum. Das Vieh kriegt doch nächstens die Landwehrdienstauszeichnung! Ihr Automobil ist ihm nun gar ein Dorn im Auge. Ihre Villa. Ihre Auslandsreisen. Er ist ein Mann der alten Schule. Er findet das unmilitärisch . . . Verweichlichung!«

»Himmel-Donner-Türken! . . . Ich tu' aber doch meinen Dienst! . . . Seit fünf Monaten – seit ich aus Ägypten zurück bin, schwitz' ich hier meine Sünden ab! Bleiben Sie mal stehn, Olszinski! Hand aufs Herz: Bin ich ein schlechter Soldat oder nicht?«

»Nee! Ein sehr guter!«

»Und hab' ich in letzter Zeit etwa nachgelassen? Ganz ehrlich, Olszinski!«

»Im Dienst an sich keineswegs! Das hab' ich dem Hauptmann neulich auch gesagt. Er hat mit mir über Sie gesprochen!«

»So? . . . Im Dienst nicht? . . . Also schön! . . . Das ist doch die Hauptsache!«

»Gewiß!«

»Aber es kommt so ein bißchen zögernd bei Ihnen heraus! . . . Es ist da noch was . . . also außer Dienst . . . reden Sie ruhig, Olszinski . . . ich schwöre Ihnen: ich nehme Ihnen nichts übel! . . .«

Die beiden jungen Offiziere gingen weiter durch das mittagstille, glutheiße badische Städtchen. Der Jüngere schüttelte den Kopf.

»Nee – Merker . . . wozu soll ich mir den Mund verbrennen. Mich geht's nichts an! . . . Sie können außer Dienst machen, was Sie wollen . . .«

»Wenn Sie aber wissen, Olszinski, daß da irgendwo eine Mißstimmung besteht, dann ist es Ihre kameradschaftliche Pflicht . . .«

»Na gut!« sagte der Leutnant entschlossen. »Wenn Sie's durchaus wissen wollen – vielleicht ist's Grempe ganz lieb, daß Sie's erfahren. Er ist ein guter Deutscher. Er ärgert sich über die Ausländerei bei Ihnen!«

»Aha!«

»Er sagte mir in diesem Gespräch: ›Stellen Sie sich einmal einen englischen Offizier vor, der in seinen vier Wänden nur Deutsch spricht, mit Deutschen verkehrt, deutsche Zeitungen liest, sich in deutsches Zivil kleidet‹ – damit meint er Ihren Frack – ›glauben Sie, daß die Engländer an dem viel Freude haben würden? . . . Wenn der seine Pflicht tut, dann tut er sie doch mechanisch und nicht aus dem Herzen!‹« . . .

Helmut Merker lächelte geringschätzig.

»Das läßt sich schon vereinigen! Das geht nur gerade jemandem wie Grempe ein bißchen über den Horizont! Na – hoffentlich steht er ja auch mit dieser Auffassung für sich allein!«

»Wir alle denken so, Merker!« sprach der Leutnant von Olszinski mit ungewöhnlichem Ernst. »Wir alle!«

Der andere erschrak. Er runzelte die Stirne.

»Wieso?«

»Na ja – Sie haben's ja durchaus hören wollen: wir finden allgemein: Es ist ein bißchen toll mit Ihrem englischen Wesen! Wir können da nicht mit! . . . nicht finanziell, meine ich das . . . im Gegenteil . . . die Moneten gönnt Ihnen ja jeder herzlich gern. Aber der ganze Zuschnitt in Ihrem Haus ist eben nicht deutsch! Deswegen haben sich so manche zurückgezogen, denen das nicht paßte! Man hat eben neuerdings den Eindruck: Sie sind nur noch zur Hälfte Offizier und Kamerad, lieber Merker!«

Helmut Merker ging stumm, mit langen Schritten weiter. Sein Gefährte ergänzte: »Dadurch hat sich so eine gewisse Stimmung herausgebildet . . . gar nicht feindselig gegen Sie – glauben Sie das ja nicht! Im Gegenteil: Sie sind uns ein lieber Kamerad! Es tut uns allen so leid, daß wir Sie schon so halb und halb haben hergeben müssen . . . ich war nie in England . . . ich weiß nicht, ob die Leute dort wirklich so viel Vorzüge besitzen . . . aber uns hat der liebe Gott doch einmal zu Deutschen erschaffen! Also sein wir's! Das ist unser Standpunkt, lieber Merker!«

Der Oberleutnant Merker strich sich mit der Hand über die Stirn. Sie waren schon nahe an seiner weißschimmernden Villa, der schönsten der Stadt.

»Ja – ja!« sprach er nachdenklich. »Ihr faßt das eben alles ganz falsch auf! Das ist's! Na . . . ich danke Ihnen aufrichtig, daß Sie mir's mal gesagt haben, Olszinzki! Adieu!«

Er drückte ihm die Hand und betrat sein Haus. Schon im Flur hörte er die helle Stimme seiner Frau. Sie wanderte geschäftig treppauf, treppab, von einem Stab dienstbarer Geister gefolgt. Sie beratschlagte auf englisch mit Harriet, der Zofe, und Newman, dem Butler, und Robinson, dem Chauffeur, ließ durch den Burschen und den Gärtner Gardinen zurechtstecken, Schränke rücken, Bettstellen aufschlagen und war so beschäftigt, daß sie ihrem Mann nur eilig zunickte. Ihre hübschen Züge waren sonnenhell vor freudiger Erregung.

»Eben haben sie noch einmal aus Köln geschrieben, Hellie!« sagte sie. »Also es bleibt dabei. Sie kommen alle morgen mittag hier an – Ma und Dickie und seine Frau und Bill und Jane . . .«

»Und dein Vater ist wirklich nicht mit?«

»Nein. Pa ist in London geblieben. Mother schreibt, er käme kaum mehr aus der City heraus, so hätte er zu tun! . . . Die Deutschen machten ihm so viel zu schaffen, drüben in Südamerika. Armer Pa! . . . Aber die anderen! . . . Ich freue mich so, Hellie . . . Das erstemal, daß Ma und die Geschwister zu uns kommen! . . . Sie haben doch ihren Vorsatz gehalten, uns das erste Jahr nicht zu stören . . .«

»Kannst du sie denn wirklich alle bei uns unterbringen?«

Sie rechnete noch einmal nachdenklich an den Fingern.

»Eins – zwei – drei – vier – fünf! . . . Und zwei Servants! Oh – es ist ein hartes Werk, Hellie! Aber es geht! Ich bin schon dabei. Ich habe das halbe Haus umgeräumt! Ah – da sind die Kränze!«

Es handelte sich darum, eine Girlande an der Türe anzubringen. Die Leute arbeiteten mit Hammer und Nägeln. Das Ehepaar ging hinauf in seine Gemächer, und während Helmut sich wusch und umzog, kauerte seine Frau, die Hände über den Knieen verschlungen, auf einem Schemel daneben und plauderte vergnügt weiter: »Acht Tage wollen sie bleiben! Ich habe für jeden Tag etwas vor. Morgen abend haben wir bei uns das große Dinner! Übermorgen fahren wir mit ihnen nach Heidelberg. Sonnabend ist bei uns im Garten italienische Nacht. Sonntag nachmittag großer Damenkaffee, und die Herren kommen nach, und wir improvisieren ein kaltes Supper und tanzen dann . . . ach . . . das wird so lustig . . .«

Er mußte lachen und verschloß ihr den Mund mit einem Kuß. Sie schaute aus ihren jugendfrohen, blauen Augen zu ihm auf.

»Was machst du denn für ein Gesicht, Hellie?«

»Gott – der ewige Ärger im Dienst!« meinte er unmutig. »Dieser Grempe! . . . Dieser Kommißhengst! . . . Den ganzen Tag tobt er auf einem herum. Man kommt sich schon ganz dumm vor!«

»Oh . . . und seine Frau hat neulich gesagt, durch mich sei ein falscher Geist in euer Regiment gekommen! Frau Gustavus hat es mir erzählt!«

Helmut Merker hakte sich nervös seine Hauslitewka zu.

»Ich finde es so unbillig!« versetzte er. »Gerade gegen mich! Ich hab's doch nicht nötig, mich jeden Morgen vor der Mannschaft schuhriegeln zu lassen wie ein dummer Junge! Ich könnte doch jeden Augenblick den Abschied nehmen und wir könnten uns hier irgendwo ankaufen . . . oder sonst etwas! Ich diene doch nur aus Liebe zur Sache – zum Dienst! Darauf müßten sie doch ein bißchen mehr Rücksicht nehmen!«

»Oh – das tun sie gewiß nicht! . . . Im Gegenteil! Sie denken, es geht dir zu gut! . . . Und der Hauptmann Grempe sagt sich: ›Aber auf dem Exerzierplatz bin ich der bessere Mann!‹ . . .«

»Ach – hol ihn dieser und jener!« Ihr Mann fuhr ärgerlich in die ausgeschnittenen Lackschuhe. »Gerade heute kommt mir dieser neue Krach so ungelegen! . . . Ich bring' es nicht fertig, den Kerl um Urlaub zu bitten! . . . Wir wollten doch heute abend nach Frankfurt hinüber, zu der großen Fete bei Wildings!«

»Ja. Wir werden auch!« sagte Frau Edith sehr bestimmt. Diesen Verkehr in dem Millionenhaus ließ sie sich nicht entgehen. Ihr Mann war in ihrer Achtung und sie selbst in ihren eigenen Augen sehr durch ihre beiderseitige Verwandtschaft mit diesem stolzen Patriziergeschlecht der ehemaligen Freien Reichsstadt gestiegen, bei dem sie von ihrem ersten Besuch ab seit einem Jahr freundliche Aufnahme gefunden hatten. Sie verfehlte nie, in ihren Briefen in die Heimat den Reichtum dieses Hauses, die Menge der Dienerschaft, die Größe der Empfangsräume rühmend zu erwähnen. Sie war darin ganz Engländerin, in ihrem tiefeingewurzelten Respekt vor ererbtem Geld. Sie meinte: »Wozu brauchst du denn Urlaub, Hellie? Es ist doch nur für den einen Abend!«

»Aber wenn er mir Dienst ansetzt . . .«

»Macht doch nichts!«

»Man darf doch nachts nicht ohne Erlaubnis aus der Garnison weg sein!«

»Das merkt doch niemand! Wir sind doch morgens, ehe es hell wird, wieder hier!«

Er war noch immer schwankend. Sie versetzte in dem entschiedenen und allen Widerspruch abweisenden Ton eines Briten, dem man in seine Menschenrechte eingreift: »Also ich gehe, Hellie!«

Da lachte er mit ihr, wie sie so entschlossen, eine freie Engländerin, dasaß. Natürlich. Das war ja Unsinn mit dieser übertriebenen Gewissenhaftigkeit! Die dankte ihm doch kein Mensch! Man dankte ihm überhaupt nichts! Er kam sich schlecht behandelt vor und beinahe töricht noch dazu, daß er sich das auf die Dauer gefallen ließ . . .

Die Schatten des heißen Augustabends sanken schon zwischen Odenwald und Hardt auf die Rheinebene nieder, große Nachtkäfer umsurrten das betäubend duftende Bunt der Blumenbeete, Fledermäuse schossen im Zickzackflug um die weißleuchtenden Mauern der Villa – da kroch dumpf schnaufend, mit zwei glühenden Augen wie ein Ungetüm aus seiner Höhle, das Auto aus dem Dunkel der Garage, der getreue, beflügelte Freund, der das Ehepaar Merker beinahe täglich aus der Eintönigkeit der kleinen Garnison, gleich einem dienstbaren Geist aus Tausendundeiner Nacht im Flug über Länder und Flüsse dahintrug. Sie stiegen ein, sie umkreisten in einem vorsichtigen Bogen das schon halb schlafende Pfälzer Städtchen und rasten die Bergstraße entlang, aus dem Badischen ins Hessische, durch die Bessunger Vorstadt und das plötzliche Lichtergefunkel der Darmstädter Ludwigstraße, in den Sand preußischer Föhrenwälder, und dann wurde der Nachthimmel rot über der mächtigen Handelsstadt, Laternen glitzerten im breiten Spiegel des Mains, drüben war Helle, Lärm und Leben der Zeil, das Auto hielt in der Bockenheimer Landstraße in Frankfurt.

Helmut Merker und seine Frau entschuldigten sich bei dem Hausherrn wegen ihres Zuspätkommens. Der Generalkonsul und Geheime Kommerzienrat, Dr. h. c., von Wilding war ein großer, trotz seiner gebeugten Haltung stattlich-breitschultriger Mann mit hoher, gefurchter Stirne, unter der zwei mächtige graue Augen forschend die Dinge an sich heranzuziehen schienen. Ein wilder, stark angegrauter Bart umgab den unteren Teil des Gesichts. So ahnte man mehr, als daß man es sah, die rücksichtslose, in beinahe grausamen Linien um den Mund eingegrabene Energie. Er hatte die Ruhe des königlichen Kaufmannes an sich, ein Mann, der überall, wo es Tat und Rat galt, in der Handelskammer und im Zentralverband deutscher Industrieller, in der Politik wie in der Lohnbewegung und als fünfzehn- oder zwanzigfaches Aufsichtsratsmitglied, an erster Stelle stand. Wenn er jetzt, lebhaften Ganges, liebenswürdig und gleich seiner Frau, auch einer Frankfurterin, die Blicke überall, durch die Reihen seiner Gäste schritt, so merkte man ihm nichts von den Kämpfen an, die er tagtäglich auf dem Weltmarkt nach außen, mit seinen Tausenden von Arbeitern nach innen durchfocht. Nur ein gewisser Ernst verließ ihn nie. Es war, als ginge die Sorge um die viele Verantwortung, die er im Leben trug, unsichtbar immer neben ihm, dem Millionär.

Und etwas Ähnliches hatten auch die anderen Herren an sich, mit denen er sich, nachdem er seine Hausherrnpflichten erledigt, in einem Nebenraum bei der Zigarre zusammensetzte. Helmut Merker sah ihn durch die Türe des großen Saals. Der war voll Menschen. Drüben die Büfetts schwarz von einer gierigen Mauer. Unten im Garten leuchteten bunte Laternen, waren Zelte aufgeschlagen, fiedelte die Musik. Viel Uniformen. Helle Mächenkleider. Lachen. Die älteren Herren saßen in den Spielzimmern. Die großen Freitreppen waren voll Leute. Es schien, als sei halb Frankfurt und Umgegend eingeladen. Überall war Frohsinn. Der Reichtum dieses Hauses erwärmte, erzeugte Stimmung. Und gerade die Reichsten, die großen Geldverdiener, da drüben um den Geheimrat von Wilding herum, die allein machten sorgenvolle Gesichter, hinter denen man noch förmlich die Gehirne unter der Tageslast arbeiten sah. So sprachen sie auch miteinander, Grauköpfe und jüngere Herren. Helmut Merker beobachtete sie stumm von der Ferne. Er war seit heute vormittag in einer unruhigen und ungewissen Verfassung. Es war ihm nicht zum Reden zumut. Er kannte auch kaum ein Zehntel der Anwesenden. Edith mochte Gott weiß wo sein. Sie hatte einen fabelhaften Instinkt, unter hundert anwesenden Damen sofort die eine oder andere englische Landsmännin zu entdecken und Arm in Arm mit ihr zu verschwinden. So saß er still in seinem schwarzen Frack – den schlichten roten Infanteriekragen zeigte er in dieser Welt von Millionären und Exzellenzen nicht gerne. Er war hier lieber der Gentleman von außerhalb, der mit seiner schönen Frau und seinem Auto vorgefahren kam – und betrachtete die Herren da drinnen, die halblaut und ernst miteinander sprachen, und sagte sich: Engländer an ihrer Stelle würden jetzt behaglich beim Portwein sitzen und Gott einen guten Mann sein lassen. Die dort können's nicht, auch wenn sie wollten. Sie haben rein den Teufel im Leib: sie müssen schuften! Sonst freut sie das Leben nicht!

Dann frug er sich: Mache ich es denn anders? Ich bin doch gerade so ein Esel! Fahre ich nicht jeden Morgen beim ersten Hahnenschrei in die hohen Stiefel und laufe atemlos in die Kaserne, nur um dort Grobheiten zu hören? Nie ein anerkennendes Wort dafür, daß ich freiwillig als reicher Mann weiter diene. Das gilt als selbstverständlich. Man hat die Pflicht dazu. Ja, du lieber Gott – drüben in England hat kein Mensch Pflichten. Jeder ist frei. Und wie gut lebt sich's dabei!

Seine Gedanken wanderten weiter. Natürlich würde ich nicht nach England gehen! Das sicher nicht! Das kann auch Edith nicht verlangen! Das wird sie nicht! Ich würde mit ihr in Deutschland bleiben! Wir könnten uns ankaufen! Der Schwiegervater gibt schließlich schon das Geld! Er wird ja den hohen jährlichen Zuschuß los, wenn ich selbständig ein Gut bewirtschafte und Einkünfte daraus ziehe, statt ihm ewig auf der Tasche zu liegen. Das muß er sich doch selber ausrechnen. Er ist doch ein alter Kaufmann . . .

Wie hübsch, seinen eigenen Grund und Boden zu haben. Mit Edith. Dann war man wirklich frei. Unabhängig. Ganz wie in England. Der Oberleutnant Merker träumte vor sich hin. Um ihn war Lichterhelle und Festtrubel. Es tat ihm leid, daß der Sohn des Hauses nicht anwesend war. Wolfgang von Wilding, der frühere Oxford-Stipendiat, bereitete sich jetzt in Berlin auf seine juristischen Examina vor, um später in den Dienst der Wilhelmstraße zu treten. Er war klug. Helmut Merker hätte so gerne mit einem vernünftigen Menschen über seine Lage geredet. Sich selber traute er nicht recht. Er war zu sehr Partei. Und zu sehr aus der gewohnten Bahn geschleudert, durch das Glück dieser letzten Jahre. Ihm war manchmal zumut, als hätte er sich selber noch gar nicht wiedergefunden. Und aus dieser Erkenntnis heraus sagte er sich, endlich aufstehend: Ach was – das ist dummes Zeug! . . . Derlei muß durchgebissen werden! . . . Ich war Offizier. Ich bin's. Ich bleib's! Der Mensch soll sich selber treu sein . . .

Er sah auf die Uhr, stand auf und ging, seine Frau zu suchen. Es war schon nach Mitternacht. Zu spät wollte er mit ihr nicht heimkommen. Aber es war keine leichte Arbeit, sie in diesem Gewühl zu finden. Endlich hörte er sie wenigstens. Aus einer Gruppe im Nebenzimmer. Natürlich Engländer. Ihre Stimme lachte, plauderte, überströmte von Frohsinn. Sie und ihre Landsleute stellten gemeinsame Bekannte fest – die alte Mrs. Humphrey da – der Captain Scott dort – sie waren ein Herz und eine Seele. Ein Band schlang sich wie überall auf der Welt um das English people. Helmut Merker hatte Mühe, Edith, lange nach zwei Uhr morgens, endlich fort und in das Auto zu bringen.

Es war eine mondhelle, lauwarme Sommernacht. Träumerisch rollten sie, eng aneinandergerückt, durch diesen schlafenden, weiten deutschen Garten, der die Pfalz hieß. Allmählich versank die Mondscheibe. Sie konnten in dem zähen, grauen Frühnebel nur noch langsam fahren. Warnend brüllte die Huppe und schreckte die verschlafenen Kutscher der Milchfuhrwerke und Gemüsekarren aus ihrem Dusel empor. Dann plötzlich ein Ruck: diese sonderbare, unermüdliche, im Viertakt schnaubende Seele im Gehäuse des Automobilmechanismus unter ihnen war entflohen. Die war tot. Stand still. Eine Panne. Die erste ernstliche Panne seit langer Zeit.

Herr und Chauffeur mühten sich um ihr Fahrzeug, horchten, holten den Werkzeugkasten hervor. Helmut Merker kauerte in Frack und weißer Binde mitten auf der Landstraße und hämmerte. Seine Frau saß mit hochfrisiertem Haar und im Gesellschaftskleid, den Mantel um die Schultern, gelassen daneben auf einem Meilenstein. Sie hatte bei solchen Gelegenheiten den zähen Gleichmut der in allen Weltteilen und Wechselfällen heimischen englischen Rasse. Sie gähnte nur herzhaft. Die Sonne legte ihren ersten Feuerrand über die dunklen Linien der Odenwaldberge, überglühte den Osthimmel, wob ihr aufsteigendes Gold in sein erwachendes Blau. Es wurde hell und warm. Frau Leutnant Merker zog ihre Briefe von gestern heraus und begann sie noch einmal zu lesen. Seit zwei Stunden ging nun schon das Klopfen und Basteln drüben. Es brachte sie nicht aus ihrer Gemütsruhe.

»Jetzt steigt mother mit den anderen bald in Köln in den Zug!« sagte sie hoffnungsvoll. »Oh . . . ich freue mich! Schade nur um Pa! . . . Ich habe manchmal rechte Sorge um Pa. Er sah schon vorigen Herbst so angegriffen aus!«

Ihr Mann hatte vor Arger und Aufregung einen roten Kopf. Er hörte nicht recht auf sie hin.

»Ein Segen, daß ich erst um acht Uhr Schießen hab'!« brummte er, den Chassisdeckel zuklappend. »Sonst säßen wir jetzt nett im Wurstkessel! . . . Gott sei Dank . . . nun scheint die verfluchte Karre ja wieder zu gehen!«

Sie kurbelten vorsichtig an. Das Auto gehorchte, All right! . . . Nur drei gute Stunden Zeitverlust! Helmut tröstete im Weiterfahren seine Frau: »Na – das kann in den besten Familien mal vorkommen! Wir sind immer noch vor sieben daheim. Du kriechst dann gleich in die Klappe und ich schlaf' eben einmal eine Nacht nicht! Auch kein Unglück!«

Edith nickte, mit einem leisen Seufzer.

»Ja. In Deutschland lebt man mit der Uhr in der Hand. Immer heißt es: ›Schnell! Schnell!‹ In England hat man Zeit.«

Sie hielten vor ihrer Villa. Der Leutnant Merker lief ins Haus und rief gleich nach dem Burschen.

»Peter! . . . Peter! . . . Wo steckste denn, verfluchte Schlafmütze?«

Aber kein Peter kam. Er war schon vor langer Zeit mit seinem Helm und seinem Gewehr aus dem Haus gerannt, berichtete Harriet, die Zofe, in zurückhaltender Ruhe. Draußen hatten viele Trompeter geblasen. Es sei ein unchristlicher Lärm gewesen. Und auf dem Tisch läge ein Zettel des Burschen an Mr. Merker.

»Bataillon 420 alarmiert! Peter.«

Der Leutnant Merker war eine Sekunde wie vom Donner gerührt. Die lächelnde, verwöhnte Gelassenheit eines Sonntagskindes, die ihm im letzten Jahre zu eigen geworden, verflog. Er war ganz blaß – ein Soldat, den man auf wildem Urlaub ertappt . . .

»Da haben wir die Bescherung!« sagte er. »Edith! . . . Edith! . . . Nun geht's uns schlimm!«

In fliegender Hast warf er sich in feldmarschmäßige Ausrüstung. Seine Frau lief unterdessen rasch entschlossen in den Stall, zog mit Robinson, dem Chauffeur, den einen Gaul heraus und zäumte ihn selbst mit geübter Hand. Harriet, die Zofe, half die Sattelgurten festziehen, der Butler schnallte die Steigriemen, ganz England arbeitete, in solchen Dingen erfahren. Der Oberleutnant Merker hatte, als er atemlos unten erschien, nur den Fuß in den Bügel zu setzen, und winkte seiner Frau und jagte davon.

Von den Bauern unterwegs erfuhr er, wohin das Bataillon sich gewandt. In die Rheinebene hinaus. Vorwärts im Galopp! Zuweilen ein Stopp. Ein Horchen: Nein – noch nichts von Infanteriegeplacker und Rattern der Maschinengewehre! Gott sei Dank, sie waren noch nicht aneinander. Und da meldete ein altes Mütterchen aus dem Kartoffelacker: »Alleweil sind sie vorbeikumme, Herr Leutnant! Reite Sie als norr uff sellerie Hopfeschtange zu! Dahinner schtecke sie in der Kiesgrub'!«

Wahrhaftig: da war alles rot und blau und funkelte von Gewehrläufen. Und da das Bataillon vom rechten Flügel abmarschiert war, war es auch gerade die letzte Compagnie, die achte – die seinige. Dem Leutnant Merker fiel ein Stein vom Herzen. Wenn es nur nicht gerade dieser Hauptmann Grempe gewesen wäre! Er galoppierte auf ihn zu und meldete sich zur Stelle. Lieber Himmel ja – man konnte doch auch einmal bei Alarm verschlafen haben – ein bißchen zu spät kommen – das konnte doch nicht den Kopf kosten. Aber der Compagniechef frug sofort trocken: »Glücklich von der Reise zurück? . . . Ich hatte schon die Hoffnung aufgegeben, Sie hier zu sehen! . . . Sie kommen doch aus Frankfurt, Herr Leutnant?«

Er bemerkte die Betroffenheit des anderen und fügte hinzu: »Ich nahm mir die Freiheit, mich bei Ihrem Burschen nach Ihrem Verbleib zu erkundigen. Er meldete mir, Sie hätten gestern abend bereits unsere Garnison Alsheim verlassen.«

›O Peter, du Rindvieh . . .!‹ dachte sich der Leutnant Merker. Laut und dienstlich erwiderte er: »Zu Befehl, Herr Hauptmann! . . . Ich war bei meinem Onkel, dem Geheimen Kommerzienrat von Wilding, und hatte auf dem Heimweg eine Panne!«

Das Antlitz des Vorgesetzten wurde noch grämlicher.

»Ich weiß nicht, was eine Panne ist! . . . Dienstlich weiß ich es wenigstens nicht! . . . Im Dienst gibt es keine Panne! . . . Haben Sie noch etwas anzuführen, Herr Leutnant?«

»Nein, Herr Hauptmann!«

»Ich danke sehr, Herr Leutnant! . . . Wollen Sie Ihren Zug übernehmen!«

Diesen ganzen heißen Vormittag beschäftigte den Leutnant Merker der Gedanke: ›Was macht der biedere Grempe nu? Meldet er mich? Meldet er mich nicht? Nötig hätte er es keineswegs! Ich war noch vor dem ersten Schuß zur Stelle und von den höheren Vorgesetzten hat daher keiner bemerkt, daß ich durch Abwesenheit glänzte. Allmählich heiterte sich seine Stimmung auf. Sein angeborener Optimismus drang durch. Das Ergebnis seines Grübelns war: Dieser Grempe ist eine rauhe Schale mit einem edlen Kern! Gerade weil wir gestern wieder Krach miteinander gehabt haben, sammelt der Biedermann glühende Kohlen auf mein Haupt‹ . . .

Er dachte jetzt milder von seinem Compagniechef, der sogar, als man auf dem Kasernenhof wegtrat, keine weitere Standpauke vom Stapel ließ, sondern sich stumm entfernte, und kam in so rosig-leichtsinniger Laune wie der jüngste Leutnant heim. Edith war schon zum Ausgehen fertig. Es war höchste Zeit, die Verwandten an der Bahn abzuholen. Das ganze Haus war festlich mit Blumen geschmückt, im Speisezimmer stand die Tafel schon fertig gedeckt da. Das Dienstpersonal wartete. Frau Leutnant Merker wollte ihren britischen Verwandten zeigen, daß man auch in Deutschland zu leben wisse.

Sie war aufgeregter, als es sonst ihr frischer, gesunder Gleichmut zuließ. »Weißt du – gerade weil sie gegen unsere Heirat waren, Hellie . . .« sagte sie leidenschaftlich, »gerade deswegen sollen sie sich überzeugen, daß . . . was kommt denn da?«

Ein Regimentskrümperwagen hielt, von einem Füsilier gelenkt, vor der Villa und ihm entstieg der lange Regimentsadjutant. Er lächelte nicht so bestrickend liebenswürdig wie sonst. Sein Gesicht war gemessen ernst, während er sich gegen Edith verbeugte: »Meine verehrte gnädige Frau . . .« und dann zu ihrem Mann: »Ach, lieber Merker – darf ich Sie einmal dienstlich unter vier Augen sprechen?«

»Verflucht!« sagte Helmut Merker halblaut. Er wußte schon, was nun kam. Da sein Arbeitszimmer – die Türe geschlossen. Da er. Dort der Adjutant. Und dessen Stimme: »Sie sind dem Herrn Oberst durch Herrn Hauptmann Grempe vorhin bei der Kritik gemeldet worden. Herr Oberst erteilt Ihnen acht Tage Stubenarrest wegen unerlaubten Entfernens aus der Garnison. Darf ich um Ihren Säbel bitten? Danke sehr!«

Der Adjutant barg den Säbel unauffällig unter seinem langen Mantel, den er zu diesem Zweck trotz der Sommerhitze umgehängt trug, und verschwand sporenklirrend. Der Krümperwagen rasselte davon.

Der Leutnant Merker griff sich an den Kopf. Er rechnete unwillkürlich. Dreizehn Jahre vorwurfsfreie Dienstzeit. Das war der erste Stubenarrest seines Lebens. Von unten hörte er die weinerlich-erregte Stimme seiner Frau: »Hellie – so mach doch! . . . Schnell! . . . Der Zug muß ja schon da sein!«

Er ging zu ihr hinunter, blaß vor allmählich, nach der ersten Überraschung, aufkochendem Zorn.

»Fahr nur allein! Ich kann nicht mit! . . . Ich darf nicht aus dem Haus. Ich darf auch niemanden in das Haus lassen . . . Ich hab' mit Gottes Hilfe Stubenarrest!«

Stubenarrest . . . Sie schüttelte den Kopf. Das Wort war ihr ganz neu.

Er erläuterte: »Ich bin auf Ehrenwort verpflichtet, während der nächsten acht Tage keinerlei Besuche außer dem des Arztes zu empfangen!«

»Um Gottes willen: die Meinigen auch nicht?«

Er überlegte.

»Das weiß ich nicht! . . . Die wahrscheinlich doch! . . . Verwandte! . . . Ich muß darüber telegraphisch beim Regiment anfragen! . . . Bis dahin zieh' ich mich in mein Zimmer zurück! Ich leg' mich ins Bett! . . . Ich bin überhaupt krank! . . .« Die Wut übermannte ihn. »Sag's nur allen! . . . Nee – sag's lieber nicht, daß sie mich eingelocht haben . . . Kinder . . . 's ist ja himmelschreiend!«

Ein neuer Einfall verdüsterte seine Stirne noch mehr: »Aber darauf mach dich gleich gefaßt, Edith: Mit unseren Gesellschaften hier zu Ehren der Deinen ist's Essig! . . . Setz dich nur gleich hin und schreib nach allen Windrichtungen für das Dinner morgen ab! . . . Es ginge nicht! . . . Der Hausherr sitzt!«

»Da lacht uns ja alles aus!«

»Dann laß sie kichern, bis sie bersten!« Er schlug grimmig mit der Faust auf den Tisch. »Ich hab' mir den Stubenarrest nicht ausgesucht! . . . Was meinst du. ›Ich soll mich nicht darum kümmern!‹ Ja, glaubst du denn, ich hab' Lust, auch noch vor dem Ehrengericht zu erscheinen? Nee – Kindchen – hier wird jetzt acht Tage in Sack und Asche gegangen! Schwarze Fahne aufs Dach! Tafel vor das Haus: ›Achtung! Hier sind die Blattern!‹ . . . Herrjesusja – diese Leute! Sie blamieren mich vor Gott und der Welt . . .«

Helmut Merker lief zähneknirschend, mit gerungenen Händen, im Zimmer auf und nieder. In der Türe erschien Harriet und meldete auf englisch: »Ma'am! Die Köchin läßt sagen, die Trüffeln seien eben noch glücklich aus Frankfurt eingetroffen!« Edith winkte ihr erbittert, zu gehen. Was bei ihr sonst kaum vorkam, das geschah jetzt: auf einen Stuhl gekauert, den hübschen Kopf zwischen den Händen, brach sie in helle Tränen aus. Ihr Mann betrachtete sie rat- und atemlos. Auch daran war er schuld. Er erschien sich wie ein Verbrecher.

»Halloah!«

Fröhliche Stimmen riefen es von außen. Es trommelte, vom Garten, an die Fenster des im Erdgeschoß gelegenen Zimmers.

»Halloah! Halloah!«

Vergnügte englische Gesichter lugten durch die Scheiben. Da Mrs. Wilding, lang, hager, lachend, daß die großen weißen Schneidezähne blitzten – ihre Tochter Jane, ihre Schwiegertochter Lucy – deren Mann Dickie, rosig, rundlich, freundlich wie der Vollmond, Bill, der Junggeselle mit seinem hageren, humoristischen Sportgesicht – mit einem Blick überflog Helmut Merker die Gestalten draußen – ihm schien es in seiner Verwirrung sogar, als seien es ihrer noch mehrere – dann sagte er in dumpfer Ergebung zu seiner Frau: »Da sind sie! Und wir haben sie nicht einmal von der Bahn abgeholt!«

Aber die Wildings nahmen das nicht übel. Oh gar nicht. Sie hatten ganz gut den Weg hierher gefunden. In England war man von der leicht bereiten deutschen Empfindlichkeit frei. Lachend, schwatzend, in bester Laune strömten sie wie ein Schwall durch das Tor in das Haus, hungrige, herzliche, aufgeräumte Leute. Dann ein Aufschrei der Mrs. Wilding: »Oh . . . Edith . . . dear me . . . du hast ja Tränen auf den Backen!«

»Du hast geweint!«

»Habt ihr euch gezankt?«

Edith Merker schüttelte heftig den Kopf.

»Nein! Wir zanken uns nie! . . . Es ist nur . . . So komm doch, Hellie . . .«

Ihr Mann hatte noch einmal überlegt. Er sagte sich: Ach was, die nächsten Blutsverwandten sind doch kein Besuch im Stubenarresten! . . . Alle anderen Menschen müßte ich 'rausschmeißen. Aber die nicht!

Er trat vor und prallte im selben Augenblick wieder zurück. Sein Schwager Dickie schob ihm strahlend an den Schultern ein ganz unbekanntes Ehepaar entgegen. Dahinter noch eine fremde Dame.

»Mr. und Mrs. Anthony. Unsere Freunde. Miß Talbot. Wir haben sie gestern im Kölner Dom getroffen und gleich mitgebracht. Heute abend fahren sie nach Heidelberg weiter!«

Der Oberleutnant Merker starrte seine neuen Gäste entsetzt an. In diesen Sekunden schien ihm der ganze Auftritt lächerlich. Und doch ein Gleichnis für eine ernste Sache: Er war nicht Herr in seinem eigenen Hause, ganz im Gegensatz zu diesen Briten da vor ihm und ihrem Spruch: »My house is my castle!«

Er verbeugte sich hastig vor den drei neuen Gesichtern. Dann raunte er verstört seinem Schwager zu: »Entschuldige mich bei den Herrschaften! . . . Aber ich muß sofort von hier weg! Ich muß in mein Zimmer!«

»Halloah . . . warum denn, old boy? Wir beißen doch nicht! Was fällt dir denn ein?«

Helmut Merker wich gegen die Türe zurück: »Ich darf doch niemanden sehen!« versetzte er verzweifelt. »Ich bin doch sozusagen Gefangener!«

»Hier in deinen vier Wänden?«

»Ja.«

Dickie Wilding tippte sich mit dem Finger auf die Stirn und schaute fröhlich seine Schwester Edith an, als wollte er fragen: Stimmt das alles? Bill, der Jüngere, zwinkerte lauernd mit den Augen. Er hatte sich mit ausgebreiteten Armen vor die Türe gestellt und sperrte dem Leutnant den Ausgang.

»Hier geblieben, alter Mann! Haltet ihn fest!«

»Zum Kuckuck – willst du mich denn vors Ehrengericht bringen!« rief Helmut Merker wütend. Er rang zähneknirschend mit dem hartnäckig seinen Platz auf der Schwelle verteidigenden, aus vollem Halse lachenden Schwager. Er war schließlich doch kräftiger als der schmalschultrige, zähe britische Sportsmann. Er schob ihn unsanft zur Seite, daß jener sich verdutzt die schmerzenden Rippen befühlte, und nicht mehr wußte: war das noch fair play oder schon rohe Gewalt, und sagte noch einmal im Türrahmen zu den fremden Gästen – und das Englisch kam ihm in diesem Moment selber töricht vor: »I'm so sorry!« – und stieg die Treppe hinauf. Unterwegs hörte er noch, wie seine Frau auf eine Frage ihrer Mutter mit tränenerstickter Stimme erwiderte: »Yes! It is a german institition! They call it: Stubenarrest!« . . .

Ja freilich war der Stubenarrest eine deutsche Einrichtung! Eine rein deutsche! Was verstanden diese Engländer unten, denen ihre persönliche Freiheit über alles ging, von solch einem Eingriff der Vorgesetzten in das eigenste Leben? Da stießen zwei verschiedene Welten aufeinander. Und er zürnte der seinigen – dem Reich des Gehorsams und der Disziplin. Er fühlte sich entwürdigt. Wütend ging er in seinem Zimmer auf und ab. Er glaubte zu hören, wie unten diese Mrs. Anthony oder wie sie hieß, mit großen, runden Fischaugen frug: »Oh – was ist denn dem Gentleman?« Er sagte sich, erbittert seine Zigarette wegwerfend: ›Die werden schließlich noch denken, ich hätte silberne Löffel gestohlen, weil man mich hier gleich einem Verbrecher einsperrt!‹ Vor Zorn zitternd, trat er ans Fenster. Da unten lief eilfertig der Diener aus dem Haus. Der brachte die Absage des großen Dinners durch das ganze Städtchen. Der Herr Leutnant seien plötzlich erkrankt! Er – ein Kerl, der Bäume entwurzelte! Das glaubte kein Mensch! Vom Kasino aus sickerte heute noch der wahre Tatbestand durch! Es gab ein Kopfschütteln hier, eine stille Heiterkeit dort! Es war einfach, um die Wände hochzugehen! Da brachten sie eben unten einen Stoßkarren voll Eis, um den Sekt zu kühlen. Himmelherrgottdonnerwetter! Er stand wieder mitten im Zimmer und ballte die Fäuste. Verraten und verkauft kam er sich vor . . . hilflos . . . ein Spielball fremder Mächte . . .

Von unten klangen dumpf die englischen Stimmen. Man erörterte offenbar leidenschaftslos den Fall. Man suchte sich in diese deutsche Sachlage einzuleben, wie man sich in Sitten und Gebräuche Indiens fand oder die Eigentümlichkeiten Chinas respektierte. Es war nicht britisch. Also war es nicht gut. Aber es war nun einmal da. Und es wäre unweise gewesen, gegen reale Dinge die Augen zu verschließen. Dann kamen feste, elastisch-schlenkernde Schritte die Treppe hinauf. Edith trat ein. Sie trug noch Tränenspuren auf dem Gesicht. Aber der Geist ihrer Rasse hatte gesiegt. Sie war über diese Geschichte hinausgekommen. Man faßte sie da unten nun allgemein humoristisch auf.

»Oh . . . poor Hellie!« sagte sie, die Hände zusammenlegend und ihm zulachend. »Unten ist Essen für eine Compagnie Menschen! Niemand weiß, was daraus wird – bei der Hitze . . . Ich will es ins Krankenhaus schicken . . .«

»Schmeiß es meinetwegen zum Fenster hinaus!«

»Mr. und Mrs. Anthony und Miß Talbot lassen sich entschuldigen! . . . Ich habe ihnen erklärt, daß hier in Deutschland viele Dinge anders sind als bei uns. Sie reisen jetzt weiter!«

»Hol sie der Geier!«

Sie schaute ihn vorwurfsvoll an.

»Oh . . . Hellie . . . das solltest du nicht sagen . . . Sieh mal . . . da kommen Soldaten . . .«

»Die Bataillonsmusik . . . für das Ständchen . . .« sprach er dumpf. »Die habt ihr auch vergessen, abzubestellen! Bitte, rufe hinaus, daß sie sich heimscheren möchten! Ich darf ja mit niemandem verkehren. Ich hab' ja die Pest . . . sozusagen . . .«

Als sie das Fenster wieder schloß, stützte er den Kopf auf die Hand und nagte nervös an der Unterlippe: »Ja – nun ist's auf acht Tage mit Sang und Tanz vorbei, Edith! Blödsinnige Zucht . . . Ausgerechnet gerade, wo die Deinen . . .«

Frau Oberleutnant Merker schüttelte gleichmütig den blonden Kopf.

»All right, Hellie! Das haben wir alles schon unten geordnet! Ein Haus mit einem Gefangenen darin ist sehr traurig. Es ist nichts für mother! Ma ist gern heiter; sie verschiebt einfach ihren Besuch um eine Woche! Sie kommt morgen über acht Tage wieder! Bis dahin machen mother und die anderen einen Trip an den Rhein!«

Helmut Merker seufzte auf.

»Na ja . . . das ist schon das beste!« sprach er erleichtert. Seine Frau streichelte seine Hand.

»Sie wollen, daß ich mitgeh', Hellie!« sagte sie. »Weil ich die Meinigen so lange nicht gesehen hab' und mich so auf sie gefreut hab'. Ich habe geantwortet: ich weiß nicht, ob es gut ist, seinen Mann zu verlassen, wenn er gerade brummt!«

Das Wort ›brömmt‹ klang komisch in ihrer englischen Aussprache. Er mußte lachen. Allmählich kam eine Art Galgenhumor über ihn. Er schaute Edith in das hübsche, frische Antlitz mit den erwartungsvoll lächelnden roten Lippen und nickte melancholisch: »Geh du nur! . . . Schlag dir den Rhein um die Ohren! . . . Dich haben sie ja Gott sei Dank nicht miteingesponnen!«

»Oh . . . ich danke dir!« sagte sie unbefangen und gab ihm wieder die Rechte, so, als hätte er ihr Urlaub bewilligt. »Ich hatte es so gehofft! . . . Ich will es gleich mother melden!«

Sie küßte ihn und lief, in den federnden langen Sprüngen, die sie immer noch an sich hatte, hinunter. Er hörte aus dem Erdgeschoß das Stimmengewirr. Das ewige: »Oh yes!« verdroß ihn. Er wollte nichts von den Engländern wissen. Aber hier in Deutschland ärgerte man ihn erst recht. Er stand in seiner jetzigen Verfassung zwischen den beiden Lagern, ganz auf sich angewiesen, eigentlich frei in der Luft. Ein Mann, der deutsch sein wollte mit der Freiheit des Briten! Da hob das eine das andere auf. Er konnte nicht mehr weiterdenken. Der Kopf tat ihm weh. Er wollte auch nicht mehr hinuntergehen und den Verwandten »Lebewohl« und »Auf Wiedersehen!« sagen. Vielleicht nahm ihm Herr Hauptmann Grempe auch das übel, und er hatte neue Scherereien. In acht Tagen fand er ja doch die ganze Gesellschaft wieder unter seinem Dach. So blieb er oben, ließ sich entschuldigen und nahm nur von seiner Frau, als sie reisefertig, mit freudig geröteten Wangen vor ihm stand, einen Abschied voll einer eigentümlich lächelnden Wehmut seinerseits. Sie kam ihm eigentlich recht selbstsüchtig vor, wie sie da unbekümmert von dannen ging und ihn seiner Haft überließ. Dann sagte er sich: ›Das liegt ihr im Blut! So sind sie drüben alle! Die Welt ist ihretwegen da, und sie sind auf der Welt, um sie zu genießen. Das Dogma ist ihnen so in Fleisch und Blut übergegangen, daß sie es gar nicht mehr merken. Sie haben nur einen Damm dagegen: ihr Billigkeitsgefühl! Hätte ich Edith gesagt: Es ist jetzt nicht die Zeit für Rheinreisen, so wäre sie ohne Klagen und Wimperzucken geblieben. Aber warum ihr das Vergnügen rauben? . . . Das Vergnügen ist für sie ja das halbe Leben! Good bye, mein Lieb . . .‹

Es war still in dem Haus, totenstill, diese acht langen Tage. Nur gleichmäßige Schritte hallten stundenlang oben durch die Zimmer. Der Oberleutnant Helmut Merker ging in Litewka und Hausschuhen, die Hände in den Hosentaschen, die Zigarette im Mund, unermüdlich auf und ab. Eine innere Unruhe trieb ihn. Er konnte nicht stillsitzen. Vom Tisch stand er nach wenigen Bissen wieder auf, die hellblauen Hefte der Einzelschriften des Großen Generalstabs, die er sich in einer letzten Anwandlung verbissenen dienstlichen Pflichtgefühls zurechtgelegt, klappte er ungeduldig schon nach den ersten drei Seiten wieder zu, zu schlafen vermochte er, an körperliche Bewegung und frische Luft gewöhnt, jetzt bei der Stubenhockerei nur wenige Nachtstunden – er hatte wahrhaftig reifliche, nur allzu reifliche Muße, sich tausend Dinge zu überlegen.

Er musterte diese kostbar eingerichteten Räume, durch die er schritt, und frug sich: Bin ich deren Herr? – Nein: im Gegenteil! Sie halten mich gefangen. Ich bin ja hier in ihnen eingesperrt! Er sah durch die Fenster unten im Hof sein Automobil stehen und sagte sich: Gehört das mir? Augenblicklich wahrhaftig nicht! Ich darf ja nicht die zehn Schritte ins Freie machen und mich hineinsetzen. Sonst verliere ich dauernd das Recht, die Epauletten zu tragen. Er durchblätterte müßig die Visitenkartenschale im Flur. Klangvolle Namen: Frankfurter Patriziat, vornehme Engländer aus Homburg, Adel von der Bergstraße, Winzermillionäre vom Überrhein. Er dachte sich: Verkehre ich mit diesen Leuten? Augenblicklich nicht. Es ist ein Riegel vorgeschoben. Sie dürfen nicht zu mir und ich nicht zu ihnen bei mehr als Todes-, – bei Ehrenstrafe! . . .

Und im Weitergehen wälzte er immer das eine in seinem Kopf: Reichtum ohne Freiheit – das gibt es nicht. Da schließt eines das andere aus. Denn Reichtum im höheren Sinn ist eben Freiheit – die Möglichkeit, ganz so zu sein und zu leben, wie man möchte und es sich selbst schuldig zu sein glaubt. Wieder tauchte, wie eine Luftspiegelung aus der Sonne Ägyptens, die Gestalt des »unabhängigen Gentlemans« vor ihm auf – dieser Begriff, den er dort auf englische Art verwirklicht gefunden, und der ihn seitdem nicht mehr frei ließ und ihm als das beneidenswerteste Menschenlos erschien. Man brauchte deswegen sich doch nicht gleich auf die britische Seite zu legen. Derlei ließ sich doch auch in Deutschland verkörpern, als Merkmal einer beginnenden neuen Kultur. Es fiel ihm ein, wie er vor wenigen Tagen noch daran gedacht, sich irgendwo hier in Süd-Westdeutschland anzukaufen. Jetzt rückte der Plan in dieser eintönigen Zeit immer mehr in lockende Nähe. Er spielte nicht mehr damit. Er erwog ihn ernstlich. Ediths Zustimmung war er gewiß. Und wenn sie wollte, kriegte sie auch den Vater herum. Es war eigentlich die einfachste Sache von der Welt. Es war ein Unsinn, sich hier abzurackern, für nichts und wieder nichts. Die Verwandten seiner Frau mochten im stillen schön über ihn lachen.

Sie selbst schrieb ihm alle Tage vom Rhein. Die Reise verlief herrlich. Er zuckte die Achseln. Natürlich: Was sollte denn diesen Leuten fehlen? Sie hatten ja alles, was man brauchte: Straußenmägen, unverwüstliche Laune und ein Scheckbuch! . . . Sie wußten gar nicht, wie gut es ihnen ging. Die alle da drüben nicht . . .

Wie bleiern die Zeit dahinschlich! . . . Die Stunden nahmen kein Ende! Jeder Tag schien eine Woche. Nein: ein Monat. Wenn man gewohnt war, vom frühen Morgen bis zum späten Abend jede Minute mit Dienst, Geselligkeit, mit Jagd und Autofahrten ausgefüllt zu sehen, wenn man immer seine lebensfrische junge Frau und Menschen aller Art um sich herum wußte, dann war einem jetzt wieder in dieser grämlichen Totenstille wie in einem Krankenzimmer zumut. So als sei man selber leidend. Er litt ja auch. Er kämpfte beinahe körperlich mit diesen Eindrücken der Einsamkeit. Er sagte sich: etwas Kurzsichtigeres können sie eigentlich nicht tun, als mich in der Geistesverfassung, in der ich augenblicklich bin, geschlagene acht Tage mir selber zu überlassen! Da verbeißt man sich immer mehr in seinen Ärger und seine Unlust! Alle Gründe dafür, daß es so nicht weitergehen kann, Gründe, die einem draußen, im hellen Sonnenschein, niemals in den Kopf kommen würden, fallen einem jetzt hinter den herabgelassenen Vorhängen, im Stumpfsinn dieses Stubenarrestes ein.

Er zürnte dem Hauptmann Grempe persönlich nicht mehr. Er hatte sich zu einem höheren Standpunkt aufgeschwungen, dem kühlen, verächtlichen des Weltmanns. Dieser Grempe war ein System. Er verkörperte die Unfreiheit. Den Zwang an sich. Eine Reinkultur dienstlicher Beschränkung des persönlichen Willens. Andere Vorgesetzte mochten wohlwollender, weitschauender, nachsichtiger sein. Gewiß. Aber im Grunde blieb sich die Sache doch gleich. Mußte es sein. Ein unabhängiger Gentleman . . . so wie in England . . .

Es war ein schöner heißer Sommertag, als sich der Oberleutnant Merker den Helm aufsetzte, den zurückerhaltenen Säbel umschnallte und, gleich einem Genesenden, dem der Arzt den ersten Ausgang gestattet, tief aufatmend in die Sonne und Helle hinaustrat, um sich bei den Vorgesetzten nach verbüßtem Stubenarrest zu melden. Mit dem Major ging es noch. Der war kein Spielverderber. Schlimmer war die Begegnung mit dem Compagniechef. Der Hauptmann Grempe empfing seinen ersten Offizier in seiner Wohnung. Durch die Trockenheit und Grämlichkeit, die er für gewöhnlich an sich hatte, schimmerte eine gewisse Unsicherheit durch. Die Schatten eines gewaltigen Wischers von oben, sich etwas besser mit seinen Herren zu stellen, auf deren Eigenart schonend einzugehen, ihre Dienstfreude nicht zu töten, zitterten über seinem Haupt. Er dankte für die Meldung und sagte dann ernst, auf einen Stuhl deutend: »Ich möchte gern die Gelegenheit benutzen, mich einmal mit Ihnen auszusprechen, Herr Leutnant!«

Helmut Merker blieb stehen, bocksteif in Haltung und Miene.

»Darf ich mir gehorsamst die Frage gestatten: Betrachten Herr Hauptmann dies Gespräch noch als ein dienstliches?«

»Nee – gerade nicht, lieber Merker! Ich möchte einmal mit Ihnen ganz unbefangen als Mensch zum Menschen . . .«

»Ich bitte Herrn Hauptmann gehorsamst um Entschuldigung. Aber auf eine außerdienstliche Unterhaltung möchte ich verzichten. Sie würde auch zu nichts führen. Meine Entschlüsse sind schon gefaßt!«

»So so! . . . Hm . . . Und in welcher Hinsicht, Herr Leutnant?«

»Darüber möchte ich mit dem Herrn Oberst, zu dem ich jetzt zur Meldung hinüberfahren will, an erster Stelle reden. Haben Herr Hauptmann noch Befehle?«

»Nein – danke sehr!«

Der Oberst war ein langgewachsener, lebhafter und bestimmter Mann. Schon nah am General. Auf den Zügen die kluge Bonhommie eines höheren Militärs, der nun schon seit einem Menschenalter die deutsche Armee in all ihrem Freud und Leid hatte an sich vorüberziehen lassen und der im Rückblick auf all die Entwicklungsstufen, die er selbst hinter sich hatte, in den Seelen der Fähnriche und der Leutnants, der Hauptleute und der Stabsoffiziere zu lesen verstand. Er sagte nach Entgegennahme der Meldung rasch und freundlich: »So – nun setzen Sie sich mal, bitte, Merker!« Und fuhr, als der Oberleutnant das diesmal ohne Widerrede getan, in halb kameradschaftlichem Ton fort: »Einsperren hab' ich Sie müssen! Das sehen Sie ja selber ein!«

»Zu Befehl, Herr Oberst! Nachdem Herr Hauptmann Grempe mich einmal gemeldet hatte, so . . .«

»Na, schön! . . . Nun lassen Sie sich keine grauen Haare darüber wachsen! . . . Das gibt bei jemandem wie Ihnen noch lange keinen Fleck in der Konduitenliste! . . . Ich glaube, es wird ganz gut sein, wenn wir einmal bei Ihnen mit der Compagnie wechseln! . . . Ich hatte, schon eh' die Geschichte passierte, die Absicht, Sie zu dem Hauptmann Kaltschmidt zu tun. Ich glaube, mit dem werden Sie besser zusammenarbeiten – was?«

»Ich würd' es ganz sicher können, Herr Oberst! Und bin Herrn Oberst zu gehorsamstem Dank verpflichtet. Nur leider . . .«

»Was denn? . . . Guter Gott . . . Mann . . . Sie werden doch nicht?«

Helmut Merker schöpfte tief Atem. Jetzt, in der Schicksalsstunde, fiel ihm das entscheidende Wort doch schwer. Es kam stockend, halblaut heraus. Er wurde dabei blaß.

»Ich möchte Herrn Oberst bitten, mein Gesuch um Ausscheiden aus dem aktiven Dienst geneigtest zu genehmigen und es Allerhöchsten Ortes befürworten zu wollen!«

Der Regimentskommandeur erhob sich. Sein Untergebener tat es gleichzeitig mit ihm. Die beiden standen sich in ihrer ganzen stattlichen Länge gegenüber. Dann sagte der Ältere gedämpft: »Tun Sie's nicht, Merker!«

»Herr Oberst . . . ich hab' es mir reiflich . . .«

»Weiß ich! Fürchtete ich! . . . Hab' ich schon lange kommen sehen! . . . An sich . . . Guter Gott . . . Sie haben längst Ihre pflichtschuldigen zehn Jahre abgedient, Sie haben Geld – wenn jemand gehen will – wir halten ihn nicht! Aber ich sag' es in Ihrem Interesse, mein Lieber! . . . Und gewissermaßen auch im Interesse des Dienstes! Denn Sie sind ein sehr brauchbarer Offizier, Sie sind zum Soldaten geboren! Um Sie wär' es schade!«

»Und trotzdem . . . es ist nicht die Verärgerung über diesen einzelnen Fall, Herr Oberst, an dem ich ja schuld bin. Das war nur der letzte Anstoß. Wenn ich Herrn Oberst einmal die Gründe anführen darf, die . . .«

Der Regimentskommandeur hob abwehrend die Hände vor sich.

»Die weiß ich, mein lieber Merker! . . . Die brauchen Sie mir nicht zu sagen! . . . Glauben Sie, ich hätte nicht auch meine Augen? Sie sind jetzt, seit Ihrer Heirat, in der Stimmung: Was kostet die Welt? . . . Und hier bei uns scheint Ihnen die Welt zu klein!«

»Ja – das heißt . . . Herr Oberst . . . ich . . .«

»Nun möchten Sie 'raus! . . . Ich weiß nicht, ob Ihnen auf die Dauer die Welt da draußen wirklich so groß erscheinen wird! . . . Ich hab' immer die Idee, es ist bei Ihnen nur so eine Art Übergangsstadium. Es ist Ihnen das alles ein bißchen zu Kopf gestiegen . . . Nehmen Sie mir meine Offenheit nicht übel . . .«

»Ich bin Herrn Oberst für jedes Wort dankbar! Ich weiß, wie gut es der Herr Oberst mit mir meinen!«

Der ältere Offizier streckte lebhaft den Finger gegen ihn aus.

»Sehen Sie, mein lieber Merker, solange Sie dies Gefühl noch haben, so lange gehören Sie noch innerlich zu uns! . . . Wenn Sie jetzt durchaus von uns weg wollen . . .«

»Herr Oberst, mein Entschluß steht fest!«

»Na ja . . . also dann ist das vielleicht eine augenblickliche Notwendigkeit für Sie, daß Sie sich da draußen die Hörner ablaufen müssen! Man kann niemandem ins Herz sehen. Aber so viel Strategie müßten Sie doch schon intus haben, Merker, daß Sie sich daran erinnern: Man hält sich immer die Rückzugslinie frei! Lassen Sie sich ein Hinterpförtchen offen! Wer weiß, ob Sie's nicht bald wieder brauchen. Ich für mein Teil hoffe es!«

»Und was raten mir da der Herr Oberst?«

»Kommen Sie darum ein, daß man Sie ein Jahr lang ohne Gehalt beurlaubt! Ich werde das befürworten! . . . Dann können Sie schließlich immer noch zurück und finden ein Plätzchen in der Armee für Sie frei! Wenn nicht bei uns, dann in einem anderen Regiment . . .«

»Ich glaube nicht, Herr Oberst, daß . . .«

»Natürlich glauben Sie's nicht! Sonst stünden Sie ja nicht so düster, mit dem Dolch im Gewande, vor mir! . . . Aber es schadet Ihnen ja auch anderseits nichts! . . . Es hindert Sie nicht, sich in der Zwischenzeit den Wind um die Nase wehen zu lassen! . . . Ist dann endgültig Schluß – na . . . dann in Gottes Namen! . . . Aber bis dahin würde ich mir doch mißtrauen . . . an Ihrer Stelle! . . . Glauben Sie mir, ich mein' es gut mit Ihnen.«

Helmut Merker überlegte kurze Zeit. Dann sagte er: »Herr Oberst sind mir immer ein so gütiger Vorgesetzter gewesen! Ich danke Herrn Oberst gehorsamst! Ich werde diesen Rat befolgen!«

»Nun schön! . . . Das hör' ich gern! . . . Also gehen Sie mit Gott, lieber Merker! Sie sind von jetzt ab bis zur Erledigung Ihres Gesuchs beurlaubt.«

Frei! . . . Helmut Merker sog in tiefen Zügen die heiße, staubige Straßenluft in die Lunge, als er das Haus seines Regimentskommandeurs verließ. Frei! Mechanisch dankte er der das Gewehr präsentierenden Schildwache an der Türe. Frei! Das mit dem Jahr Urlaub – das war nur Formsache. Eine vornehmere und langsamere Art des Ausscheidens aus dem Dienst. Anders faßte er das nicht auf. Er wollte den väterlich wohlwollenden Mann da drinnen nicht vor den Kopf stoßen. Er tat ihm den Gefallen . . .

Ohne jede Anwandlung von Sentimentalität vertauschte er daheim die schwere heiße Uniform mit dem dünnen Sommerzivil über dem kühlen bunten Leinenhemd und setzte sich den leichten Panama auf den sonnengebräunten Kopf. Jetzt hinderte ihn kein Grempe, hinzufahren, wohin er wollte: eine übermütige und kriegerische Stimmung ergriff ihn. Er sehnte sich nach seiner Frau. Gerade in diesem Augenblick brachte ihm der Postbote ihren täglichen Brief. Sie hatte mit den Ihren gute Tage am Rhein. Das Wetter war schön, aber heiß . . . Na ja . . . das wußte er . . . das verzeichnete sie immer gewissenhaft nach der Sitte ihrer Heimat, wo das stürmische Inselklima eine so große Rolle spielte. – Ja . . . und da der Schluß: Sie waren nun schon auf dem Heimweg. Heute nachmittag in Straßburg . . . Er sah auf die Uhr. Er kam gerade noch mit dem Automobil in Heidelberg zu dem Baseler Schnellzug zurecht. Gegen Abend war er in der alten Reichsfestung am Rhein. Er eilte in das Hotel, das ihm Edith angegeben, und fand sie zum Glück allein auf ihrem Zimmer. Sie war bei seinem Anblick sprachlos. Und noch mehr, als er ihr nach den ersten Begrüßungsküssen meldete, was heute geschehen. Endlich frug sie: »Da können wir jetzt machen, was wir wollen?«

»Ja!«

»Können gehen, wohin wir möchten?«

»Freilich, darling«

»Auch nach England?«

»So oft es uns beliebt?«

Da faltete sie unwillkürlich, auf einem Stuhl zwischen ihren offenen Koffern sitzend, die Hände. Ihr Gesicht war ganz andächtig. Sie hob die Augen zum Himmel.

»Oh . . . Thy will be done! . . . Ich hätt' es nie von dir verlangt, Hellie! Ich habe dir versprochen, eine gute deutsche Regimentsfrau zu werden, und bin es auch geworden, ganz und gar! Aber wenn du das selber nicht mehr willst . . . Es ist mir noch wie ein Traum . . . Oh . . . Ich bin so froh . . . so froh . . .«

Er dachte in diesem Augenblick nicht mehr an die dunkelblaue Uniform mit rotem Kragen, die daheim am Nagel hing. Er sah seine schöne junge Frau vor sich. Beide lachten und fielen sich glückselig in die Arme und küßten sich so stürmisch, als hatten sie sich heute zum zweitenmal gefunden und verlobt. Sie legte den Kopf an seine Schulter und schaute dankbar zu ihm auf, als hätte er's nur ihretwegen getan. Die Abendsonne fiel golden durch das Fenster. Drüben über den Dächern stand der Münster, himmelanragend und geheimnisvoll im letzten Tageslicht.



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