Rudolph Stratz
Seine englische Frau
Rudolph Stratz

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11

Es war jetzt, in den Dämmerstunden vor dem Heiligen Abend, nichts von dem gewöhnlichen Lärm und Leben in der Infanteriekaserne von Czenstowitz. Die Treppen, die sonst vom Trampeln schwerer Stiefel widerhallten, die Flure mit ihren langen, in den Stützen stehenden Gewehrreihen, die Mannschaftsstuben lagen verödet. Der Kantinenpächter unten und die Flöhe in den Strohsäcken hatten magere Tage. Fast alle Musketiere waren auf Urlaub. Nur das Wachtkommando war geblieben: Waisen, die daheim niemand erwartete, Kerle, die etwas ausgefressen hatten, verheiratete Unteroffiziere.

Die letzteren hatten sich in ihrem Eßsaal einen Christbaum angezündet. Ein Verlosungstisch mit Gaben stand daneben. Auch der Compagniechef der dritten hatte beigesteuert: Ein Kistchen Zigarren. Eine schöne Pfeife mit dem Bild des Kriegsherrn. Ein antiquarisches Prachtwerk: ›Kaiser Wilhelm der Große in Kampf und Sieg‹. Die Geldausgabe fiel ihm nicht leicht. Er war blutarm, mit seiner zahlreichen Familie, ein ruhiger, ernster Mann, schon nahe am Major. Nun verließ er die Kaserne, legte vor dem am Tor präsentierenden Posten zwei Finger an den roten Mützenrand und sagte zu dem ihn begleitenden Oberleutnant seiner Compagnie: »Morgen haben Sie ja wohl den Appell vor dem Kirchgang, lieber Merker . . . Da werfen Sie bei der Gelegenheit auch gleich einen Blick ins Revier! . . . In diesen Feiertagen müssen wir Ehemänner in die Bresche! . . . Unsere beiden unverheirateten Herren sind natürlich heim zu Muttern!«

»Zu Befehl, Herr Hauptmann!«

Die beiden Offiziere schritten durch das winterliche Städtchen. Schnee lag auf den Dächern, war auf den ausgefahrenen Straßen, dem strohüberstreuten Marktplatz. In der Ferne brütete der Rauch der Fabrikschlote am grauen Himmel. Bunte Kopftücher umher, polnische Laute, struppige Pferdchen vor niedrigen Wagen, Leute im umgedrehten Schafspelz, mit slawischen Gesichtern – man war an der Grenze Deutschlands, im äußersten Winkel. Rußland und Österreich ganz in der Nähe.

Ein eisigkalter Wind flog von Osten, von den Steppen und Wäldern, über das verschneite Land, die breiten, schmutzigen Straßen. Der Hauptmann von Tarowski schlug den Kragen seines Paletots hoch und sagte nach längerem Schweigen: »Wie geht es denn Ihrer Frau Gemahlin in England, lieber Merker? . . . Haben Sie bessere Nachrichten über ihr Befinden?«

»Jawohl, Herr Hauptmann!«

»Wenn Sie schreiben, bitte auch unbekannterweise meine und meiner Frau beste Wünsche auf weitere Genesung!«

»Danke gehorsamst, Herr Hauptmann!«

Wieder waren die beiden nach diesen einsilbigen Antworten still. Die Sporenrädchen des Compagniechefs klangen fein auf dem holperigen Pflaster. Endlich begann er, nicht ohne Zögern: »Ja . . . heute haben wir nun Weihnachten . . . Im allgemeinen ist's ja nicht üblich, Urlaub anzubieten! . . . Ich war überzeugt, Sie würden selbst darum bitten! . . . Der Oberst auch. Sie hätten natürlich sofort welchen bekommen . . .«

»Ich bin doch kaum ein Vierteljahr wieder im Dienst, Herr Hauptmann!«

»Ja, aber ich bitte Sie: wenn man seine kranke Frau im Ausland bei den Ihren hat zurücklassen müssen und hier als Strohwitwer lebt – das ist doch weiß Gott Grund genug zum Urlaub! . . . Das täte mir von Herzen leid, wenn Sie sich den deswegen versagt hätten . . .«

Der Oberleutnant Merker schwieg. Der andere fuhr fort: »Denn an sich die Spritztour nach England . . . der Geldpunkt kann doch kein Hindernis sein, für jemanden wie Sie, dem der Ruf sagenhafter Schätze vorausgeht . . .«

Er lachte dabei unbefangen, im Bewußtsein seiner regiments- und armeebekannten Armut, die er bei allem Ernst seines Wesens mit einem gewissen Humor trug. Der neben ihm lächelte auch. Aber trübe.

»Finden Herr Hauptmann wirklich, daß ich hier so großartig auftrete?«

»Nee, Verehrtester!« sagte Herr von Tarowski aufrichtig. »Das wahrhaftig nicht! Das muß Ihnen der Neid lassen! Diese kümmerliche Einjährigenbude, in der Sie da bei der Kaserne hausen – unsere beiden anderen Herren in der Compagnie würden so ein Quartier mit Entrüstung von sich weisen. Ich hab' Sie schon ein paarmal dem einen verwöhnten jungen Dachs als spartanisches Muster hingestellt!«

Wieder nach einer Pause setzte er hinzu: »Ich meine nur, weil aus Ihrer früheren Garnison so allerhand gemunkelt wurde . . . von Auto . . . von Dienerschaft . . . ich kann Ihnen sagen, Merker, ich bekam anfangs einen gelinden Schrecken, wie ich hörte, Sie seien mir zugedacht. Na – um so angenehmer war ich dann enttäuscht!«

Er blieb vor seinem Hause stehen und gab dem Leutnant herzlich die Hand.

»Möchte nur bald die Sorge um Ihre liebe Frau von Ihnen genommen werden! . . . Guter Gott – was hat man denn sonst vom Leben? . . . Glauben Sie mir, ich kann's Ihnen nachfühlen, wenn ich jetzt zu meiner Frau und meinen Kindern hinaufsteig' . . . Sie gehen wohl heute abend ins Kasino, Merker?«

»Nein, Herr Hauptmann! Mir ist nicht danach zumut!«

»Was tun Sie dann?«

»Ich bleib' bei mir zu Hause.«

»Allein?«

»Jawohl!«

Der Compagniechef sah ihn stumm an. Irgend etwas stimmte da nicht. Das ahnte nun allmählich sogar er, der sonst in solchen Dingen die Arglosigkeit selber war. Helmut Merker war schon im Begriff, sich zu verabschieden. Da bezwang er sich plötzlich und sagte mit stockender Stimme: »Ich möchte nicht so von Herrn Hauptmann weggehen! . . . Es kommt mir so lächerlich vor, daß ich da immer so . . . so Komödie spiele . . .«

»Ich versteh' Sie nicht, lieber Merker!«

»Ich verdanke Herrn Hauptmann so viel . . . mehr, als ich ausdrücken kann – weil es mehr außerdienstlich ist – und ohne Absicht. Es wirkt mehr wie ein Beispiel . . . Mein früherer Compagniechef war darin so anders . . . Seine Art hat mich mit auch auf den falschen Weg gebracht . . . Jetzt finde ich hier im Gegenteil grade den richtigen Wegweiser . . .«

Herr von Tarowski lachte und war erstaunt.

»Na – das freut mich ja sehr, wenn meine Wenigkeit . . . weiß zwar nicht, wie ich zu der Ehre komme . . . aber was haben Sie denn nun eigentlich auf dem Herzen?«

»Ich werde immer nach meiner Frau gefragt,« sagte der Leutnant Merker mühsam. »Und schwindle immer, sie sei krank! . . . Gesund wie ein Fisch im Wasser ist sie, Gott sei Dank! . . . Sitzt nur drüben in England bei den Ihren und bockt! Schon seit einem Vierteljahr. Ich schäme mich, einzugestehen, daß ich eine Engländerin zur Frau hab', die ich nicht dazu bringe, mir in meine Garnison zu folgen! . . . Darum hatte ich das Märchen von ihrer Krankheit ausgesprengt . . .«

»Ach so . . .«

»Sie wird ja schon noch kommen! Ich hoff' es jeden Tag. Sie hält es ja auf die Dauer nicht aus ohne mich. Aber sie denkt, ich auch nicht ohne sie! Drum wartet sie. Ich auch. Wir schreiben uns oft – aber wir schreiben uns vorläufig jeder nur, daß wir fest bleiben. Unterdessen sitze ich hier als Strohwitwer . . .«

»Da zahlen Sie ja Ihren Dienstantritt teurer, als irgend jemand weiß, lieber Merker!«

»Ich büße damit manches von früher ab, Herr Hauptmann!«

Die beiden Männer schwiegen. Es dämmerte stark. Der Wind pfiff schneidend um die Straßenecke. Herr von Tarowski sah zu seinen traulich hellen Fenstern oben empor.

»Gehen Sie jetzt gleich nach Hause?« frug er.

»Ja. Das heißt: erst bummle ich noch ein bißchen in den Straßen herum!«

Jetzt begriff der Compagniechef etwas, worüber man sich schon in der Garnison wie über manche andere Schrullen des Oberleutnant Merker gewundert hatte: Dieser komische Mann, der Millionär sein sollte und dabei ein Zimmerchen für fünfundzwanzig Mark monatlich bewohnte, der angeblich in England im Besitz vierzigpferdiger Automobile und kostbarer Gäule war und bei Tisch im Kasino nur ein Viertel Bier trank, und sich des Abends durch den Burschen Wurst und Brot auf die Bude holen ließ, dieser Sonderling hatte auch die Gewohnheit, fast allabendlich einsam um die Dämmerstunde auf dem Bahnhof zu erscheinen und schweigsam, die Hände in den Paletottaschen, bei der Ankunft des Berliner Schnellzugs in das Gewühl der aussteigenden Reisenden zu schauen, um dann, wenn sich das wieder verlaufen hatte, mit unbewegtem Gesicht in die Nacht hinauszutreten. Der Hauptmann dachte sich: Der Unglücksmensch wartet da doch wahrhaftig jeden Tag auf seine Frau! Er fühlte, daß er dem andern für sein Vertrauen etwas schuldig war. Er hätte ihm gern zum Dank eine Freundlichkeit erwiesen. Er sagte laut und lebhaft: »Also wissen Sie was, lieber Merker . . . Bei mir da oben ist jetzt gleich Bescherung, früher als sonst, weil ich meine Mutter bei mir hab'! Die alte Frau gehört um sieben in die Klappe . . . Kommen Sie mit 'rauf . . .«

»Aber Herr Hauptmann . . .«

»Zum Abendbrot nachher wag' ich Sie gar nicht einzuladen. Sie wissen, bei mir ist chronisch Schmalhans Küchenmeister. Aber einen Weihnachtsbaum sollen Sie doch wenigstens heute abend brennen sehen. Das ist ja sonst gottesjämmerlich . . . Das kann ich nicht verantworten . . .«

Er nahm seinen Compagnieoffizier unter den Arm und zog ihn mit sich, die Treppe hinauf. Frau und Kinder erwarteten ihn schon. Es klingelte. Die Türe zum Guten Zimmer ging auf. Da strahlten die Kerzen. Der alte süße Weihnachtsduft verbrannter Tannennadeln zog durch die Luft. Von fern klangen die Glocken durch die verschneite Stille und läuteten das deutsche Fest der Liebe ein. Helmut Merker stand stumm ein wenig beiseite. Er dachte an heute vor einem Jahr. England. Sie hatten auch einen Tannenbaum aus dem Harz gehabt, im Londoner Hause der Wildings. Das wurde dort drüben auch immer mehr Mode. Sie hatten in Frack und weißer Binde um die runde Tafel gesessen, die der mächtige Christmas-Truthahn zierte. Man sprach von den Kursen, vom Ende der Hetzjagden und Wettrennen durch den gestern eingetretenen Frost, vom ewigen Menetekel: der deutschen Flotte. Ihm gegenüber hatte Edith gesessen. Er sah sie vor sich, in ihrem ausgeschnittenen, champagnerfarbenen Kleid mit nilgrünen Rosen. Sie liebte immer, nach englischem Geschmack, etwas zu Sonderbares, Grelles in den Farben. So saß sie wohl auch heute, jetzt um diese Stunde, drüben in der Mitte der Ihren, lachte vielleicht, dachte nicht an ihn. Doch! Sie tat's! Er wußte es. Sie litten ja beide. Nicht nur er allein. Seine Augen wurden feucht vor plötzlicher Sehnsucht nach Weib und Kind. Und doch war er den Tarowskis für das bißchen Licht und Lachen, das sie ihm gespendet, dankbar. Er drückte dem Hauptmann die Hand, küßte stumm die der Hausfrau, fuhr einem der am Boden spielenden Blondköpfe über den Scheitel und ging.

In seiner Junggesellenstube daheim war es dunkel. Der Bursche war zur Weihnachtsfeier in der Kaserne. Helmut Merker zündete sich die Lampe an und schob eigenhändig einige Preßkohlen in den schon halberkalteten Ofen. Es war so kühl, daß man den Atem in der Luft sah. Er zog seine dicke Hausjoppe an, ging auf und nieder und schlug, um sich zu erwärmen, die Arme zusammen. Dann trat er ans Fenster. Die finstere Seitengasse hinter der Kaserne, auf die es hinausschaute, hatte heute ein ganz anderes Gesicht. Der Glanz von Weihnachtsbäumen leuchtete in goldenen Bahnen durch die Scheiben, verklärte draußen den schmutzigen, vielzertretenen Schnee. An zwei, drei Stellen sah man die Christtannen wie geheimnisvolle, flimmernde Märchengebilde hinter den Gardinen, man hörte fröhliche Stimmen . . . Klavierakkorde . . . Weihnachtslieder . . . Der einsame Offizier wandte sich vom Fenster ab. Auf dem Tisch stand sein bescheidenes, kaltes Abendbrot bereit. Er schob es achtlos beiseite. Dabei sah er einige Postkistchen und Pakete auf dem Sofa. Die hatte der Bursche noch dorthin gelegt. Es waren die Weihnachtsgrüße der Seinen. Von der Mutter im fernen Odenwald, von dem Bruder am Rhein, von dem Schwager Oberlehrer. Ein Frühstückskorb war darunter. Ein paar silberne verkapselte Champagnerflaschenhälse ragten aus grünem Moos. Er wollte jetzt nichts auspacken. Sein Sinn stand nicht danach. Es hätte nur seine Schwermut vermehrt: Mutter und Geschwister hatten seiner gedacht. Aus England war kein Lebenszeichen gekommen. Nichts von seiner Frau. Nichts . . .

Es tat ihm bitter weh. Gerade zum heutigen Abend, wo sie ihn doch allein und verlassen wußte, hatte er wenigstens auf eine Zeile von ihr gehofft. Aber er grollte ihr nicht. Er sagte sich in der sonderbaren, leidenschaftslos-ergebenen Ruhe, die er allmählich im Laufe dieser schweren Monate gewonnen: ›Du da drüben mußt! . . . Wie ich auch muß! . . . Gott mag es wissen, wie er unsere Herzen führt und uns und den Widerstreit unserer Völker in uns versöhnt . . .‹

Er war so milde und weich gestimmt, daß er sich entschloß, ihr nicht Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Wenn sie stumm blieb: er schrieb ihr. Schrieb sich wieder einmal alles von der Seele. Er wollte kein Geheimnis vor ihr haben.

Im Zimmer war kein Laut als das leise Knistern der Lampe und der Feder, die über das Papier glitt.

». . . durch die stille Nacht, über Deutschland und das Meer, gehen meine Gedanken zu Dir. Sie sind immer bei Dir. Heute noch mehr als sonst! Heute ist bei uns hier der Abend, wo man seinem Nächsten alles vergißt und verzeiht. Vergib Du mir, was ich Dir hab' antun müssen. Ich vergebe Dir auch. Ich liebe Dich. Mehr denn je. Und ich weiß, Du liebst mich nicht minder, Edith . . . trotz alledem . . . Wir haben einander nicht verloren durch diese Zeit der Trennung. Im Gegenteil . . .«

Er hielt mit Schreiben inne. Es war sonderbar und doch wahr: Manchmal hatte er den Eindruck, als kämen Edith und er einander dadurch, daß sie sich jetzt nur brieflich, aus der Weite, den letzten Grundgehalt ihrer Gedanken und Stimmungen, ihr eigentliches ›Ich‹ stiller Stunden offenbarten, viel näher als früher, im fortwährenden wirklichen Zusammensein, dem ewigen: ›oh yes‹ und ›oh no‹, Plattheit und Unrast des Tages, Geschwätz über Besuche, Toiletten, Gesellschaften . . . Er schrieb ihr grundsätzlich Deutsch. Sie ebenso hartnäckig Englisch. Es war wie ein Sinnbild ihres Kampfes um die Seele des anderen. Er beugte sich über das Papier und fuhr fort:

»Diese Zeit mußte vielleicht sein! Sie ist für uns beide notwendig. Für mich insbesondere. Ich habe in ihr das Beste fertig gebracht: mich wieder zu finden, ohne Dich dabei zu verlieren! Das ist ein großes Glück, Edith, wenn auch jetzt noch der Himmel über uns trübe ist!

»Jeden Abend steh' ich, wenn der Zug aus Berlin ankommt, und schau', ob Du nicht aussteigst. Einmal wirst Du kommen. Das ist meine Hoffnung. Nur heute war ich nicht draußen. Ich war im Hause meines Compagniechefs. Das ist mir wie ein Spiegel. Sie haben nie einen Groschen überflüssiges Geld gehabt. Seine Frau hat mir erzählt, wie sie bei Versetzungen die Nacht vor dem Umzug auf Stühlen im leeren Zimmer sitzend zugebracht haben, um Geld zu sparen, und sich des Morgens am Hahn der Wasserleitung gewaschen. Sie haben oft kaum satt zu essen gehabt und sich immer nach außen mit Anstand durchgeschlagen. Sie haben sich ihr ganzes Leben hindurch, eigentlich Stunde um Stunde, etwas versagen müssen, was sie gern gehabt hätten, und haben es als eine Art Naturgesetz betrachtet, daß sie eben arm waren und andere reich. Damals, als sie heirateten, brauchte man weniger Kommißvermögen als wir. Er hat mir neulich gesagt: ›Gott sei Dank, das Geld ist noch intakt da. Für die Kinder!‹ Wir haben unseres in zwei Jahren verschwendet! Oder vielmehr ich. Du warst's ja gewöhnt! Es ist mir eine Lehre, was ich da vor Augen sehe! . . . Wie ich jetzt hier nur von meinem Gehalt lebe – es ist ein Kunststück, aber ich bringe es fertig – und keinen Penny von Deinem Vater annehme, so wird mich auch, wenn wir einmal wieder beisammen sind, der Reichtum nicht mehr wie früher betören! Ich werde darüber stehen. So weit bin ich jetzt. Das weiß ich!«

Er stand auf und ging durch das Zimmer. Es war immer noch kühl. Ihn fröstelte. Draußen, auf der Straße, war jetzt der Schein der Weihnachtsbäume erloschen. Es war fast dasselbe grämliche Dunkel wie jeden Abend. Helles Sterngefunkel über den verschneiten Firsten. Ein großer Planet stand drüben im Osten, mit seltsam klarem, grünlichem Licht.

Helmut Merker setzte sich wieder an den Tisch und schrieb:

». . . wenn wir wieder beisammen sind, Edith! . . . Manchmal macht es mich mutlos. Es dünkt mich zu schön. Zu viel. Wenn ich mein Leben von früher und das von jetzt überschaue, dann liegt dazwischen etwas – das ist wie ein Traum. Es war eine so lange, so goldene, so schöne Zeit – und jetzt scheint es mir doch, als hätte ich das alles, Liebe und Reichtum und Glanz, nur zwischen Einschlafen und Erwachen erlebt, und ich komme mir vor wie der Mönch von Heisterbach, vor dem tausend Jahre waren wie ein Tag. Ich glaube nicht mehr, daß dies Glück wahr war. Und dann sag' ich mir: das Glück warst doch Du, Edith! . . . Und Du bist da. Du lebst! . . . Du bist mir jetzt fern! . . . Aber Du wirst mir auch wieder nah sein, und dann ist alles gut und aller Schmerz unserer Prüfung vergessen. Ich zähle die Tage, die Stunden bis dahin. Aber ich verliere nicht die Geduld. Ich dränge Dich nicht – ich befehle Dir nichts – ich versuche nicht, Dich zu zwingen – ich weiß: was Du tust, muß freiwillig geschehen, sonst hat es für uns beide innerlich keinen Wert . . .«

Unten schlug das Haustor. Er ließ die Feder sinken. Er dachte sich: ›Jetzt trappst gleich der Bursche herein und stört mich. Ich schick' ihn sofort hinaus, sowie er seinen Polackenschädel durch die Türe steckt!‹ . . . Das Zimmer mündete unmittelbar auf die Treppe. Man hörte jeden Tritt von außen, wenn jemand die Stufen hinaufstieg. Aber das waren nicht die schweren Stiefel des Musketiers. Kräftige, leichte, wie federnde Schritte kamen rasch empor, blieben stehen, gingen weiter auf den knarrenden Bohlen, näherten sich dem Eingang . . . Sein Herz klopfte . . . Er stand auf . . . Eine ungläubige Freude durchzuckte ihn – nein – ein Schrecken, daß er derlei für möglich hielt – das machte die Weichlichkeit der Weihnachtsstimmung . . . und doch eine Hoffnung . . . Es scharrte leise da draußen, als stände das Christkind auf dem Flur . . . Er verlor den Atem . . . er wußte nicht mehr, war es das Hämmern seiner Pulse . . . klopfte es wirklich an die Türe, an der außen seine Visitenkarte angenagelt war . . . Er lief hin . . . er machte halt . . . er horchte . . .

»Hellie . . . oh Hellie . . . are you here?«

Er riß die Tür auf.

»Edith . . .«

Sie stand draußen, fröstelnd, von einem in nassen Galoschen steckenden Fuß auf den andern tretend, in einem über und über beschneiten Pelzmantel. Seit einer Viertelstunde hatte ein schweres Schneetreiben über der Grenzstadt eingesetzt. Die Flocken hingen noch hinten in ihrem blonden Haarknoten. Ihr Schleier, durch den die blauen Augen und die von der Kälte roten Wangen schimmerten, war weiß bereift. Ein Hauch von eisig frischer Winterluft war um ihre jugendwarme, schlanke Gestalt. Sie fiel, wie hilfesuchend, in einem Atem lachend und weinend ihrem Mann um den Hals.

»Oh . . . Hellie . . . Hellie!«

»Edith . . .«

Er umschlang und küßte sie in fassungslosem, vor dem Erwachen in die Wirklichkeit zitterndem Glück – er führte sie in die Stube – er hatte seine Hand um sie gelegt – er fühlte sie . . . sie war es leibhaftig . . . er küßte sie wieder . . . ihre Lippen waren kalt, aber sie erwiderten seinen Kuß . . . er half ihr aus Pelz, Überschuhen, Schleiern, setzte sie auf einen Stuhl . . . kniete vor ihr, ihre Hände in den seinen, schaute ihr ins Gesicht . . . Ja, das war es . . . Es beugte sich lachend, mit nassen Augen über ihn, im Lichtflimmer der Lampe zur Linken, die ihre regelmäßigen, hübschen Züge mit goldenem Leben übergoß . . . Sie zog ihn an sich. Sie küßte ihn und er sie. Sie wiederholte immer, in einem glücklichen Ton: »Oh . . . Hellie . . . Hellie . . .«

Endlich kamen sie ein wenig zu sich. Sie saßen nebeneinander auf dem Sofa, nah dem leise sprühenden Ofen, Hand in Hand. Es war kein Zweifel mehr. Sie war wirklich da. Seine Stimme zitterte.

»Edith . . . wo kommst du denn her?«

»Direkt aus London! . . . Oh . . . ich hab' mich so nach dir gesehnt . . .«

»Und ich nach dir!«

». . . und wie Christmas kam, hab' ich es gestern früh nicht mehr ausgehalten und fuhr nach Viktoria-Station. Ich bin seit sechsunddreißig Stunden unterwegs. Oh – was war für Wintersturm auf dem Kanal!«

Man mußte ihre britischen Nerven besitzen, um nach solchen Strapazen so frisch und rosig dazusitzen. Sie schaute ihren Mann zärtlich an, hielt ihm wieder die Lippen zum Kuß hin und schmiegte sich beruhigt an ihn.

»Das ist gut, dich wieder zu haben!« sagte sie aufatmend. »Ich war so traurig ohne dich! . . . So allein! Nur mit Klein-Mary! Sie läßt dich grüßen. Sie ist in London. Es geht ihr gut!«

Und er schüttelte immer wieder glückselig den Kopf.

»Bist du's denn wirklich? . . . Es ist zu schön! Es ist gewiß nicht wahr! . . . Schau . . . beinahe jeden Tag' hab' ich draußen auf der Bahn gestanden und hab' auf dich gewartet . . .«

»Und ich bin so oft in London an Charing-Croß vorbei und hab' an dich gedacht!«

». . . und gerade heute war ich bei meinem Hauptmann.«

Sie lachte.

». . . und unterdessen bin ich angekommen und ins Hotel und schnell hierher! Ich hab' zu Fuß gehen müssen, Hellie . . . Es gab keinen Wagen . . . wegen Christmas . . . Ein Mann vom Hotel hat mich begleitet . . . sonst wär' ich stecken geblieben im Schnee . . .«

Sie war immer noch durchfroren. Er streichelte ihre kalten Finger und rieb ihr die roten kleinen Ohren. Dann lief er zum Ofen und schürte das Feuer. Ihre frischen Züge leuchteten rosig in dem Geflacker auf. Sie schaute sich ungläubig, mit großen Augen in dem einfachen, möblierten Zimmer um.

»Da wohnst du, Hellie?«

»Ja.«

»Wo hast du denn deine andern Räume?«

»Mein Bursche hat auf dem Boden eine Kammer. Das ist mein ganzes Reich!«

Es ging über ihre Fassungskraft. So hausten in England nicht einmal die Fabrikarbeiter. Sie breitete verstört die Arme aus.

»Oh Hellie . . . komm zu mir . . . Was mußt du gelitten haben!«

»Na – wenn's weiter nichts gewesen wäre!« sagte er, den Kopf an ihrer Brust. Ein Frieden unendlichen Glückes überkam ihn. Er schloß die Augen. Er hörte ihre Stimme: »Und das ist dein Supper?«

Sie deutete erschreckt mit dem Finger auf den Teller mit Wurst und Brot. Er sprang auf und lachte.

»Nein. Für heute nicht! Heute hat zum Glück meine brüderliche Liebe am Rhein an uns gedacht! Als ob er's geahnt hätte, der schlaue Leopold! . . . Siehst du – da ist der Korb mit Sachen! . . . Das reine Tischleindeckdich! . . . Na . . . das nachher! . . . Aber die Pulle da, das wird dir gut tun . . . Warte . . .«

Er entkorkte die eine Sektflasche. Kelche hatte er nicht. Er nahm seine beiden Biergläser. Sie stießen an und schauten sich in die Augen und tranken. Draußen lautete wieder eine Weihnachtsglocke durch die Stille. Die Schneeflocken tanzten vor dem Fenster. Man war von der Welt abgeschieden, als gäbe es nur dies kleine, dämmerige, warme Stübchen und sonst nur da außen eine einzige kalte Finsternis.

Der Wein hatte sie belebt, aber so, daß sie plötzlich wieder fast zu weinen anfing.

»Hellie – wie hast du denn nur dies Vierteljahr verbringen können ohne mich und Klein-Mary? Es bekümmert mich so! . . . Was hast du denn nur getan?«

»Dienst!« sprach er ernst. »Dienst! Dienst!«

Sie blinzelte kampflustig bei diesem Wort. Aber sie hielt an sich. Sie wollte ihn nicht ärgern.

»Was bist du für ein dickköpfiger Mann!« sagte sie. »Wenige Frauen haben es gewiß so schwer wie ich! . . . Was hast du denn nur außer Dienst getrieben, Hellie?«

»Nur an dich gedacht!«

Das beruhigte sie wieder. Sie schlürfte ein wenig nachdenklich an ihrem Glas. Er frug: »Hast du Hunger, Maus?«

»Ja.«

»Na, Gott sei Dank!«

Er lachte und packte die Gaben aus. Sie half ihm. Sie lachte mit. Es war so drollig: Plötzlich wie vom Himmel gefallen, der Tisch mit Speise und Trank, stiller Weihnachtsfrieden . . . sie beide beisammen . . . alles wieder gut . . . zu Ende dies trübe böse Vierteljahr. Es war so düster gewesen – so viel Nebel in London, wohin sie im November von Rosemary-Hills übergesiedelt waren . . . Sie erzählte es und aß dabei, und er hörte zu – und im Hause in Belgravia auch wenig Freude . . . Pa immer stiller und in sich gekehrter . . . Father alterte doch sehr, alle sagten es, und schlief die Nächte so schlecht . . . Und mother war in Biarritz gewesen. Sie, Edith, hatte nicht mitkommen wollen. Sie hatte an nichts Freude. Sie war nirgends hingegangen. Nur arme Kinder hatte sie vorige Woche bescheren geholfen. Auch nicht gerne. Aber da die Lady Sidney selbst Patronesse gewesen . . .

Er dachte sich: ›Du kleiner snob – erstirbst du immer noch vor den Lords und ihren Frauen? . . . Na, warte – das werden wir dir von jetzt ab schon in Deutschland abgewöhnen!‹ . . . Sein Äußeres hatte sich etwas verändert. Er hatte sich den englisch gestutzten Schnurrbart wieder wachsen lassen und trug ihn lang ausgezogen, wie es in der Armee üblich war, er hatte wieder die straffe und bestimmte Haltung des Dienstes, auch die Uniform, die sie seit anderthalb Jahren nicht mehr an ihm gesehen, machte mit dem ungewohnten Rot ihrer Aufschläge, dem Glitzern der Knöpfe im Lampenlicht ihn ihr ein wenig fremd. Aber nur eine Sekunde. Dann plauderte sie eifrig weiter. Es gab ja so unendlich viel zu erzählen aus der Zwischenzeit, oder eigentlich immer dasselbe, was sie auch schon dann und wann geschrieben. Dickie hatte sich jetzt auf das Briefmarkensammeln verlegt – mehr Golf spielen wäre ihm besser bei seiner Neigung zur Körperfülle – und Mac Cornicks reisten jetzt bald für den Winter nach Ägypten, wo man eine ganz hervorragende Gesellschafts-Season erwartete, und Fred hatte bis in die letzte Zeit guten Sport in den Grafschaften gehabt. Und dem alten Mr. Mathes ging es gar nicht gut. Er war doch nun einmal zuckerkrank und trank dabei nur Portwein, der zweimal die Linie passiert hatte – und die Flecks in Manchester hätten bei der letzten großen Baumwollkrise sich gut eingedeckt gehabt und viel Geld gemacht. Und Miß Hunter . . .

Ihr Mann hätte gern gesagt: ›Laß doch diese ganze langweilige Gesellschaft unterwegs! Was scheren uns diese Sportkerle und Money-Menschen jenseits des Kanals? Ich kenne sie zur Genüge! . . . Wir sind jetzt in Deutschland und bleiben da.‹ Aber es war so reizend, ihrem Geschwatze zuzuhören – diesem im letzten Vierteljahr sichtlich aus Mangel an Übung eingerosteten, drollig gefärbten Deutsch. Er hätte ihr am liebsten die roten Lippen mit einem Kuß verschlossen. Aber da flog die Türe auf. Michalski, der polnische Bursche, trat breit grinsend, seine Weihnachtspakete unter dem Arm, herein und stand verdonnert stramm . . . Der Herr Leutnant und eine Dame! . . . Helmut Merker stellte ihn seiner Frau vor, und die frug leutselig: »Ich hoffe, Sie fühlen sich hier wohl?«

»B'fell!«

»Na – das wollt' ich dir auch geraten haben!« sagte sein Herr, sich eine Zigarre anzündend. »Nu räum 'mal hier ab! Aber ein bißchen dalli . . .«

Er sehnte sich danach, mit Edith wieder allein zu sein. Die sah, als der Polacke mit den letzten Tellern verschwunden war, auf ihre Armbanduhr und erschrak.

»Schon halb neun! . . . Was wird mother denken?«

Der Leutnant furchte die Stirne. Er traute seinen Ohren nicht.

»Wer – zum Kuckuck?«

»Mother!«

»Na – laß doch mother in London oder wo sie grade steckt, guter Dinge sein. Die amüsiert sich schon auf eigene Faust. Da sei unbesorgt!«

»Mother ist doch hier!«

Er riß die Augen auf.

»Hier in Czenstowitz?«

»Ja.«

»Mit dir gekommen?«

»Ja. Sie sitzt im Hotel und wartet auf mich!«

»Grundgütiger Himmel!« Helmut Merker durchmaß das Zimmer und blieb mit gerungenen Händen vor seiner Frau stehen. »Edith . . . Kind Gottes . . . wie bist du denn auf diese Kateridee verfallen? . . . Ging's denn wirklich nicht ohne die mother? . . . Du weißt doch: die und ich haben doch so wenig Glück miteinander! . . . Und grade jetzt, wo wir beide uns in den nächsten Tagen so viel zu sagen haben . . .«

»Ich habe mich gefürchtet, Hellie! Die weite Reise . . .«

»Schwindle doch nicht, Maus! . . . Du und fürchten! . . . Du fährst auch allein nach Japan, wenn es sein muß. Ich kenne dich doch!«

Edith Merker war aufgestanden.

»Es kommt darauf an, was man auf der Reise vor hat!« sagte sie. »Dies ist für mich doch eine schwere Reise. Ich habe den ersten Schritt zu unserer Versöhnung getan, Hellie!«

»Wenn ich hundert Jahre alt bin, werd' ich es dir noch danken!«

». . . und für den Fall, daß dieser Schritt mißglücken sollte . . . ich hatte solche Angst, dann elend und allein heimzufahren . . . dann mußt' ich jemanden zum Trost bei mir haben . . . Darum hab' ich mother gebeten . . .«

Eine unbestimmte Besorgnis erfaßte ihn. Seine Stirne umwölkte sich.

»Mißglücken . . . Edith? . . . Da bist du doch! Wir haben uns doch gefunden . . . Es ist alles gut . . . Was denkst du denn an einen Rückzug – hier aus dem Schnee, wie Napoleon aus Rußland? . . . Du . . . Ich verstehe dich nicht . . .«

Seine blonde junge Frau stand dicht vor ihm und schaute ihm ruhig und entschlossen ins Gesicht.

»Ich hab' es mir gesagt, Hellie . . . und mother und die anderen haben es mir auch gesagt: du bist ein Mann und Männer sind eigensinnig. Oder sie nennen es Stolz. Sie denken, sie vergeben sich etwas, wenn sie zuerst die Hand hinhalten. Das ist unsere Sache. Wir müssen euch entgegenkommen und es euch leicht machen, nachzugeben . . .«

»Worin denn?«

Sie ließ die Augen durch den Raum schweifen.

»Armer Hellie . . . Hier hast du nun ein Vierteljahr gewohnt! Sag selbst: es war eine verlorene Zeit in deinem Leben!«

»Nein, Edith – alles, nur das nicht!«

»Du gibst es doch zu: du hast dich so verzweifelt nach mir und Klein-Mary und allem gesehnt?«

»Das gewiß!«

»Und dein Stolz hat dir verboten, das zu tun, was du so gern schon lange getan hättest – wieder heimzukommen! . . . Oh . . . Fahre nicht auf, Hellie! . . . Ich verstehe das wohl! Du bist ein Mann. Es war dir zu hart, das erste Wort zu sprechen. Da hab' ich mich endlich entschlossen: dann sprech' ich es! Und hab' mich auf die Bahn gesetzt und bin hierher . . .«

». . . um in Zukunft bei mir zu bleiben, Edith!«

»Nein, Hellie!« sagte sie verwundert, ahnungslos. »Um dich endlich wieder zu uns heimzuholen!

Er starrte sie entsetzt an.

»Deswegen bist du hier?«

»Ja – weswegen denn sonst, Hellie?«

»Herrgott . . . um endlich den Platz einzunehmen, auf den du von Gottes und Rechts wegen gehörst – hier an meiner Seite!«

Er schrie es fast in seinem Zorn. Wieder musterte Edith den Raum.

»Hier, Hellie! Um Gottes willen?«

»Na – natürlich nicht in der möblierten Bude! Aber in drei Zimmern oder in vier! Wir werden uns schon durchfressen. Dein Vater muß ein Einsehen haben! Er wird seine leibliche Tochter und sein Enkelkind schließlich schon nicht verhungern lassen!«

Die junge Frau vor ihm schüttelte den Kopf.

»Pa hat neulich mit mir gesprochen! Sehr gut und ernst. Er sagt, er hat jetzt eine rauhe Zeit durchzumachen, im Geschäft! Es wird vorübergehen! Aber vorläufig muß er all sein bares Geld auf Südamerika verwenden. Er kann nichts nach Deutschland schicken! . . . Vater war recht gedrückt, wie er mir das gestand. Da hab' ich manches nachträglich begriffen, was ich früher bei ihm nur für Eigensinn gehalten hab'!«

»Warum schränkt ihr euch denn nicht in England ein – he?«

»Das kann man nicht, sagt father. Das fällt auf. Das schadet dem Kredit! . . . Außerdem würden es die Meinigen auch nicht tun! Wir sind doch keine Paupers! – Nein – drüben geht alles seinen alten Gang. Wir beide kommen da so gut mit unter. Wir können so fröhlich und sorglos sein auf Rosemary-Hills! Es hat mir keine Ruhe gelassen. Ich hab' mir gesagt: Er bereut gewiß jetzt schon heimlich, was er getan hat! . . . Ich bin gut! . . . Ich vergess' es! Ich geh' und hol' ihn mir! . . . Und das ist nun der Dank . . .«

Es war ja eigentlich noch kein ›Nein‹ über seine Lippen gekommen. Aber es zeigte sich solch ein unheilverkündender, steinerner Ausdruck auf seinen Zügen. Etwas Leidendes und Unerbittliches zugleich. Er versetzte langsam: »Wie denkst du dir das eigentlich, Edith? Ich bin kaum ein Vierteljahr wieder in meinem Beruf, in meinem Vaterland . . . weiß wieder, wozu ich auf der Welt bin – und soll euer Schlaraffenleben, von dem ich mich losgerissen hab' . . . mit den furchtbarsten Opfern . . . mit einer Anstrengung wie ein Verrückter – das soll ich von neuem anfangen! Das kannst du nicht verlangen!«

Edith Merker brach in wildes Weinen aus. Sie warf sich auf einen Stuhl, den Kopf vornüber auf dem Tisch. Sie schrie.

»Dann liebst du mich nicht mehr!«

»Edith!«

»Dann liebst du mich nicht mehr! Das ist die Probe!«

»Ich könnte dasselbe sagen, Edith!«

»Ich bin zu dir gekommen! . . . Da sitz' ich! . . . Du hast nicht den Weg zu mir gefunden – diese ganze Zeit! Du liebst mich nicht mehr!« Sie schluchzte immer heißer. »Wahrscheinlich hast du mich überhaupt nie geliebt! Nur mein Geld!«

»Du Schaf!« sagte er wütend. »Dann käme ich ja stante pede mit! Ich will dich ja gerade ohne Geld! Das ist doch der Beweis!«

Einen Augenblick war sie verdutzt. Dann brach das Weinen von neuem los.

»Nein. Das ist kein Beweis! Nur dafür, daß dir alles da drüben gleichgültig ist . . . Deine Frau und dein Kind rufen dich! . . . Du hörst sie nicht! Du liebst sie nicht! Du liebst nur deine Soldaten hier! . . . Wenn du die hast, bist du hier mutterseelenallein in dem elenden Raum glücklicher als drüben mit mir und . . . Gut . . . ich lasse dich deinen Soldaten! . . . Oh . . . wär' ich doch nicht gereist! . . . Mother hatte mich gewarnt. Deswegen ist sie mit. Die kennt dich besser als ich. Weil sie dich nicht so liebt wie ich! Mich macht die Liebe blind. Und schwach! . . . Aber jetzt hab' ich es hinter mir! . . . Farewell!«

Sie wollte hastig in ihren Pelz fahren. Er verhinderte sie. Er legte seinen starken Arm um sie. Er preßte sie an sich.

»Du bleibst!«

»Nein! . . . Ich hab' hier nichts zu suchen! . . . Ich bin so gedemütigt! . . . Ich will zu mother ins Hotel!«

»Zum Kuckuck! – Laß die mother! . . . Die findet sich dort schon zurecht. Die ist nicht so . . .«

»Am Weihnachtsabend, Hellie . . .«

»Hier ist auch Weihnachten! . . . Du bist mein Christkind! . . . Was streiten wir uns um morgen? . . . Jetzt bist du da . . . du bist vom Himmel zu mir heruntergeschneit . . . du bleibst bei mir . . . Da halt' ich dich . . . Morgen besuchen wir mother zusammen . . .«

»Oh Hellie . . . Sie erwartet mich!«

»Ich schicke ihr den Burschen mit einem Zettel, du wärst hier . . . bei deinem Mann . . . wo sonst? . . . Herrgott . . . was denkt sich denn die Alte eigentlich?«

Sie rang die Hände.

»Hellie . . . du sagst: ›Die Alte‹!«

»Ist ja ganz egal!« Er hielt sie umfangen. Er bedeckte ihr Gesicht, ihr blondes Haar mit Küssen. Sie fing wieder an zu weinen, den Kopf an seiner Brust. Er fühlte ihre Schwäche. Aber plötzlich machte sie sich frei, trat einen Schritt zurück und wiederholte verzweiflungsvoll: »Du liebst mich ja nicht!«

»Wie oft sagst du es denn noch und weißt es selber zehnmal besser, Edith!«

»Morgen oder übermorgen schickst du mich ja doch allein nach England zurück! . . . Ich seh' es dir an! . . . Alle lachen mich aus! . . . So hab' ich die Reise nicht gewollt. Hellie! Wenn dir nichts daran liegt, immer mit mir zusammen zu sein, dann auch nicht die kurze Zeit. Ich gehe zu mother!«

Nun war sie glücklich in den Pelz geschlüpft. Sie knüpfte sich mit zitternden Fingern den Schleier um. All die Enttäuschung und Kränkung, die sie empfinden mochte, zeigte sich nach außen nur in den Fältchen leidenschaftlichen Trotzes um Stirne und Mund. Sie warf den Kopf in den Nacken und ging nach der Türe. Er folgte ihr.

»Wohin willst du denn nur um Gottes willen bei dem Hundewetter, Edith!« sagte er. »Du kommst ja gar nicht weiter! Du bleibst ja im Schnee stecken!«

Sie legte die Hand auf die Klinke, mit einer verächtlichen Schulterbewegung ihrer sportgeschmeidigen Gestalt, die hieß: Ich arbeite mich schon durch . . . wenn ich was will! . . . Ich bin zäh! . . . Er kannte sie. Er wußte: Nun war ihr Eigensinn unbeugsam! . . . Jede weitere Zurede verstärkte ihn vorläufig nur. Auch er fühlte sein Blut in den Adern hämmern. Er suchte nach einem Ausweg, um sie und sich zu beruhigen. Er stellte sich neben sie an die Türe und faßte ihre Hand.

»Ich könnte dich ja mit Gewalt hindern, da in Nacht und Nebel hinauszulaufen, Edith!«

Sie fuhr auf.

»Das will ich doch sehen!«

»Eben! Du machst mir dann solche Geschichten! . . . Ich weiß. Wir wollen vernünftig sein . . .« Er unterbrach sich. »Ich bitt' dich nochmals von Herzen . . . komm, zieh deinen Pelz wieder aus . . . bleib hier!«

Aber seine Weigerung, ihr den Willen zu tun, hatte sie versteinert. Sie beharrte, gleichgültig an ihm vorbeischauend: »Ich will zu mother!«

Er konnte sich nicht täuschen: Jetzt ging sie! Ob mit oder ohne ihn! Er bebte bei dem Gedanken, sie diesen Abend wieder zu verlieren. Er sagte leise und liebevoll: »Also gut . . . In Gottes Namen, Edith: Gehen wir zu deiner Mutter . . . Was machst du denn für Riesenaugen? Ich bringe dich natürlich selber hin . . . Du würdest dich ja auch in den nächsten Gassen hier in der Altstadt im Dunkel und Schnee rettungslos verlaufen! Und wir sagen mother guten Abend und daß wir uns gefunden haben und wünschen ihr ein very happy Christmas und bleiben eine Viertelstunde bei ihr und unterdessen . . . bist du eigentlich je im Schlitten gefahren, Edith?«

»Ich glaube nicht, Hellie! Warum?«

»Also unterdessen spannen sie unten im Hotel einen kleinen Schlitten an, ich setze dich hinein, wickle dich warm ein und fahre dich wieder hierher nach Hause. Morgen ist auch noch ein Tag! Da sind wir ruhiger. Da können wir über vieles reden, Edith! Was meinst du?«

Sie antwortete nicht. Sie fing wieder an zu weinen. Es war ihm auch genug. Es war Zustimmung. Er war froh. Ihre Hand tastete nach der Türe. Er machte sie auf und geleitete Edith vorsichtig die dunkle Hühnertreppe hinunter und stieß das Haustor auf. Draußen stiebte der Schnee in weißen Strähnen. Die Laternen flackerten unstet. Der Wind heulte durch die menschenleeren Straßen. Er blieb stehen.

»So, Edith! . . . Nun haben wir genug von dem Anblick genossen! Nun kehren wir wieder um!«

Sie nahm ihren Rock auf, senkte eigenwillig den Kopf gegen den Wind und stiefelte mit ihren langen, die Zähigkeit der Britin widerspiegelnden Schritten rücksichtslos durch die weißen Massen am Boden. Er hielt sich mit hochgeklapptem Mantelkragen neben ihr. Er stützte sie und redete wieder in der Einsamkeit der Christnacht auf sie ein.

»Du mußt Mitleid mit mir haben, Edith! Nicht nur heute wieder zu mir kommen . . . Immer . . . Und Klein-Mary mitbringen . . . Ich bin ja hier so verlassen! . . . Verlassener als je als Junggeselle! Damals, an der Bergstraße, war ich doch in meiner Heimat, die ich von Kind an auf Schritt und Tritt kannte, hatte meine Mutter in der Nähe . . . meinen Bruder . . . Hier aber«

Ein Windstoß pfiff wütend um die Straßenecke, packte sie, schüttelte sie, daß sie taumelten. Er fuhr atemlos fort: »Hier bin ich ganz in der Fremde . . . Hab' keine Menschenseele, die einem von früher her . . . Herrgott . . . man kriegt den ganzen Mund voll Schneeflocken . . .«

Er half ihr quer über den verschneiten Fahrdamm und zog sie dabei noch enger an sich.

»Zu zweit ist einem das alles gleich! . . . Wenn man sich nur hat . . . nicht wahr? . . . mag's dann draußen stürmen und heulen . . .«

Die junge Frau blieb erschöpft stehen. Um sie war nur das Schwarz der Nacht, das Weiß des Schnees. Ihre Stimme kämpfte mit einem Ausbruch verzweifelten Abscheus.

»Das ist ein furchtbares Land! . . . Ich wage nicht zu weinen, sonst frieren mir die Tränen am Schleier fest. Ich hatte gehofft, so wäre es auf der Welt nur in Sibirien! Wie können hier nur Menschen leben?«

»Wir werden das Kunststück schon fertig bringen!«

Sie ging weiter und schauerte trotz des Pelzes in sich zusammen. Ihre Zähne klapperten vor Frost. Es machte ihre Worte undeutlich und doch klangen sie bestimmt genug.

»Nie werde ich hier leben, Hellie – nie! . . .«

Nach einer Weile setzte sie halberstickt hinzu: »Daß du das hier erträgst, Hellie – und, wie du selbst sagst, Einsamkeit und Armut dazu – das macht mir erst recht die Augen auf! Das zeigt mir, daß ich in deinem Leben weniger bin als ein Nichts!«

Sie hörte auf nichts mehr, was er ihr sagte, sondern eilte, so rasch sie vermochte, weiter. Das Blut stieg ihm bei der Vergeblichkeit seiner Worte wieder zu Kopf. In einer wilden und gereizten Stimmung erreichte er mit seiner Frau das weihnachtlich verödete Gasthaus und das Zimmer ihrer Mutter. Und er konnte sich nicht helfen: Als er dort eintrat und Mrs. Wildings lange, beängstigend hagere Gestalt steif aufrecht vor einer Tafel mit Tee, geröstetem Brot und Ham and Eggs sitzen sah, als sie ihre ausdruckslos kühlen Augen auf ihn richtete, und mit einem frostigen, mißbilligenden Lächeln ihre großen, weißen Schneidezähne zeigte, da war es ihm, als throne hinter dieser Tafel nicht eine einzelne, ihm mißgünstige Lady, sondern Albion selber – dies Albion, dem seine Frau zur Hälfte entstammte, und das sie ihm ganz nahm. Aber er hielt an sich. Er begrüßte die Schwiegermutter und begann unbefangen auf englisch: »Sie kennen ja Ediths Dickkopf! Sie bestand darauf, Ihnen heute noch Gute Nacht zu sagen! Hätte ich nicht gewollt, so wäre sie allein drauf los marschiert. Da bin ich in Gottes Namen mit! . . . Ich hoffe, Sie befinden sich wohl!«

»Ich danke Ihnen! Bitte, nehmen Sie Platz! Ich hoffe ernstlich, daß auch Sie sich jetzt auf einem besseren Wege befinden, lieber Schwiegersohn!«

Helmut Merker setzte sich. Der gletscherhafte Hochmut der alten Dame stimmte ihn in seiner Aufgeregtheit fast zum Lachen.

»Ich kann nicht klagen!« erwiderte er. »Meine Vorgesetzten sind mit mir zufrieden. Von Neujahr ab bekomme ich die Führung einer Compagnie.«

Ein eisig-verweisender Blick traf ihn von drüben. Eine Welt englischer Anmaßung lag darin.

»Sie wissen so gut wie ich, daß es nicht auf Ihre militärischen Exerzitien hier ankommt, sondern auf die Stellung meiner Tochter in unseren Kreisen in England. Diese Stellung ist durch Ihre Schuld in besorgniserregender Weise bedroht. Edith ist seit Monaten eine Frau ohne Mann! . . . Ich brauche Ihnen nicht erst zu sagen, wie darüber in der Gesellschaft geurteilt wird. Zu Ihren Ungunsten! Es ist höchste Zeit und Sie sollten ängstlich sein, sich in den Augen der Gesellschaft zu rehabili . . .«

Helmut Merker setzte sich in seinem Stuhl zurecht.

»Ihre Gesellschaft drüben, verehrte Schwiegermama,« meinte er unumwunden, »ist ein Haufen Müßiggänger. Gestatten Sie, daß ich, wenn auch in englischer Sprache, einmal auf deutsch rede! Eine Anzahl Arbeitsfeinde beiderlei Geschlechts, die sich ihren Tag in der denkbar leersten und langweiligsten Art um die Ohren schlagen!«

»Mr. Merker!«

»Es ist ein bejammernswertes Schauspiel für ernsthafte Menschen! Und je älter die Leutchen sind, desto peinlicher wirkt ihre blinde Vergnügungssucht. Na – wenn es ihnen Spaß macht, meinetwegen! Mich geht's nichts an! Ich bin Gott sei Dank ein Deutscher! . . . Aber mitmachen tu' ich da nicht mehr! Und meine Frau ist auch nicht mehr so oberflächlich, sich das zu wünschen! Nicht wahr, Edith?«

Die junge Frau antwortete nicht. Sie war blaß vor Schrecken über diese herausfordernde Sprache geworden. Ihre Mutter richtete sich noch steifer in ihrem Stuhl auf. Die gekränkte Würde Albions schaute kalt aus ihren Augen.

»Ich bin erstaunt, Sie zu hören, Mr. Merker! Ich erwartete ernstlich, daß Sie Reue über Ihr Verhalten an den Tag legen würden . . .«

»Das kann ich nicht, Schwiegermama! Jeder tut, was er muß!«

»Einem Gentleman sind die Gesetze seines Handelns vorgeschrieben! Und Ihre Handlungsweise, Mr. Merker . . .«

»Ob ich bei Ihnen drüben Beifall oder Mißfallen ernte, Schwiegermama, berührt mich gar nicht. Ich hab' euch früher viel zu sehr bewundert. Davon bin ich genesen, bis auf einen gesunden Rest. Ich bin ein Deutscher! Und meine Frau ist es durch ihre Heirat auch. Und ich will von euch nichts anderes, als daß ihr sie nicht hindert, zu mir nach Deutschland zu kommen . . .«

Er warf Edith einen Blick zu. Er wollte sie ermutigen. Er hoffte, sie würde ihm beistehen, wenigstens irgendein Wort sagen. Aber sie öffnete nicht den Mund. Sie saß trotzig und verbittert da, die Hände im Schoß. Das machte ihn ganz wütend: »An sich ist die Edith ein tapferer kleiner Kerl! Die wäre längst bei mir und mit mir, ohne euch! Ihr habt sie so verdreht erzogen, daß sie glaubt, Arbeit wär' eine Sünde, und sich vor dem Leben fürchtet . . .«

»Nichts kann schimpflicher sein, als was Sie da sagen, Mr. Merker!«

Er lachte grimmig auf. Der entrüstet verweisende Blick der alten Lady rief in ihm das wach, was er schon früher unter den Engländern als das eigentümlich Altjüngferliche, Tantenhafte, Verstaubte in diesem so männlichen Volke empfunden hatte. Diese kühle Selbstgerechtigkeit brachte ihn ganz in Harnisch. Er schrie: »Gebt mir meine Frau! . . . Himmelherrgottdonnerwetter . . . Gebt mir meine Frau und laßt mich ungeschoren! Ich will ja gar nichts von euch! Edith . . . komm . . .«

Edith Merker stand langsam auf. Sie war sehr blaß. Ihre Lippen zitterten. Sie sprach nicht. Sie rührte sich auch nicht weiter. Es war, als wisse sie selber nicht, was sie tun solle. Ihre Mutter warf einen prüfenden Blick nach dem Teekessel, füllte ihre Tasse, tat Zucker und Milch dazu und frug dabei ganz beiläufig: »Und wovon wollen Sie hier Frau und Kind ernähren? . . . Mr. Wilding ist nicht in der Lage, Sie hier zu unterstützen! Selbst wenn er wollte, könnte er es in der gegenwärtigen Handelskonjunktur nicht!«

Er biß sich auf die Lippen und schwieg. Da war das Verhängnis wieder. Er war gefangen. Die alte Lady fuhr unerbittlich fort: »Wie Sie es über sich bringen können, eine an englischen Komfort gewöhnte Dame hier erfrieren und verhungern zu lassen und dabei noch von Liebe zu sprechen . . . Das ist dann eine wahrhaft teutonische Art, zu lieben! Dafür fehlt mir das Verständnis, Mr. Merker!«

Jetzt entschloß sich auch Edith, noch einmal zu sprechen.

»Wenn es sein müßte,« sagte sie mit erstickter Stimme, ». . . wenn eine große Not hinter uns stände, dann ginge ich mit dir bis ans Ende der Welt! . . . Aber weil es dir Spaß macht, ein paar Leuten ›Gewehr über!‹ und ›Gewehr ab!‹ zu kommandieren und wieder solch einen Rock mit blanken Knöpfen zu tragen, den du vor ein paar Jahren so gern ausgezogen hast, deswegen sollen wir uns hier in Schnee und Eis begraben und sollen die schönsten Jahre unseres Lebens bei Wasser und Brot an diesem trostlosen Platz vertrauern, wo wir es so viel besser haben können als tausend andere! Das ist eine Marotte von dir! Das zeigt, daß du mich einer Laune opferst! . . . So leicht opfert man nur, was einem nicht viel wert ist! . . . Ich bin also wenig in deinem Leben! Ich geh' nebenbei mit! Du liebst mich nicht! Ich hab's schon lange gewußt . . .«

»Edith . . . du und deine Mutter . . . ihr macht mich noch verrückt! Wenn ich dir nur in dein englisches Denken hinein begreiflich machen könnte, was ich hier . . .«

»Drüben bin ich, Hellie! . . . Drüben ist dein Kind! . . . Drüben ist dein Haus! Drüben wartet alles auf dich! . . . Und hier ist nichts als eine Bettlerwohnung und ein schmutziger polnischer Soldat! . . . Und da schwankst du noch . . .«

»Ich schwanke nicht! Ich muß hier bleiben, Edith!«

Sie schrie auf und warf sich laut aufschluchzend in die Sofaecke.

»Hast du's gehört, mother! Das ist seine Antwort! So demütigt er mich! So stößt er mich zurück, wenn ich mich ihm nähere! . . . Ach . . . Wenn du mich liebtest, würdest du nicht so sprechen! . . . Du hast ganz recht gehabt, mother? . . . Er liebt mich nicht mehr!«

»Komm jetzt, Edith! . . . Wir wollen gehen!«

Sie stieß leidenschaftlich seine Hand zurück.

»Nein. Ich geh' nicht mit dir! Du liebst mich nicht!«

»Edith!«

»Ich bleibe hier bei mother!«

Er stand stumm, vor Zorn zitternd, vor den beiden Frauen. Mrs. Wilding sah ihm über den lampenerhellten Tisch hinüber gleichgültig streng wie eine grauhaarige Parze ins Gesicht. Er konnte den Blick dieser Fischaugen nicht mehr ertragen. Es zuckte ihm bis in die Fingerspitzen. Er hatte das Gefühl: Wenn ich hier noch lange bleibe und rede, gibt es ein Unglück! Hilflose Wut übermannte ihn. Na also gut denn! Mochten sie für heute ihren Willen haben . . .

»Wir sprechen morgen weiter, Edith!« sagte er mühsam. »Und unter vier Augen! Gute Nacht!«

Er stürmte aus dem Zimmer. Er lief draußen wie ein Sinnloser, Tränen in den Augen, durch Nacht und Schnee in der Heiligabendstille der Stadt umher. Und erst nach langen Stunden nach Hause. Übernächtig, mit blauen Schatten unter den Lidern, hielt er am nächsten Morgen den Kirchgangappell ab. Dann war er dienstfrei. Er eilte vom Kasernenhof nach dem Hotel und frug nach Frau Leutnant Merker. Der Portier sah ihn erstaunt an. Die beiden Damen waren schon vor Stunden abgereist, mit dem ersten Frühzug, der noch halb in der Nacht hier durchging. Wußten denn das der Herr Leutnant nicht?

Helmut Merker drehte sich stumm um und ging langsam, vor sich auf den Boden schauend, wie ein Nachtwandler in seine Wohnung. Dort lag auf dem Tisch ein in seiner Abwesenheit abgegebener Brief. Von Ediths Hand.

»Ich habe das Meine getan. Wirklich das Äußerste. Trotzdem will ich noch mehr tun. Ich bin heute abend mit mother in Berlin. In dem Hotel, in dem wir, du und ich, auf unserer Autotour damals auch gewohnt haben. Dort will ich noch vierundzwanzig Stunden auf dich warten! Bitte, bitte, Hellie: Finde den Weg zu mir und zu meinem Herzen!«

Die gestrigen Worte des Compagniechefs klangen dem Leutnant im Ohr: »Warum nehmen Sie eigentlich keinen Weihnachtsurlaub nach England, lieber Merker? Sie kriegen ihn gleich!« . . . Auch jetzt noch. Das wußte er. Er brauchte nur seinen Dienstanzug anzulegen und zum Hauptmann zu gehen, zum Major, zum Oberst. Jetzt, am Feiertagmorgen, traf er die Herren alle zu Hause. In einer Stunde war's getan. Er konnte leicht noch packen und den Mittagsschnellzug benützen. Dann war er gegen Mitternacht in Berlin. Fand seine Frau noch wach und seiner harrend, wenn er ihr rechtzeitig telegraphierte.

Der Bursche war in der Kirche. Er öffnete selbst, immer noch halb geistesabwesend, den Schrank, nahm den Waffenrock heraus, zog ihn an, holte den Helm aus der Schachtel, setzte ihn auf – warf einen prüfenden Blick in den Spiegel – so – jetzt konnte er gehen . . . Wohin? . . . Seine Füße rührten sich nicht von der Stelle. Er stand . . . Er sah grade vor sich hin . . . Seine Lippen bewegten sich. Er sagte sich laut, was er dachte: Wenn sie dich in Berlin haben, haben sie dich auch schon halb in London. Dann ist kein Halten mehr. Dann widerstehst du nicht langer. Du liebst ja deine Frau viel zu sehr! . . . Viel mehr, als sie weiß! Es ist der Anfang vom Ende! Hüte dich vor deiner schwachen Stunde . . .

Nein! . . .

Er nahm die Pickelhaube wieder vom Kopf. Er verpackte sie. Er vertauschte den Waffenrock mit der Litewka. Diese gleichgültigen Handgriffe waren ein Gleichnis: Ich bleibe fest! Ich bleibe hier. Ich bleibe deutsch! . . .

Er stand am Fenster und schaute auf die beschneiten, weißfunkelnden Dächer hinaus. Seine Seele war nicht so hart wie sein Wille. Die weinte. Und wußte doch in sich den Trost: Es ist zu unser beider Bestem! . . . Nur so werden wir gewiß einmal eins. So wahr die Sonne drüben am Morgenhimmel steht, so sicher betritt meine Frau den Weg, der zu mir führt. Wann es geschehen wird, wie – ich weiß es nicht! Ich fühle nur: Ich tue vor mir und meinem Gewissen das Richtige. Gott mag es lenken!



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