Rudolph Stratz
Seine englische Frau
Rudolph Stratz

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13

Das war so lange her . . . so lange . . . damals war man jung . . . jetzt war man alt . . . Es lag ein Schleier davor . . . vierzig Jahre und mehr . . . da verschwamm die Wirklichkeit . . . Nur ferne, unbestimmte Bilder standen noch vor den müden Augen . . . Ein Winter der Aufregung in Frankfurt am Main. Auf den Bällen der Senatoren und Patrizier alles voll von österreichischen Offizieren. Die Sektkelche hoch: ›Nieder mit den Preußen!‹ Und dann waren die Weißröcke eines Tages weg. In endlosem Schwall, schweren Gleichschrittes, mit dem Schrillen der Querpfeifen durch den Trommelwirbel, walzten sich die Pickelhauben über die Zeil. Und dort von oben läuteten Liebfrauenkirche und Paulskirche und Römer das Ende der Freien Reichsstadt ein. Und wieder ein Jahr später lag Stroh vor dem alten Patrizierhaus am Roßmarkt, unweit dem Goethehaus. Die Möbelwagen standen gepackt. Der alte Wilding, ein Witwer, schüttelte mit seinem siebzehnjährigen Sohn den Staub der Heimat von den Füßen. England kam . . . England . . .

Anderthalb Menschenalter England. Das war das eigentliche Leben gewesen. Das davor ein Kinder- und Knabentraum in Alt-Frankfurts, winkeligen Gassen, an den Ufern des breiten Mains. John Wilding fand in dieser Nacht in der Schiffskabine keinen Schlaf. Er dachte an seine Jugenderinnerungen aus Deutschland. Das war wie eine weite friedliche Wiese, stille Bauernhöfe, verschnörkelte Städtchen, Glöckchengebimmel von der Dorfkirche, auf jeder dritten Station, wenn man mit der Bahn fuhr, ein neuer Bundesstaat – neue Uniformen – neues Geld: Hier an Frankfurt anstoßend die Landgrafschaft Hessen-Homburg, dort das Herzogtum Nassau, drüben das Kurfürstentum Hessen-Kassel und weiter nach Norden, in der Richtung gegen England, selbst halb englisch, das Königreich Hannover. Sein Verstand sagte ihm ja: das alles war, als er Deutschland verließ, schon ein Jahr lang von der Tafel der Wirklichkeit weggewischt. Aber er schaute es noch vor sich, weil sich keine neueren Bilder dazwischen drängten, schaute das Deutschland von damals, den Deutschen Bund in der Eschenheimer Gasse, zu der er oft noch als kleiner Junge hatte bedächtig und riesig den preußischen Gesandten, den Herrn von Bismarck-Schönhausen, schreiten sehen, schaute alles altfränkisch, zopfig, ärmlich, verglichen mit dem Mastengewimmel der weltumspannenden englischen Häfen, dem Tosen und Brausen der City.

Als er morgens, von Blissingen kommend, die deutsche Grenze hinter sich hatte, lag dicker Frühnebel über der Welt. Allmählich lichtete sich der zu beiden Seiten der Bahn oder vielmehr, er ging in der Ferne aus dem Weißen in das Graue und Schwarze über, den Qualm der Schlote, der, so weit das Auge reichte, den Himmel färbte. In Wäldern ragten die Schornsteine. Wie kleine Städte dehnten sich die Fabriken und Hochöfen zwischen den Schlackenhügeln, in hundertachsigen Wagenreihen standen die Kohlentransporte auf den Geleisen, glitten die Kähne auf den Kanälen, keuchten die langen Schleppzüge auf dem Rhein. Die Industrieorte folgten sich so rasch, daß sie beinahe ineinander übergingen. Jeder ihrer Bahnhöfe war mit seinen Dutzenden von Schienensträngen, seinen Güterschuppen, seinem Gewühl des Verkehrs größer als der einer englischen Mittelstadt. Wo man im Vorbeifliegen von den Brückenüberführungen auf die Straßen niederblickte, wimmelte unten schwärzlich, tausendfach, ameisenartig das Volk der Arbeit. Der Charakter des D-Zugs selber änderte sich. Es fuhren jetzt fast keine Frauen mehr mit. Lauter Männer. Sie standen bis in die Gänge hinein. Geschäftsreisende, Direktoren, Rechtsanwälte der Aktiengesellschaften mit ihren Mappen. Ihr Gespräch drehte sich um das Geld – nur um das Geld. Man hörte es von überall. Ihre Mienen waren energisch und kühl. Sie stiegen ein und stiegen aus. Es nahm kein Ende. Und immer neue Schornsteine, neue Fabriken. Es war wie in Lancashire. John Wilding saß still da, beklommen. Er hatte Lust, sich die Augen zu reiben, ihm war, als träumte er das. Eine neue Welt tauchte da vor ihm auf. Das Gefühl einer ungeheuren Wandlung überkam ihn – einer Wandlung, von der er bisher wohl viel gehört, aber doch nichts Rechtes gewußt hatte. So hatte er sich das nicht vorgestellt. Ein paar Stunden lang, im Tal des Rheins – ja – da war noch das alte Deutschland – das Land der Romantik, das die Fremden liebten, mit grauen Burgen am Hang, rebenumsponnenen Häusern, traulichen mittelalterlichen Nestern von Städtchen. Aber als der Zug sich jetzt im Abendgrauen Frankfurt näherte, entfaltete sich wieder wie zuvor das düster-gewaltige Bild des zwanzigsten Jahrhunderts, das Reich des Dampfes und des elektrischen Funkens – die Arbeiterstädte mit ihren noch ganz neuen Ziegeldächern, das Glühen der Hochöfen durch die Dämmerung, die Säulen der Schornsteine – die ganze Stadt Höchst da vorn war von ihnen überschattet. Eine Fabrik neben der anderen. Ein Gewühl. John Wilding hatte in diesen wenigen Stunden mehr erfahren als in manchen Jahren seines Lebens. Die bisherige Welt verschob sich vor seinem Blick. Er sagte sich: Nein. Das ist nicht englisch. Das ist Amerika . . .

Der Wagen hielt in der riesigen Frankfurter Bahnhofshalle. Der alte Citymann machte wieder große Augen. Dies Wirren und Wimmeln von Menschenmassen, dies Aus- und Einrollen der von allen Weltrichtungen hier in die Kopfstation einmündenden Züge, dies Sausen und Hasten der elektrischen Straßenbahnen vor dem Ausgangsportal war ihm neu. Überall ein Hasten – die Uhr in der Hand – time is money – das Bild stimmte so gar nicht zu dem, das er in seiner, durch die Jahrzehnte verblaßten Erinnerung mit sich trug. Damals hatte er hier, wo jetzt der Kofferträger sein Gepäck auf den Automobilomnibus lud, als Bube seinen Drachen von den Stoppelfeldern aufsteigen lassen. Da, wo er nun durch den Lärm und die Läden der Kaiserstraße hinrollte, war der Vater, ein ernster, strenger Mann, auf die Hühnerjagd gegangen, wenn er nicht drüben im »Wäldchen« mit den Seinen Erholung von der Kontorarbeit suchte. Dort, an den Taunusanlagen, hatte zu seiner Zeit Frankfurt erst angefangen. Da hatten nebeneinander die kleinen altfränkischen Bahnhöfe gestanden, hellgelbe, geschlossene Mietdroschken davor. Alles noch halb wie in der Postkutschenzeit. Selbst die Zeil, die gute alte Zeil, war kaum noch wiederzuerkennen. Wo war ihre freundliche Ruhe geblieben, ihre Behäbigkeit? Auch hier, im Lichterglanz des Frühlingsabends, schimmernde Schauläden, Massen von Menschen – der Kaufherr war verwirrt und verwundert, als er sich in seinem Hotelzimmer allein fand. Er wußte nicht mehr, war dies Frankfurt seiner Jugend ein Traum oder das, das er jetzt mit grauen Haaren wiedersah. An die Wirklichkeit der beiden Städte, an die Wandlung der einen in die andere vermochte er nicht zu glauben. Und doch sagte er sich: Stammte ich aus Düsseldorf oder Köln oder Mannheim und würde jetzt nach anderthalb Menschenaltern meine Heimat wieder betreten, so würde es mir ebenso ergehen. Überall in Deutschland ist das gleiche Blühen und Wachsen. Überall werden sie reich. Man sieht es.

Er suchte im Adreßbuch den Namen seines Vetters und schüttelte den Kopf über dessen viele Titel und Würden: Geheimer Kommerzienrat, Generalkonsul, Dr. ing. hon. c. . . . Auch der hatte hier eine andere Stellung, als sich John Wilding gedacht. Er mußte einer der ersten Männer der Stadt sein, das Leopoldche, mit dem er sich als zehnjähriger Bub im Hause ihres gemeinsamen Großvaters, des Herrn Senators, herumgebalgt. Alles war hier gewachsen, hatte sich ins Unwahrscheinliche vergrößert. John Wilding fühlte sich gedrückt, in all seiner kühlen englischen Respektabilität. Es war um ihn das Wehen eines neuen Geistes. Er war zu alt. Er hatte Angst davor. Und vor sich selber. Und vor der Zukunft. Er setzte sich hin und schrieb. Er hätte es gern herzlicher gestaltet. Aber britische Trockenheit und Zurückhaltung ließen das nicht zu.

»Lieber Vetter Leopold!

Ernste Geschäftsangelegenheiten, über die ich auch mit Dir sprechen wollte, führen mich zum erstenmal seit vierzig und mehr Jahren wieder in meine Vaterstadt. Ich denke daran, daß wir als Knaben miteinander gespielt haben, und nichts kann mir angenehmer sein als die Erinnerung daran, wie freundlich Du meine Tochter Edith während ihres kurzen deutschen Aufenthalts in der Garnison Alsheim bei Dir aufgenommen hast. Ich wäre wahrhaft erfreut, Dir dafür die Hand drücken zu dürfen. Hoffentlich geht es Dir und Mrs. von Wilding gut. Ich bitte, mich ihr zu empfehlen. Ich bin Dein gehorsamer Diener und Vetter

John Wilding.«

Er merkte bei der Abfassung der Zeilen, wie schwer ihm das Deutsch-Schreiben doch schon fiel. Mit dem Deutsch-Reden ging es noch ohne Not. Aber der Weg durch die Feder führte ihn vollständig in eine fremde Sprache hinein. Das war ihm eine plötzliche Last auf dem Herzen, hier, wo deutsche Luft und deutsches Wesen ihn umgab. Er sandte den Brief durch einen Boten, der auf Antwort warten sollte, nach dem nahen Hause des Vetters, nahm, von innerer Unruhe getrieben, seinen Hut und ging wieder auf die Straßen hinaus, ein kleiner, unscheinbarer Herr, der sich im Menschengewühl der Bürgersteige wie ein Tropfen Wasser in den Wellen verlor. Er stand trübe und sinnend vor dem elterlichen Patriziergebäude am Roßmarkt. Es hatte sich nicht viel verändert. Er konnte noch das zweifenstrige Giebelfenster erkennen, wo damals der junge Sohn des Hauses gewohnt, der noch nicht John, sondern Jeanche hieß, und unten im Kontor unter Aufsicht des alten bebrillten Prokuristen, des Herrn Bolzani, der trotz seines Namens ein guter Frankfurter war, in die Geheimnisse der italienischen Buchführung, in Skonto und Valuta, in Delkredere und Rimessen eindrang. Er hörte um sich das trauliche Frankfurter Deutsch, das er seit Jahrzehnten nicht mehr vernommen, er dachte an die Apfelweinkneipen drüben in Sachsenhausen, an die steinalte, blinde Tante Lottchen draußen in der Schönen Aussicht, die noch Goethes Mutter gut gekannt hatte, und deren sich jetzt außer ihm wohl kein Mensch mehr entsann, und immer trüber wurde dem einsamen alten Mann ums Herz – ein sonderbares Bewußtsein: das war der Anfang deines Lebens. Und jetzt ist hier wieder das Ende. Bald ist's so weit. Bald ruft dich der da oben. Bald hast du Hauptbuch und Sorgen hinter dir . . . Und das ist gut so . . . Du kannst es ja doch nicht mehr tragen . . . Es ist zu viel . . .

»Basse Se doch uff!« sagte neben ihm gemütlich ein Mann mit einer Traglast, der ihn angestoßen hatte. John Wilding schaute verwirrt um sich. Wo war er denn? Ach ja . . . richtig . . . Er schloß eine Sekunde die Augen und fuhr wieder mit der Hand über die Stirne, in einer seit Jahren gewohnten Bewegung. Dann ging er zurück nach dem Hotel. Er kümmerte sich nicht um den Weg. Er fand ihn unbewußt. Seine Füße trugen ihn blindlings wie einst als jungen Mann durch die krummen Gassen der Altstadt zur Zeil und zum Ziel.

Vor dem Gasthof stand eine mächtige Stadtlimousine . . . Davor, in tiefem Respekt von einem barhäuptigen Geschäftsführer geleitet, ein breitschulteriger, hochgewachsener Herr mit grauem Vollbart und gebieterisch unter der Zylinderkrempe vorspringendem Profil. Er sprach wie einer, dessen Wort Befehl war: »Also, wenn Mr. Wilding zurückkommt: ich war hier, um ihn zu holen . . .«

»Sehr wohl, Herr Geheimrat!«

». . . und freue mich, wenn er heute abend bei mir ißt!«

»Sehr wohl, Herr Geheimrat! . . . Oh . . . da ist ja der Herr!«

Die beiden Vettern, der große und der kleine, schauten sich einen Augenblick zweifelnd an.

»Leopold?«

»John?«

Dann schüttelten sie sich die Hände und der Generalkonsul von Wilding sagte in seiner kurzen, bestimmten Art: »Na ja: wir sind beide grau geworden! . . . Kein Wunder! . . . Komm mit! Steig ein! . . . Die Suppe wartet!«

»Aber ich muß doch erst den Frack . . .«

»Warum denn? Wir sind unter uns! . . . Du wirst hungrig sein. Ich bin's auch! Ich hab' keine Zeit!«

Das alles kam militärisch, selbstverständlich heraus. Ein ungestümer Wille, der gewohnheitsgemäß jeden Widerspruch und Widerstand mit einer Handbewegung beiseite schob. Leopold von Wilding ließ seinem englischen Vetter den Vortritt in das Automobil und folgte ihm dann. Auf der Straße blieben ein paar gutgekleidete Männer aus dem Volk mit roten Schlipsen stehen und sahen ihn finster an. Sie hatten ihren unversöhnlichsten Gegner erkannt, den Mann, der überall, in der Presse wie in der Volksversammlung, vor den Streikausschüssen wie in den Konferenzzimmern der Bankherren und Großindustriellen der Sozialdemokratie seine eiserne Stirne bot . . .

Jetzt, bei sich zu Hause, war er ein liebenswürdiger, wenn auch ernster Wirt. Sein Wesen stimmte zu dem schweren, unaufdringlichen Luxus, der vom Tor ab durch die Treppenhalle empor alle Räume erfüllte: Reicher, mit seiner lautlosen, glattrasierten Dienerschaft, seinen alten Meistern an den Wänden, seinem wuchtig prunkenden Silber und seinen Treibhausorchideen auf der Tafel konnte auch in England kein Patrizierhaus sein. John Wilding gestand sich auch das mit neuem Staunen. Er hatte die Frankfurter Hauptlinie des Hauses Wilding natürlich als wohlhabend im Gedächtnis. Aber er wußte auch, daß dieser Reichtum seinerzeit bei der Vermögensauseinandersetzung einen schweren Stoß erlitten hatte. Dieser Dunstkreis von Millionen über dem Tisch – das beurteilte er als Kaufmann am besten – war wenig ererbt, das meiste Erwerb, kam nicht von Zinsen alter Zeiten, sondern aus der Tätigkeit des Tages, spiegelte die rastlose Arbeit wider, die er seit heute früh an den Ufern des Rheins in jeder Gestalt verkörpert gesehen. Und wieder sagte er sich: Wo haben wir nur in der City unsere Augen? Wohl fürchten wir die Deutschen. Wohl schimpfen wir auf sie. Aber was sie eigentlich sind – jetzt sind – das wissen wir doch nicht . . .

Von Geschäften wurde natürlich bei Tisch noch nicht gesprochen. Es waren außer dem Geheimen Kommerzienrat von Wilding nur noch seine Frau, auch aus Alt-Frankfurter Senatorengeschlecht, und sein Sohn, der einstige Oxforder Cecil-Rhodes-Stipendiat, anwesend, der nun in Berlin im Staatsdienst stand. Der Hausherr ergänzte in einer Pause des Gesprächs das, was John Wilding sich im stillen dachte: ». . . Ja! Uns geht's gut, Vetter John!« sagte er. »Zu gut!«

»Wieso zu gut?«

»Wegen euch! . . . Ihr verstopft uns die Ventile! Unser Deutschland von heute ist wie ein mächtig arbeitender Dampfkessel, geladen mit Expansionskraft, die nach außen drängt . . . drängen muß . . . nach einem Naturgesetz. Aber wo immer auch aufgespeicherter Wille nach einem Ausgang sucht, da steht ihr schon und versperrt ihm den Weg! . . . Wenn du heimkommst, John, dann sag deinen Cityleuten einen Gruß von mir, und das Manometer in Germany stände auf 99! . . . Wenn wir in die Luft fliegen . . . wir sind euer bester Kunde! . . . Wir nehmen euch mit auf die Reise und das ganze alte Europa dazu . . . Zum Gaudium der Yankees und Japs . . .«

Er hob die Tafel auf, brannte sich eine Zigarre an und sagte zwischen den Zähnen halblaut und gleichgültig, aber dabei der ganze Mann eine einzige stählerne Tatkraft: »Und dann fangen wir von vorne an!«

Er ging zur Türe.

»Aber nun genug davon! ›Ein garstig Lied, pfui – ein politisch' Lied!‹ sagt unser großer Hiesiger, Goethe . . . Zu solchen Klubdebatten bist du ja auch wohl nicht nach Deutschland gekommen, John?«

Der alte Citymann schüttelte gedrückt den Kopf. Er folgte dem anderen in das Rauchzimmer.

»Nein. Ich hab' mich nie viel mit Politik befaßt!«

»Auch drüben nicht?«

»Nein!«

»Ich dachte, das müßte jeder waschechte Brite . . .«

»Ich hatte zu tun!« sagte John Wilding. »Und was die Waschechtheit betrifft – anfangs war ich doch eigentlich Deutscher . . . galt wenigstens halb dafür . . . und wie sich das dann im Lauf der Jahre verlor und ich eine Engländerin zur Frau hatte, ja . . . Man spinnt sich dann so ein im Geschäft! Man schaut nicht mehr über das Kontor hinaus! Das weißt du ja auch! . . .«

»Nee – das weiß ich gar nicht, mein Liebster!« sprach der Geheimrat von Wilding entschieden. »Mich findest du überall! Ich bin in Deutschland bekannt wie ein bunter Hund! Besonders bei der roten Rotte Korah! . . . Wenn die könnten, die hängten mich noch heute nacht mit Wonne! Macht mir Spaß! . . . Ohne Feinde wär' es mir langweilig auf der Welt . . . Wenn sie mich mal begraben, na – das allgemeine ›Uff!‹ hört' ich gerne . . .« Er lenkte ab. »Na . . . verdienst du wenigstens grob, Vetter John?« frug er in versöhnlicherem Ton und streifte dabei die Asche von seiner Havanna. »Geht das südamerikanische Geschäft?«

»Danke! Es macht sich! Zur Not! Die goldenen Zeiten sind ja freilich vorbei! Die deutsche Konkurrenz . . .«

John Wilding warf einen unsicheren Blick auf den Sohn des Hauses, der neben ihm in den eben angekommenen Abendzeitungen blätterte. In dessen Gegenwart wollte er nicht recht mit der Sprache heraus. Jetzt schlug der junge Diplomat, halb lachend, halb zornig, mit der Hand auf den Tisch und warf die »Daily Mail« weg.

»Nee – Herrschaften . . . Es geht nicht!« sagte er. »Es geht so nicht weiter! . . . Da wieder: ›Warnung an Deutschland!‹ . . . Als ob wir Schulbuben wären! . . . Die ganze Welt eine große politische Kinderstube und England darin die Gouvernante mit der großen Rute! . . . Verzeih, Onkel! Aber es wird direkt schon lächerlich! . . . Am lächerlichsten freilich ist unsere Geduld!«

John Wilding schwieg. Er wollte keinen Streit. Er hatte anderes im Kopf und auf dem Herzen. Sein Neffe Wolfgang fuhr fort: »Da steht: Übermorgen ist die entscheidende Sitzung im englischen Unterhaus. Anfrage, was Deutschland im Persischen Golf zu suchen habe! Der Minister des Auswärtigen wird antworten! Herrjesus – wir sind dort mit demselben Recht wie andere Christenmenschen auch! Es wird ja nachgerade zu toll!«

Er sah dabei kampflustig seinen britischen Oheim an. Der war, seit er Geld verdiente, seit fast einem halben Jahrhundert, grundsätzlich immer der Meinung der anderen. Er zuckte auch jetzt nur halb bedauernd die Schultern und nickte beistimmend. Es war Unruhe in ihm. Der Geheimrat merkte das.

»Nun könntest du dich allmählich verziehen!« sagte er zu seinem Sohne. . . . »Wenn ich deinen Brief vorhin recht verstanden habe, John, hast du mit mir Geschäftliches zu besprechen? Nicht wahr? . . . Gut! Ich bin bereit!«

Als der junge Mann das Zimmer verlassen hatte, nickte ihm der Finanzgewaltige mit dem mächtigen Graukopf nach und sprach: »Nimm's nicht krumm, Vetter John! . . . Der Junge ist eben ein strammer Deutscher und soll's bleiben, so Gott will! . . . Zum Beispiel . . . nimmst du noch 'ne Zigarre? . . . Hier . . . bitte . . . zum Beispiel . . . wir sprachen bei Tisch von deiner Tochter Edith! . . . Das ist eine allerliebste kleine Frau! Ich hab' mich immer gefreut, wenn sie hier bei uns war, mit ihrem drolligen Englisch-Deutsch! . . . Aber dein Schwiegersohn . . . der Merker . . . offen gesagt: der hat mir gründlich mißfallen . . . siehst du . . . das war einer, den ihr da drüben glücklich bis über die Ohren eingeseift habt . . . äußerlich ein simpler deutscher Infanteriste und innerlich schon halb ein Engländer . . . blasiert . . . arbeitsscheu . . . stolz auf Geld, das er nicht verdient hat, genau so, wie ich meinen Sohn nicht sehen möchte . . .«

»Und nun sitzt er doch seit einem halben Jahr hartnäckig fern von Frau und Kind in seiner schlesischen Garnison . . .«

»Du hast es mir erzählt!« sagte der Geheimrat, »und ich hab' mich gewundert! . . . Aber ich glaub' nicht daran . . . ich meine, daß diese Wandlung bei ihm von Dauer ist! . . . Wem sich die Faulheit mal so in die Knochen gefressen hat . . . immerhin . . . Aber nun genug davon! Zum Geschäft! . . . Also: Ich höre!«

Der alte Citymann holte tief Atem. Es war, als wenn er an etwas würgte. Er zog ein Notizbuch heraus und hielt es in der Hand. Aber er klappte es nicht auf. Er stockte. Endlich begann er unvermittelt: »Dein Sohn hat mir vorhin die Leviten gelesen! . . . Du auch! . . . Ihr meint, man müsse mehr Stellung im Leben nehmen . . . Aber man verdirbt es dadurch mit so vielen . . .«

»Mir ganz wurst!« sagte der Geheime Kommerzienrat und rauchte.

»Nun . . . ich war da anderer Ansicht. Ich habe mich dazu nicht berufen gefühlt. Mr war jeder recht, mit dem ich Geld machen konnte!«

Herr von Wilding zuckte gleichgültig die Achseln. Die ursprüngliche Schroffheit seines Wesens schimmerte nun, wo man sich den Geschäften näherte, hindurch.

»Halte das, wie du willst!« sagte er. »Bei mir, einem Deutschen, brauchst du dich deswegen nicht zu entschuldigen! . . . Du bist doch naturalisierter Engländer!«

»Ja . . . das wohl . . .«

»Was geht das also mich an? Wir wollen jetzt von unseren Angelegenheiten reden, John! Ich hab' nicht so viel Zeit.«

»Eigentlich bin ich ja schon dabei!« Der kleine, gedrückte Citymann rang schwer nach Worten. Er nahm sein Tuch aus der Tasche und trocknete sich die Stirne.

»Ist dir zu heiß? Soll ich das Fenster . . .«

»Nein . . . danke . . . du sagst, ich bin Engländer! . . . Aber wenn ich nun Frankfurt wiedersehe . . . Ich bin doch hier geboren . . . Es war doch meine Heimat . . .«

»Zwei Vaterländer kann der Mensch nicht haben, mein Teuerster!«

»Ich hab' sie doch als junger, unreifer Mensch nicht aus eigenem Entschluß verlassen, sondern weil mein Vater es so wollte . . .«

Der große, graubärtige Mann vor ihm ließ seinen eigentümlich herrischen Blick auf dem Besucher ruhen. Er lächelte sonderbar, während er versetzte: »Dein Heimweh kommt ein bißchen spät, mein guter John!«

»So lange mein Vater lebte . . .«

»Dein Vater ruht seit dreißig Jahren in englischer Erde . . .«

»Aber ich habe ihm versprechen müssen, nicht hierher zurückzukehren!«

»Das mag ja alles sein!« Der Generalkonsul von Wilding war kein Mann von viel Geduld. Aber er hielt an sich. Er meinte nur kühl: »Wollen wir nicht jetzt das Geschäft . . .«

»Und ich hab' doch meine nächsten Blutsverwandten hier?«

»Na . . . hast du dich denn je um uns gekümmert! Auszahlen haben wir euch Londoner müssen und damit war es Schluß!« Der Frankfurter Patrizier lachte. »Sag, Vetter John . . . seit wann bist du denn so sentimental auf deine alten Tage? Oder warst du's heimlich immer? . . . Findet hier keine Gegenliebe! . . . Nee . . . so sind wir nicht! . . . Immer die Beine warm und den Kopf kühl! Nun mach schon endlich dein Notizbuch auf und schieße los! . . . Wenn das Geschäft was taugt, mach' ich es mit dir so gut wie mit jedem andern! Darin bin ich kein Unmensch! . . . Da kenn' ich keine falsche Scheu . . .«

John Wilding blätterte sein Heftchen auf, aber er hielt es krampfhaft fest in der Hand.

»Ja . . . so sehr gut ist das Geschäft für den Anfang nicht,« meinte er stockend, bei jedem Wort mit dem Atem ringend. Der andere riß seine mächtigen, stahlharten und stahlblauen Augen auf.

»Und deswegen kommst du damit zu mir? . . . Danke gehorsamst! . . . Findest wohl in ganz England keinen Dummen dafür und denkst: ›Da ist der deutsche Michel gerade recht!‹ Du! . . . So sind wir nicht mehr . . . nee! . . . nee! . . . Das war einmal, Anno Tobak! . . .« Er lachte herzlich. »›Wir sind Sie nämlich höllisch helle, mein Kutester!‹ . . . wie der Sachse sagt! . . . Da gib dir weiter keine Mühe! . . . Da fangen wir lieber gar nicht erst an!«

»So mein' ich es auch nicht!« Der alte Citymann sah mit einem so verzweifelten Blick auf, daß Herr von Wilding plötzlich ernst wurde und ihn lang und forschend, mit erwachendem Mißtrauen musterte. »So meine ich es wahrhaftig nicht!« wiederholte er fast bittend, unruhig die Hände bewegend, als könnte er damit die stockenden Worte beflügeln. »Das Geschäft geht im allgemeinen bei mir flau, wollt' ich nur sagen! . . . Die Hamburger Konkurrenz hat sich eben in den letzten zehn Jahren derart in Südamerika festgesetzt . . . sie breitet sich immer weiter aus . . . sie arbeitet sozusagen mit Nägeln und Zähnen . . .«

»Ja, denkst du, wir schicken unsere jungen Leute zum Kegelschieben hinüber?«

»Nun hab' ich vielleicht auch einen Fehler begangen, vor ein paar Jahren. Ich habe meinen ersten Prokuristen gehen lassen, weil er unbescheidene Ansprüche stellte . . .«

»Taugte er was?«

»Nie hab' ich einen so tüchtigen Mann gehabt! Er war meine rechte Hand!«

»Herrgott . . . so Leute wickle ich in Watte und stelle sie mir unter eine Glasglocke!« Der Geheimrat zündete sich eine neue Zigarre an. »Kerle, die was taugen! . . . Ich dank' meinem Schöpfer für jeden, den ich find'! . . . Die halt' ich! . . . Die werden was durch mich! Das wissen sie auch überall in Deutschland . . . Wie hieß er denn?«

»Hinrichsen.«

»Der, der jetzt da drüben in Chile alles macht?«

»Ja . . . der . . .«

»Und den hast du laufen lassen?« Herr von Wilding legte erschüttert die breiten, nervigen Hände ineinander. »John! John! John! . . . Ich kenne dich ja nicht mehr, seit ich dich vor fünfzig Jahren drüben beim Großpapa Senator verwichst und dir den Hosenboden zerrissen hab' und dafür am Sonntagnachmittag nicht hab' mit ins Wäldche dürfen . . . Aber ich hätte dich doch für schlauer gehalten!«

»Ja, es ist nun einmal geschehen!« Der kleine, stille Londoner Kaufherr fing plötzlich an, rasch zu reden. Entschlossen . . . mit dem Mut der Verzweiflung. Die Worte überstürzten sich ihm, je weiter er sprach, auf den Lippen. »Und seitdem geht bei mir das Geschäft unaufhaltsam zurück! Und ich bin alt! Und ich bin müde! . . . Und ich bin krank! . . . Und ich kann es nicht mehr übersehen! . . . Und meine Söhne faulenzen und kommen nicht ins Kontor! . . . Und mein Schwiegersohn in Liverpool kommt auch nicht, sondern hat selbst zu tun! Und meine Frau kommt und will Geld! Und meine Töchter kommen und wollen Geld. Und meine Schwiegertochter will Geld! . . . Alle hängen sie an mir wie die Blutegel . . . Und ich mag den Lärm der City nicht mehr hören . . . ich will bloß Ruhe haben . . . schlafen . . . ach Gott . . . ach Gott . . .«

John Wilding versagte die Stimme. Er saß da wie auf der Anklagebank, die Hände zwischen den zusammengepreßten Knieen gefaltet, den Blick starr von dem anderen weg auf einen Punkt am Fußboden gerichtet. Der Geheimrat legte die Zigarre beiseite. Jetzt wurde die Sache ernst. Das tat er nur in großen Augenblicken. Er frug unvermittelt: »Du bist in Geldverlegenheit, John?«

Der alte Mann nickte zwei-, dreimal mit verbittertem Gesicht und seufzte dann schwer auf. Gott sei Dank: nun war es heraus . . .

»Vorübergehend oder . . .?«

»Die Firma leidet seit langem Not an flüssigen Mitteln. Jetzt immer mehr . . . Sie braucht Kapital. Sonst kann sie nicht mehr bestehen!«

»Nun . . . an sich ist dein Haus doch gut!« sagte der Geheime Kommerzienrat ruhig. »Es blüht doch schon seit vierzig Jahren. Ein Wechsel auf Wilding und Kompanie ist doch noch in der City bar Geld?«

»Gott sei Dank ist er's noch!«

»Dann werden dich deine Freunde in der City doch auch stützen!« Herr von Wilding langte wieder nach der noch glimmenden Zigarre, mit einer Bewegung der breiten Schultern, die heißen wollte: Was geht das mich hier in Frankfurt an? »Es liegt doch im eigensten Interesse deines Konzerns, solch eine Krisis eines Millionenhauses zu vermeiden!«

»Ich habe meine Freunde schon um Hilfe gebeten . . .« sagte John Wilding dumpf. Die Worte klangen schwer, eintönig, wie fallende Tropfen. »Meine nächsten Geschäftsfreunde . . . Mr. Mathes . . . Augustus Fleck . . . meinen Schwiegersohn Mac Cornick . . . alle . . . Ich habe meinen Kredit bei ihnen schon überspannt, seit Jahren, um mich zu halten. Ich kann bei ihnen nicht um einen Penny weitergehen. Sonst schöpfen sie Verdacht! Sonst merken sie, wie es eigentlich mit mir steht . . .«

Der Geheimrat von Wilding stand auf und schob seinen Stuhl zurück: »Wie steht es denn?« frug er mit starker Stimme, und in die hinein erklang von drüben, aus dem Munde des sitzengebliebenen alten Citymanns ein ächzender Aufschrei der Not: »Ich arbeite seit Jahren mit Unterbilanz! . . . Ich täusche sie alle . . . alle . . . ich hätte längst meine Bücher schließen müssen . . . Aber jetzt steht mir das Wasser am Hals . . .«

»Das heißt . . .«

»Ich bin bankerott! . . . Ich bin bankerott . . .«

John Wilding saß, nachdem er das gesagt hatte, ganz still, wie geduckt unter dem Schicksal. Er wiederholte nur noch einmal leise: »Ich bin bankerott . . .«

Und dann nach einer Weile: »Für mich hab' ich wenig gebraucht! Aber die Meinen! . . . Die Meinen! . . .«

Und endlich: »In England ist es nicht so wie hier, daß man sich nach der Decke streckt! Da heißt es: ›So lebt man! Und nun das Geld dazu her!‹ Ich hab' es nicht mehr schaffen können. Ich hab' vom Kapital gelebt . . .«

Nun war ein langes Schweigen. Leopold von Wilding ging bedächtig, in seinem wuchtig schütternden Tritt, die Hände nach seiner Art unter den Rockschößen auf dem Rücken verschlungen, in dem Zimmer auf und ab. Er überlegte. Sein strenges, bärtiges Gesicht war steinern von geschäftlicher Ruhe. Er blieb stehen: »Zweierlei ist nur möglich, Vetter John: Entweder deine Firma ist an sich noch gesund, braucht nur zur Sanierung einen Schuß Geld in die Adern . . . Das kommt in den besten Familien vor, solch eine vorübergehende Krisis . . . nun . . . dann eröffne dich deinen Geschäftsfreunden . . . zeige ihnen deine Bücher . . .«

Der kleine alte Herr vor ihm hob sich erschrocken, mühsam aus dem Sessel. Er machte eine abwehrende Handbewegung: »Nein . . . nicht die Bücher!« keuchte er angstvoll. »Nicht die Bücher . . .««

Wieder waren die beiden Männer ein paar Sekunden stumm. Der Frankfurter Handelsherr hob vielsagend die mächtigen Schultern. Dem durchdringenden Blick seiner kalten blauen Augen konnte der andere nicht standhalten, sondern sah scheu zur Seite.

»Steht es so, Vetter John?« sprach er langsam. »Aber Mann Gottes . . . Dann kommst du doch nicht hierher in Geschäften . . . Dann steht doch offenbar eine Riesenschweinerei bei dir in London bevor und es handelt sich nur um Geldopfer von dritter Seite, um die in letzter Stunde zu vertuschen?«

»Ja . . . so ungefähr . . .«

»Und da soll ich . . . ausgerechnet ich . . . sag mal: Wie hast du dir denn das eigentlich gedacht . . .«

»Ich weiß mir doch keinen Rat mehr! . . . Ich bin wie ein Verzweifelter hierher gereist. Es ist doch meine Vaterstadt . . .«

Es war wieder ein Aufstöhnen der Angst. Der Geheimrat von Wilding rauchte in unerschütterlicher Ruhe seine Importe weiter. Er sagte: »So lange deine Geschäfte gut gingen, da warst du ganz fidel ein Engländer! Jetzt, wo Not am Mann ist, fällt es dir plötzlich ein, daß du ein Deutscher bist! . . . Solche Deutsche kenn' ich! Sind aber nicht mein Fall! . . . John . . . John . . . denkst du nicht an das Bibelwort von den Lauen, die da ausgespieen wurden . . .?«

Der kleine Citymann stand fröstelnd, klapperig anzuschauen, mitten im Gemach und rieb sich zitternd die Hände.

»Ich will nicht darauf pochen, daß ich aus Frankfurt bin. Ich hab' mein Leben lang Geschäfte gemacht. Ich bin nicht Deutscher und nicht Engländer. Aber ich bin doch dein Verwandter! Dein richtiger Vetter! Ich führe den gleichen Namen wie du! . . . Das ist meine Hoffnung! Da glaub' ich, ein Recht auf meine Bitte zu haben! . . . Dir geht es ja so gut! Die Summen, mit denen du mich unterstützst, sind ja nicht verloren! Sie können später . . .«

»In faule Sachen steck' ich keinen Groschen!« sagte der Geheimrat kaltblütig. »Und am wenigsten in ausländische! Ich hab' daheim eine bessere Verwendung für mein Geld!«

»Es handelt sich ja auch nicht um eine Kapitalanlage, sondern um eine Unterstützung unter Verwandten! . . . Schau . . . hier in dem Notizbuch hab' ich . . .«

John Wilding öffnete wieder mit zitternden Fingern das Lederheftchen. Sein Vetter winkte ab. Der Diener trat mit einem Tablett mit Biergläsern ein.

»Ich kann mir nicht helfen!« sagte er. »Aber . . . nimmst du wirklich kein Bier, Vetter? . . . Nein? . . . Na . . . dann erlaube, daß ich . . . So, nun gehen Sie, Max! . . . Also: wieder unter vier Augen: nimm es mir nicht übel, aber ich bringe Ausländern gegenüber, die ich seit einem halben Jahrhundert nicht gesehen hab', nicht das Gefühl der Verwandtschaft auf. Da steht mir irgendein blutsfremder Deutscher, mit dem ich mein langes Leben hindurch zu tun gehabt hab' und den ich kenne, wirklich näher . . .«

»Aber es gibt doch Pflichten . . . Wenn man die auch innerlich nicht anerkennt, erfüllen muß man sie doch! Solche Pflichten wählt man sich nicht! Die vererben sich auf einen . . .«

»Mein Lieber . . .« versetzte der Geheime Kommerzienrat von Wilding und stand ragend, die Hände in den Hosentaschen, breitschulterig und breitbeinig vor dem kleinen, wieder in dem Sessel zusammengesunkenen Herrn. »Schau mich mal an: Ich hab' einen starken Buckel! Ich hab' so viel Pflichten auf mich geladen, hier in Deutschland, als ein Mann nur tragen kann! Freiwillig hab' ich's getan. Gern tu' ich's. Dazu bin ich da! . . . Ich hab's dir ja gesagt: Ich bin in Deutschland überall mit an der Spritze! . . . Aber warum ich auch noch dem Ausland gegenüber mir Pflichten aufhalsen soll, das sieht mein beschränkter Untertanenverstand nicht ein!«

»Ich bin doch nicht aus dem Ausland! . . . Sei doch nicht so hart . . . ich bin doch aus Frankfurt!«

Der Geheimrat nahm einen mächtigen Schluck aus seinem Glas und setzte sich dann rittlings auf einen Stuhl, die Arme über der Lehne verschränkt, seinem Gast gegenüber.

»Wir müssen einmal deutsch miteinander reden, Vetter John!« sagte er. »Obwohl ich an sich die großen Worte nicht liebe! Aber manchmal sind sie notwendig. Denk mal zurück . . . fast ein halbes Jahrhundert . . . da waren wir junge Burschen . . . Wir haben beide zusammengestanden auf der Zeil und haben gesehen, wie die Preußen eingerückt sind, Vogel von Falckenstein an der Spitze, und hinter ihm die Division Goeben, und wie sie die Hauptwache besetzt haben, und es war zu Ende . . . Erinnerst du dich?«

»Ja. Dunkel!«

»Dunkel! Eben! Was ist dir das noch? Ihr seid nach England gegangen! Gut! Wir Wildings sind hier geblieben . . . Glaubst du, daß das ein Spaß war, nach 66 . . . John? Sechs Millionen Gulden Kriegsentschädigung . . . in damaliger Zeit . . . und alles vorbei! . . . Unser Frankfurt . . . unser stolzes, altes Frankfurt . . . wo man die Kaiser gekrönt hat . . . wo der Deutsche Bund seinen Sitz hatte . . . nichts mehr als eine simple, preußische Provinzstadt! . . . Ich seh' noch unsern Großvater, den Senator, vor mir, wie der alte Mann in seinem Haus, nur ein paar Schritte von hier, gesessen hat und geweint wie ein Kind . . . und um ihn die anderen alten Herren! . . . Ich weiß noch, wie der Bolzani seinen Kopf durch die Türe gesteckt und geschrieen hat: ›Eben hat sich der Bürgermeister umgebracht! . . . Er hält es nicht mehr aus mit den Preußen!‹ . . . Ich hab's nicht vergessen, wie mein Vater verboten hat, daß je in seinem Hause das Wort Bismarck genannt würde! . . . Ja . . . John . . . Was habt denn ihr von den Zeiten gemerkt?«

John Wilding schwieg.

»Und dann kam Siebzig!« sagte sein Vetter. »Wo warst du da, John?«

»In der City!«

»Na – was mich betrifft, mein Lieber! Ich war mit! Ich hab' mir vor Metz das Eiserne Kreuz und in den Laufgräben den Typhus geholt und war bis zum Friedensschluß wieder gesund und bin mit den Preußen hier eingezogen, den Degen in der Hand – denn ich hatt' es im Krieg bis zum Reserveleutnant gebracht . . . Ihr habt inzwischen drüben Salpeter nach Hamburg importiert und viel Geld gemacht. Tu' ich auch! . . . Vortrefflich! Aber zuweilen muß der Mensch über sich 'raus, guter John . . . 'raus! . . . Sonst taugt er nichts!«

Der graue Citymann schüttelte nur bang den Kopf. Er verstand das alles nicht recht. Es war eine andere Welt, es waren andere Zeiten, als er sie kannte. Herr von Wilding fuhr fort: »Nun war ja alles gut in Deutschland, Vetter John, aber bei uns nicht! . . . Im Geschäft nicht! Da kamen die Gründerjahre. Da kam der Krach. Und unser Haus litt doppelt. Denn wir hatten euch englische Wildings auszahlen müssen. Das Bargeld war knapp. Und mein Vater legte sich hin und starb, und ich mußte als junger Kerl allein den Kopf oben behalten und schauen, wie es weiterging. Das waren Zeiten, wo ich nicht viel geschlafen hab' des Nachts vor Sorgen. Und des Morgens lagen viele Briefe in meinem Kontor, aber nie eine Zeile, ein Lebenszeichen, eine Anfrage von euch Londonern: ›Wie geht's?‹ . . .«

»Unsere Väter waren geschäftlich überworfen!« murmelte John Wilding.

»Weiß ich! . . . Und dann endlich gab uns Bismarck den Schutzzoll und seitdem blüht es in Deutschland und auch ich bracht' meine Karre in Schwung . . . Gottlob . . . Heute steht meine Firma so fest, daß keine Weltkrise sie mehr erschüttern kann! . . . Aber was ich geworden bin, das bin ich in Deutschland und mit Deutschland und durch Deutschland geworden. Ich hab' gar keinen Sinn für Engländer! . . . In denen sehe ich nur Konkurrenten auf dem Weltmarkt, mögen sie nun mit mir denselben Großvater gehabt haben oder nicht! . . . Ich kann mir nicht helfen, Vetter John! Ich bin nun einmal so! . . . Ich bin aus hartem Holz geschnitzt. Ich gelte überall für einen unangenehmen alten Kerl, mit dem nicht gut Kirschen essen ist!«

»Ja. Du bist ein harter Mann!« sagte John Wilding und stand auf.

Der Geheimrat legte ihm seine schwere Hand auf die Schulter: »Es tut mir ja leid!« sagte er. »Aber was soll der Mensch machen! . . . Ich kenn' nun einmal nur dreierlei: Meine Familie – mein Geschäft – und was ich dann noch übrig hab', damit widme ich mich den Dingen im Reich, so gut ich's eben verstehe, und hab' meinen einzigen Jungen nach Berlin geschickt, damit er auch dem Reiche diene. Und wenn mich unser Herrgott mal abruft, kann ich mir sagen: Ich war nicht bloß ein Käsekrämer! Ich bin in einer großen Zeit groß geworden und hab' mich redlich bemüht, nicht kleiner zu sein als meine Zeit! . . . Und siehst du, Vetter John . . . deswegen sind mir Leute wie du, die inzwischen nur im Ausland an ihr bißchen Geldverdienen gedacht haben, so unendlich fremd!«

»Das fühl' ich!« versetzte der alte Citymann leise. Er hatte Tränen in den Augen. »Also, du hast nichts für mich?«

»Nein, Vetter John!«

Die Türe ging auf. Der Sohn des Hauses kam herein. Er hatte ein paar Briefe in der Hand und schien freudig erregt.

»Verzeih, daß ich euch störe!« sagte er zu seinem Vater. »Aber ich habe eben Nachrichten aus Berlin . . . unter der Hand . . . Es wird dich auch interessieren! – Also wir geben diesmal in dem englischen Konflikt nicht nach! Unser Schiff bleibt im Persischen Golf. Das Londoner Kabinett hat seit heute amtlich davon Kenntnis!«

»Verrate uns hier keine Staatsgeheimnisse!«

Der Geheimrat machte ein gespanntes Gesicht. Er überflog den Brief, den ihm der Sohn gereicht. Der sah ihm über die Schulter. Dann wandte sich Herr von Wilding um.

»Herrgott . . . John? . . . Wo ist er denn hin?«

Der Citymann hatte, während die beiden ihm den Rücken drehten, lautlos durch die offenstehende Türe das Zimmer verlassen. Im Flur unten war kein Diener. Er nahm eilig, mit eigener Hand, den Hut von der Glasplatte des Kleidergestells und lief hinaus in den Vorgarten. Draußen sah ihn der Hausherr vom Fenster aus mit unsicheren Schritten beim Laternenschein den Fahrdamm der Bockenheimer Landstraße überqueren. Er wollte ihm noch nach. Aber sein Blick zeigte ihm: Es war zu spät. Die kleine, gebeugte Gestalt verschwand schon im Dunkel. Er drehte sich achselzuckend und sehr ernst um.

»Da geht er nun hin!« sagte er. »Was soll ich tun? Ich bin nicht der liebe Herrgott! . . .«

»Was hat's denn gegeben?«

»Nichts! Nichts! . . . Aber ich werde morgen eine Stiftung für unsere Kriegsveteranen machen, Wolfgang, um mein Gewissen zu beruhigen!«

John Wilding war in sein Hotel zurückgekehrt. Er schlief die Nacht vor Erschöpfung wie ein Toter. Am anderen Morgen erwachte er mit einem plötzlichen Schrecken, verlangte seine Rechnung und reiste ab. Er hatte Angst vor seiner Vaterstadt bekommen, Angst vor Deutschland überhaupt, das von draußen durch die Scheiben des Fensters mit seinen Schornsteinen und Schlackenhalden und Hochöfengeflacker wie ein Feind in den Eisenbahnwagen hineinlugte, ein Feind auf dem Weltmarkt, ein Feind des alten Citymanns im besonderen. Die Heimat stieß ihn aus. Er wußte nicht recht, warum. Er hatte doch nichts Böses getan. Im Gegenteil: Er war sein Leben lang respektabel gewesen, in die Kirche gegangen, hatte für die Seinen gesorgt, seine Steuern bezahlt, seine Angestellten angemessen besoldet – alles wie es einem ehrbaren Kaufmann zukam . . .

Es waren Reisende mit ihm im Abteil. Sie hatten deutsche Zeitungen vor sich und sprachen aufgeregt von Politik und Kursen. Die Schiffahrtsaktien sanken rapid . . . große Bestellungen auf Kohlen . . . Nachtschichten drüben bei Krupp . . . die Krisis verschärfte sich . . . na . . . übermorgen, nach der Unterhaussitzung in London, würde man ja sehen! . . . John Wilding, hörte fiebernd zu. Er dachte sich: ja . . . übermorgen . . . was ist dann mit mir . . .?

Er fuhr über den Kanal und gleich weiter nach der Themsestadt. England war maiengrün. Sein ganzer Süden schien ein einziger großer Park. Einen Augenblick tauchte bald hinter Dover dort drüben Rosemary-Hills auf. Weißleuchtend beherrschte das schloßartige Landhaus von seinem Hügel aus die liebliche Gegend. John Wilding sah sein Eigentum erscheinen und wieder verschwinden und seufzte schwer und dachte sich: Was wird aus alledem? Es gehört ja kaum noch mir! Und beorderte, in Viktoria-Station angekommen, sein Gefährt gleich nach der City und rollte, scheu in dem Inneren des Taxameters zusammengeduckt, an seiner eigenen Stadtwohnung in Belgravia vorbei. Dort waren die Seinen. Aber er wollte sie nicht sehen und nicht von ihnen gesehen werden. Er hätte nicht mit ihnen sprechen können. Er fürchtete sich vor ihnen. Was war er ihnen denn noch mit leeren Händen? . . . Sie hatten ja nie von ihm etwas anderes gewollt, als Geld! . . . Sie brauchten vorläufig gar nicht zu wissen, daß er wieder in London war.

Er sagte sich mit einem wehen Gram: ›Ich war immer zu schwach gegen sie!‹ Es war hilfloser Zorn. Es kam zu spät. Er wußte es wohl. Es hätte auch früher nichts geholfen. Wie alle Vormittage, betrat er auch heute sein Kontor, dankte in seiner stillen, trockenen Würde auf die Grüße des sich erhebenden Personals, reichte dem Diener seinen Zylinder und begab sich in sein verglastes Privatbureau . . . Da lagen die Briefe und Depeschen, die Schlußscheine und Konnossemente. Er fing an, sie durchzuarbeiten und frug sich dabei: ›Was mache ich denn da? . . . Es hat ja keinen Zweck. Es ist ja alles vorüber! . . . Es ist ja keine Hoffnung mehr oder es müßte ein Wunder geschehen . . .‹

Ein Wunder hier in der City, wo all die Tausende von Gehirnen unverbrüchlich rechneten: zweimal zwei ist vier! Wo in den Tausenden von Hauptbüchern Soll und Haben unter dem Abschlußstrich jederzeit bis auf den Penny stimmen mußte und jedes Ding auf Erden seinen sorglich festgestellten Marktwert hatte . . . Es war lächerlich, an ein Wunder zu denken! Der alte Herr stützte den Graukopf in die Hand und schaute durch das offene Fenster hinaus auf die Old Broadstreet. Der Himmel über den Dächern war blau. Unten, auf dem sonnenhellen Straßendamm wimmelte es schwarz von Menschen . . . Menschen im bloßen Kopf . . . Menschen mit schiefen Zylinderhüten . . . Menschen im Taxi, nervös vornübergebeugt – ungeduldig, weil sie nicht vorwärts kamen . . . Drüben, am Ende der Straße, gegen die Bank von England hin, war es, als hätte man mit dem Stock einen Ameisenhaufen durcheinandergerührt, so wuselte und wirrte es, scheinbar ziellos, winzig, durcheinander . . . John Wilding kannte das seit vielen Jahrzehnten. Er war groß geworden in der City und grau in ihr. Heute wunderte er sich zum erstenmal über ihre fiebernde Hast. Sie schien ihm töricht und zwecklos. Warum? Er merkte es: weil er sich selbst im Geiste nicht mehr recht mit dazu zählte! Er stand schon fast außerhalb. Für ihn war die wilde Jagd bald zu Ende. Das ahnte noch niemand . . . Aber in wenigen Tagen wußte es jeder . . .

Der alte Mr. Mathes steckte den Kopf herein. Er hatte nichts von der kurzen Reise seines Geschäftsfreundes nach Deutschland vernommen.

»Du, John . . .« schrie er und fuchtelte mit dem Stock durch die Türspalte. »Kritischer Tag erster Ordnung . . . Kein Mensch weiß mehr aus und ein . . . Sie zählen sich wahrhaftig schon ›Krieg oder Frieden‹ an den Westenknöpfen ab!«

Er spuckte unbekümmert auf den Boden und brachte dann den halbzerkauten Zigarrenstummel wieder im Mundwinkel unter.

»Heute abend, nach der Parlamentssitzung werden wir ja klüger sein!« fuhr er fort. »Da werden wir wissen, ob sie drüben in Deutschland nachgeben oder nicht und was unsere Regierung dazu sagt! . . . Aber dann ist's zu spät. Dann hilft's uns nichts mehr! . . . Dann ist die große Gelegenheit verpaßt! . . . Was denkst du denn darüber?«

»Nichts . . . gar nichts . . .« sprach der am Schreibtisch müde.

Das verwilderte Original lachte.

»Dir fallen die Zähne aus, Johny! Du beißt nicht mehr! . . . Mit dir ist nichts mehr los! . . . Wenn ich denke, wie wir in früheren Jahren zusammen geräubert haben . . . na . . . schlaf weiter . . . old boy . . . ich hab' keine Zeit . . .«

Er warf die Türe zu und stapfte davon, auf seinem ewigen Vormittagstrab zwischen Temple und Tower. Als er gegangen, erhob sich John Wilding in einer jähen Eingebung. Er preßte die Hand an das Herz. Er sann. Und sann. Ein Hoffnungsschimmer belebte seine Augen. Seine dürftige Gestalt straffte sich. Das Wunder . . . nein . . . kein Wunder . . . aber ein Glück . . . ein Zufall . . . Eine Wissenschaft, die andere nicht hatten. Oder wenige nur . . .

Wie hatte der junge deutsche Diplomat, sein Neffe, vorgestern abend in Frankfurt gesagt: ›Ich habe Nachrichten aus Berlin: Wir weichen diesmal nicht zurück . . . Wir haben der britischen Regierung keine Zweifel darüber gelassen . . .‹ Und der Vater hatte noch gewarnt: ›Verrate hier keine Staatsgeheimnisse! . . .‹

Und wenn dem so war, dann überspannte man an der Themse den Bogen nicht. Dann lenkte man doch wohl hier in letzter Stunde ein, so schien es John Wilding, dem Kaufmann, dessen instinktiver Wunsch und Wille und stetes Stoßgebet es war: Gib Frieden, Herr, in unseren Tagen! Dann würde die heutige Abendrede des Ministers versöhnlich lauten. Dann kam allgemeiner Boom. Die Kurse stiegen, hier und auf dem ganzen Erdkreis. Wer das mit raschem Griff vorwegnahm, hielt eine goldene Ernte auf Kosten der Schwarzseher . . .

In farbigen Bildern malte sich das in dem Kopf des alten Mannes. Er schritt, die Hände auf dem Rücken, die Lippen lautlos bewegend, in seinem Kontor auf und ab. Er überlegte. Seit achtundvierzig Stunden war ihm eine neue Welt aufgegangen: Er hatte Deutschland gesehen, wie es jetzt war, in seiner Kraft und seinem Aufwärtsstreben. Dort hatte die Pickelhaube die Zipfelmütze verdrängt. Dort lebte nicht mehr der Michel von einst. Mit solch einem Land brach man nicht leichten Herzens Streit vom Zaun. Man würde sich ausgleichen . . . sich versöhnen . . . Alles würde gut . . . es hieß nur . . . die unwiederbringliche Gelegenheit nutzen: Ein großer Schlag und Wilding und Kompanie waren noch einmal gerettet!

Manche der fünftausend Makler an der Börse von London wunderten sich an diesem ohnedies schon fieberheißen Tag über die gewaltigen Kaufaufträge, die ihnen von John Wilding zugingen. Der galt sonst als ein Mann von großer Vorsicht. Er führte sein Geschäft in der hergebrachten, vornehmen, fast altfränkischen Weise. Aber heute gab er beinahe blindlings Order über Order. Nicht nur bei seinen gewohnten Stockbrokern. Er ging auch anderwärts, durch Bankaufträge, scharf ins Zeug. Wohl an einem Dutzend Stellen zugleich, die nichts von einander wußten. Er überspannte seinen da und dort schon merklich schwankenden Kredit bis zum Äußersten. Er rechnete selber kaum mehr nach, wieviel er eigentlich aufs Spiel setzte. Es war ja auch gleich. Es ging um Sein und Nichtsein heute abend . . .

Langsam, zögernd kam die späte Frühlingsdämmerung über die Achtmillionenstadt. John Wilding war immer noch in seinem Kontor. Er hatte den ganzen Tag die City nicht verlassen. Frau und Töchter mochten ihn immer noch in Deutschland wähnen. Die Vorderräume der Firma hatten sich geleert. Die Angestellten waren heimgegangen. Draußen verödeten die Straßen. Der Lärm des Tages ebbte. Es wurde sonderbar still. Der Bureaudiener öffnete die Tür zum Privatkabinett und bat verdutzt um Verzeihung. Er hatte nicht geahnt, daß sein Herr noch in dem fast dunklen Zimmer saß. Der stand auf und sagte milde: »Macht nichts! Geben Sie mir meinen Hut!«

»Ein Taxi, Sir?«

»Nein! Ich geh'zu Fuß!«

Der Mann in der grauen, rot ausgeschlagenen Geschäftslivree half ihm ehrerbietig in den Mantel. John Wilding dankte mechanisch und schritt in den Maiabend hinaus, über die jetzt in ihrer Menschenarmut viel größer erscheinenden Gassen und Plätze der City, an der düster zum Nachthimmel ragenden Kuppel der St. Pauls-Kathedrale vorbei, den Strand entlang, durch Whitehall hinab zur Themse.

Es war ein weiter, weiter Weg, ermüdend für einen alten Mann. Aber da hoben sich endlich die mächtigen Umrisse einer ganzen Stadt von Türmen und Schwibbogen aus dem vom Flußspiegel heraufkriechenden Nebel ab, seltsam spähte wie ein fahlgelbes Riesenauge das Zifferblatt des Uhrturms, des Big-Ben, in das Dunkel, das sich jetzt, bis John Wilding an sein Ziel gelangt, über Westminster senkte. All die Hunderte von Fenstern des Parlaments waren hell erleuchtet. Zu Tausenden standen draußen stumm, eine einförmige schwarze Masse, die Menschen. Sie harrten. Die Sitzung war schon lang im Gang. John Wilding drängte sich langsam, mühsam, Zoll für Zoll, nach vorne. Nie hätte er sonst sich in solch ein Gewühl begeben. Aber jetzt war ihm alles gleich.

Er stand vor einem der Seiteneingänge des Parlaments. Er las mechanisch die Warnungsinschrift, daß hier nur der Eintritt für die fremden Diplomaten, die Lords und ihre ältesten Söhne sei. Er sah daneben als Hüter der Pforte einen großen, dicken, blonden Policeman, das Lederband seines Helms unter den Lippen. Er sah eine große Limousine vorfahren und aus ihr einen jüngeren Mann im Frack, mit umgehängtem Mantel, aussteigen, der im Inneren verschwand. In der Menge um ihn nannte man halblaut den Namen dieses Herzogs. Man kannte hier im Lande die großen Peers dem Aussehen nach, wie in Deutschland die Bundesfürsten. Das alles war John Wilding nicht neu. Er hatte es in seinem langen Leben Dutzende und Hunderte von Malen beobachten können. Aber heute setzte es ihn in dumpfes Erstaunen. Er hatte das sonderbare Gefühl, als ob der ganze Aufwand hier, die dunklen Menschenmauern, die in der Luft zitternde Erwartung nur seinetwegen aufgeboten sei, als sei er, der stille Mann aus der City, der eigentliche Spielball des Kampfes zwischen Deutschland und Großbritannien . . .

Er schluckte ein paarmal heftig. Er fühlte etwas in der Kehle stecken, das ihm den Atem nahm. Er arbeitete sich mühsam und geduldig seitlings, bis zu den eisernen Umfassungsgittern des großen Hofes von Westminster, durch. Die weite, draußen von dem schwarzen, unbestimmten Gewimmel der Köpfe umlagerte Fläche lag wie im Mondschein im bläulich-hellen elektrischen Licht. Automobile in Mengen hielten innen vor dem Portal. Ihre grellen Doppelaugen glotzten schläfrig-leuchtend, eng zusammengepfercht, gleich einer Herde von Ungetümen, in das Dunkel. Schweigsame, vereinzelte Menschengruppen, Chauffeure, Diener, Torwächter standen daneben. Zuweilen kam noch, sich durch die Massen am Eingang drängend, eine Mappe unter dem Arm, ein Nachzügler – ein verspäteter Abgeordneter oder sonst ein Politiker. Man glaubte in dem Schweigen förmlich die Tritte zu hören, mit denen die einsame Gestalt durch die Leere des Hofes nach der hellen Pforte schritt.

Auf einmal eine Bewegung! Irgendwie war eine Nachricht aus dem Inneren gedrungen: ›Der Minister hat sich zu einer Erklärung der Regierung erhoben!‹ Jetzt kam die Entscheidung. John Wilding stellte sich auf die Fußspitzen. Es hatte gar keinen Zweck. Es war nichts zu sehen und zudem Nacht. Es war nur eine unwillkürliche Bewegung seiner Erregtheit. Dann stand er wieder still und geduldig, mit gesenktem Kopf, wartend, was aus Deutschland und England würde. Und was aus ihm würde, zwischen den beiden Mühlsteinen. Er dachte an die Worte seines Vetters, vorgestern in Frankfurt. Er fühlte matt: Eigentlich waren ihm die beiden Länder gleich. Er wäre in jedem seinem Erwerb nachgegangen. Auch in einem dritten. In einem beliebigen Weltteil. Er hatte kein Vaterland. Er vermißte es auch nicht. Er hatte nie ernstlich daran gedacht, daß er eines haben und wie ihm dann zumut sein könne. Aber andere fanden eine Schuld darin. Legten ihm seine Lauheit zur Last. Ihm schien, als rächte sich etwas in ihm und an ihm, was er selbst nicht begriff. Er hätte weinen mögen, wie er da in der Masse harrte, ein Sandkorn am Meer, einer unter zehntausend und doch anders als all die anderen. Die um ihn, das waren Briten, trotz ihrer fischblütigen Ruhe atemlos harrende Briten. Er war nicht wie sie. Und auch nicht wie drüben die Deutschen. Er sorgte nicht um sein Volk und um sein Land. Er sorgte um sein Geld. Wollte Geld aus dem ziehen, was geschah. Und ihm war, als rückten eben deswegen diese beiden furchtbaren Gewalten von beiden Seiten der Nordsee immer näher an ihn heran, preßten ihn zwischen sich, zerdrückten ihn wie eine Nuß . . .

Es waren die Menschenmauern, die den alten Citymann von rechts und links, von hinten und vorn so beengten, daß er kaum mehr Atem holen konnte. Er stöhnte auf. Er sah sich nach einem Schutzmann um, der ihm helfen möge. Aber im selben Augenblick bekam er Luft. Es war ein plötzliches Strudeln in den Massen, ein Durcheinanderwirren, das aus dem Inneren dieser Menge kam, über das Meer von Hüten hinlief, sich weithin fortpflanzte, an den fernen Häuserreihen brach. Ein Mann drängte sich durch die Gruppen und schrie. Dort wieder einer. Drüben ein Gentleman mit geschwungenem hechtgrauem Zylinder. Ein vierter. Ein fünfter, wohin man sah. Und immer derselbe Ruf: ›Der Minister hat gesprochen! Herausfordernd gegen Deutschland! Er verwirft die Antwortnote der Berliner Regierung . . . England beharrt auf seinem Standpunkt . . .‹

»Das gibt morgen einen schwarzen Freitag an der Börse, wie seit Jahren nicht!« sprach jemand neben John Wilding, zu seinem Gefährten. Ein anderer sagte, wild und kriegslustig, zu seinem Freunde: »Ich schätze, nun werden bald die Lichter in der Nordsee gelöscht!« Und drüben ein dritter laut und barsch: »Ach was! Die City hat den morgigen Kurssturz schon eskomptiert!«

›Ich nicht!‹ dachte sich John Wilding mit einer sonderbaren, ihm selbst unheimlichen Ruhe. »Ich bin ruiniert . . . ruiniert . . . ruiniert . . . Ich hätte mich auch sonst nicht halten können. Aber jetzt gibt es einen Zusammenbruch, von dem sie noch lange sagen werden! . . . Es wird ein schimpfliches Schauspiel für jeden respektablen Kaufmann!«

Er hatte ein Gefühl, als gehöre er schon jetzt aus der Gemeinschaft der Gentlemen heraus. Er löste sich aus den aufgeregten Gruppen um ihn. Er strebte scheu nach dem Dunkeln, nach der Themse hin. Dort, auf dem Embankment war es ganz leer und öde. Nur die Doppelreihe der Laternen schimmerte in einer endlos sich längs des Ufers in die Nacht hinein erstreckenden Linie. Da ging er eilig hin, blieb plötzlich stehen, sah erstaunt die einsam und geisterhaft zum Nachthimmel ragende Nadel der Kleopatra an, schüttelte den Kopf, als begriffe er alles nicht mehr, was um ihn war, und fühlte eine bleierne Müdigkeit. Ein herzbeklemmendes Unbehagen. Eine Droschke kam des Wegs. Er rief sie an und fuhr wieder nach seinem Kontor.

Unheimlich still, ausgestorben, wie ein großer Kirchhof lag die City. Das Räderrasseln des Cab tönte straßenweit. Die dunklen Gestalten der da und dort vor den Banken stehenden Wächter wandten forschend, was das wohl bedeuten möge, den Kopf nach ihm. Auch der Hüter des Wildingschen Hauses trat sofort mißtrauisch heran, als der Wagen hielt. Dann erkannte er seinen Herrn, grüßte und öffnete ihm das Tor. Er wagte nicht, seine Verwunderung zu äußern. Er sah nur noch den Chef der Firma eilig in sein Privatbureau gehen und hörte, wie drinnen der Schlüssel umgedreht wurde.

Warum John Wilding das tat, wußte er selber nicht. Es störte ihn doch jetzt niemand, mitten in der Nacht. Er handelte rein instinktiv. Alles an ihm war nur noch mechanisch, auch daß er jetzt seine Geschäftsbücher hervorholte und beim Schein des elektrischen Lichtes zu rechnen anfing. Die Zahlen tanzten ihm vor den Augen. Nein. Es waren schwarze Punkte. Ein Geflimmer. Eine Angst. Er schloß die Lider. Er war todmüde. Ein paarmal bewegte er sich noch und holte schwer Atem. Dann saß er ganz still, den Kopf auf der Brust. Sein rechter Arm hing herunter . . .

Es war nach neun Uhr morgens am nächsten Tag, der Geschäftslärm der City erst im Erwachen, als das Wildingsche Automobil vor dem Hause in Old Broadstreet hielt, und Edith Merker ausstieg und hastig in das Kontor eilte. In dessen Vorderräumen waren erst ein paar junge Leute anwesend, Deutsche, die der alte Herr ihrer Billigkeit und Pünktlichkeit wegen ausschließlich bei sich beschäftigte. Sie wußte das und frug rasch und besorgt auf deutsch: »Ist mein Vater hier?«

»Jetzt schon? . . . Nein, Mrs. Merker!«

»Ganz gewiß nicht?«

»Gewiß nicht, Mrs. Merker. Aber klopfen Sie doch einmal der Sicherheit halber an das Privatbureau, Herr Zillke! . . . Nein: es antwortet niemand! Die Türe ist auch noch verschlossen, wie immer!«

»Aber gestern war mein Vater da? Wir hörten zufällig spät abends von Bekannten, er sei in der City gesehen worden!«

»Ja. Gestern war Mr. Wilding den ganzen Tag im Geschäft! . . . Viel länger als sonst! Er war noch da, wie wir weggingen!«

»Und dann? . . . Warum ist er denn nicht zu uns nach Hause gekommen? . . . Großer Gott . . . was heißt das nur?«

»Ich weiß wirklich nicht, Mrs. Merker! . . . Vielleicht hat der Nachtwächter eine Ahnung . . . Schuster . . . ist der Sam vielleicht noch da?«

»Ach wo! Der geht doch schon immer um sieben Uhr früh weg! Höchstens, daß er noch manchmal auf dem Hof herummurkst! Na . . . ich seh' mal nach!«

Herr Schuster begab sich nach hinten und kam nach kurzem mit einem ratlosen und erschrockenen Gesicht zurück.

»Nein. Er ist nicht zu finden, Mrs. Merker. Aber . . .«

»Was denn ›aber‹? . . . So reden Sie doch schon!«

»Ihr Herr Vater ist doch hier! Man kann durch das Hoffenster in sein Privatkonto sehen. Da sitzt er im Stuhl und schläft!«

»Um Himmels willen . . . der arme Pa . . . die ganze Nacht nicht im Bett . . .« Die junge Frau stürzte an die Türe und pochte. »So wach doch auf, Pa! . . . Mach auf! . . . Ich bin's! . . . Edith! . . .«

Keine Antwort.

Die beiden Kommis tauschten besorgte Blicke.

»Mach auf, Pa! . . . Pa! . . . Lieber Gott . . . was ist denn das? So fest kann er doch nicht schlafen!«

»Am Ende ist Mr. Wilding etwas passiert!«

»Man müßte nach einem Schlosser schicken!«

»Ach Unsinn, Herr Schuster! Die olle Tür! Fassen Sie mal an . . . nee . . . weiter da unten, Mensch! . . . So! . . . Nu fest dagegengetreten . . . mit aller Kraft . . . Herrgott . . . der Lärm müßte ihn doch wecken! . . .«

Die Türe krachte aus den Fugen. John Wilding störte das nicht. Er saß still, das graue Haupt auf die Brust gesunken, die Rechte am Boden wie am Abend vorher. Edith lief auf ihn zu. Sie kniete neben ihm nieder, sie umschlang ihn, sie schaute ihm in das seltsam wächserne Antlitz, sie schrie hellauf, in ungläubigem Schrecken: »Pa . . . Pa . . .«

In die Vorderräume war ein großer, glattrasierter, älterer Herr hereingestürzt, erhitzt, Schweißperlen der Maiensonne auf der Stirne, der Fondsmakler, mit dem John Wilding auf seiner letzten Fahrt im Hydepark gesprochen.

»Mr. Wilding da?«

»Ja – da ist er schon . . . aber . . .«

»Melden Sie mich bitte sofort! . . . Ich müsse unbedingt mit ihm reden! . . . Es laufen seit einer Viertelstunde Gerüchte um . . . Engagements Ihrer Firma . . . ich traue meinen Ohren nicht . . . ich will und kann es nicht glauben . . .«

»Da sehen Sie, Sir!«

Der Stockbroker blieb erschüttert stehen. Neben ihm schrie Herr Zillke mit bebender Stimme durch das offene Fenster in das Gewühl der Straße draußen: »Mr. Evans! . . . Mr. Evans! . . . Bitte, kommen Sie rasch!«

Ein zufällig vorbeifahrender Arzt ließ halten, stieg aus, wand sich durch das Gewirr der Wagen auf den Bürgersteig durch, eilte in das Haus und blieb vor dem stillen Mann und der jungen Frau daneben stehen. Er fühlte nach dem Puls, untersuchte. Dann frug er halblaut: »Wer ist die Lady?«

»Die Tochter, Sir!«

»Es tut mir leid, es sagen zu müssen, Madam! . . . Ich kann hier nichts mehr helfen! . . . Der Herr geb' Ihnen Stärke! . . .«

»Um Gottes willen . . . mein Vater . . .«

»Er ist heimgegangen, Madam! . . . Es scheint ein Schlaganfall! Schon vor vielen Stunden!«



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