Rudolph Stratz
Seine englische Frau
Rudolph Stratz

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14

Lieber Hellie!

Ich habe Dir vor drei Tagen nach Czenstowitz telegraphiert. Aber Du kamst nicht und es kam keine Antwort. Da wurde ich ängstlich, von Dir zu hören, und habe an Dein Regiment telegraphiert, und es hat geantwortet, Du seist für eine Woche auf Urlaub nach Berlin. Da glaubte ich, ich hätte an Deine Mutter zu gehen, und habe ihr nach Erbach telegraphiert. Aber auch sie weiß offenbar nicht Deine Adresse in Berlin.

So muß ich es Dir also in einem Brief schreiben, daß mein guter Vater in der Nacht von Donnerstag zu Freitag plötzlich an einem Schlaganfall verschieden ist. Vorhin haben wir ihn begraben . . .«

Edith Merkers blaue Augen füllten sich mit Tränen. Sie ließ die Feder sinken und holte ihr Tuch hervor. Im tiefen Schwarz der Trauer saß sie am offenen Fenster ihres Gemachs in Belgravia. Warmer Frühlingswind blies herein und blähte die blauroten Kattunvorhänge der beiden freundlichen, englisch-behaglichen Gastzimmer, die sie im Hause ihrer Eltern seit einem halben Jahr bewohnte. Draußen rollte Auto auf Auto vorbei, Wagen auf Wagen, Viererzüge – die Londoner Season war in vollem Gang. Sie störte kein Krieg und Kriegsgeschrei, kein Todesfall. Es war, als gäbe es nicht Not noch Leid auf der Welt . . .

Die junge Frau fuhr mit nassen Augen fort zu schreiben:

»Seit ich von Czenstowitz am Weihnachtsmorgen weggefahren bin, habe ich auf Deine Briefe nicht mehr geantwortet. Aber nichts wäre schrecklicher, Hellie, als wenn Du deswegen glauben würdest, ich liebte Dich weniger als früher. Nein. Ich liebe Dich mehr. Ich habe von Weihnachten bis Ostern mit mir gerungen, um dies einzusehen, weil ich es eigentlich nicht einsehen wollte. Gott hat mich doch so eigensinnig geschaffen, und ich habe oft schon damit die Menschen betrübt. Aber nun weiß ich, daß ich das einsehen muß, und ich muß es Dir sagen, weil ich jetzt so ganz allein dastehe und doppelt verlassen bin, von meinem guten Pa und von meinem Mann . . .«

Nebenan hörte sie die helle Stimme der kleinen Mary. Sie lächelte schwach und traurig und blickte durch das Fenster: Ein Cab hielt unten. Ein alter Herr stieg aus und trat langsam, ernst und bedächtig in das Trauerhaus. Er war heute nicht der erste. Gleich nach dem Begräbnis hatte da unten im Drawing-Room eine geschäftliche Konferenz begonnen, zu der außer John Wildings Söhnen und Verwandten wohl ein Dutzend Citymen erschienen waren. Die Herren saßen nun schon drei, vier Stunden. Es war unter ihnen sonderbar still. Kaum einmal drang ein lautes Wort durch das nach britischer Sitte leicht gebaute Haus . . .

Edith Merker schrieb weiter:

»Es ist wahrlich sehr unrecht von mir, an einem Tag wie heute an mich zu denken, Hellie! Ich täte es auch nicht, wenn ich Dich zum Trost bei mir hätte. Ich will zu Dir! Gott sei gelobt: Nun kann ich zu Dir!

Der gute Pa ist nicht mehr! . . . Er hat es sicher gut mit mir gemeint. Mir ziemt es nicht, mit ihm zu rechten! Er hat mich nicht zu Dir gelassen. Er hat mir nicht das Geld dazu gegeben. Immer wieder hatte ich ihn diesen Winter darum zu bitten und immerwieder schlug er es ab. Und ich selbst besitze doch nichts. Von dem Rest unseres Geldes, das Du mir hier im Herbst zurückgelassen hast, habe ich gerade noch zwanzig Pfund im Vermögen. Erst jetzt in den letzten Tagen wurde father weicher. Da hat er mir Andeutungen auf bessere Zeiten gemacht. Er reiste nach Deutschland. Gewiß hätte er jetzt nach seiner Rückkehr meinen Wunsch erfüllt. Aber da rief ihn Gott heim. Die Sonne hat so warm geschienen, wie wir ihn vorhin begraben haben. Und der Clergyman hat so trostvoll gepredigt . . . ach Hellie . . . ich weine . . .

Als ich noch ein Mädchen war, hat father mir oft gesagt, ich würde einmal eine Rente von fünfzehnhundert Pfund im Jahr erben. Das ist genug für Dich und mich in Deutschland . . . ich schäme mich so, an das Geld zu denken. Aber es ist doch der Weg zu Dir und ich bin nicht nur eine Tochter, ich bin auch eine Frau und bin ohne meinen Mann und habe ihn jetzt erst so kennen und in anderer, so ernster Art lieben gelernt, seit er von mir ist . . . Ich weiß nicht, wie sich das zusammenreimt. Aber es ist so. Ich möchte am liebsten fliegen, über das Meer und zu Dir. Du warst immer so gut zu mir . . . Du hast mir immer geschrieben, obwohl ich schwieg. Aber jetzt, wo ich Dich mehr brauche als je – jetzt kommt keine Nach . . .«

Die Tinte spritzte über das Papier, so hastig ließ Edith Merker die Feder fallen und sprang auf. Das waren da unten nicht die dumpfen Männerstimmen von bisher – das war der auch halblaute, aber kurze und bestimmte militärische Tonfall, den sie kannte, deutscher Anklang in den englischen Worten.

»Hellie!«

Sie hielten sich umschlungen. Sie sprachen lange kein Wort. Sie küßten sich nur. Leidenschaftlich und immer wieder. Die junge Frau weinte still, vor Glück und Schmerz, im Zwiespalt der Seele, zwischen dem Tod von heute, dem Leben von morgen. Sie schmiegte sich an ihren Mann, wie voller Angst, er könnte sie plötzlich wieder verlassen. Sie schlug, unter Tränen lachend, die Augen zu ihm auf.

»Endlich bist du da . . . endlich . . .«

Helmut Merker war in einem dunklen Reisezivil, einen Trauerflor um den Arm. Groß, stattlich, straff stand er da und hatte sie im Arm.

»Dank Mama! . . . Sie hat deine Depesche an sie nach Berlin an die Kommandantur geschickt, wo ich mich als beurlaubt gemeldet hatte. Ich war nur auf einen Sprung in Berlin. Wegen militärischen Übersetzungen aus dem Englischen, wie früher als Junggeselle . . .«

Er brach ab. Sie verstand seinen suchenden Blick.

»Klein-Mary ist mit der Nurse aus!« sagte sie. »Sie kommt in einer Stunde zurück. Da wirst du sie sehen! . . . Ach, Hellie . . . welch ein Unglück . . . der arme Pa . . . So ganz plötzlich! . . . Ich war die erste, denk dir, die . . .«

Wieder kamen ihr, in der Erinnerung an die schreckliche Morgenstunde in der City, die Tränen.

»Er hat so friedlich dagesessen, Hellie . . . Niemand hätte geglaubt, daß er . . . Es waren die vielen Geschäfte, Hellie – jetzt in dieser rauhen Zeit . . . die Herren sagen, man weiß auch heute noch nicht, ob es Krieg oder Frieden gibt. Du darfst nicht in den Krieg, Hellie . . . du nicht!«

Sie klammerte sich an ihn. Er legte ihr die Hand auf den Scheitel und schaute ihr ernst in das hübsche, bange, blasse Gesicht.

»An sich wünsche ich den Krieg, Edith! Sonst wäre ich kein Soldat! . . . Aber wegen dir wünsche ich ihn nicht! . . . Wo uns beide schon der Frieden getrennt hat – wie sollte das erst im Krieg zwischen uns werden?«

»Ich bin da, wo du bist, Hellie! . . . Immer und ewig!«

»Du, Edith? Seit wann ist das? . . . Das klingt anders wie früher . . .«

Sie faltete die Hände.

». . . Seit ich dich nicht gehabt hab' . . . seit dem halben Jahr . . . ich kann nicht ohne dich sein . . . du bist stärker als ich . . . Ich geh' mit dir bis ans Ende der Welt!«

Wieder fanden sich ihre Lippen. Es war ein langer, heißer Kuß. Edith Merker schauerte zusammen. Sie fühlte eine Weihe über sich. Sie sagte leise: »Du kommst ja doch nie mehr nach England – das weiß ich jetzt! . . .«

»Nein!«

»Also geh' ich mit dir nach Deutschland zurück . . . Ich bin ja jetzt frei!«

»Edith!«

». . . und es wird ja nicht Krieg geben! . . . Ich will so sehr zu Gott bitten, daß er uns nicht straft! Es wird Frieden sein! Und wir werden in Frieden in Deutschland leben. Und du sollst Offizier sein! Und wo dich der Kaiser hinschickt, soll es mir recht sein! . . . Und ich will immer so sein, wie es für dich gut ist! . . . Ich bin eine halbe Deutsche, Hellie . . . ich will mir solche Mühe geben, daß ich eine ganze Deutsche werd'!«

Er zog ihre Hände an die Lippen und bedeckte sie mit Küssen. Er hatte selbst die Augen feucht.

»Jetzt bin ich der glücklichste Mensch auf Erden, Edith!« sagte er, und sie schwiegen wieder und küßten sich und fuhren auseinander: Ediths Mutter trat herein. Sie wirkte in ihrer Trauerkleidung wie ein langer schwarzer Schatten, der steil aufgerichtet durch das Zimmer glitt. Sie hatte von der Ankunft ihres deutschen Schwiegersohns gehört, aber sie ging, in der Erinnerung an den Auftritt am Weihnachtsabend, ohne ihn zu beachten, mit einer trotz ihres Kummers strengen und frostig ablehnenden Miene so dicht an ihm vorbei, daß ihr dunkler Rocksaum ihn fast streifte, und versetzte, als wäre sie allein mit der jungen Frau im Zimmer: »Edith: die Herren wollen nachher mit uns sprechen . . . wegen des Vermächtnisses! In einer Viertelstunde . . .«

»Das hat doch wahrlich Zeit! Eben kommen wir vom Kirchhof!«

»Das meinte ich auch! Aber die Gentlemen sagen: Nein. Nichts sei dringender als das! . . . Sie sind ängstlich, uns bald Mitteilungen zu machen! Also halte dich bereit!«

Mrs. Wilding schritt, verkörperte eisige Würde, wieder zur Türe und hinaus. Der Oberleutnant Merker schaute ihr nach und zuckte die Achseln.

»Ich kann in diesem Hause nicht bleiben, darling!« sagte er. »Und du als meine Frau auch nicht! . . .«

»Nein. Ich geh' mit dir!«

Er schaute auf die Uhr.

». . . Ich mache für uns im Hotel Quartier. In einer Stunde bin ich wieder da. Inzwischen richtest du alles zur Übersiedelung für dich und Klein-Mary und die Nurse. Einverstanden?«

»Ich tue alles, was du willst!«

Helmut Merker küßte seine Frau noch einmal und eilte aus dem Zimmer. Sie blieb still stehen, wo sie war, in ihr ein Durcheinanderfluten, wie ein Kampf zwischen Nebel und Sonne, von Leid und Glück. Es war so rasch gegangen in diesen Tagen . . . Schlag auf Schlag . . . man konnte kaum mit. Das Schicksal nahm mit der einen Hand den Vater, gab mit der anderen den Mann. Ihr war feierlich zumute. Sie legte die Hände ineinander wie in der Kirche und weinte . . .

Das Rasseln der Automobile weckte sie aus ihrer ruhigen, gesammelten Stimmung. Die Geschäftsfreunde traten aus dem Haus und stiegen in ihre Wagen, manche schweigsam, mit ernsten, gedrückten Mienen, andere unruhig und erregt, in gedämpftem Wortwechsel. Sie fuhren nach Osten, in der Richtung nach der City davon. Edith hörte, wie der eine, ein dicker, feierlich und entrüstet aussehender Gentleman, dem Chauffeur laut die Adresse eines weitbekannten Londoner Rechtsanwalts zurief. Dann klopfte der Diener: ›Die Herren Wilding und Mac Cornick ließen Mrs. Merker bitten, doch zu der Besprechung hinunterzukommen‹

»Ja . . . ja!« sagte die junge Frau und rührte sich nicht. Der Gedanke an Feilschen um Geld in dieser Stunde war ihr ein Abscheu. Es war ja genug da. Übergenug. Wieviel – das brauchte man doch nicht zu zählen . . . Ihre Gedanken wanderten. Zurück an die Bergstraße. Nach Alsheim. Sie lächelte in der Erinnerung. Es war doch eigentlich so heimisch und traulich dort gewesen. Alle Menschen so gut zu ihr. Man lebte so friedlich und ohne Sorgen. So würde es auch jetzt wieder sein, drüben, an der russischen Grenze. Im neuen Truppenteil. Helmut sagte ja, die Armee sei wie eine große Familie . . .

Sie spähte die Straße hinab, ob er noch nicht zurückkäme. Sie konnte es kaum erwarten, bis er seinen Arm um sie legte und nun sein Kind und sie mit sich hinausführte. Dann stutzte sie und senkte lauschend und erschrocken den blonden Kopf. Was war das für ein Schrei da unten gewesen – im Drawing-Room? . . . Da wieder . . .? Frauenstimmen . . . Männer dazwischen . . . das Poltern eines Stuhls . . . Türenschlagen . . . irgend jemand rief nach Wasser für Mrs. Wilding . . .

Edith Merker stürzte die Treppe hinunter, Unten stand die Türe offen . . .

Ihre Mutter saß mit steinernem Gesicht und starren Augen in dem Sofa zurückgelehnt. Man besprengte sie mit Wasser. Am Fenster schluchzte Jane wild auf. Neben ihr weinte ihre Schwägerin Lucy leise und verzweifelt und hielt dabei, krampfhaft hilfesuchend, die Hand ihres Vaters, des alten Augustus Fleck, fest. Dickie, ihr Mann, kümmerte sich nicht um sie. Er lief verstört mit langen Schritten auf und nieder.

»Ja – was habt ihr denn?«

Ediths Schwager Mac Cornick hob das Haupt: »Ihr seid ruiniert! Wilding und Kompanie ist fallit!«

»Und wie fallit!« meinte Fred. »Es bleibt kein Penny . . . Pa hat die letzten Tage noch wie ein Toller spekuliert! Wir sind am Bettelstab! . . .«

Und Dickie blieb stehen und stöhnte: »Der schimpflichste Bankerott der City seit Jahren!«

»Oh . . . sagt das nicht von Pa . . .!« Ediths Stimme schwankte vor Entsetzen. »Es ist sicher nicht wahr!«

»Schau doch in die Bücher! . . . Da stehen dir die Haare zu Berg! Es ist kein Wunder, daß father einen Schlaganfall bekam!«

»Wir haben wirklich alles verloren?«

»Alles und noch 'nen Pence dazu!«

»Jeder hat seinen Stoß!« sprach Augustus Fleck dumpf vom Fenster. »Wir auch! Der alte Mathes ist so gut wie ruiniert!«

»Großer Gott . . . was wird denn nun geschehen?«

»Dies Haus hier wird verkauft!« schrie Dickie verzweifelt. »Rosemary-Hills wird verkauft. Der Bungalow wird verkauft . . . Galt-y-Bladur wird verkauft! . . . Was wir haben, wird verkauft. Und es deckt nicht zu einem Viertel unser Soll! Es ist schmählich! Wir sind keine Gentlemen mehr . . .«

Und sein Bruder Fred, der Sportsmann, nickte erschüttert: »Totaler Niederbruch, Edith! Wir sind für immer aus den Rennen!«

Dann wurde es still hier innen. Draußen rollte der Korso hinaus in den Hydepark, ging der Season-Trubel seinen Gang. Was war denn auch weiter geschehen? Ein Todesfall . . . ein Bankerott . . . lieber Gott . . . am Strand der Themse lebten acht Millionen Menschen mit ihrem Leid und Freud! . . .

Die Frühlingssonne schien hell in den Raum. Sie beleuchtete die bleichen Züge der Männer, die verweinten Gesichter der Frauen. Man hörte nur noch das Schluchzen. Und niemand hätte sagen können, und die alle hier sich selbst am wenigsten, ob man in diesem Zimmer und in dieser Stunde mehr dem Familienoberhaupt oder mehr dem Familienvermögen nachtrauerte. Oder vielleicht war es beides zugleich, war John Wilding in seiner müden, gedrückten Art den Seinen immer mehr eine Art stets offenen Geldschreins als ein Gatte und Vater gewesen.

Nur Edith konnte nicht weinen. Immer noch nicht! Sie war betäubt. Sie saß still da, als fürchte sie, daß bei jeder Bewegung neues Unheil entstehen, das Dach zu ihren Häupten einstürzen könnte . . . Sie hatte nur den einen Gedanken an ihren Mann – ein Beben und Bangen: Wäre er doch schon hier! Bis dahin war sie willenlos . . . sah und hörte wie im Traum dies Sonderbare, Unwahrscheinliche, Schreckliche um sie herum: die fremdartigen, verzerrten Züge der Ihren, die veränderten, im Schluchzen erstickten Stimmen, das erregte, fast groteske, ganz der Kühle und Würde eines britischen Hauses widersprechende Auf- und Ablaufen, Kopfschütteln, Händefuchteln – dies hysterische Auflachen in der Ecke und zähneknirschende Fluchen drüben . . . ihr wurde angst und bang! Sie fürchtete sich vor den Ihren. Die schienen ihr wie unbekannte Menschen . . . wie Kranke . . . Da hörte sie draußen Helmuts Stimme. Er kam rasch herein. Er hielt ein Abendblatt in der Hand. Er begrüßte formlos, flüchtig die Anwesenden und frug unvermittelt: »Bin ich verrückt oder ist es alle Welt? Da steht in der Zeitung . . . fettgedruckt . . . ganz vorn: ›Wilding und Kompanie in Konkurs‹!«

»So so . . .« sprach Dickie, schläfrig vor Gram und hoffnungslos. »Steht's schon in der Zeitung!«

»Ja . . . ist's denn wahr?«

»Und ob . . .« murmelte der Dicke, tränenschluckend wie ein kleines Kind. Helmut Merker schwieg erschüttert. Er hatte unterwegs selbst den Verdacht gehabt – diesen lächerlichen Verdacht – und sich gesagt: »Nein! Es kann nicht sein! . . .«

»Ihr seid wirklich . . .?«

»Ja!«

»Es ist nichts mehr da?«

»Kein Farthing!« sagte Fred. »Nur Schulden! . . . Laßt euch ja nicht in der City sehen, Gentlemen! Da schlagen sie uns mit nassen Lappen tot . . .«

Helmut Merker schaute nach seiner Frau. Sie war aufgestanden. Sie klammerte sich angstvoll an ihn.

»Bitte! Bitte! Nimm mich mit! . . . Ich fürchte mich so . . . Dickie . . . lache doch nicht immer so . . . Es ist ja gräßlich . . .«

»Sie sind alle wie verrückt, Edith . . .«

Es wurde Helmut Merker selber unheimlich unter diesen stumpf vor sich hinstarrenden, lautlos im Selbstgespräch die Lippen bewegenden, schrill weinenden Menschen, die sich kaum um ihn kümmerten. Klar sah er nur seine Frau inmitten dieses Haufens Unglück und Verzweiflung, und sagte sich halb unbewußt: Da muß sie vor allem heraus . . . Hier kann man ja den Verstand verlieren.

»Wenn jetzt Pa noch einmal hereinkäme!« schluchzte Jane Mac Cornick. Die anderen fuhren zusammen. Es war, als habe man ein Gespenst und nicht den freundlichen, stillen, unermüdlich um die Seinen besorgten alten Herrn erwähnt. Dabei bewegte sich die Türe leise im Luftzug, wie wenn jemand unsichtbar dahinter stände. Es war Schweigen, ein Frösteln und Grauen. Von draußen klangen Huppen-Getute und Viererzug-Hornstöße des Hydepark-Karnevals. Edith schauerte.

»Fort . . .« bat sie tonlos. »Fort . . .«

»Komm!«

Die anderen sahen beinahe gleichgültig dem Ehepaar nach, das das Zimmer verließ. Mochten sie tun, was sie wollten. Mochte jetzt jeder sehen, wo er blieb! . . . Oben in den Räumen der jungen Frau war schon das Nötigste gepackt. Helmut Merker beugte sich zu seinem Töchterchen nieder. Er sah es zum erstenmal seit einem halben Jahr. Er nahm es auf den Arm und trug es hinter seiner Frau und der Nurse die Treppe hinunter durch das totenstille, wie ausgestorbene Haus, und setzte es in das Auto. Sie fuhren in das Hotel. Dort erst kam bei Edith der Rückschlag. Ihre Erregung löste sich in einen Weinkrampf auf. Er suchte sie zu beruhigen. Er streichelte ihr blondes Haar, ihre kalten Hände. Er küßte ihre blassen Wangen. Er wiederholte dabei immer von neuem, schon fast mechanisch: »Wir haben uns ja – wir beide! . . . Wir haben uns wieder!« Und das war ihm wirklich wichtiger als all das andere, das er sich immer noch nicht in seiner Tragweite ganz klarzumachen vermochte. Es gelang ihm, seine Frau dazu zu bringen, daß sie sich auf dem Bett hinlegte. Er wickelte ihr sorgsam die Füße in eine Decke und rückte ihr die Kissen unter dem Haupt zurecht. Sie ließ es geschehen, mit dem Anflug eines matten Lächelns. Dann schloß sie erschöpft die Augen. Lange saß er an ihrem Lager und bewachte ihre Ruhe. Dann, als sie ihm zu schlummern schien, machte er der Nurse ein Zeichen, seine Stelle einzunehmen, und ging auf den Fußspitzen aus dem Zimmer, um endlich sein Reisegepäck, das er bei seiner Ankunft morgens auf der nahen Station Charing Croß gelassen, zu holen. Er besorgte das fast geistesabwesend. Er war selbst immer noch wie vom Donner gerührt.

Vor seiner Türe im Hotel angekommen, hörte er von innen eine eintönig und gleichmäßig redende Männerstimme. Er trat ein. Seine Frau saß bleich und müde, die Hände im Schoß, in ihrem schwarzen Trauerkleid auf dem Bett, ihr gegenüber der alte Augustus Fleck. Die hageren Züge des Mannes aus Lancashire schienen um zehn Jahre gealtert. Er hatte tiefe blaue Schatten unter den geröteten Lidern. Aber die Augen selbst blickten klar und kühl. Geld konnte man verlieren, aber nicht den Kopf. Seine Worte atmeten eine hölzerne, zähe Kälte: »Die Ladies haben sich jetzt allmählich etwas beruhigt,« sagte er. »Wir haben anfangen können, mit Mrs. Wilding über die veränderte Sachlage zu reden. Ich kannte ja den ungefähren Umfang des Unglücks schon seit gestern. Ich hatte Zeit, mir zu überlegen, welche Maßnahmen . . . ich habe die Ehre, Ihnen guten Abend zu wünschen, Mr. Merker!«

Der hagere Baumwollspinner verbeugte sich steif und förmlich gegen den preußischen Offizier. Er reichte ihm nicht die Hand. In all den Jahren, seit sie sich kannten, hatte diese kalte Entfremdung bestanden . . . Helmut Merker begriff dies selbst am besten bei dem Vater Augustus Flecks des Jüngeren, dem er seinerzeit Edith abspenstig gemacht und der seitdem deren Elternhaus mit keinem Schritt mehr betreten hatte. Auch gegen die junge Frau beobachtete der Manchestermann dieselbe eisige Kühle. Aber immerhin war er als Gentleman höflich und schonend. Er streckte den langen Hals, der ihm immer das Aussehen eines alten Geiers gab, gegen Edith vor, räusperte sich und fuhr leidenschaftslos fort: ». . . welche Maßnahmen sich da ergeben! . . . Es ist mir lieb, wenn Mr. Merker auch die Güte hat, meinen Ausführungen zu folgen!«

Er hielt eine Sekunde inne und fügte dann zögernd hinzu: »Ich und MacCornick haben auch große Verluste erlitten. Sie sind hart. Aber wir sind, Dank dem Herrn, nicht die ersten besten. Fleck and Son halten schon einen Puff aus. Daher sind ich und Mac Cornick in der Lage, für den Lebensunterhalt deiner Mutter zu sorgen!«

Edith Merker nickte dankbar, aber zugleich mit einem leisen, wachsenden Ausdruck von Angst. Es war, als käme ihr jetzt erst allmählich etwas zum Bewußtsein. Der alte Herr fuhr fort: »Meine Tochter Lucy mit ihren Kindern nehme ich zu mir und ebenso natürlich Dickie, ihren Mann. Er mag sein Bestes tun, sich irgendwie nützlich zu machen. Daß Mac Cornick für Jane als seine Frau sorgt, ist selbstverständlich. Was Fred betrifft . . . Er ist ledig. Er hat eine Menge von Freunden an allen Enden von England! . . . Er ist ein wohlbekannter Sportcharakter! Solch ein junger Mann schlägt sich immer durch. Er ist selbst unbekümmert um seine Zukunft. Jetzt bleibst also nur noch du . . . .«

Die junge Frau sah erschrocken auf und preßte die Lippen zusammen. Augustus Fleck fuhr in unerschütterlicher Ruhe fort: »Mr. Merker ist in Deutschland Offizier. Wir wissen, daß der Kaiser von Deutschland junge Offiziere ohne eigenes Vermögen nicht anstellt. Deswegen, Edith, hielt dich dein Vater hier zurück. Er hatte nicht mehr das Geld zu deiner Heimkehr nach Deutschland! Er rang in letzter Zeit um jede tausend Pfund und war ängstlich, es gegen jedermann zu verschweigen . . .«

Der alte Kaufherr aus Manchester überlegte und versetzte dann nachdrücklich: »Mr. Merker hatte sich, wie ich sah, mit dieser Sachlage schon abgefunden. Er blieb in Deutschland und du warst mit deinem Kinde hier. Nichts würde aufdringlicher von meiner Seite sein, als Mr. Merker einen Vorwurf daraus zu machen, daß er das ausübt, was er gelernt hat: das militärische Handwerk in einem fremden – und – ich darf es mit Mr. Merkers Erlaubnis vielleicht sagen – uns fast feindlichen Staat. Dich von dort aus mit seiner geringen Gage, die kaum zum eigenen Lebensunterhalt ausreichen dürfte, zu unterstützen, würde Mr. Merker unmöglich sein. Also wird dein Unterhalt, den in dieser Zeit dein Vater bestritten hat, nun uns, deinen Verwandten, zur Pflicht . . . Bitte, Mr. Merker . . . ich sehe, Sie springen auf . . . Sie wollen sprechen . . . Aber ich wäre Ihnen so dankbar, wenn Sie mich bis zu Ende kommen ließen . . .«

Er wehrte mit einer trockenen Handbewegung ab und schloß, wieder zu Edith gewandt: »Du könntest also mit deinem Töchterchen abwechselnd in meinem Hause in Manchester und bei Mac Cornicks in Liverpool eine dauernde Unterkunft finden und da leben. Das bieten wir dir hiermit an. Mehr können wir nach bestem Gewissen nicht tun! . . . Ich weiß nicht, warum Sie die Faust ballen, Mr. Merker. Ich bin mir keines Unrechts bewußt. Ich erfülle hier meine Pflicht. Ich spreche als Christ, als Gentleman und als Brite – was eigentlich alles drei ein und dasselbe ist. Und bin nun fertig!«

»Und Sie bilden sich ein, werter Herr . . . « sagte Helmut Merker. Er kam nicht weiter. Seine Frau stand schluchzend, verzweifelt vor ihm. Sie faßte ihn an den Schultern. Sie versuchte ihn, zu seinem Erstaunen, von sich abzuwenden, gegen den Ausgang zu. Sie konnte nicht sprechen. Er machte sich los, musterte sie verblüfft und meinte: »Nanu . . . Edith . . . was soll denn das? Du schmeißt mich aus meinem eigenen Zimmer?«

Nun endlich fand sie Worte. »Geh! . . . geh . . . ich bitte dich . . . geh . . .!«

»Wohin denn . . . um Gottes willen . . .?«

»Zurück nach Deutschland . . . in deine Heimat . . . zu deiner Mutter . . . und zu deinen Brüdern . . . und zu deinen Soldaten . . .«

»Und du? . . . Und Klein-Mary?«

»Wir bleiben hier!«

»Ich glaube, du bist verrückt!«

»Mich lasse nur hier! . . . Kümmere dich nicht um mich! . . . Ich kann es nicht mehr verantworten, daß ich deine Frau bin!«

»Na . . . ich bin damit ganz zufrieden!«

»Ich bin dir nur eine Last im Leben! Nichts ist schrecklicher, als wenn eine Frau ihrem Mann nur eine Last ist!«

»Du bist mir wahrhaftig genug . . . «

»Ja! Ein Bleigewicht! . . . « Sie stieß es atemlos hervor. Augustus Fleck, dessen deutsche Sprachkenntnisse stark eingerostet waren, konnte ihren sich überstürzenden Worten nicht mehr folgen. Nur noch ihr Mann. »Ich häng' an dir! . . . Ich zieh' dich in die Tiefe! . . . Ohne mich würdest du ganz froh und gut in Deutschland leben, so wie es war, ehe wir uns kennen gelernt haben . . . «

»Das war eine verwünscht öde Zeit, Edith!«

Sie schüttelte wild den blonden Kopf und breitete die Arme aus und schaute verzweifelt zum Himmel empor.

»Warum hat uns der liebe Gott zusammengeführt, wo ich dir doch nur Unglück bringe? Das hast du nicht verdient, Hellie! . . . Du bist Soldat! Und du bist Deutscher! . . . Und das mußt du bleiben! . . . Nichts seh' ich mehr ein wie das! . . . Und ich . . . ich . . . ich . . ., die dich so liebt . . . ich hindere dich immer daran . . . Mich mußt du meinem Schicksal überlassen! . . . Du mußt über mich hinweg! . . .«

Sie sank laut aufweinend vor ihm auf den Boden nieder. Er hob sie sanft auf und zog sie an sich.

». . . Nun also Schluß mit dem Kohl!« versetzte er. »Da bist du . . . da bleibst du . . . verstanden? . . . Nee, Kindchen . . . zapple nur . . . ich lasse dich nicht los . . . Und Sie, Mr. Fleck . . .«

Der greise Baumwollspinner stand in seinem dunklen Paletot an der Türe, den Zylinderhut in der einen, den Stock mit Goldknauf in der anderen Hand. Helmut Merker trat vor ihn hm und sagte auf englisch: »Ich danke Ihnen für Ihre guten Absichten, Mr. Fleck! Auch im Namen meiner Frau. Ihr Vorschlag ist der eines Gentleman . . . Daß ich ihn nicht annehme, brauche ich nicht erst zu sagen . . .«

»Hellie!«

»Du, Edith, sei gefälligst mäuschenstill! . . . Also, Mr. Fleck, bitte, bestellen Sie jedem, den's angeht: Ich sei Manns genug, selbst für Frau und Kind zu sorgen!«

»Ich weiß nicht, wie . . . Mr. Merker!«

»Ich auch noch nicht!« sagte Helmut Merker. »Aber wozu gibt einem denn der Himmel ein paar kräftige Arme?«

»Ihre Gesinnung macht Ihnen Ehre, Mr. Merker! Sie macht Ihnen Ehre! . . . Aber denkt man sie sich in Taten umgesetzt . . . in bezahlte Arbeit, Sir! . . . Gerade diese Befürchtung ist es ja, die mich hierher führt . . . Wir sind von der Hand des Herrn schwer getroffen . . . wir wollen ringen, oben zu bleiben, und der Herr wird uns helfen, unsere respektable Stellung in der Welt zu bewahren . . .«

»Meinetwegen! Wenn unser Herrgott gerade nichts Besseres vorhat . . .«

». . . aber um so mehr müssen wir ängstlich bedacht sein, daß kein Mitglied unserer Familie – also auch nicht Mrs. Merker – gesellschaftlich sinkt . . . in Schichten verschlagen wird, die . . .«

»Meine Frau wird sich immer in sehr guter Gesellschaft befinden!« sagte der Leutnant. »In ihrer eigenen und in meiner! . . . Mehr brauchen wir, offen gestanden, nicht!«

Augustus Fleck wandte sich an die junge Frau. Er bemühte sich, etwas von väterlicher Milde in den Ausdruck seiner kalten Augen zu bringen.

»Es ist nicht weise, Edith, wenn man das letzte verloren hat, auch noch das allerletzte hinterherzuwerfen!«

Sie antwortete ihm nichts. Er hielt das für ein günstiges Zeichen. Er wiederholte: »Es ist nicht weise gehandelt! . . . Das siehst du selbst ein! . . . Du hast ja selbst eben Mr. Merker vorgeschlagen, dich wieder von ihm zu trennen . . . vorläufig wenigstens . . .«

Edith schaute erstaunt auf. Sie strich sich mit der Hand über die Stirne.

»Ich?«

»Nun ja . . .«

»Dann weiß ich nicht mehr, was ich gesagt hab'! . . .«

»Edith!«

»Ich tu', was er will! Er weiß es besser!«

»Edith . . . ich bitte dich ernstlich . . .«

Da sprang sie auf. Ihre Stimme war fest.

»Er will, daß ich bei ihm bleib' . . . Da geh' ich mit ihm, wohin er will! . . . Durch dick und dünn! . . . Da geschieht alles ihm und mir zugleich . . . Da gibt es keinen Menschen und kein Ding in England, das mich davon abbringt!«

»Wenn dem so ist, dann hab' ich hier allerdings nichts mehr zu suchen!« sprach Augustus Fleck. Er verbeugte sich steif und verließ das Zimmer.

Als er gegangen, standen sie beide lange stumm und hielten sich umschlungen. Sie waren in der Stimmung, in der man unter Tränen lacht. In der man sich mit dem Wort von den Vögeln unter dem Himmel und den Lilien auf dem Felde getröstet. In der der Hammerschlag des Schicksals Funken von Kraft und Wärme aus einem sprühen läßt, an die man selber vordem nicht glaubte.

Edith trocknete ihre Augen und sagte hoffnungsvoll, wieder in ihr britisches Bibeltum zurückfallend: »The Lord will provide for us!« – Der Herr wird für uns sorgen . . . Und Helmut Merker drückte ihr, wie einem tapferen Kameraden, die Hand. Vorläufig merkten sie ja noch nichts vom Kampf ums Dasein, waren hier oben in ihren luftigen Zimmern mit dem Ausblick auf die Themse geborgen gleich Schiffbrüchigen auf einer Insel. Sie blieben so den Abend und hatten sich, wie sie Hand in Hand auf dem Diwan saßen, so viel von dem Halbjahr ihrer Trennung zu erzählen, sich um Verzeihung zu bitten und einander zu vergeben, daß die Stunden im Flug vergingen. Schließlich legte sich eine tiefe Ruhe über sie beide. Sie kamen sich geläutert vor. Einer am andern . . .

Dann, gegen Mitternacht, fielen Edith vor Erschöpfung die Augen zu. Sie versank in einen ohnmachtähnlichen Schlaf. Er stand still, mit zusammengelegten Händen, vor ihr und betrachtete dies jugendlich-regelmäßige, liebliche, in seinem Schlummer, mit geschlossenen Wimpern, unbewegte Gesicht. Jetzt, ohne die Gefährtin seines Lebens, an die er bisher allein gedacht, die er, blind gegen alles andere, in diesen Stunden getröstet und gepflegt, kam er erst recht zu sich. Er fing an zu denken, zu sorgen. Die Zukunft ins Auge zu fassen. Es legte sich ihm schwer auf die Brust. Es machte ihn ratlos. Es war ein großer Unterschied, ob man sein bißchen Hirn nach Trostgründen für eine schluchzende kleine Frau durchstöberte oder ob man sich selber unerbittlich Rechenschaft ablegte: Was nun? Was morgen? Was wird aus dir und den Deinen?

Das Zimmer wurde ihm in seiner Unruhe zu eng. Er verließ es leise und trat, den Hut in die Stirne gedrückt, die Hände in den Paletottaschen, auf die Straßen von London hinaus. Die Riesenstadt mit ihren Rätseln, ihrer Unermeßlichkeit, ihrem Licht und Dunkel, ihrem Wechsel von Überfluß und Hunger schien ihm jetzt wie das Schicksal selbst . . .

Auf dem Strand war noch Laternenglanz, Wagenrollen, Leben. Jetzt eben hatten die vielen Theater der Umgegend geschlossen. Herren in Frack und Zylinder, Ladies mit bloßem Kopf und in zarten Abendtoiletten überschritten, vom Schutzmann geleitet, den Fahrdamm, elegante Nachtschwärmer und ihre Damen strömten in das Savoy. Helmut Merker ging durch das alles durch. Manchmal dachte er, er träumte die letzten sechsunddreißig Stunden, seit er Berlin verlassen, um nach London zu fahren. London . . . da vor ihm ragten in der Nacht die Courts of Inn am Eingang der City. Es war stiller um ihn geworden. Er blieb stehen und musterte das steinerne Stück Mittelalter mit seinen geheimnisvollen Höfen und Gängen. London . . . Hatte ihn denn diese Stadt und dieses Land abermals im Bann? Wie kam er wieder hierher? Er wollte doch nicht und eine unerklärliche Macht, eine unsichtbare Hand schob ihn immer von neuem an den Ort, dem er entfliehen wollte. Es war wie eine Rache dafür, daß er einst freiwillig das Inselreich dem eigenen Vaterland vorgezogen . . .

Er schritt weiter und sagte sich unerbittlich: ›Damals hast du die Uniform an den Nagel hängen wollen! Jetzt wirst du's müssen! Darin hat dieser alte Geldkratzer aus Manchester, der ehrenwerte Augustus Fleck, ganz recht: Der Leutnant, der mit Familie in Deutschland nur von seiner Gage leben kann und leben darf, der müßte erst noch geboren werden! . . . Es hat ein Ende . . . Es hat ein Ende . . .‹

Er war jetzt schon tief in der City. Er sah nicht eine lebende Seele ringsum. Doch – dort an der Straßenecke standen ein paar Gestalten – barhaupt, in alte Kohlensäcke gehüllt, mit verglasten Schnapsaugen – Nachttiere, wie sie Whitechapel drüben ausspie. Sie suchten Zigarrenstummel vom Boden auf, Orangenschalen, Gemüsereste, und verloren sich brummend im Dunkel. Helmut Merker sah ihnen nach und dachte sich: ›Ihr Paupers! . . . Bin ich denn reicher als ihr? Heute noch! Aber wenn ich morgen die Rechnung im Hotel für mich und die Meinen bezahlt hab', hab' ich ungefähr gerade noch so viel wie ihr! Nämlich nichts . . .›

Er fand sich auf einmal vor dem niederen, fensterlosen Festungsdreieck der Bank von England. Er schritt die lange, graue Front entlang und bog um die Ecke von Old Broadstreet und stand vor einer Türe mit der Messingtafel: ›John Wilding und Kompanie‹. Er wußte nicht, wie er dahin gekommen. Er sah sich die geschlossenen Rolläden an, dies altfränkische, schmale, hochgiebelige Haus, an dem weiter nichts Besonderes zu bemerken war, und es ging ihm mit einem leisen Frösteln durch den Kopf: Also da ist es geschehen! Da hat sich unser Schicksal erfüllt . . .

Stille ringsum. Kein Mensch. Doch . . . da, im Schatten des gegenüberliegenden Bürgersteigs, lehnte einer. Schaute wie er auf die Stätte von John Wildings Glück und Ende hin. Rührte sich nicht. Nein . . . Plötzlich setzte er sich in Bewegung . . . kam quer über die Straße – ein strupphaariger Mann in schäbigem Überzieher und schäbigem Filzhut, einen verwilderten Graubart um das rotgedunsene Gesicht — jeder Laufjunge hier kannte das City-Original, den alten Mr. Mathes. Der blieb vor dem anderen stehen und lachte kurz und belustigt auf, indem er ihm mit dem Griff seines Stocks gegen die Brust tippte.

»Well, Mr. Merker . . . Sie hier? . . . Trauern um den Schwiegerpapa? . . . All right! . . . Ich auch! . . . Wenn's mir was hülfe! Tut's aber nicht, old boy!«

Er hatte an diesem Abend offenbar noch mehr Whiskey und Soda als gewöhnlich getrunken. Er fuhr, während Helmut Merker in unwillkürlichem Unbehagen schwieg, voll grimmiger Heiterkeit fort: »Ein höchst bemerkenswerter Fall! Ist er's nicht? . . . Ein Straßenräuber sagt doch nur: ›Das Geld oder das Leben!‹ Das Schicksal aber hat unserem old Johny da oben beides in einer Nacht zugleich abgeknöpft!«

Und dann: »Sehr eigentümlich, Mr. Merker: Sonst heißt es immer, es zieht den Verbrecher an den Ort seiner Tat zurück . . . Aber hier versammeln sich statt dessen die Opfer . . . Sie und ich . . . haha . . . na . . . wir sind nicht die einzigen! . . . Hinter John Wildings Kassenschrank wird's mehr Leidtragende geben als hinter seinem Sarg!«

Als zählte er in diesem Augenblick zu diesem Trauergefolge, so langsam und schwerfällig setzte er sich bei seinen letzten Worten in Bewegung und schritt schnaufend, brummend, mit sich selber sprechend, fürbaß. Der Leutnant ging schweigend neben ihm her. Er hörte, wie der alte Fuchs kopfschüttelnd sagte: »Da hat man nun sein Leben hier verbracht . . . hat tagaus, tagein sein Geschäft in der City gemacht . . . Geschäft, wissen Sie, ist das Geld der anderen . . . Das Geld muß man ihnen abnehmen und in die eigene Tasche stecken. Sie glauben nicht, Herr, bei wieviel Leuten ich das in meinem langen Leben getan hab' . . .«

»Ich glaub's schon!«

»Mir war jeder recht! . . . Ich hab' sie alle hineingelegt. Nie war einer schlauer als ich! . . . Man hat mich gefürchtet, Mr. Merker!«

»Ich weiß!«

»Auf einen Mann in der Welt hab' ich mich nur verlassen, der hieß Karl Mathes und geht hier neben Ihnen. Wissen Sie: Es gibt Schotten, da oben im Hochland, die sehen's den Leuten an, ob sie bald sterben werden. So hab' ich es den Leuten hier in der City angesehen, wann ihre Wechsel nichts mehr taugen würden, und bin rechtzeitig von ihnen weggegangen . . . ganz still . . .«

Er blieb stehen und stieß Helmut Merker wieder vertraulich mit dem Knauf seines Stocks an die Rippen.

»Bloß von einem nicht, wissen Sie! Von Ihrem Schwiegervater nicht, Mr. Merker! Der war schlauer als wir alle. Hat sogar mich geprellt bis zum letzten Atemzug! Ich hätt's old Johny nicht zugetraut!«

Aus seinen Worten sprach nicht, wie sonst aus aller Welt Munde, Zorn, Kummer, Anklage, sondern eine sonderbare widerwillige Hochachtung vor einem Mann, der früher aufgestanden war als er. Er ergänzte:»Ich hab' elf Zwölftel meines Vermögens an Ihrem Schwiegervater verloren, Sir! Er hat mich geschoren wie das erste beste Grünhorn, Sir! Es bleibt mir eben noch genug zum Leben, bis mich bald mal der Schlag trifft. Zu viel Portwein und Brandy, wissen Sie, Sir! . . . Kommen Sie! Da ist City Road! Wir wollen einen Trunk nehmen!«

Es war eine zu dieser späten Nachtstunde noch offene ›Public Bar‹, in die er seinen Begleiter führte. Sehr gemischte Gesellschaft bevölkerte die Destille. Ihn störte das nicht! Er schien hier bekannt. Er bekam sogar für sich und den anderen zwei Stühle in der Ecke, während die übrigen Gäste stehend kneipten. Er leerte sein Whiskeyglas auf einen Zug, seufzte tief und forschte dann unvermittelt: »Well, Mr. Merker – was fangen Sie denn nun eigentlich an?«

Helmut Merker war dem Alten willenlos durch das Londoner Straßenlabyrinth gefolgt. In dieser beklemmenden Mitternachteinsamkeit der City schien einem jede Menschenseele willkommen und ein Freund. Er war froh, sich über das, was ihm auf dem Herzen lastete, aussprechen zu können.

»Vor allem muß ich meinen Abschied nehmen!« sagte er rasch und fest. »Ich muß für Frau und Kind sorgen, Herr Mathes! . . . Das kann ich als Leutnant nicht und überhaupt nicht in Deutschland . . . Dort ist alles voll von Menschen, die arbeiten wollen, meine gesellschaftliche Stellung ist mir überall nur im Wege, und ich hab' ja auch nichts gelernt, was mir daheim helfen könnte . . .«

Er brach ab, zündete sich eine Zigarre an und fuhr entschlossen fort: »Bei uns Zigarrenfritze werden oder als Versicherungsagent auf die Walze gehen – danke! . . . Mit dem Leutnant a. D. ist das bei uns überhaupt so eine Sache! Die wenigsten würden mir glauben, daß ich nichts pecciert hab', sondern ohne meine Schuld hab' aus dem bunten Rock heraus müssen . . . Da hat man unnütz auch noch das Odium auf dem Buckel . . . nee . . . dann lieber die Ellenbogen ganz frei! . . . Und da sag' ich mir: In Deutschland können viele Menschen Englisch, aber in England wenige Deutsch!«

»Richtig!«

»Und ich kann Englisch wie Deutsch! An meiner Aussprache merkt man mir hier noch den Ausländer an, aber sonst an nichts. Das ist das einzige, was ich außer meinem militärischen Beruf gründlich verstehe. Mir scheint, daran muß ich mich halten, das muß ich auszunützen suchen. Und das kann ich nur hier in England, wo ich zudem durch jahrelangen Aufenthalt Land und Leute viel genauer kenne als andere Deutsche!«

»Das sind aber gelernte Kaufleute, Mr. Merker . . . Und Sie nicht!«

»Ich werd' es eben zu lernen suchen!«

Es war eine Pause. August Mathes lächelte ungläubig vor sich hin. Dann sagte er: »Nichts von alledem werden Sie tun, Sir! . . . Sie werden einfach die Verwandten Ihrer Frau für Sie sorgen lassen, wie die anderen auch!«

Helmut Merker hob den energischen, sonnenverbrannten Kopf: »Da kennen Sie mich flach, Herr Mathes! . . . Ich nehme von der Blase kein Gnadenbrot! . . . Ich hab' die Verwandten heute bereits 'rausgeschmissen – mit diesem Anerbieten!«

»Und Ihre Frau?«

»Die hat mir dabei geholfen! Die trennt sich nicht von mir! . . . Die hat gerade solch einen Dickschädel!«

»So . . . so . . .« sagte der alte Mathes nachdenklich, nahm einen Schluck und starrte vor sich ins Leere. Dann prüfte er wieder mißtrauisch den jungen Mann.

»Sie hab' ich mir auch anders gedacht!« meinte er.

»Wieso?«

»Na . . . so die Herrchen vom bunten Tuch! . . . Die drängen sich doch sonst nicht so dazu, wenn's zu arbeiten gilt!«

Der Leutnant neben ihm schlug mit der Faust auf die Bar, daß der Küfer drüben erstaunt auf den Gentleman blickte.

»Was wissen denn Sie von deutschen Offizieren, Herr Mathes? Was wissen denn Sie von Deutschland überhaupt? . . . Sie sind von dort weg – Gott weiß wann, und haben sich nie mehr darum gekümmert . . . das sag' ich Ihnen ja jedesmal, wenn wir uns sehen . . .«

»Schimpfen Sie nur, Sir!« Der Alte sprach es ganz gemächlich. »Ich hab' ein dickes Fell! . . . Ich bin selber grob!«

»Und was haben Sie nun von England? Sie sind ein alter Mann und haben keine Familie und haben keine Heimat!«

». . . und seit gestern kein Geld . . . Alles richtig . . . sehr richtig, Mr. Merker . . . Ich komme mir selber dumm vor – in letzter Zeit . . .«

»Das wollt' ich natürlich nicht sagen, sondern nur: Sie haben Ihr Leben lang gearbeitet und Geld verdient. Ich weiß nicht, warum Sie mir dies Recht absprechen wollen . . . wo ich nicht wie Sie nur für mein eigenes wertes ›Ich‹, sondern für Frau und Kind zu sorgen hab'!«

Der alte Mathes nickte.

»Sie gefallen mir . . . wissen Sie?«

»Danke!«

»Sie sind der einzige, der den Kopf oben behalten hat. Ich hätt' Ihnen das am wenigsten zugetraut!«

»Meinetwegen halten Sie von mir, was Sie wollen!«

Der alte Volksmann brummte etwas zu der Unhöflichkeit des anderen in seinen verwilderten Graubart und frug dann rasch und bestimmt: »Was kann ich für Sie tun, Sir?«

»Für mich? . . . Sie?«

»Ich bin jetzt auch nachdenklich geworden!« sagte Karl Mathes. »Ich seh' die Dinge auch anders an, seit ein paar Tagen! . . . Bisher hab' ich fremdes Geld eingezogen! Das hat mir Spaß gemacht! Aber jetzt nehmen sie mir meinen eigenen Cash. Das freut mich gar nicht! Ich fang' nicht noch einmal von vorn an! Ich bin zu alt! Sie aber sind ein junger Mann! . . . Was kann ich für Sie tun, Sir?«

»Verschaffen Sie mir Arbeit!«

»Auch außerhalb Londons? . . . Hier sind zu viele Deutsche!«

»Wo Sie wollen!«

»Etwa in Liverpool?«

»Meinetwegen bei den Kaffern!«

»Das, was ich jetzt noch besitze . . .« sprach der alte Mathes sinnend und stand auf und zahlte für beide, »das steht bei Lucas Manners droben in Birkenhead. Es ist eine Company Limited. Old Lucas ist der leitende Mann. Er ist ein Deutschenfreund, weil er seine besten Geschäfte mit Deutschland macht. Er wird in seinem Kontor Platz für einen Gentleman Ihrer Art haben, oder ihn schaffen, wenn ich Sie empfehle! . . . Wollen Sie?«

»Ob ich will? . . . Herrgott . . . Sie fragen noch?«

»Aber es ist ein ganz bescheidenes Auskommen, Sir!«

»Wenn ich die Meinen nur vorläufig satt krieg', Herr Mathes!«

». . . und weit – lassen Sie mich das offen sagen – weit werden Sie es in Ihrem Leben als Kaufmann nicht bringen, Mr. Merker! . . . Sie sind nicht der Mann dazu! Satteln auch zu spät um!«

»Das weiß ich, Herr Mathes! Ich hab' mir mein Schicksal nicht ausgesucht! Aber unterkriegen lass' ich mich von ihm nicht!«

Sie waren in das Freie getreten und standen an einer Straßenecke. In einem letzten Anflug von Argwohn frug der Alte: »Wann würden Sie denn nach Liverpool reisen, um sich vorzustellen?«

»Um acht Uhr geht morgen früh der erste Zug mit der London and North-Western! . . .«

Karl Mathes nickte befriedigt.

»All right! Bis Sie mittags ankommen, sind Sie von mir telegraphisch angemeldet! . . . Gehen Sie dann gleich hin! . . . Notieren Sie sich's ja: Lucas Manners, Cp. Lt., Birkenhead! So . . . Geben Sie mir mal die Hand, Mr. Merker!«

Er drückte die Rechte des anderen kräftig. Der wollte anheben, ihm zu danken. Aber er wehrte brummig, mit einer Kopfbewegung ab.

»Nichts da! . . . Erwähnen Sie's nicht, Sir! . . . Ich muß jetzt schlafen gehen, Sir! – Gute Nacht!«

Helmut Merker stand und schaute – immer noch fast sprachlos vor Überraschung – dem alten Mann nach, der schwerfällig durch das Dunkel einer Seitengasse, als einer der wenigen Menschen, die auch nachts dort wohnten, in seine geliebte City zurückschlürfte, die City, in der er seinen Reichtum erworben und verloren. Jetzt bog er wie ein Schatten um die Ecke und verschwand.

Der junge Deutsche ging halb im Traum nach seinem Hotel zurück. Er brauchte fast eine Stunde dazu. Er klopfte leise an die Türe des Zimmers. Edith öffnete. Sie stand in ihrem langen weißen Gewand vor ihm. Er legte ihr die Hände auf die Schultern.

»Edith . . . gehst du überall mit mir hin?«

»Ja.«

»Bleibst du auch mit mir in England, wenn wir arme Leute sind?«

»Ja.«

»Wenn wir uns unsern Lebensunterhalt hier verdienen müssen?«

»Ja . . . aber . . .«

»Was denn?«

»Du hast doch immer erklärt, Hellie, du wolltest nie wieder nach England zurück!«

»Zum Faulenzen unter den Deinen – nein!« sagte er. »Aber zum Arbeiten – ja! Ich will doch sehen, ob ich uns nicht als ehrlicher Deutscher hier durchs Leben schlag'!«



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