Rudolph Stratz
Seine englische Frau
Rudolph Stratz

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5

Der dumpfe Klang der Huppe, das einförmige Surren der Gummireifen . . . eine lange Staubfahne dahinter – die Landstraße streckte sich weißgeschlängelt entgegen und ward von den eiligen Rädern verschlungen, die Augustsonne brannte vom wolkenlosen Spätnachmittaghimmel, ein paar Leute am Wege schimpften hinter dem Automobil. Die beiden innen saßen eng aneinandergerückt, Hand in Hand. Helmut Merker wandte das schwarzbebrillte Antlitz seiner verschleierten Frau zu und wies auf die grünen Höhen, die friedlichen Täler im Umkreis.

»Das ist nun meine Heimat, Edith! Der Odenwald. Da kenn' ich jeden Weg und Steg. Da hab' ich schon als Bub mit meiner Botanisiertrommel herumgestrolcht und als Pennäler Räuber und Gendarmen gespielt und geh' jetzt da auf die Jagd. Es gibt weiter oben sogar noch im Freien Hirsche!«

»Oh . . . Es ist so schön!«

Die junge Frau sah andächtig dies ewige Grün der Buchenwälder und Tannenforsten, an das sie von England her nicht gewohnt war. Das Automobil schoß steil zu Tal. Ein Städtchen lag da in fruchtbarer Senkung, Kirchtürme, ein altertümliches Schloß in der Mitte . . .

»Erbach!« Der Leutnant fing an, seine Handschuhe auszuziehen. »Nun machen wir also Muttern unsere Stippvisite! Sie freut sich so, dich kennen zu lernen, da sie nicht nach England zur Trauung kommen konnte!«

»Oh . . . ich liebe sie jetzt schon!« sagte Edith Merker. Er warf einen Blick auf die lederne Rückseite des Chauffeurs vor ihm. Dann küßten sich die beiden Hochzeitsreisenden hastig, machten harmlose Gesichter, als sei nichts geschehen, und fuhren durch die Gassen von Erbach, an dem langgestreckten Residenzschloß vorbei. Sie hielten an einem der mittelalterlichen kleinen Häuser und winkten und lachten im Aussteigen der alten Dame am Fenster zu. Die kam ihnen bis auf den Flur entgegen, schloß die Schwiegertochter in die Arme und schlug dann gerührt die Hände zusammen.

»Ach, wie hübsch! . . . Noch viel reizender als auf der Photographie!«

»Nicht wahr, Mama!« sagte der junge Ehemann stolz. »Das haben wir fein gedeichselt! Na . . . überhaupt . . . Komm 'rein, Edith! . . . Famos . . . Kaffee . . . Kuchen . . . Blumen . . . Herrgott . . . hab' ich Hunger! . . : Weißt du, Mutter . . . so als neugebackener Automobilbesitzer! . . . Wir haben unsere ganze Hochzeitsreise von Dover ab mit dem Auto gemacht . . . Es war großartig . . . so jetzt im Sommer . . . Paris . . . Trouville . . . Ostende . . . Brüssel . . . Wie meinst du? Wie hübsch, das seiner Frau alles zu zeigen? Umgekehrt! Sie war der Bärenführer und ich hab's Maul gehalten. Die Edith war da schon überall. In Paris kennt sie sich aus wie ein Alter!«

Edith Merker lachte und langte unbefangen nach den Schüsseln mit Gebäck und Eingemachtem und zog sie in ihr Machtbereich. »Hier ist's viel hübscher!« sagte sie zu der Schwiegermutter. »Erbach ist lieblich . . . fast so wie Chester!« Ihr Mann erklärte: »Wenn sie nämlich was schön findet, erinnert es sie an England!«

»Oh . . . aber ich will eine gute deutsche Frau werden!«

Sie schaute ihren Gatten und dessen Mutter freundlich an. Warum die alte Dame dabei vor Rührung feuchte Augen bekam, begriff sie nicht recht. Es war ja alles in Ordnung. Unten auf der Straße standen die Buben um das Auto, und in ihm winselte Mac Gregor, der Otternhund, der als dritter mitreiste: Helmut Merker hörte es, sah auf die Uhr und sprang auf.

»Schluß, Mutterchen! . . . Nee, nee – unwiderruflich Schluß! . . . Wir müssen weiter! . . . In 'ner Stunde sind wir daheim! Mein Urlaub ist zu Ende. Morgen früh ist Dienst!«

Er drückte fröhlich seinen blonden Schnurrbart auf die Lippen der alten Dame.

»Nun kennst du sie ja! . . . Hauptsache! . . . Nächstens mehr! . . . Wir haben ja jetzt das Auto . . . Geschenk vom Schwiegerpapa! Ob das nicht viel kostet? . . . Na . . . mächtig! Aber er gibt uns ja auch einen höllischen Jahreszuschuß . . . Mit dem Kasten da sind wir im Handumdrehen bei dir hier oben! Adieu! Adieu!«

»Adieu!« rief Edith mit heller Stimme. Der Wagen jagte davon. Die junge Frau band sich den Schleier fester. Ihr Mann sagte: »Ja, das war nun Mama! Ich gönn' auch ihr so die Freude an dir! . . . Sie hat ein schweres Leben hinter sich, Edith!«

»Aber sie hat euch Söhne zu ordentlichen Menschen erzogen. Das ist doch die Hauptsache!«

Er wickelte vorsorglich die Decke um die Kniee seiner Frau.

»Bis auf einen, Schatz! Wenn Mama heute abend betet . . . ich hab's oft im Nebenzimmer gehört: ›Lieber Gott! Schütze meinen armen Hugo! Schütze mein geliebtes Kind!‹ Das ist der, der um die Ecke gegangen ist . . . an den sie alles Geld gehängt hat . . . Ohne den verfluchten Bengel hätten wir ganz nett Kröten, könnten uns regen . . . Na . . . nun ist's ja gut! . . . Wer glücklich dich erwischt hat . . .«

Er fühlte Ediths Hand sich leise in die seine schmiegen. Stolz erfüllte ihn: Donnerwetter ja – er hatte es weit gebracht . . . Er glaubte manchmal selbst noch nicht recht an sein Glück.

»Nun sind wir bald daheim in unserem eigenen Nest, Edith!« versetzte er zärtlich. »Die Villa wird dir schon gefallen. Es ist die größte und schönste, die im ganzen Ort zu mieten war. Was dir nicht gefällt, kannst du ja ändern!«

»Sie wird wundervoll sein!« sagte Frau Edith. Sie pflichtete allem bei. Sie war mit allem einverstanden. Sie war geladen mit guten Vorsätzen, alles in Deutschland vortrefflich und nachahmenswert zu finden. Er küßte sie für dieses Wort. Stumm-selig fuhren sie weiter. Es begann zu dämmern. Blaß hing die Mondsichel fern im Osten über den Odenwaldbergen. Die Täler dunkelten mit ihren Lichtpünktchen einsamer Mühlen, auf weißlich dampfenden Matten lauschten scheu die Rehe. Käuzchenschreie klangen aus der Nacht der Buchenwälder . . . geisterhaft strich der Wind durch die weite, weite Stille . . . Es war das Land der Sagen, der Vergangenheit . . . Der junge Offizier deutete hinüber, in die Ferne.

»Dort drüben ist der Brunnen, wo Hagen den Siegfried erschlug!«

»Oh!«

Sie nickte beifällig. Aber er merkte: sie verstand das nicht. Na ja – woher sollte sie es denn auch haben – solch eine kleine Miß? Er lächelte gutmütig. Vor ihnen breitete sich plötzlich eine unabsehbare Ebene. Flach wie eine Tenne. Hunderte von Dörfern und Städten im Abendschein bis an verschwindende blaue Berge. Vor denen ein silbernes Geglitzer, wie von einem zerbrochenen Spiegel, im letzten Rot der Sonne.

»Die Rheinebene!« sagte er. »Siehst du . . . das da drüben . . . das ist der Rhein! Jetzt kommen wir in die fröhliche Pfalz!«

Eine weiche, warme Luft schlug ihnen im Niederfahren entgegen. Die Hänge an der Straße bedeckten sich mit dem dunklen Laub der Rebstöcke. Dörfer, die kleinen Städten glichen, dehnten sich breit und reich, schlossen sich beinahe aneinander auf dem uralten, von Mensch und Tier belebten, ununterbrochen wie zwischen Gärten hinführenden Völkerweg der Bergstraße. Und dann ein wirkliches Städtchen voll abendlichen Pfälzer Lärms, Kindergeschrei und Hundegekläff auf den Gassen, die Wirtshäuser voll von Menschen – da ein Gebäude, an dem das Auto langsam vorbeirollte, auf seiner großen, vorspringenden Veranda festlich mit bunten Lampen im grünen Weingerank geschmückt.

»Oh – der Landlord macht eine italienische Nacht!« sagte Edith, und er verneinte lachend.

»Das ist kein Wirtshaus, das ist unser Kasino! Sie haben gerade heute Bataillonsabend!«

Nun sah auch sie das Rot der Kragen, das Knopfgeglitzer der Überröcke, heitere, schnurrbärtige, sonnenverbrannte Gesichter, die dem ihres Mannes glichen, Damen dazwischen, Ordonnanzen mit Gläsern, Musik im Hintergrund. Dann bog das Auto um die Ecke. Es wurde dunkler. Der Chauffeur steuerte nach Helmuts kurzen englischen Weisungen vorsichtig weiter durch die engen Gassen von Alsheim an der Bergstraße, und sein Herr schaute vergnügt nach dem Kasino zurück.

»Da sitzen sie nun und picheln! . . . Pfirsichbowle, schätz' ich . . . und nicht zu knapp Sekt darin! . . . 's ist eine fidele Blase, Edith . . . du wirst schon sehen . . .«

Sie hatten ein altes düsteres Stadttor hinter sich gelassen. Frei auf einem Hügel lag eine große weiße Villa in reichem Grün, alle Fenster hell erleuchtet, das Gittertor der Einfahrt weit offen, das Portal oben mit Girlanden geschmückt. Helmut Merker sprang aus dem Wagen und hob seine Frau mit kräftigem Schwung der Arme zu sich heraus: »Willkommen, Edith, auf deutscher Erde und in unserem Haus!«

Dann lachte er und stellte die Leute vor, die sich am Eingang zur Begrüßung bereit hielten, die Köchin und die Hausmädchen und Peter, den strammstehenden, bis zu den Ohren grinsenden Burschen: »Dumm ist er, Edith! Du wirst dich noch wundern! Aber ein guter Kerl – was, Peter?«

»'Befehl, Herr Leutnant!«

Etwas abseits stand Harriet, die aus England vorausgeschickte Zofe, lang, dünn, frostig den Blick zum Abendhimmel. Sie mußte sich doch sehr über diese unpassende Vertraulichkeit zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer im Haushalt wundern. Daheim in Großbritannien waren solche Beziehungen rein geschäftlich-kühler Art. Sie fühlte überhaupt: hier war kein rechter Platz für eine Lady dienenden Standes. Sie warf einen vielsagenden Blick hinüber zu dem Chauffeur, ihrem Landsmann. Helmut Merker schaute inzwischen vergnügt im Kreise und suchte. Endlich rief er laut: »Na – zum Kuckuck! . . . Wo steckt denn meine Schwägerin, die das alles so schön eingerichtet hat? Luise . . . komm doch zum Vorschein! . . . Lu-i-s-e!«

Aber Frau Doktor Merker war schon am Nachmittag, nachdem sie noch die letzte Hand angelegt, nach Ludwigshafen zu ihrem Mann, dem Chemiker, zurückgereist, um die Neuvermählten nicht zu stören. Famos! Also gottlob – allein! Arm in Arm schlenderten die beiden miteinander durch die hellerleuchteten, behaglichen Räume, und die junge Frau schlug immer wieder die Hände zusammen.

»Oh . . . Darling . . . Darling . . . es ist wie ein Traum!«

Er sah sie glückselig an, wie sie da stand, mit halboffenem Mund und großen Augen, gleich einem Kind zu Weihnachten. Es war ja wirklich ganz unwahrscheinlich, dies prunkende Haus mit seiner Fülle von Räumen, seiner Flut von elektrischem Licht, seinen Palmen und Perserteppichen und Bronzen, seinem wirklichen kleinen Geldschrank da verschämt in der Ecke – und draußen der weite Mondscheingarten mit dämmernden Büschen und weißen Kieswegen und Springbrunnen. Sie traten, nachdem sie sich umgekleidet hatten, hinaus. Ein lauer Abendhauch umschmeichelte sie. Die Rosenbeete dufteten. Nachtkäfer kreisten mit schwerem Summen. Am Himmel blinkten die ersten Sterne. Fern, jenseits des Rheins, blitzte zuweilen eine huschende rote Wand auf, zeigte einen Moment die Umrisse des Hardtgebirges und verschwand.

»Wetterleuchten!« sagte der junge Ehemann. »Ich fürchte, es gibt Regen!«

Sie überhörte seine Worte. Sie hatte ihren blonden Kopf an seine Schulter geschmiegt und schlenderte weltverloren mit ihm hin.

»Oh! . . . das ist schön hier!« sprach sie träumerisch, in einer mehr deutschen Weichheit. »Das ist wie in Italien. Ich war einmal mit Pa und Ma in Sorrento.«

Dann wurde sie wieder die Alte. Sie sah umher, so wie der Brite Umschau hält, wenn ihm nach seiner Meinung etwas mangelt.

»Wo sind die Mandeln? . . . Du hast mir versprochen, daß es bei euch – bei uns Mandelbäumchen gibt . . .«

»Du stehst ja gerade drunter, Schatz!«

Sie löste beinahe andächtig die reifen, dunkelgrünen Schalen aus dem Laub. Es imponierte ihr.

»Und Feigen?«

»Dort drüben – eine ganze Hecke voll!«

Sie kauerten sich am Boden nieder. Da hingen unter den breiten Blättern die reifen, goldbraunen Früchte. Dort auch. Überall. Edith Merker jauchzte auf. Sie kostete eine und plünderte dann die Hecke weiter. Er sah ihr lächelnd zu. Gott sei Dank – ihr Appetit hatte in dem fremden Klima nicht gelitten. Er schmauste mit. Sie hockten einträchtig nebeneinander im Dunkel. Über ihnen war der ganze Himmel jetzt voll klarer Sternenpracht. Ein kühler Hauch kam von den Höhen. Von drüben, vom Städtchen her, klangen durch die stille Luft die langgezogenen Trompetentöne des Zapfenstreichs. Der Leutnant summte mit:

»Soldat – du sollst nach Hause gehn!
Sollst nicht mehr bei dem Mädchen stehn!
Der Haupt–mann hat's ge–sagt . . .«

Sie lachte. »Müssen wir auch ins Haus?«

»Besser ist's! Du verdirbst dir hier noch den Magen, Edith!«

Das kam ihr komisch vor. Ein britischer Magen und ein Dutzend Feigen! Oder auch ein paar mehr! Aber sie stand auf und nahm den Arm ihres Mannes. Da schimmerten die hellen Fenster. Vor denen glitt zuweilen im Oberstock der rauschende, windgeblähte Schatten einer großen, schwarz-weiß-roten Fahne hin. Förmlich behutsam, auf den Fußspitzen, schlüpften sie in ihr Heim. Dort machte Edith, voll Eifers, sich als deutsche Hausfrau zu zeigen, eine Entdeckungsreise in die Küchengebiete im Erdgeschoß und kam nach einiger Zeit, rascher als sie hingegangen, zurück.

»Oh, das sind keine guten letzten Neuigkeiten!« sagte sie mit komisch gespieltem Ernst. ». . . Nun ist Krieg zwischen England und Deutschland ausgebrochen!«

Ihr Mann fuhr ungläubig auf.

»Was? . . . Zum Donnerwetter? . . . Hast du die Zeitung . . .?«

Sie schüttelte lachend den hübschen Kopf.

»Oh . . . nur bei uns unten, Hellie! Harriet und Robinson« – das war der Chauffeur – »sind ganz erschrocken. Sie sollten mit den anderen am unaufgeräumten Küchentisch essen! . . . Sie haben jetzt ihr Dinner nebenan! Eins von den Hausmädchen bedient sie!«

»Meinetwegen!« lachte Helmut Merker.

Die junge Hausfrau meinte etwas gedrückt: »Sie haben mir beide erklärt, sie wollten morgen nach England zurückreisen! Ich habe sie gebeten, zu bleiben, und am Lohn zugelegt. Da haben sie gesagt, sie wollten sehen, was sie für mich tun könnten. Und Harriet hat gemeint, wir seien doch beide Engländerinnen, ich und sie, und es wäre wohl nicht achtbar von ihr, eine englische Lady in der Not im Stich zu lassen!«

»Na – grüß die Donna von mir!« sagte der Leutnant trocken und schloß die Fenster des Speisezimmers. Leises Wetterleuchten zitterte fern über der Hardt . . .

»Oh – es waren doch zu viel Feigen!« sagte Edith bald nachher sachlich bestimmt bei Tisch und schob ihren Teller zurück. Sie hatte keinen Hunger. Er auch nicht. Er tat alles, was sie tat. Sie erhoben sich und schauten vom Balkon in die Nacht hinaus. Drüben im Städtchen waren helle Lichter. An einer Stelle, nicht sehr weit, die bunten Farbenpunkte von Papierlaternen, Musik – Stimmengewirr – helles Lachen.

»Oh – da sind deine Freunde bei ihrem Fest!« sagte Edith, und er hatte einen Einfall.

»Weißt du was: gehn wir mal auf einen Sprung 'rüber! . . . Da lernst du das ganze Bataillon auf einmal kennen! Das macht sich viel gemütlicher als mit den steifen Besuchen!«

»O ja!« sagte sie erfreut. Sie war mit allem einverstanden, was er wollte. Sie holte sich mit der raschen Bestimmtheit ihrer englischen Art Hut und Mantel und wanderte unbekümmert an seinem Arm durch die dunklen, krummen Gassen des Städtchens dem Lichtschein entgegen.

»Nun kommst du zum erstenmal in deinen neuen Lebenskreis!« meinte er unterwegs. »Bist du ein bißchen aufgeregt, Edith?«

»Oh, warum denn?« Sie verneinte unbefangen. »Sie freuen sich gewiß sehr, wenn wir kommen!«

Oben auf der Veranda des Kasinos, wo alles bunt war von Uniformen und hellen Damenkleidern, hatte eben der dicke Hauptmann Kaltschmidt, der Vorsitzende der Weinkommission, sein Hauptkunststück zum Besten gegeben. Er entstammte selbst einer der großen Rebherrenfamilien aus der Neustadter Gegend, drüben in der Rheinpfalz. Ihm machte man kein X für ein U. Er hatte die Augen verbunden und kostete so ein Glas, das man hinter seinem Rücken gefüllt und ihm in die Hand gegeben hatte. Er ließ prüfend den Wein über die Zunge rinnen.

»Forster Ungeheuer Trockenbeere-Auslese 1904.«

»1903!« sagte der Stabsarzt Doktor Semmerau, selbst ein erprobter Weinbeißer, bedächtig. »Sonst stimmt's!« Ein Aufschrei der Bewunderung folgte.

Oberleutnant Flülein, der Bataillonsadjutant, rief ungeduldig mit seiner scharfen Kommandostimme: »Herrschaften – das ist doch Unfug – mit dem Überrheiner, wo wir die schöne Bowle haben!«

»Bowle ist 'n Weibertrank!« brummte der Hauptmann Kaltschmidt. Sein rötliches Junggesellengesicht leuchtete. Er trocknete sich den Schweiß von der Stirne. »Kinder . . . 'ne Hitze ist heute wieder! Man möchte gerade . . . Nanu . . . was ist denn das?«

Er riß die Augen auf. Es war ein liebliches Bild: In der Türe, die in das Innere des Kasinos führte, stand wie ein altenglisches Gemälde in einem Rahmen, hell vom farbigen Schimmer der Lampions übergossen, eine bildhübsche, blonde, schlanke junge Frau, ganz in Weiß, einen Strohhut auf dem Kopf, ein Tuch um die Schultern, und schaute mit einem freundlich sich einführenden Lächeln um die halboffenen, roten Lippen auf die Ladies und Gentlemen vor ihr, und neben ihr zeigte sich der Leutnant Merker in seinem hellgrauen Urlaubszivil und verkündete stolz lächelnd, mit kräftigem Ton: »Nächtlicher Überfall, meine Herrschaften! . . . Hier bringe ich meine Frau!«

Alles sprang auf. Es war ein Stimmengeschwirr, ein Durcheinander der Überraschung, ein Hallo. Edith Merker wußte nicht, wieviel Hände sie zugleich schütteln, wie sie gleichzeitig nach rechts und links sprechen, all die Vorstellungen und Begrüßungen entgegennehmen sollte. Sie stand freimütig lachend im Mittelpunkt des Gedränges. Der Major, ein frischer, flotter Herr, hatte ihr als der erste ritterlich die Hand geküßt: »Seien Sie herzlich gegrüßt im Bataillon, meine verehrte gnädige Frau!« Dann wandte er sich ganz aufgeregt an den jungen Ehemann: »Na . . . hören Sie mal, lieber Merker . . . mir scheint, da haben Sie ja einen sehr guten Kauf getan . . . das heißt: verzeihen Sie das etwas kühne Gleichnis . . . ich meine nur . . .«

»Danke gehorsamst, Herr Major! . . . Ich hoffe auch . . .«

Um Edith herum waren jetzt all die Damen: die Majorin, drei Hauptmanns-, vier Leutnantsfrauen. Eine von ihnen raffte, der Bedeutung des Augenblicks gemäß, die Trümmer ihres Pensionsenglisch zusammen: »We are so glad to meet you here . . .« Aber Edith hob abwehrend und lachend die Hände.

»Oh . . . Sprechen Sie nur Deutsch! Ich kann gut!«

Und die hübsche, kaum dreißigjährige Majorin Käufer rief begeistert ihrem Manne zu: »Oskar . . . Sie kann Deutsch wie wir!«

Edith Merker wollte ein übriges tun, wo man sie hier so herzlich aufnahm. Sie fügte hinzu: »Ich bin ja von Vaters her deutsch! Mein Vater ist noch in Frankfurt geboren!«

Ihre englische Aussprache ließ freilich trotzdem die Ausländerin in ihren Worten erkennen, und zu ihrem Erstaunen machte auch die Versicherung ihres Zusammenhangs mit dem Deutschtum keinen rechten Eindruck. Sie kannte die deutsche Schwäche für fremdländisches Wesen nicht. Man wollte ja gerade eine Engländerin im Regiment haben. Das war neu. Das war drollig. Aber sie fühlte: Auch ohne das hätte man sie, gleichviel woher sie kam, mit ebensolcher ungekünstelter Freude begrüßt. Es war, als hätten all diese Menschen nur auf sie gewartet. Sie war ganz gerührt über den Empfang. Sie lief auf ihren Mann zu, und der faßte ihre beiden Hände und blickte sie belustigt an.

»Na – Maus, was machst du denn für ein Gesicht?«

»Ach – sie sind alle so gut zu mir, Hellie!«

»Na hoffentlich!«

»Ja aber warum denn? Sie kennen mich ja doch noch gar nicht!«

»Du bist jetzt im Regiment! Das ist wie . . . wie so 'ne Art Familie! . . . Da werden keine langen Kinkerlitzchen gemacht. Wer da hineinkommt, der gehört auch mit dazu!«

»Oh!« sagte sie. Das Regiment . . . Sie verstand das nicht recht. Aber es machte sie froh, daß das so war. Es gab ihr auf einmal solchen Halt in der Fremde. Beruhigt, heiter und hübsch saß sie zwischen dem lebhaften, weltmännischen Major Käufer und dem dicken, gemütlichen Hauptmann Kaltschmidt und hatte ein mächtiges Glas mit Pfirsichbowle vor sich und amüsierte sich, daß richtige Soldaten in blau- und weißgestreiften Leinenjacken bei Tisch bedienten, und wunderte sich, daß die Herren in Gegenwart der Ladies rauchen durften, und schaute den Tisch entlang und fand, daß die Damen fast alle sehr gut angezogen waren. Es war ganz, wie ihr Mann es ihr gesagt hatte: Man war hier gar nicht in der Wildnis. Sie war sehr zufrieden.

Der Major Kauser erhob sich und klopfte an sein Glas. Es entstand eine erwartungsvolle Stille. Er räusperte sich. Dann begann er mit sehr lauter Stimme: »Meine Damen und Herren! Hier passiert für gewöhnlich nischt! Und auch das selten! Das wissen wir! Daran sind wir gewöhnt! Wenn sich hier mal was ereignet, so ist das ein Ereignis. Meine Herrschaften: dieser Fall ist heute eingetreten. Wir können, wenn wir heute auseinandergehen, uns sagen: mal was Neues! Und mal was Nettes!

»Meine Herrschaften: wie unser guter Merker hier dies Frühjahr zu mir kam und Urlaub nach England haben wollte, da sagte ich zu ihm: ›Kind Gottes, was haben Sie denn dort verloren?‹ Meine Herrschaften: Herr Leutnant Merker war klüger als wir alle! Der hat schon gewußt, was er dort finden würde!«

Er verstärkte noch den Klang seines Basses. An der Wand hinter ihm standen stumm, still wie die Bildsäulen, die Kasinoordonnanzen.

»Meine Damen und Herren! Von Seiner Majestät dem Kaiser besitzen wir unter anderem das wertvolle Wort: ›Blut ist dicker als Wasser!‹ Unser allergnädigster Herr wollte damit ausdrücken, daß eine Stammesverwandtschaft zwischen uns und unseren Vettern jenseits des Kanals besteht. Und in diesem Falle, den wir hier vor Augen haben, besteht außerdem eine engere Verwandtschaft, eine Familienverwandtschaft zwischen einem deutschen Vetter und seiner englischen Base. So ist eine doppelte Gewähr für das Glück der Zukunft gegeben – na – und was wir hier von außen mit unseren bescheidenen Kräften dazu tun können – daran soll es wahrhaftig nicht fehlen!«

Er erhob sein Glas gegen Edith Merker, die lachend und unbefangen aus ihren glänzenden blauen Augen zu ihm aufsah.

»Meine verehrte gnädige Frau . . . Eigentlich ist's ja Sache des Regiments . . . aber unser verehrter Kommandeur weilt nicht in unserer Mitte – wir leben ja hier in der Verbannung als detachiertes Bataillon – fühlen uns aber dabei merkwürdig wohl – nicht, meine Herren? – . . . also bin ich hier vorläufig der oberste Mann an der Spritze und heiße Sie in unser aller Namen herzlich in unserer Mitte willkommen und hoffe, Sie werden an der Seite Ihres Mannes die Trennung von Ihrer lieben englischen Heimat bald verwinden und eine frohe deutsche Soldatenfrau werden! . . . Nochmals willkommen, gnädige Frau!«

Er stieß mit ihr an. Edith lächelte dankbar. Die ritterliche Leichtigkeit deutscher Offiziere tat ihrem Frauenherzen wohl. Sie fühlte sich auch geschmeichelt, der Mittelpunkt des Ganzen zu sein. Der Reihe nach kamen alle zu ihr, die vor ihrem Stuhl stand, und ließen ihr Glas an das ihre erklingen, und dazu spielte die Musik auf den Wink des Adjutanten einen dreimaligen Tusch. Dann setzte man sich. Das Stimmendurcheinander begann wieder. Unten am Tisch war die Laune schon sehr lebhaft. Dort saß Helmut Merker als einziger Zivilist zwischen seinen Kameraden. Er war unendlich stolz auf seine Frau und auf alles. Wie hatte sich seine Stellung im Regiment jetzt verändert! Er merkte es an jedem Wort, an jeder Kleinigkeit. Er fühlte: Man begegnete ihm mit unwillkürlichem Respekt. Er war der Mann, der ein eigenes Auto besaß, eine große Villa bewohnte, fern in England einen Schwiegervater auf Geldsäcken sitzen hatte.

Der Leutnant Gustavus goß ihm ein und meinte: »Na – du oller Rothschild – nu wirst du dir wohl auch noch 'nen Gaul zulegen!«

Und er antwortete, unbewußt ein wenig nachlässig, im Stil eines englischen Klubmannes: »Ich denke, zwei! . . . Meine Frau reitet doch auch! Besser als wir alle!«

Dabei suchte er mit den Augen Edith oben an der Tafel, und sie grüßte ihn mit einem leisen, lächelnden Kopfnicken. Die Musik spielte das Rheinlied. Frau Leutnant Flülein, eine große, stattliche Blondine, die einen schönen Sopran besaß, sang übermütig aus voller Kehle mit:

»An den Rhein, an den Rhein – zieh nicht an den Rhein! . . .
Mein Sohn – ich rate dir gut . . .«

Viele der anderen, Herren und Damen, stimmten ein. Der Gesang brauste aus dieser bunten, kleinen Lichterinsel des Kasinos über das verschlafene Städtchen und die im Mondschein dämmernde Ebene, in der fern dort drüben der Vater Rhein seine silbern glänzenden Fluten wälzte. Schwer hing das Weinlaub der Veranda über den fröhlichen Zechern, die Trauben in ihm zeigten schon die erste reifende Röte der Beeren, durch die Lücken der Blätter funkelten hoch die Sterne, wehte ein warmer Wind – Edith Merker hatte den Mund offen: Ihr, die von dem ewigen: ›Oh, yes‹ des Drawing-Room kam, waren diese lustigen Rheinländer ganz neu. Aber nett. Es ging zu wie in einer fidelen großen Familie. Jetzt wußte sie, woher ihr Mann dies übermütige Lachen in den Augen hatte, in das sie sich zuerst verliebt. Er saß, den Stuhl schon etwas zum Aufbruch zurückgerückt, und hörte nur halb auf die eindringlichen Vorschläge eines Kameraden in betreff einer Jagdpacht im Odenwald. Teuer, aber tip-top. Sogar Birkwild!

»Na ja . . . ich werde die Jagd ja wohl nehmen!« sagte er herablassend und gab Edith einen Wink. Es glückte ihnen, sich unbemerkt zu drücken. Eine Minute später standen sie schon vor dem Kasino und schritten längs der altertümlichen Häuser heim. Beide in rosiger Stimmung. Er schwenkte sein Spazierstöckchen und trällerte: »Guter Mond, du gehst so stille . . .« Sie hatte, des Staubes wegen, ihr weißes Kleid gerafft, setzte energischen Tritts die langen schmalen Schuhe voreinander und sagte mit geröteten Wangen – ein ganz klein bißchen war ihr die Pfirsichbowle zu Kopf gestiegen: »Das ist zu nett . . . in eurer Messe . . .«

Und dann sehr entschieden, mit einem glücklichen Lächeln und einem Blick nach oben: »Oh . . . das Leben ist doch ein gutes Ding!«

Er hätte sie am liebsten an sich gezogen und geküßt. Aber in einiger Entfernung hinter ihnen klirrte ein Säbel. Da ging auch ein Offiziersehepaar nach Hause. Edith fing an, von ihren Eindrücken zu erzählen. Oh – die Ladies waren zu reizend. Sie hatte auch gleich bei ihnen die Gründung eines Golfklubs angeregt. Fünf Damen hatten sich sofort als Mitglieder gemeldet. Man würde einen passenden Platz in der Rheinebene pachten und da guten Sport haben . . .

»Frau Kauser ist auch eine sehr nette Frau!« berichtete sie weiter. »Ich habe sie eingeladen, sie möchte uns doch einmal besuchen!«

Er blieb entsetzt stehen.

»Du – die Majorin?«

»Ja!« versetzte sie unbefangen.

»Was hat sie denn da um Gottes willen geantwortet?«

»Sie hat sehr gelacht und die anderen Damen auch und gemeint, sie würde schon einmal kommen!«

»Teures Kind!« sagte der Leutnant Merker im Weitergehen. »Die Majorin Kauser ist deine Vorgesetzte. Der wirst du – oder vielmehr werden wir dieser Tage zuerst unsere Antrittsvisite machen!«

»Oh . . . Bei uns in England muß eine neugekommene Lady warten . . . bis . . .«

»Du bist aber nicht in England, mein guter Schatz, sondern in der deutschen Armee!«

Drüben über der Rheinebene flammte ein leises Wetterleuchten auf. Es lief über den ganzen Horizont, vom Taunus bis zum Wasgenwald . . .

Eine kurze Minute schwiegen die beiden. Dann gestand Edith Merker reumütig, den Arm ihres Mannes nehmend: »Du hast sehr recht! . . . All right . . . Ich bin in der deutschen Armee! Ich werde gerne zuerst hingehen und Frau Käufer sehen!«

Nun küßte er sie doch an einer stillen Ecke zum Dank. Als sie weitergingen, frug sie mit komischem Ernst: »Hellie – hab' ich noch viele Vorgesetzte?«

Er mußte lachen.

Es ist nicht so schlimm! . . . Vor allem noch die Kommandeuse! Das ist die eigentliche Vorgesetzte aller Regimentsdamen!«

Sie platzte belustigt heraus und marschierte in gleichem Tritt mit ihrem Mann. Es machte ihr keine Mühe. Sie war an lange Sportschritte gewöhnt.

»Ihr seid zu drollig! . . . In England kann man sich nicht denken, daß eine Frau Vorgesetzte hat!«

»In England ist überhaupt manches faul!« sagte er. »Deswegen habe ich dich ja von dort weggeholt!« Er stieß die Türe seines Gartens auf. Die Mondnacht war zu schön. Er und Edith konnten sich nicht von ihr trennen. Sie setzten sich im Garten auf eine Bank. Es war nun schon gegen Mitternacht. Sie hielten sich umschlungen und träumten in die bläulich-silberne Weite hinaus. Um sie zirpten unermüdlich die Grillen. Von ferne kam Hundegebell. Der Pfiff einer Lokomotive. Dann lächelte die junge Frau.

»Ich freue mich so auf morgen früh! Da gehen wir durch das ganze Haus und sehen alles erst recht im hellen Sonnenschein!«

»Aber erst schlafen wir ordentlich aus!«

»O ja!« Da pflichtete sie sehr bei. Sie war von ihrem Inselreich her alles eher als eine Frühaufsteherin. Er zog sie noch fester an sich.

»Wenn ich nun damals in Dover nicht Gedichte gemacht hätte und sie hätten mich nicht verhaften wollen . . .«

»Oh . . . wie gut, daß sie es taten!«

»Begreifst du jetzt, daß man Gedichte machen kann, Edith?«

Seine Stimme klang weich, im Glück verloren. Sie nickte zustimmend. Ganz verstand sie das freilich immer noch nicht. Er fuhr aus seiner Weltvergessenheit auf. Ein dunkler Schatten war um die Ecke getreten und stand stramm.

»Was haben Sie denn da zum Teufel, Peter!«

»Herr Leutnant Flülein hat eine Kasinoordonnanz mit dem Parolebuch geschickt!«

»Ach so!«

Helmut Merker las in der Helle des Mondscheins, unterzeichnete mit dem Bleistift, gab das Buch dem Burschen, der sich damit trollte, und sagte, aufstehend und sich in den Schultern reckend, zu seiner Frau: »Uff – das gibt wenig Schlaf – diese erste Nacht! Um vier Uhr muß ich schon wieder aus den Federn!«

»Was?«

»Um fünf steht das Bataillon auf dem Exerzierplatz. Kombinierte Gefechtsübung mit dem Rest des Regiments, auf den wir irgendwo unterwegs in der Rheinebene stoßen! Das kenn' ich! Da kommen wir vor Mittag nicht heim!«

Edith Merker hob bittend die Hände.

»Oh – dear me – das geht doch nicht! . . . Am ersten Tag . . . sag doch ab!«

»Ich glaube, du bist verrückt!«

Er lachte dabei so ehrlich, daß sie ihm nicht böse sein konnte. Sie war nur betrübt. Dann wieder tapfer.

»Ich werde auf dich warten!« sagte sie. »Und dann werden wir lunchen und nach dem Lunch fahren wir aus. Ich möchte so gerne morgen mit dem Auto nach Frankfurt. Ich will das Haus unserer Verwandten dort sehen!«

Helmut Merker kannte seine junge Frau nun schon gut genug, um den heiligen Respekt einer freien Britin vor allem, was Adel und Reichtum hieß, zu verstehen. Ein Titel – er hieß Doktor oder Hauptmann oder Direktor – imponierte ihr gar nicht. Es mußte das »von« und die Millionen des Frankfurter Patriziergeschlechts der Wildings dahinter stehen. Zu denen wollte sie durchaus und sich in diesem großen Hause ihre Stellung machen. Das Ziel hatte sie mit angelsächsischer Beharrlichkeit vor Augen. Ihr Mann zündete sich nachdenklich eine Zigarette an.

»Morgen nachmittag ist's mit Spritztouren Essig, mein Schatz! . . . Ich hab' um vier Uhr Exerzieren auf dem Kasernenhof und nachher blüht mir noch ein Schuh- und Stiefelappell!«

Sie machte erschrockene Augen.

»O Gott . . . den ganzen Tag . . .,« sagte sie. »Warum tut ihr das? . . . Warum gebt ihr euch so viel Mühe mit alten Stiefeln?«

»Weil der Mensch nicht zum Vergnügen auf der Welt ist!« Er führte sie in das Haus und verschloß weitere Fragen auf ihren Lippen mit einem Kuß. »Das ist dir jetzt noch zu hoch, Maus! . . . Du mußt dich erst hier einleben! Dann geht dir auf einmal ein Kerzenlicht auf. Dann siehst du, wie notwendig das ist! . . . Da drüben fließt der Rhein! Überm Rhein lauern die Franzosen! Die haben schon oft hier in der Pfalz gesengt und gemordet, daß kein Stein auf dem anderen geblieben ist. Wenn wir nicht höllisch aufpassen, daß bei uns in der Armee alles am Schnürchen geht, ist die Schwefelbande morgen früh schon wieder da!«

Die junge Frau schmiegte sich vertrauensvoll an ihn. Sie war getröstet.

»O ja!« sagte sie. »Ich will auch so sein wie du! Ich will sein, wie es in Deutschland gut ist!«

Mitten in der Nacht wachte Edith Merker auf, setzte sich empor und schaute erschrocken und verwirrt um sich in das Dunkel, das nur eine unstet flackernde Kerze erhellte. Irgend etwas hatte sie geweckt – etwas wie eine Berührung, ein Hauch auf ihrer Stirne. Eine Gestalt beugte sich über ihr Bett – fremdartig – sie sah einen roten und blauen Schimmer, das Glitzern von Knöpfen, sie hörte das Rasseln eines Säbels – sie hätte beinahe aufgeschrieen . . . aber nein . . . natürlich . . . Gott sei Dank: das war ja ihr Mann . . .

Sie hatte ihn nur einmal im Leben ein paar Stunden lang in Uniform gesehen, das war am Tag ihrer Trauung in London gewesen. Damals hatte ihr die Aufregung den klaren Blick benommen. Sie hatte durch den Brautschleier alles wie im Nebel geschaut. Sie hatte nur eine undeutliche Erinnerung an seine Erscheinung. Jetzt stand er sonderbar martialisch im Kerzenlicht vor ihrem Bett, die Schuppenkette unter dem Kinn, den Greif des Helmwappens durch einen grauleinenen Überzug verhüllt, in hohen Stiefeln, ein lächerliches kleines Schultornisterchen auf dem Rücken. Unten im Eßzimmer hörte sie den Burschen hantieren. Ein würziger Geruch von frischgebranntem Kaffee drang herauf. Vor den Fenstern kämpfte das erste ahnende Dämmergrauen mit der Finsternis.

»Vier Uhr morgens, Schatz! sagte der Leutnant Merker und gab seiner Frau wieder einen Kuß, diesmal nicht auf die Stirne, sondern auf den Mund. »Adieu! Ich muß fort!«

»Oh – was ist denn? . . . Sind Diebe da?«

Sie war immer noch schlaftrunken. Er mußte lachen.

»Die hätten's gut – bei deinem gesegneten Schlummer! Ich bin aufgestanden, ohne daß du es gehört hast. Aber ohne einen Kuß konnt' ich doch nicht weg!«

»Weg?«

»Na ja – in den Dienst!«

»Ach so . . .«

Sie seufzte. Nun begriff sie. Es pochte an die Türe. Harriet, die englische Zofe, erkundigte sich von außen. Sie sei sehr ängstlich, zu hören, ob die Lady krank sei? Es sei solch eine Unruhe im Haus.

»All right!« schrie Helmut Merker etwas ungeduldig. Er sah unten im Hof Robinson, den Chauffeur, mit einer Stall-Laterne in der Hand stehen und besorgt nach den hellen Fenstern hinaufblinzeln. »Kinder – daran müßt ihr euch nun einmal gewöhnen, daß ich mit den Hühnern aufsteh'! Das ist anders als bei euch Schlafmützen in England!«

Freilich, wenn dort der Hausherr vor Tag und Tau aus den Federn kroch, dann brannte es entweder, oder es stand ein unerhört glorreicher Sport in Aussicht. Aber hier – um mit den Soldaten zu üben . . . Frau Edith schüttelte bang den Kopf. Ihr war auf einmal weinerlich und jämmerlich zumute.

»Hellie . . . laß mich nicht allein! Es ist doch solch eine unchristliche Zeit!«

»Kind – was schwatzt du für Unsinn!« sprach der Leutnant Merker kaltblütig und schnallte den Tragriemen seines Revolvers an der Seite fester.

»Oder fahre wenigstens mit deinen Freunden im Auto nach! . . . Da holt ihr die Soldaten noch leicht ein!«

Er faßte sie mit der Hand unter das Kinn und blickte sie belustigt an.

»Du bist mir der geborene Stratege, Maus! An dir hätte Moltke seine helle Freude gehabt! . . . Peter . . . ist der Kaffee fertig?«

»'Befehl, Herr Leutnant!« brüllte es von unten.

»Na – denn man zu!«

Er wollte sich von seiner Frau verabschieden. Aber die wehrte ab. Sie dachte jetzt auch an ihre Pflicht.

»Schick mal den Burschen fort!« sagte sie entschlossen. »Du sollst nicht allein dein Frühstück haben! Ich komme mit hinunter!«

Sie schlüpfte rasch in Morgenrock und Pantoffeln, setzte sich, immer noch schlaftrunken, neben ihren Mann, goß ihm Kaffee ein und strich geschäftig Butterbrot. Er fuhr ihr zärtlich mit der Hand über das unordentliche blonde Haar.

»Du bist ja eine famose kleine Offiziersfrau! Wer hätte das gedacht!«

Sie war stolz auf sein Lob. Und auf sich selber. Eigentlich war es ganz lustig, hier in dem hell von dem elektrischen Licht beleuchteten Eßzimmer – draußen der fahle Dämmer, Hähnekrähen, nicht Tag und nicht Nacht – einmal etwas ganz Neues – da sah Helmut Merker auf die Uhr und erhob sich.

»Nun leg dich wieder in die Klappe, Schatz! Ich muß weg! Sonst versäum' ich das Zauberfest! Höchste Eisenbahn . . .!«

Die Haustüre schlug hinter ihm zu. Sie hörte seine raschen Tritte auf dem Kies. Das Klirren des Gartengitters. Dann tiefe Stille. Sie war allein. Sie stützte den hübschen Kopf auf die Hand und schaute vor sich hin. Komisch. Plötzlich ohne ihn . . . Und seinetwegen war sie doch im fremden Land . . . Harriet, die Zofe, streckte ihr übernächtiges Gesicht durch die Türspalte. Unverkennbare Mißbilligung dieser nächtlichen Ruhestörung lag auf ihren Mienen. Ihre Herrin wurde etwas ärgerlich – gerade weil sie ungefähr das gleiche empfand. Sie sagte auf englisch: »Was wollen Sie denn eigentlich, Harriet? Mr. Merker wird noch oft so früh aufstehen. Das ist sein Geschäft. Da ist nichts zu machen!«

Aber sie selber konnte sich nicht entschließen, sich wieder hinzulegen. Sie saß müßig und unschlüssig da, die Hände im Schoß. Jetzt, wo es vor den Fenstern immer heller wurde, merkte sie: es regnete draußen. Es regnete Bindfaden. Die Welt lag trübe, grau in grau. Große Wasserpfützen standen auf dem Weg. Die fallenden Tropfen zogen darin einförmig ihre Kreise. Sie gähnte nervös. Sie drehte das elektrische Licht aus. Nun war das Zimmer sonderbar fahl. Fast unheimlich im Zwielicht. Sie setzte sich wieder. Sie sah sich im Spiegel. Sie war beinahe erstaunt über diese hübsche blasse junge Frau im weißen Morgenrock.

Sie war zum erstenmal in ihrem Leben auf sich selbst angewiesen. In England hatte man immer die Eltern um sich gehabt, die Geschwister, die Freundinnen. Man hatte einen gemeinsamen Tageslauf, gemeinsame Ziele und Zeiten. Aber hier . . . sie konnte doch nicht ihren Mann auf den Exerzierplatz begleiten . . .

Es regnete immer stärker. Nun hatte sie die Hoffnung: bei dem Wetter werden sie zu naß! Da bleiben sie daheim! . . . Hellie kommt wieder nach Hause! . . . Es war ein sehnsüchtiger Gedanke. Aber da nahte sich schon fern auf dem Weg ein schweres, dumpfes Schreiten von Hunderten von gleichmäßig marschierenden Stiefeln. Dann ein kurzer, scharfer Ruf: »Ohne Tritt!« Das Schüttern verwandelte sich in ein unbestimmtes Getrappel, kam um die Ecke – triefende Pferdeköpfe voraus – der Major steckte gerade im Sattel seinen Säbel in die Scheide. Er sah gar nicht so liebenswürdig aus wie am Abend vorher, sondern streng und ernst. Neben ihm ritt der Leutnant Flülein, eine Schärpe von der Schulter zur Hüfte, dahinter der vor ein paar Stunden noch so joviale, jetzt bärbeißig dreinblickende Hauptmann Kaltschmidt. Dann der lange Heerwurm der Pickelhauben, die Gewehre kreuz und quer im Regen, berittene Compagniechefs, Leutnants zu Fuß, dröhnender Gesang der Mannschaft . . . jetzt kam die letzte Compagnie.

Mitten unter den Musketieren, an der rechten Seite einer Sektion, erkannte Ediths Auge ihren Mann. Er schritt gleichmütig dahin. Sie dachte sich: Ach Gott, der Ärmste! Er ist sicher schon naß bis auf die Knochen! Sie konnte ihm nicht zuwinken. Sie hielt sich, der fremden Blicke wegen, in ihrem Negligé hinter dem Fenstervorhang verborgen. So sah er sie nicht, als er im Vorübermarschieren die Augen nach seinem Hause wandte. Er bemerkte nur unten im Hof den Chauffeur, der, eine kurze englische Stummelpfeife im Munde, seinen Lederanzug reinigte und, mit nüchterner Geringschätzung die Truppen musternd, seinen Herrn in der bunten Verkleidung gar nicht erkannte. Über Helmut Merker kam ein Anflug von Ärger: da hatte man nun einen 24 HP-Motor stehen und lief selber im Dreck herum! Gleich darauf war die Mißstimmung bei ihm vorbei, und er trat absichtlich mit seinen hohen Stiefeln in eine Pfütze, daß das Wasser spritzte.

Fern verhallte der Marschtritt und Gesang. Frau Edith lauschte ihm kummervoll nach, bis sie nichts mehr vernahm als das leise einschläfernde Rieseln des Regens. Da wandte sie sich seufzend vom Fenster ab. Ein Frösteln überlief sie, trotz der lauwarmen Treibhausluft der Rheinebene. Es kam mehr aus der Seele. Es war ein Gefühl: Hier ist etwas um einen, über einem, das du nicht kennst! Dein Mann liebt dich, und doch geht er früh morgens aus dem Haus und läßt dich den halben Tag allein, drei Wochen nach der Hochzeit! Er muß! Andere wollen's! Und er gehorcht! Er gehört nicht nur dir! Und auch nicht nur sich, was dasselbe wäre! . . . Er ist nicht unabhängig wie ein britischer Gentleman. Er hat fremde Menschen über sich. Nein – nicht eigentlich Menschen. Es war mehr ein Gesetz . . . eine sonderbare Weltanschauung . . . eine freiwillige Unterordnung . . .

Und da wurde es in ihr, wie sie mit gesenktem Kopf in ihr Schlafzimmer zurückging, allmählich klar: Ich bin nicht mehr in England! Die Inseln der Freiheit liegen hinter mir! Ich bin in Deutschland. Ich bin im Land der Pflichten . . .



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