Rudolph Stratz
Seine englische Frau
Rudolph Stratz

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2

Wenn man, wie John Wilding, fünfundvierzig Jahre seines Lebens in der City zugebracht hatte, hörte man deren Lärm nicht mehr. Man war selbst gegen das neu eingeführte Donnergeratter der riesigen Automobilomnibusse taub geworden. Der alte Kaufherr hatte in seinem Privatkontor die Fenster gegen das Brausen der Old Broadstreet unten offen und saß dabei ruhig am Schreibtisch. Eine Sekunde lang ließ er, seiner Gewohnheit gemäß, die Lider über die müden Augen sinken, fuhr sich mit der flachen Hand über die Stirn, seufzte und warf einen Blick in den Stoß von Briefen, Schiffspapieren und Kurszetteln vor ihm. Er war ein kleiner, schmächtig gebauter Gentleman, mit grauem Haupthaar und grauem, am Kinn ausrasiertem Backenbart, die sorgenvolle Klugheit des Cityspekulanten auf dem stillen Gesicht. Kopfschüttelnd schob er die Schriftstücke zurück.

»Es hat für uns gar keinen Zweck, den Posten noch unter die Dubiosen zu buchen!« sagte er auf englisch zu seinen Besuchern. »Die Forderung an Guzman, Johnson und Kompanie dort drüben ist glatt verloren. Das ist der dritte Fall dies Jahr!«

Vor ihm saß sein Schwiegersohn MacCornick, der mit John Wildings ältester Tochter verheiratet war, und sein Gegenschwiegervater, Mr. Fleck senior, in Firma Fleck & Son, dessen Tochter Bill Wilding, der ältere Sohn des Hauses, zur Frau hatte. Die beiden, der Baumwollimporteur aus Liverpool und der Spinner aus Manchester, waren in Geschäften nach London gekommen. MacCornick, ein großer, schwerfälliger, breitgebauter Mann in den Dreißigern, mit blondem Schnurrbart und träumerischem Phlegma in den wasserblauen Augen, meinte in seiner langsamen, von kaltblütiger Geschäftsklugheit gedämpften Sprechweise: »Die Zeiten sind nicht mehr so gut wie früher. Damals ging man über See und hatte nach zwanzig Jahren seine Renten und setzte sich zur Ruh'. Aber jetzt sind überall die Deutschen und die Yankees . . .«

»Und du hast gegen die in Südamerika nicht die richtigen Leute an der Spitze! Das ist's!« ergänzte knapp und trocken Mr. Fleck. Er saß, den Stock zwischen den Knieen, den Zylinderhut in das Genick geschoben, mit weit ausgestreckten Beinen und sah mit seinem langen, nüchternen, scharfverwitterten und glattrasierten Antlitz britischer aus als der Schotte neben ihm, obwohl seine Wiege noch in Köln gestanden. Das Angelsachsentum war ihm in Fleisch und Blut übergegangen.

Der kleine alte Herr am Schreibtisch schaute ihn beinahe traurig an und versetzte: »Ja. Ich weiß wirklich nicht, warum ich in letzter Zeit fortwährend Verdruß hab' . . . Wenn es schließlich auch diesmal wieder nur ein paar tausend Pfund sind, so . . .«

»Weil wir alle allmählich anfangen, alte Esel zu werden, Johny!« verkündete mit Donnerstimme von der Tür her, durch die er ohne anzuklopfen eingetreten war, der alte Mr. Mathes und trat, den Filzhut schief auf dem Kopf, die Hände in den Taschen, dem Manchestermann und dem Liverpooler nur flüchtig zunickend, näher. Er verstärkte noch sein heiseres Organ, um sich durch das Tosen der City draußen verständlich zu machen, beugte sich nieder und klopfte dem kleinen Herrn auf die Schulter. »Du bist verbraucht, old boy!« schrie er ihm ins Ohr. »Hallo ja . . . Junge Kräfte müssen 'ran!« Und dann in verändertem geschäftsmäßigen Ton: »Kanada Pacific auf Erstes New York behauptet! Kaffernmarkt flau! Neue Hausse in Gummi! Gott schütz' uns vor dem Schwindel . . .«

Die beiden Gentlemen aus Lancashire betrachteten das alte Original mit mäßigem Wohlgefallen. Er gab wenig Sorgfalt auf sein Äußeres. Die Weste warf Falten über dem gewölbten Leib, die Hose Kniebausche über den vierkantigen Stiefeln. Bart und Hände waren ungepflegt. Aber ein Wechsel mit der Querschrift ›Karl Mathes‹ war gut. Der alte Junggeselle, den jeder Mensch der City kannte, hatte sich im Lauf der Jahrzehnte ein großes Vermögen erworben. Er fuhr fort, in einem schrecklichen, deutsch gefärbten Englisch, das er, obwohl längst naturalisierter Brite, sich nicht mehr abzugewöhnen die Mühe gab:

»Finden Sie nicht auch, daß unser Johny allmählich einschrumpft wie ein Winterapfel, der gute Bursche? . . . Ja . . . seufze du, old boy . . . Laßt Euch nur nichts von dem alten Spitzbuben vormachen! Heimlich macht er Geld wie Heu! Wenn wir 'raus sind, lacht er uns aus! Aber er schafft's nicht mehr allein . . . Well . . . Mr. Fleck . . . wo steckt denn Ihr Sohn Augustus? Auch hier in der Stadt . . .?«

»Ich denke, er geht zum Oxford-Cambridge-Rennen, Sir!« versetzte der Manchestermann zurückhaltend.

»Allein?«

»Soviel ich weiß, hat er sich mit Miß Edith und ihrer Partie verabredet!«

Mr. Mathes pfiff vielsagend durch die Zähne, legte den vierschrötigen Kopf auf die Seite und sah mit schlauem Augenblinzeln die beiden alten Herren an.

»Einmal habt ihr ja schon eure Kinder miteinander verheiratet!« sagte er offenherzig. »Aber doppelt genäht hält besser . . . was? . . . All right! . . . Johny . . . dann hast du ja, was du brauchst – einen jungen Burschen im Geschäft, der Haare auf den Zähnen hat . . .«

Den alten respektablen John Wilding berührte diese Taktlosigkeit peinlich. Er zog abwehrend die Augenbrauen hoch.

»Was bringst du für Geschäfte?« frug er kühl.

»Nachher! . . . Ich komm' nachher noch mal 'ran! . . . Sie wollen gehen, Gentlemen? . . . Ich begleite Sie ein Stück! . . . Ich möchte über meine Sache in New York mit Ihnen reden!«

Die drei Herren empfahlen sich. John Wilding war allein. Wieder schloß er auf kurze Zeit die Augen. Es war, als ob er schliefe, trotz des Wagenlärms, des Geschreis der Zeitungsverkäufer, des Tutens der Automobilhuppen draußen. Dann raffte er sich auf, strich sich über die Stirne und rief durch das vor ihm stehende Telephon in das Erdgeschoß hinab: »Herr Zillke?«

»Ja. Sir!«

»Ist Herr Hinrichsen da?«

»Er ist eben zu Herrn Schuster hinüber!«

»Ich lasse ihn bitten, zu kommen!«

Die ganze Unterhaltung wurde in deutscher Sprache geführt. John Wilding beschäftigte in seiner Firma fast nur junge deutsche Kaufleute, die in London sich in Englisch und in der hohen Schule des Handels vervollkommten. Sie waren billiger. Sie waren fleißiger. Sie waren gewandter. Sie lernten zu viel. Viel zu viel. Draußen merkte man es nachher an allen Ecken und Enden der Welt. Das war die Kehrseite der Sache. Aber was konnte ein einzelner im Wettbewerb der City dagegen machen?

»Guten Morgen, Mr. Wilding!«

Dietrich Hinrichsen, der Prokurist, stand an der Tür. Ein breitschultriger, unerschütterlich gelassener Hamburger mit derbschlauem Gesicht, auf dem ein höfliches Lächeln lag.

»Guten Morgen, lieber Hinrichsen! Bitte . . . nehmen Sie einmal Platz . . . Und nun ohne Umschweife . . . Sie haben ja wohl schon gehört, was heute wieder mit Guzman und Johnson passiert ist . . . Es geht so nicht weiter . . . Ich muß einmal meinen besten Mann auf ein paar Jahre hinüberschicken! Das sind Sie. Sind Sie bereit?«

»Als was soll ich denn hinübergehen, Mr. Wilding?« frug Dietrich Hinrichsen ohne ein Zeichen der Überraschung.

»Nun – als Vertreter der Firma! Was das Salär betrifft, da seien Sie nicht ängstlich. Daran wird es nicht scheitern!«

»Da die Rede gerade darauf kommt,« sagte der Hanseate gemütlich in seinem bedächtigen, etwas platt gefärbten Deutsch, das seinen Worten trotz der Gerissenheit in seinen Augen etwas Treuherziges gab. »Ich wollte auch schon die ganze Zeit einmal mit Ihnen darüber sprechen, Mr. Wilding! Daß Sie drüben eine festere Faust brauchen als bisher, das ist ja klar. Die Hamburger, meine Landsleute, gewinnen dort Tag für Tag an Boden!«

»Das weiß ich!«

»Und die haben bei mir bereits auf den Busch geklopft, Mr. Wilding, weil ich das Geschäft kenne! Wir haben diese ganzen Wochen verhandelt! Ich war auch einmal über den Sonntag drüben in Hamburg! Es ist mir dort eine glänzende Direktorenstellung angeboten, Mr. Wilding!«

Der graue Citymann fuhr jäh auf.

»So! Das ist der Dank . . .«

»Wofür denn, Mr. Wilding?« frug der Niederdeutsche kaltblütig. »Ich habe für Sie gearbeitet, zu Ihrer Zufriedenheit. Sie haben mich entlohnt, zu meiner Zufriedenheit. Da gibt es kein Bitte und kein Danke! . . . Aber ich bin bereit, für Sie nach Südamerika zu gehen . . .«

»Oh, wirklich!«

»Aber nicht als Ihr Angestellter, sondern als Teilhaber der Firma Wilding und Kompanie!«

Es war eine Pause. Der Kaufherr starrte seinen Prokuristen so fassungslos an, als fürchtete er, jener habe sich zu einer so ungebührlichen Zeit wie zwölf Uhr mittags schon in Portwein oder Brandy übernommen. Dietrich Hinrichsen hielt freundlich seinen Blick aus.

»Sie müssen mich nicht für verrückt halten, Mr. Wilding!« sagte er. »Sehen Sie: Sie sind doch nun in den Sechzigern! Von Ihren Herren Söhnen habe ich Mr. Fred eigentlich nie hier im Geschäft gesehen, Mr. Bill kommt einen Tag in der Woche und erledigt Unterschriften, ohne die Briefe zu lesen. Mr. Mac Cornick, Ihr Herr Schwiegersohn, ist ein guter Geschäftsmann. Aber er hat doch seine eigene große Firma in Liverpool. Daran hat er genug. Er will sich doch auch nicht überanstrengen. Höchstens von Dienstag früh bis Sonnabend mittag, wie die Herren alle hier. Ja, aber die Hamburger Herren arbeiten sechs Tage in der Woche von morgens um acht bis abends um sieben und noch länger. Sie auch, Mr. Wilding! Sie allein! Aber denken Sie doch nur, wenn Ihnen etwas zustößt! Irgend jemand muß dann doch auf die Dauer den Karren hier aus dem Dreck ziehen! Verzeihen Sie das Bild! . . . Gut! Ich bin dazu bereit!«

»Aber wie kommen Sie nur auf die Idee, als Teilhaber . . .«

Dietrich Hinrichsen hatte sich erhoben und stand breitschultrig und wuchtig da.

»Weil ich nicht mein Leben lang für andere schuften will, Mr. Wilding!« sagte er mit starker Stimme, »sondern jetzt auch für mich und meine künftige Frau und mein Haus! . . . Ich habe mit nichts angefangen! Aber ich will als wohlhabender Mann sterben, Mr. Wilding, und werd' es! Wenn es sein kann, mit Ihnen! Sonst – leider Gottes – gegen Sie!«

»Das heißt, Sie drohen mir . . .«

»Gar nicht, Mr. Wilding! Ich bin die Höflichkeit selbst. Ich bin Ihnen erkenntlich für alles, was ich bei Ihnen und von Ihnen gelernt habe . . . Es war nicht wenig . . .«

»Um mich jetzt zu verraten . . . Pah!« sagte der alte Herr verächtlich, mit einer abwehrenden Handbewegung. »Pah . . . ich kenne das! Sie sind der erste nicht von meinen jungen Leuten . . .«

»Erstens bin ich nicht junger Mann, sondern Prokurist, Mr. Wilding! Und zweitens will ich Sie nicht verraten, sondern Ihrer Firma dienen. Aber als Teilhaber, anders nicht . . .«

Wieder trat ein Schweigen ein. John Wilding trommelte mit den Fingern vor sich auf den Tisch. Auf seinen an sich feinen stillen Zügen kämpfte Überraschung und Gereiztheit mit der anerzogenen Ruhe eines alten Gentleman, der sich durch nichts, auch nicht durch die unerhörte Zumutung des robusten jungen Hanseaten vor ihm, aus der Fassung bringen ließ. Freilich: der hatte starke Schultern. Der trug das Geschäft. Man konnte einmal aufatmen . . . ausspannen . . .

Von drüben klang es: »Ich bin ein Mann, der, was er tut, ganz tut, Mr. Wilding. Sie könnten sich drüben auf mich verlassen. Ich denke, Sie würden von da ab viel besser schlafen.«

Der Citymann erwiderte nichts. Er machte nur eine abwehrende Handbewegung, als begriffe er je länger je weniger die Zumutung, einen solchen Vorschlag überhaupt ernst zu nehmen! Etwas anderes ging ihm dabei durch den Kopf . . . Eine stille Hoffnung . . . Auf dem leeren Stuhl da vor ihm hatte vorhin Mr. Fleck aus Manchester gesessen. Einmal hatten sie, wie es der alte Mathes gesagt, beide schon ihre Kinder miteinander verheiratet. Wenn sie es ein zweites Mal taten . . . seine hübsche blonde Edith . . . Augustus Fleck junior war scharf im Geschäft – der Sohn einer großen Firma . . . Der alte Herr erhob sich. Er hatte seinen Entschluß gefaßt. Als er vor seinen Angestellten hintrat, war das wie der Zwiespalt zweier Welten: hier, hochmütige, durch den Herbst der Jahre ein wenig hilflose, angelsächsisch zähe Zurückhaltung – dort, in dem breiten Lächeln ihm gegenüber, jugendlich rücksichtsloses, beide Ellbogen brauchendes, teutonisches Draufgängertum.

»Es tut mir von Herzen leid, Herr Hinrichsen! Aber da werden wir uns ja wohl trennen müssen!«

Der alte Herr sagte es trocken. Er streckte aber dabei doch dem Prokuristen die Hand hin. Er schloß: »Ich sehe, Sie haben große Dinge im Kopf, Herr Hinrichsen! Zu große für mich! Ich will Ihrem Glück nicht im Weg stehen . . .«

»Nee . . . Bitte . . . Ich kündige meinerseits zum ersten Juli. Ich habe zuerst davon angefangen!« versetzte Dietrich Hinrichsen unbewegt. Und dann ernster: »Aber wünschen Sie mir nicht zu viel Glück, Mr. Wilding! Wenn ich im Auftrag der Hamburger nach Südamerika gehe, bring' ich Leben dort in die Bude! Anders als bisher! . . . Ich leg' eine höllische Pace vor, wie man hierzulande sagt. Es wird heiße Kämpfe zwischen uns geben, Mr. Wilding!«

»Das lassen Sie meine Sorge sein!«

Der kleine Kaufherr verabschiedete seinen Angestellten durch eine kühle Kopfneigung, trat dann, während jener das Zimmer verließ, an das offene Fenster und schaute, die Hände auf dem Rücken, nachdenkend hinaus in das Gewühl der City, in dem der Grundsatz ›Zeit ist Geld‹ sich in sein Gegenteil zu verkehren schien. Denn alle diese Fahrzeuge auf der Straße, Omnibusse, Taxis, Cabs, Frachtkarren, schoben sich kaum Zoll für Zoll, langsam, ruckweise, vorwärts, und die Fußgänger stockten und stauten sich, mehr als sie schrittweise Boden gewannen, in dem rasenden, fiebernden Gewühl. Das Räderrasseln war so betäubend, daß John Wilding das Anklopfen und Eintreten eines neuen Besuchers in sein Zimmer gar nicht hörte. Erst als er sich umwandte, sah er sich plötzlich einem hübschen, schlanken, großen, sonnengebräunten jungen Mann in einem unenglisch hellen grauen Frühlingsanzug gegenüber, der seinen Strohhut – ein Strohhut in der City! – in der Hand hielt. Seine Gereiztheit machte sich Luft.

»Wer sind Sie, Sir? Wie kommen Sie unangemeldet in mein Privatoffice, Sir? . . . Sind Sie wieder von Dickson und Jeffries? . . . Kommen Sie in Gummi? . . . Ich mache nichts in Gummi! . . . Es ist Schwindel bei den jetzigen Kursen, Sir! Das wissen Sie selber am besten!«

Der junge Mann lachte aus vollem Hals.

»Beruhige dich, Onkel!« sagte er auf deutsch. »Ich komme nicht in Gummi! Ich wollte dir bloß guten Tag sagen! Ich bin dein Neffe Helmut Merker aus Deutschland . . .«

»Ach so . . .« Der alte Citymann war mehr verdutzt als freundlich. »So so . . . Bitte . . . setz dich!«

»Danke! Ich hatte dir schon nach Rosemary-Hills geschrieben . . . leider ohne Antwort . . .«

»Ja . . . ich wollte das noch von hier aus tun . . . Ich hab' so viel Geschäfte . . . Ich kam noch nicht dazu . . .«

»Das ist aber nicht sehr freundlich, Onkel!« meinte der Leutnant Merker unbefangen. »Ein paar Zeilen hättest du mir schon schicken können! Sieh mal . . . ich bin in Deutschland doch auch nicht der erste beste! Ich bin doch immerhin Offizier . . .«

John Wilding sah seinen Gast etwas unbehaglich an. Er wußte nicht recht, was er aus ihm machen sollte. Er hatte gar keine Fühlung mit Deutschland. Er hatte die dortige Verwandtschaft nur in ganz unbestimmten Umrissen im Kopf, durch den ihm auch immer wieder der Bruch mit seinem Prokuristen ging.

»So? Du bist Offizier?« sprach er, um nur etwas zu sagen. »Bist du's gern?«

»Mit Leib und Seele, Onkel!«

»Und bist du auch gut gestellt? Beziehst du ein hübsches Gehalt?«

Helmut Merker mußte über diese Auffassung seines Berufs lachen.

»Nee, Onkel!« sagte er. »Seide spinnt man beim Kommiß nicht! Soll man auch nicht! Ich komme so grade mit Anstand durch! Offen gestanden: Mein Bruder, der Chemiker in Ludwigshafen, hat mir bisher durchgeholfen. Und dann verdiene ich auch ein wenig Geld durch Übersetzen militärwissenschaftlicher Werke – namentlich aus dem Englischen, Onkel . . .«

Das Gesicht seines Oheims wurde merklich kühler. Es lag darauf die unwillkürliche Mißbilligung des Londoner Citymanns gegen Menschen ohne Bankkonto.

»Ja – wie denn?« meinte er langsam. »Du schriebst doch . . . deine Mutter ist eine Frankfurter Wilding . . . Ich höre doch immer, daß die Firma dort so prosperiert . . .«

»Oh und ob! . . . Die Wildings dort sind große Leute. Die sind geadelt. Der Alte, der Bruder meiner Mutter, ist Geheimer Kommerzienrat. Die dünken sich Gott weiß was! . . . Ich bin eigentlich deswegen nie zu ihnen hin . . . Meine Mutter hat doch seinerzeit ein bißchen sehr abseits von ihnen geheiratet . . . in Gymnasialkreise hinein . . . den ehemaligen Hauslehrer ihrer Brüder . . . Das haben sie ihr nie so recht verziehen! Die Fühlung ist so allmählich verloren gegangen – weißt du . . .«

»Zwischen uns und dem Frankfurter Haus schon seit einem halben Jahrhundert!« sagte der alte Kaufherr und unterdrückte ein Gähnen der Müdigkeit. »Seit mein seliger Vater nach 66 sein Geld dort aus der Firma zog, um sich hier zu etablieren! Da kam es zum Zerwürfnis . . . Ich war damals ein junger Mensch . . . das alles ist schon so lange her . . .«

Er schloß wieder halb die Augen. Dann frug er: »Nun – und was machst du hier?«

»Gott . . . ich hab' Urlaub . . . ich schau' mir England an . . . und bei der Gelegenheit wollt' ich auch mal den Verwandten guten Tag sagen . . .«

»O ja . . . das ist sehr nett von dir!« pflichtete der alte Herr bei. Aber sein Blick hing in Sehnsucht an dem unerledigten Stoß von Geschäftsbriefen vor ihm. In einer Stunde, gegen zwei Uhr nachmittags, war Geschäftsschluß. Dann leerte sich die City in Blitzesschnelle. Das »Lange Wochenende« brach an. Bis Dienstag morgen herrschte Ruhe in allen Hauptbüchern und Geldschränken rings um die Bank von England. Da lag dies verwünschte Schreiben, daß der Wechsel von Guzman und Johnson in Protest gegangen . . . so und so viel tausend Pfund Verlust zwischen Old Broadstreet und Valparaiso . . .

Drüben sagte harmlos fröhlich der jugendliche Besucher: »Gestern hab' ich schon Edith kennen gelernt! Sie läßt dich grüßen. Ich bin mit ihr im Auto von Dover bis hierher gefahren . . .«

»Oh . . . bist du?« Bei der Erwähnung seiner Lieblingstochter wurde das stille, gedrückte Gesicht viel heller. Er schaute den deutschen Neffen freundlicher an. »Nun . . . ich hoffe, wir sehen dich noch und auf länger. Ich kann dich leider jetzt gar nicht einladen. Ich esse selbst im Klub . . . Da sind lauter alte Geschäftsleute . . . das würde dich nur langweilen . . . Aber in nächster Zeit ist meine Frau zurück . . . Vielleicht kommst du einmal über Sonntag aufs Land!«

»Na – jedenfalls will ich vorläufig nicht weiter stören!« sagte Helmut Merker und erhob sich. Er ahnte jetzt auch, daß die Börsenzeit sich nicht für Plauderstündchen eignete. Der alte Wilding begleitete ihn bis zur Tür. Im Vorraum stand wieder sein Freund, Mr. Mathes, das Original, breitbeinig, eine Zigarre schief im Mundwinkel, einen alten Mantel nachlässig über die Schulter geworfen. Er wartete kaum die Vorstellung des jungen Mannes ab und schrie: »All right, Johny, ich hab' meine paar heutigen Angelegenheiten schon mit deinem Herrn Hinrichsen geordnet. Mit dem Mann kann man reden! Halt dir den mal warm! Das ist eine Perle! . . . Good bye!«

Er achtete nicht auf das bekümmerte Lächeln seines alten Freundes, sondern stieg, die Tür hinter sich zuschmetternd, mit dem Leutnant Merker die Treppe hinab. Er war den ganzen Vormittag in der City unterwegs, kannte jedermann und schloß sich leicht an jeden an, ein einsamer alter Junggeselle, den daheim niemand außer einer bejahrten, ihm ewig Furcht vor hinterlistigen Heiratsplänen einflößenden Haushälterin erwartete. So traten sie zusammen auf die Straße, Helmut Merker eigentlich von dem Besuch bei dem Onkel recht enttäuscht. Auch die Geschäftsbureaus selber hatte er sich viel großartiger vorgestellt. Er wußte nicht, daß bei der Enge des Raumes in der City auch reiche Leute sich mit wenig Platz begnügten, viele absichtlich etwas im altmodischen Äußeren ihres Kontors suchten.

Um ihn war ein sonderbares gedämpftes Summen, wie vor einem Bienenstock. Sie gingen durch ein Netz winkliger Gassen, hinter der Bank von England, mittelalterliche Engpässe, über deren Asphalt kein Wagenrad fahren durfte. So war hier eine plötzliche unheimliche Stille, trotz der vielen Menschen, und eine große Börse unter freiem Himmel. Die Gentlemen standen, manche den Zylinder im Nacken, die meisten mit bloßem Kopf und die Hände in den Taschen, in Gruppen, mitten auf der Straße, verhandelten, schickten kleine Burschen mit Zetteln fort, liefen barhäuptig um die Ecke – immer nur Männer – junge Männer – selten einmal ein weibliches Wesen: ein Maschinenfräulein . . . eine Kontoristin . . . auch sie eilig wie die anderen . . . ein Fieber über allem . . . eigentümlich gespannte Gesichter . . . unruhige Augen . . . durch die Fenster aufgeregte Geschäftsgespräche – das Stampfen der Kopierpressen, das »Hallo« des Telephons . . . Depeschenboten . . .

»Ja, mein lieber Herr Leutnant!« sagte der alte Mr. Mathes und warf seinen Zigarrenstummel einem gierig danach haschenden zerlumpten Strolch vor die Füße. »Hier wird nun so das Geld gemacht. Hier steht die große Suppenschüssel! Da kann jeder mithalten, der 'nen Löffel hat. Um ein Pfund Sterling können Sie sich schon 'ne Aktie kaufen und dafür 'nen Kaffern in Transvaal in die Mine klettern lassen oder einen Kuli in Indien in der Teeplantage schuften oder einen Malaien vor den Schiffskesseln im Roten Meer den Hitzschlag kriegen . . . alles für zwanzig Reichsmärker . . . Und Sie selber ziehen unterdessen Frack und weiße Binde an und gehen ins Savoyhotel zum Dinner. Drüben in Whitechapel sterben die Leute dabei vor Hunger auf offener Straße. Das darf Sie nicht stören! Gute Nerven, und Sonntags dreimal in die Kirche! Der liebe Gott wird schon wissen, warum er gerade die Engländer so lieb hat!«

Er mußte seinen heiseren Baß verstärken. Sie näherten sich Fleetstreet. Um sie war ein atemloses Hasten und Fahren und Lärmen – Menschen – Menschen ohne Ende – in schwarz strömenden Wällen – alles eingehüllt in einen zähen, gelben, donnernden Nebel . . .

»Ja . . . Sie erstaunt das!« sprach der verwilderte Londoner Junggeselle. »Mich nicht mehr! Ich mach' das nun schon fünfzig Jahre so mit! . . . Es ist ein tolles Volk! . . . Ich werd' mein Leben lang kein rechter Engländer!«

»Warum sind Sie's denn dann geworden?«

Das ungekämmte Original blieb stehen und lachte.

»Hoho, Sie junger Mann – was wissen denn Sie von damals? Wissen Sie, was ich war, wie ich hierherkam? Ein kurfürstlich Hessen-Kasselscher Untertan! Nu berufen Sie sich mal irgendwo auf der Welt auf den Schutz von Hessen-Kassel! . . . Vogelfrei war man, mein Liebster! Und kroch am besten so rasch wie möglich bei den Englishmen unter!«

»Aber nach Siebzig hat sich das doch alles ganz geändert!«

»Ja!« sagte Mr. Mathes, »und ich will Ihnen gestehen: ich hatte damals so eine Anwandlung und bin eines schönen Tages zu einem deutschen Konsul gegangen, um mich wieder naturalisieren zu lassen! . . . Herrgott . . . hat mich der Mann behandelt . . . wie einen Stiefelputzer! . . . Da hab' ich mir gesagt: Danke! Da bleib' ich lieber ein freier britischer Bürger!«

Sie schritten weiter, und dem Leutnant stieg das Blut ein wenig zu Kopf und er sagte: »Wissen Sie: an solchen Deutschen, die durch irgendeinen groben Beamten ihr Deutschtum gleich wieder verlieren, an denen hat das Reich auch nichts verloren!«

Er biß sich hinterher selbst auf die Lippen wegen seiner Unhöflichkeit. Was ging ihn denn schließlich das alte Rauhbein da neben ihm an? Aber zu seinem Erstaunen nickte der ihm erfreut zu.

»Sehen Sie . . .« sagte er. »Herr . . . Herr . . . na . . . ganz egal, wie Sie heißen . . . solch eine Antwort hätt' man früher nicht gegeben . . .«

»Na . . . ich meinte es ja nicht böse . . .«

»Da waren wir Deutsche zu bescheiden, da waren wir die Grünhörner . . . standen in der Ecke . . . es freut mich, daß ihr jetzt endlich Haare auf die Zähne kriegt . . . dort drüben! Unsereiner ist ja zu alt! . . . Na . . . wenn Sie heimkommen – grüßen Sie mir Deutschland!«

Er drückte dem andern die Hand, griff flüchtig an seinen Schlapphut und stieg bedächtig die Stufen zu einem Austernkeller hinab.

Helmut Merker ging langsam allein durch das Menschengewühl gen Westen weiter. Er fühlte einen eigenen Trübsinn. Er fand selbst nicht dessen Grund. Er dachte sich: sehr freundlich war der alte Wilding gegen mich gerade nicht. Es scheint der Gesellschaft hier furchtbar egal zu sein, ob sie noch Verwandte in Deutschland hat. Na – uns kann's umgekehrt ebenso Wurst sein! Schluß!

Dann fiel ihm ein: Weshalb hab' ich nur zu dem Onkel gleich ›Du‹ gesagt und zu seiner Tochter gestern ›Sie‹? Es kam mir so ganz von selber. Der Alte besitzt doch noch mehr Deutsches in seinem Gesicht. Die Edith aber . . . da hatte man von vornherein das Gefühl, einer Miß gegenüber zu sein. Nein. Doch nicht ganz! Sie war viel lebhafter. Und schien ihm auch viel hübscher als sonst die hageren, vom Sport verwitterten Engländerinnen. Er sah diese klaren, regelmäßigen, ein klein wenig sommersprossigen Mädchenzüge mit den freimütigen blauen Augen und den halboffenen roten Lippen im Geist vor sich, und plötzlich begriff er die Ursache seines Verdrusses: Er hatte immer noch heimlich gehofft, heute, nach seinem Besuch in der City, irgend einmal am Tage mit Edith und ihrem Vater zusammen zu sein. Aber diese Familie besaß ja keinen Zusammenhalt. Jeder ging auf eigene Faust seiner Wege. Heute abend reiste Edith nach Schottland . . .

Ein struppiger Karrengaul neben ihm an der Bordschwelle trug in seiner Mähne die hellblaue Schleife von Cambridge, ein Droschkenkutscher dort drüben hatte ein Stückchen Dunkelblau von Oxford in das Ende seiner Peitschenschnur geknüpft. Eine blasse Verkäuferin, die über die Straße huschte, hatte ein hellblaues Band im Haar, die elegante Lady drüben im Auto einen Veilchenstrauß an der Brust. Bis mitten in den Kampf ums Dasein der Siebenmillionenstadt zog das ferne Wettrudern von sechzehn Studenten seine Kreise. Nah von Helmut Merkers Hotel hielten Reihen von hell- und dunkelblau geschmückten Automobilomnibussen. Die Schaffner luden die Vorübergehenden zum Einsteigen ein. Man würde unmittelbar bis an den Ort der Regatta fahren. Er nahm Platz. Es dauerte wohl eine Stunde und mehr, bis man, eine Brücke überquerend, die Themse bei Mortlake erreichte, und sein erster Eindruck bei deren Anblick war: um Gottes willen, wo kommen denn diese meilenlangen, riesigen Kohlenlager am Strand des Flusses her? Dann merkte er erst: was da schwarz, so weit man sehen konnte, die Ufer einsäumte, das waren alles Menschenköpfe – Menschenmassen – Zehntausende – Hunderttausende, und auf all den Gesichtern lag, als er ausstieg und sich unter die Menge mischte, seltsam ähnlich wie drüben in der City eine unruhige Spannung. Die beiden großen Triebfedern dieses Britenlandes: Sport und Geld . . .

Ein Fährmann trat, seine Kappe lüftend, auf ihn zu. Er wollte ihn hinüberrudern, auf das andere Ufer. Dort waren viel weniger Leute. Nur ein dünnes schwarzes Geriesel, dazwischen große grüne Rasenflächen. Das hatte Edith schon gestern gesagt. Und auch, daß sie mit ihrer Gesellschaft sich auf jener Seite aufhalten würde. Zum Glück. Dort drüben war noch eine Hoffnung, sie zu finden. Hier verlor sich der einzelne in der Völkerwanderung wie eine Stecknadel am Meer. Es war ihm jetzt klar, daß er nur ihretwegen hier draußen war. Ganz von selbst. So als ob das so sein müßte. Diese Ruderei an sich war ihm herzlich gleichgültig. Er ließ sich übersetzen, mit der Uhr in der Hand, als hätte er etwas Wichtiges zu versäumen. Er lief, jenseits gelandet, suchend von der Tribüne flußabwärts, durch Menschengruppen, stieg auf eine kleine Anhöhe, spähte, kam wieder zurück, das alles in einer Ungeduld, mit einem Herzklopfen, das ihm selber nachgerade lächerlich erschien, und mit einem wachsenden Zorn über sich und über das Vergebliche seiner Bemühungen. Dann blickte er auf. Es zuckte ein Stoß, eine Bewegung durch all die Menschen um ihn, ein Summen und Brausen. Es war Nachricht gekommen: die Boote hatten den Start in Putney verlassen. Die Regatta befand sich, noch fern von hier, in vollem Gang. In erwartungsvoller Spannung verstrichen Minuten auf Minuten. Schon bald eine Viertelstunde. Helmut Merker stand jetzt ärgerlich auf einer Stelle. Das Herumirren hatte keinen Zweck. Edith Wilding war nicht da! Wahrscheinlich war sie schließlich doch am andern Ufer geblieben. Von dort wurde mit Kappen gewinkt. Man hatte dort telephonische Nachrichten von unterwegs. Ein dicker Mann neben dem jungen Deutschen fing diese Zeichen auf und brüllte: »Oxford an der Spitze! Zwei klare Längen!« Um ihn und sein Geschrei herum entstand eine Bewegung in der Menge. Auch Helmut Merker wandte sich nach ihm. Da begriff er nicht, wo er bisher seine Augen gelassen hatte: kaum zwanzig Schritte von ihm entfernt stand ein hellblondes, schlankes Mädchen in weithin leuchtendem lila Rock und Jacke und großem Hut mit lila Schleife . . . Er hatte bisher wohl schon zwanzig Misses auf den ersten Blick aus der Entfernung für Edith Wilding gehalten, aber diesmal war sie es wirklich! Und ebenso Mac Gregor, der graue Otternhund, ihr unvermeidlicher Begleiter. Sie erkannte Helmut Merker, kam aus der Gruppe ihrer Freunde auf ihn zu und schüttelte ihm die Hand. Es war ein Druck, so kräftig wie bei einem jungen Mann. Über seine Anwesenheit hier wunderte sie sich gar nicht. Es schien ihr selbstverständlich, daß jeder Mensch, dessen Zeit und Gesundheit es erlaubte, beim Oxford-Cambridge-Rennen nicht fehlen durfte. Sie frug nur: »Oh . . . Sind Sie also auch über den Fluß hinüber?«

»Ja. Ich dachte, ich würde Sie hier treffen!«

Sie lachte. Es schmeichelte ihr offenbar ein wenig. Aber sie blieb ganz unbefangen. Sie ging, die Hände in den Taschen ihres Jäckchens, den hübschen Kopf leicht geneigt, einen Grashalm zwischen den Zähnen, wie ein Kamerad auf dem Sportplatz, neben ihm her. Um ihre Gesellschaft da hinten kümmerte sie sich weiter nicht. Hier tat jeder, was er wollte.

»Waren Sie bei Pa?«

»Ja. Aber nicht lange. Er hatte zu tun!«

Sie nickte.

»Oh . . . Er hat immer zu tun. Er muß immer arbeiten. Das ist noch das Deutsche in ihm. Wir müssen oft darüber lachen!«

Dann waren, nach dieser kurzen Ablenkung, alle ihre Gedanken wieder beim Sport. Sie schirmte die Augen mit der flachen Hand und spähte, ernsthaft wie ein Lotse am Steuerrad, den Fluß abwärts, auf dessen stillem leerem Spiegel nur ein paar Polizeiboote zu sehen waren. »Oxford zwei Längen . . .« sagte sie gedankenvoll, als handle es sich um ein schwieriges wissenschaftliches Problem . . .

»Wo gehen Sie denn hin, wenn Sie aus Schottland zurück sind?«

Sie antwortete nicht. Sie überhörte die Frage. Es gab jetzt nur Oxford-Cambridge. Es gab nur den Sport. Und es war ihr hier, auf diesem klassischen Regattaboden, ganz gleich, ob sie ihre Hoffnung auf den Sieg der Oxonians mit einem männlichen oder einem weiblichen Wesen an ihrer Seite austauschte. So schien ihm. Immerhin schlenderte sie unterdessen mit ihm immer weiter, von ihren Bekannten weg. Er dachte sich: Wie will sie die nachher in dem Trubel nur wiederfinden? Das muß sie sich doch selbst sagen! Und dann: na – meine Sache ist es nicht! Und um so besser für mich . . .

»Jetzt sind sie bald an der Flußbiegung!« sprach Edith grüblerisch. Man merkte ihr förmlich das Herzklopfen der Erwartung an. Er sah lächelnd von der Seite auf sie, mit einem innigen Wohlgefallen. Das war alles so voll Frische und Gesundheit. Alles aus einem Stück. So heiter. So natürlich. Er empfand eine tiefe Befriedigung, daß er sie doch noch glücklich hier draußen erwischt hatte. Ein jäher Ruck am Arm riß ihn aus seiner Versunkenheit. Sie hatte ihn mit einem unwillkürlichen, bebenden Griff gepackt – sie deutete mit der andern Hand in die Ferne, sie rief atemlos: »Sie kommen! Sie kommen!«

Sie kommen! Es war ein Aufschrei von Zehntausenden zugleich, der die Luft erschütterte. In der kreiste plötzlich, man wußte nicht woher, hoch oben – wie aufgescheuchte Riesenvögel – ein Schwarm vorausgeeilter Aeroplane. Drunten verdunkelte sich der Fluß von den Rauchwolken einer ganzen Flotte eilig heraufdampfender, über und über von Menschen schwarzer Schiffe. Kleine Barkassen, Motorfahrzeuge, Kähne wimmelten dazwischen auf den aufgeregten Wellen – voraus, durch die leere Wasserfläche, schossen die Mittelpunkte des Ganzen – zwei schmale Rennboote mit je acht, in rasendem Taktschlag, wie die Irrsinnigen rudernden Gestalten.

»Oxford is leading! . . . Oxford is leading!«

Edith Wilding schrie es begeistert. Sie hatte sich auf die Fußspitzen gestellt. Sie schwenkte ihr Taschentuch. Sie wiederholte selig, als sei der höchste Sieg auf Erden errungen, immer aufs neue: »Oxford is leading!« Er schüttelte sich vor Lachen über ihren Jubel. Und doch war sie ihm noch nie so reizvoll erschienen als gerade in diesem Moment völligen Selbstvergessens, Aufgehens in der glorreichen Ungewißheit des Spurts, mit dem stürmisch vorgeneigten Blondkopf, den geröteten Wangen, den leuchtenden blauen Augen.

Nun war das große Schauspiel schon vorüber. Die Boote hatten hinter dem Ziel gestoppt. An Stelle des kurzen Fieberanfalls der Massen trat befriedigte Stille, englische Fischblütigkeit, wunderbare Ordnung, in der alles ineinander und durcheinander flutete. Es zog sich drüben in langen schwarzen Strömen quer über Land nach den Bahnhöfen. Auf der Straße nach Hammersmith sah man eine halbe Stunde weit eine Wagenburg geduldig haltender und zollweise vorrückender Automobile. Edith Wilding schien durchaus keine besondere Eile zu haben, wieder zu ihrer Gesellschaft zu gelangen. Es war auch eine ziemliche Strecke, die sie beide den Fluß hinuntergegangen waren und nun zurück mußten, und was er schon im stillen erhofft hatte, wurde jetzt zur Gewißheit: es erwies sich als ganz unmöglich, in dem Gewühl auch nur auf zehn Schritte Entfernung jemanden zu finden.

Das junge Mädchen nahm das sehr gleichmütig auf.

»Ich denke, meine Freunde haben mich schon verloren gegeben!« sagte sie, »und sind über die Themse zu unserem Auto zurück. Nun – ich treffe sie ja heute abend auf dem Bahnhof.«

»Aber sie werden sich um Sie ängstigen!«

Sie machte große Augen. Sie verstand ihn da wieder einmal nicht. Ängstigen? Wieso? Man hatte doch gesehen, daß sie mit einem Gentleman fortgegangen war! Was konnte ihr da zustoßen? Und der Vater? Ob der ihr nicht Vorwürfe machen würde? Ja, um Gottes willen – was ging denn das Pa an, was sie den Tag über trieb? Sie war doch ein erwachsener Mensch . . .

»Kommen Sie!« meinte sie heiter. »Wir gehen jetzt einfach hier weiter nach Richmond und setzen uns da auf die Bahn. Da haben wir vorher noch eine nette Teestunde am Fluß.«

Er hatte das plötzliche unbestimmte Gefühl, als habe sie, bei all ihrem Sporteifer, diese Trennung von ihrer Gesellschaft nicht ganz unabsichtlich eintreten lassen. Es schien ihr vielleicht amüsanter, mit dem deutschen Vetter zusammen zu sein, als mit diesen Leuten, die sie längst in- und auswendig kannte. Er sagte sich in einer jähen Hoffnung: Aber dann muß ich ihr doch gefallen! . . . Bei dem Gedanken wurde ihm siedend heiß ums Herz. Anmerken konnte er ihr nichts. Sie war ganz harmlos und wanderte leichtfüßig mit viel längeren Schritten, als er's bei einer Dame gewohnt war, neben ihm her am grünen Strand der Themse und ließ sich die herbe salzige Frühlingsbrise um die Ohren blasen und schaute sich zuweilen um, ob der schon etwas asthmatische Mac Gregor, ihr vierbeiniger Liebling, hinter ihnen herkeuche.

Dann saßen sie zusammen in Richmond beim Tee. Im Freien, in einer Holzveranda, die gegen das Themseufer vorsprang. Noch war der Spiegel des Flusses grau und leer, die Hunderte und Aberhunderte von Booten, die später an schönen Sommertagen enggedrängt, beinahe Bord an Bord, die Wasserfläche bedecken sollten, lagerten noch am Strand in ihren Winterschuppen. Die Ranken um die Holzgitter des Vorbaues, auf dem der Kellner das Fünfuhrbrot richtete, trugen kaum sichtbare grüne Knospen. Die Bäume umher waren noch kahl. Es war die erste ahnende Herbheit des Vorfrühlings in der Luft, ein Sonnenglitzern drüben über dem Wasser. Ein jäher Windstoß. Von unten, von den Booten her, kam ein kräftiger Geruch von frischer Ölfarbe, Hammerschläge, die Stimmen der Schiffsbauer. Aber es war alles noch wie im Winterschlaf, halb verträumt. Helmut Merker schloß eine Sekunde die Augen. Da war es, als hörte man durch das gedämpfte Pochen nah und fern förmlich die Stille dieses lieblichen Erdenwinkels . . . Man war wie in einem kleinen Stückchen Wunderland . . . Man fühlte um sich den Frühling . . . eine quälende, übermütige, glückselige Sehnsucht . . .

»Kellner, bitte, noch ein paar Buttertoasts!« sagte freundlich neben ihm das junge Mädchen. Sie hatte alles, was eßbar war, in ihren Bereich gezogen, kleine Kuchen und Cakes und Marmelade und Grahambrot, und trank dazu einen schweren, bernsteinfarbenen Teeaufguß und schenkte ihm ein. Sie hatte einen gesegneten Appetit. Er mußte lachen, als er sie so friedlich und emsig kauen und dabei aus ihren schönen blauen Augen ruhig über das englische Land hinblicken sah. Er war aus seinen unbestimmten deutschen Träumen in die Wirklichkeit zurückgeführt und nahm sich dankend, als sie ihm kameradschaftlich die vom Kellner im Laufschritt herbeigebrachte Platte mit heißen Butterschnitten hinhielt, und dachte sich: In diesem Lande ißt man eigentlich immer . . .

»Es ist ein hübscher Platz! Ist er's nicht?« frug Edith.

Er gab keine unmittelbare Antwort. Er meinte: »'s ist doch eigentlich komisch! Wie ich heute zu Ihrem Vater kam, habe ich gleich ›Du‹ und Onkel zu ihm gesagt. Das schien mir ganz selbstverständlich. Und Sie sind doch seine Tochter, und doch nennen wir uns Sie . . .«

Edith Wilding entschloß sich zu einem letzten Buttertoast.

»Oh . . . im Englischen haben wir doch kein rechtes ›Du‹!« sagte sie. »Wie man das im Deutschen hält, das müssen Sie doch besser wissen als ich!«

»Na natürlich duzt man sich bei uns mit seinen Verwandten! Weißt du was: wir wollen uns auch du nennen, Edith . . .«

Wider seinen Willen wurde er ein bißchen rot. Er war ganz aufgeregt. Er hielt ihr über den Tisch die Hand hin, damit sie einschlagen sollte. Sie deutete seine Bewegung anders. Sie schob ihm die Schale mit Orangenmarmelade hinüber, nach der er nach ihrer Meinung Verlangen trug, und versetzte dabei unbefangen, ihm klar ins Gesicht sehend: »O ja!«

»Das ist aber ein bißchen wenig! Du mußt mir auch etwas sagen mit Du!«

Sie lachte.

»Du bist so komisch!« sprach sie. »Du bist so ganz anders als wie die Leute hier!«

»Wieso denn?«

»Ja – ich weiß nicht! Wenn du etwas sagst, meint man immer, da ist noch etwas dahinter, was du nicht sagst . . .«

»Etwas Böses?«

»Oh! O nein! . . . Vielleicht ist das immer bei euch in Deutschland so!« Sie lachte plötzlich wieder und legte ihre langen schmalen Sporthände auf dem Tisch ineinander. »Du machst ja auch Verse!«

»Ja, leider!« gestand er gutmütig, wieder mit einem Anflug von Röte. Ihre naive Sicherheit verwirrte ihn.

»Die mußt du mir einmal vorlesen! Sie sind gewiß ein gutes Ding . . .«

»Später – wenn wir uns erst besser kennen, Edith!«

Er sprach es ernster. Die beiden jungen Leute schwiegen. Sie sahen sich nicht mehr recht an. Sie waren plötzlich beide verlegen. Seine Befangenheit hatte auch sie angesteckt. Um irgend etwas zu tun, beugte er sich zum Boden nieder und fütterte den dort kauernden Otternhund. Das stachelhaarige häßliche Geschöpf war bisher gegen ihn ausgesprochen unliebenswürdig gewesen. Es hatte ihn als einen Ausländer gemißbilligt. Auch jetzt wollte es nichts fressen. Aber sonderbar: es wedelte ein bißchen, prüfte ihn noch einmal mit seinen schönen Augen und leckte ihm dann die Hand. Edith hatte es bemerkt. Sie kniete neben ihrem Liebling nieder, streichelte ihn und rief, zu dem jungen Mann aufschauend, begeistert und gerührt: »Sieh nur! Mac Gregor hat dich lieb.«

Und er blickte auf dies schöne Mädchengesicht hinab, das mit halboffenen Lippen da unter ihm lachte, und dachte sich in Wehmut und Verlangen: Ach . . . hättest du mich doch ein bißchen lieb . . .

Sie hob sich elastisch auf die Füße und drängte jetzt plötzlich selber zum Aufbruch. Sie kam sonst zu spät nach London! Der »Fliegende Schotte« wartete nicht. Sie gingen durch die stillen, sauberen Gartenstraßen von Richmond bis zur Bahn und fanden einen Zug und fuhren, eingepreßt in eine Menge Volks, das vom Rennen heimkam, nach London hinein und stiegen da auf irgendeiner Station aus. Helmut Merker hatte keine Ahnung, in welchem Teil der Riesenstadt er sich eigentlich befand. Er fühlte sich in diesem Gewühl ein wenig hilflos und noch dazu mit der Sorge um eine Dame belastet, aber die warf nur einen raschen Blick nach vorn und sagte: »Oh . . . da steht ja schon ein Bobby!« und stiefelte mit langen Schritten auf den nächsten Schutzmann zu und bat ihn höflich, aber doch so, wie man die Dienste eines Angestellten in Anspruch nimmt, sie quer durch die Menge zu einer Automobildroschke zu geleiten, und setzte sich mit einem flüchtigen Kopfnicken des Dankes drinnen zurecht, und Helmut Merker wunderte sich, während der Wagen dahinschoß, von neuem, wie sicher solch ein junges Mädchen ihren Weg fand, und selber für sich sorgte und kühl den Kopf oben behielt, so als wäre eigentlich ganz Großbritannien nur um ihretwillen da.

Das Wildingsche Haus in Belgravia, vor dem sie hielten, enttäuschte ihn ebenso wie vormittags die Geschäftsräume der Firma in der City. Die englischen Wildings mochten doch wohl nicht so blödsinnig reich sein, wie man sich das daheim in Deutschland immer erzählte. Das war offenbar durch Hörensagen sehr übertrieben worden. Dies Gebäude hier, schmalbrüstig und eng, mit seinen vier Fenstern Front und drei Stockwerken aus Rohziegelbau sah nach nichts aus. Genau eben solche Häuser standen rechts und links, die Straße hinunter, bis zum Grosvenorplatz. Sie glichen einander wie ein Streifen noch zusammenhängender Briefmarken. An vielen waren die Läden noch geschlossen. Die gute Gesellschaft weilte noch auf dem Land oder im Süden. Sie kam erst Anfang Mai nach London.

Edith Wilding erzählte das ihrem Vetter, während sie zusammen vor dem Hause standen. Sie sprach das Wort: »Gute Gesellschaft« häufig aus und immer mit einem gewissen Nachdruck, einem Ernst. So redete man in Deutschland etwa von Thron und Altar. Die »Society« spielte offenbar in ihrem Denken eine große Rolle, nach oder mit dem Sport die erste. Sie hatte ein paarmal schon eine verheiratete Freundin erwähnt, die »betitelt« sei – adelig – eine Honourable! und eine andere, eine Miß so und so, war durch einen Scheffel Erbsen mit irgendeinem Carl verwandt, ohne daß allerdings, wie es schien, der edle Lord davon übertriebenen Gebrauch machte. Das alles kam sehr harmlos heraus, drollig in seinen Augen. Sie gingen langsam auf dem ganz menschenleeren Bürgersteig auf und ab. Es fing an zu dämmern. Ein kalter Windstoß fegte die Straße hinunter, wirbelte Staub und Zeitungsfetzen auf, pfiff um die Ecke. Er frug besorgt: »Wirst du dich nicht erkälten?«

Wieder mußte sie über ihn den Kopf schütteln. Erkälten? . . . Man gehörte doch zu den respektablen Menschen! . . . Man hatte doch den ganzen Tag Zeit, Sport zu treiben, sich abzuhärten . . . Man hatte seinen Tub mit eiskaltem Wasser . . . Kleine Leute kriegten den Schnupfen . . . Krämer in ihren heißen Läden . . . Komisch: diese kontinentalen Gedanken . . .

Dabei schaute sie aber ihren Gefährten freundlich an. Sie gefielen einander. Sie merkten es allmählich auch beide. Er dachte, sie würde ihm jetzt Lebewohl sagen und in das Haus treten, dessen Türspalt ein dicker glattrasierter Diener schon einmal geöffnet hatte. Aber sie setzte ihre Wanderung mit ihm auf und ab noch fort und tat zu seinem Erstaunen etwas, was er nie erwartet hätte. Sie frug ihn plötzlich nach Deutschland.

»Du bist also dort Offizier?«

»Ja.«

»Mußt du da auch bald einmal hinüber?«

»Wohin denn, Edith?«

»Nun . . . in die Kolonien!«

Nach ihrer Auffassung waren die Soldaten hauptsächlich dazu da, die schwarzen, gelben und braunen Menschen dieses Erdballs im Schach zu halten, damit sie das Geldverdienen der Weißen nicht störten.

Er verneinte lächelnd. »Mein Regiment nicht!«

»Ist es ein . . . ein sehr selektes Regiment – mit guten Leuten darin?«

»Ein selektes . . .? Ach, so meinst du . . . Nee . . . mit dem Gothaer Almanach haben wir wenig zu schaffen!« sagte Helmut Merker aufrichtig. »Es ist ein neuformierter Truppenteil. Fast nur Bürgerliche! . . . Aber alles reizende Leute . . . Ein famoser Geist . . . Donnerwetter ja . . . und dann die Garnison . . . mein Bataillon liegt an der Bergstraße . . . in der mildesten Gegend Deutschlands . . . da blühen jetzt schon längst alle Obstbäume – es ist weiß wie Schnee von Blüten . . . und überall wächst der Wein . . . und im Sommer kannst du die Mandeln direkt vom Baum und die reifen Feigen aus der Hecke pflücken. Es ist wie in Italien!«

»Oh,« sagte sie gedehnt. Das wunderte sie. Aber es kam ihr nicht in den Sinn, in das Wort eines Gentleman den leisesten Zweifel zu setzen.

Er wurde eifrig. Er fuhr fort: »Und weißt du . . . das ist mit dem Wein so eine Sache . . . Wo der in Deutschland wächst, da ist ein anderes Leben. Da sind die Leute lustig. Überall am Rhein. Und ebenso bei uns in der Pfalz. Das wirkt auch auf die kameradschaftlichen Verhältnisse bei uns ein. Ich sag' dir: Es ist ein zu fideles Regiment! . . . Schon mehr so etwas Süddeutsches . . . Gemütliches . . . Der Oberst kein Spielverderber. Die Kommandeuse jung und lustig. Die anderen Damen auch! . . . Gott . . . was haben wir schon für Geschichten angestellt . . . Picknicks . . . und Maskeraden im Winter . . . und ein Jahrmarktsfest – bis aus Frankfurt sind da die Leute gekommen . . .«

»Oh!« meinte sie wieder.

Er war ganz erstaunt, beinahe gerührt, daß sie sich endlich einmal für etwas, was ihn betraf, interessierte, und fügte hinzu: »Unser Weinkeller im Kasino zum Beispiel ist direkt berühmt . . .«

Das machte auf sie weniger Eindruck. Natürlich. Er begriff es. Sie forschte: »Hast du auch eine schöne Uniform?«

»Dunkelblau mit scharlachroten Aufschlägen und auf dem Helm einen silbernen Greifen!«

»So wie sie der Kaiser trägt?«

»Na – so ungefähr!«

»Kommt der Kaiser auch zu euch?«

Er mußte lachen.

»Alle Tage ja gerade nicht! . . . Aber immerhin . . . ein paarmal hab' ich Majestät schon zu sehen bekommen. Einmal, bei dem großen Kaisermanöver vor zwei Jahren, ritt er mit seinem Gefolge mitten in die Schützenlinie und redete mich auf die Gefechtslage an!«

»Oh . . . der Kaiser hat mit dir gesprochen?«

»Ja.«

Sie schwieg nachdenklich. Das imponierte ihr. Es dämmerte merklich und wurde immer kühler. Sie blieb vor dem Haustor stehen. Wieder war eine Pause.

»Ich muß jetzt hinein und packen!« sagte sie endlich. »Nach Schottland. Wohin gehst du dieser Tage?«

Es ärgerte ihn auf einmal, daß sie so kaltherzig von ihm weg- und ihrem Vergnügen im Norden nachfuhr. Er hatte das Gefühl, als täte sie ihm damit ein Unrecht. Es war ihm selber unerklärlich. Er hatte doch wirklich keinerlei Anspruch auf sie. Er kannte sie doch überhaupt erst seit gestern. Trotzdem übermannte ihn die Gereiztheit. Er erwiderte gesucht gleichgültig: »Gott . . . ich geh' wohl auch bald wieder aus London weg . . . vielleicht nach Oxford . . . dort ist mein Vetter, als Cecil-Rhodes-Stipendiat. Den wollt' ich einmal aufsuchen . . .«

Er sagte sich selbst: Wenn wir uns so trennen, dann kommen wir am Ende nie wieder zusammen! . . . Es kämpfte ein Trotz in ihm – er wollte sich diesen britischen Wildings nicht aufdrängen – er merkte ja wohl: sie machten sich blutwenig aus ihm und der ganzen deutschen Verwandtschaft . . . Dies junge Mädchen da auch, trotz ihres flüchtigen Interesses eben. Ein Lachs, den sie übermorgen in Schottland aus dem Wasser holte, verdrängte sicherlich in ihrem Kopf den letzten Gedanken an den deutschen Vetter. Aber trotzdem lastete es ihm auf einmal bleischwer auf dem Herzen, benahm ihm den Atem. Die Vorstellung: In diesem Augenblick siehst du sie zum letztenmal im Leben! Nein, das ging nicht. Er wollte sprechen, suchte nach Worten – da hub sie selber an: »Nun – wir haben ja deine Adresse in Charing Croß!« sagte sie gleichmütig und reichte ihm freundlich die Hand zum Abschied. »Da schicken sie dir ja einen Brief von uns nach!«

»Ja – wenn ihr schreibt . . .«

»Natürlich hörst du noch von mir! Gute Nacht!«

»Gute Nacht!«



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