Rudolph Stratz
Seine englische Frau
Rudolph Stratz

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7

Der von Ostasien heimkehrende Reichspostdampfer lag weit draußen auf der Reede von Suez, schon halb am asiatischen Ufer, über dem fern die grüne Palmeninsel der Mosesquellen sich aus dem gelben Sand Arabiens hob. Kornblumfarbig wogte das Meer mit aus der Tiefe aufwallenden glasgrünen, milchweißen, blutfarbenen Lichtern. Fahlviolett stand drüben der Sinai vor dem stahlblauen Himmel. Eine schwere schwarze Rauchschlange kroch als das Wahrzeichen Europas aus den Schloten des Dampfers quer über das glühende Bild. Er hatte keine Zeit. Er mußte weiter. Vor ihm flatterte schon das Lotsen-P im blauen Felde als Zeichen der Einfahrt in den Suezkanal. Er wartete nur auf die Dampfbarkasse des Lloydagenten, die sich, eine tanzende Nußschale, von Port Tewsik her über die weißwallenden Reihen von Schaumkämmen heranarbeitete.

Zusammen mit dem Vertreter der Reederei sprang noch ein Herr in weißem Tropenhelm und grauem Europäerzivil auf die Stufen des Fallreeps, klomm flink, ohne sich um die hilfsbereiten Arme der Araber zu kümmern, an der senkrechten Bordwand empor und schaute sich suchend auf dem Verdeck um.

»Ich möchte gern Ihren vierten Offizier sprechen!« sagte er zu einem vorbeikommenden Decksteward. »Ach nein – lassen Sie mal – da seh' ich ihn ja schon . . .«

Über das braungebrannte, von einem kurzgeschnittenen, niederländischen Blondbart umrahmte Gesicht des jungen Seemanns drüben flog ein Schimmer von freudigem Erstaunen. Er war gerade mit seiner Tätigkeit, dem Ausladen einiger Frachtstücke an die mit schrägen Rahen längs des Schiffskolosses liegenden arabischen Leichter, zu Ende und eilte mit ausgebreiteten Armen auf den Bruder zu.

»Herrjesus – Helmut! Na, das ist aber nett!«

»Meine Frau wäre mitgekommen,« sagte Helmut Merker nach der ersten Begrüßung. »Aber weißt du: für eine Dame ist so 'ne Spritztour für die paar Stunden doch ein bißchen mühsam. Ich fahre jetzt mit bis Ismailia. Dann bin ich mit der Bahn bis heute abend wieder in Kairo. Dort haben wir für den Winter unser Hauptquartier aufgeschlagen. Famos. Leider bald zu Ende.«

Den blonden Schnurrbart kurz geschnitten, die Hände in den Taschen, die Stummelpfeife im Mund, den Blick kühl über die Wellen, machte er den Eindruck eines vornehmen Engländers, wenigstens auf den jungen Seemann an seiner Seite.

Die Sirene heulte, der Ostasiate setzte keuchend seine zwölftausend Tonnen in Bewegung und glitt langsam in die märchenhaft blaue Binnenflut der Bitterseen hinein. Oben auf der Kommandobrücke lehnten in einer Reihe, dunkel von dem Sonnenhimmel abgehoben, der Lotse, der Kapitän und zwei seiner Offiziere. Kurt Merker hatte jetzt keinen Dienst. Er konnte sich seinem Bruder widmen. Der nahm die durch den Lärm der Dampfpfeife unterbrochene Unterhaltung wieder auf und lachte.

»Ja . . . du kannst dir meine Frau in Kairo vorstellen, Kurt! Ich hab's ihr gesagt: wie wenn ein Entchen wieder ins Wasser kommt! . . . So glückselig platscht sie da in der großen englischen Kolonie herum! Na . . . die ist ja auch direkt tip-top – eben richtige Briten . . . wie man sie bei uns daheim gar nicht zu Gesicht bekommt!«

»Und du machst mit?«

»Gott . . . 's ist doch interessant!« sagte der Leutnant Merker nachlässig. Er hatte trotz seiner zur Schau getragenen Zufriedenheit etwas Aufgeregtes an sich. Er war wie in einer Art von leichtem ständigen Rausch von Freiheit, »'mal was Neues! Das kannst du nicht so beurteilen, Kurt! Du bist heute in Singapore, und morgen in Tahiti, für dich ist die Erdkugel nur so ein besseres Karussell, auf dem du rundum fährst! . . . Aber wenn man so wie ich zum erstenmal wirklich in die große Welt hinauskommt . . .«

Er unterbrach sich und rief einem vorübereilenden Deckkellner zu: »Some fire, please!«

»Yes, Sir!«

»Auf gut deutsch: Ein Streichholz, Krause!« sagte der Schiffsoffizier nachdrücklich. »Warum redest du denn nicht Deutsch, Helmut? Wir sind doch hier auf deutschem Boden! Siehst du nicht da hinten unsre schwarz-weiß-rote Flagge?«

»Ja, ja . . . verzeih . . . es ist nur die verfluchte Gewohnheit! Ich glaub', ich hab' seit vier Wochen kein Wort Deutsch gesprochen!«

»Auch nicht mit deiner Frau?«

»Nein . . . weißt du . . . wenn man so mitten unter den Engländern drin steckt . . . es ist ja auch gut, daß man sie mal wirklich kennen lernt . . .«

»Die Kerle kochen auch mit Wasser!« versetzte der deutsche Schiffsoffizier trocken.

»Na ja . . . von deinem Standpunkt aus gewiß . . . aber wir daheim im Binnenland, wir wissen ja so gut wie nichts von den Engländern . . . Wir unterschätzen sie rasend . . . Wir machen uns keinen rechten Begriff von den Dimensionen, sogar, wenn man in England selbst ist, noch nicht. Da ist vieles altfränkisch und verstaubt. Das geb' ich ohne weiteres zu. Aber hier, draußen . . . Donnerwetter ja . . . sind das Kerle!«

Der andere lächelte.

»Na . . . 's ist gut, daß sie dich nächstens wieder in deine Garnison einheimsen! Das kühlt dich hoffentlich ab! . . . Du bist ja Feuer und Flamme . . . Kerlchen, was ist denn nur in dich gefahren?«

Helmut Merker zuckte die Achseln und lenkte das Gespräch ab. Erst nach dem Mittagsimbiß, der nun, wo man sich Europa näherte, schon Lunch und nicht mehr Tiffin hieß, kam er darauf zurück. Es war ein Schatten von Wehmut über seinen frischen Zügen. Er musterte, in den Schiffsstuhl zurückgelehnt, die zerlumpten Fellachen, die, an der Uferböschung des Kanals hinlaufend, sich vom Schiff Geld und Brotstücke zuwerfen ließen, und schlug seufzend ein Bein über das andere.

»Nur noch acht Tage, Kurt – dann hat's geschnappt! Dann schreiben wir den einunddreißigsten März. Dann heißt's wieder heim in die Tretmühle . . .«

»Sie sollen dir nur dort die Hammelbeine tüchtig lang ziehen!« nickte der Jüngere. »Reif dazu bist du!«

»Nee – so mein' ich's auch nicht! Faulenzen will ich absolut nicht! Nur . . . daß man sich so gar nicht wählen kann, was man gerade gern tun möchte . . . Daß einem immer ein Dutzend Leute im Genick sitzt . . . Die Edith ist darin so komisch . . . Das heißt, es ist eigentlich gar nicht komisch bei jemand, der in England geboren und aufgewachsen ist . . . Wir sind doch nun bald ein Jahr verheiratet. Aber es ist mir noch nicht gelungen, ihr den Begriff eines Vorgesetzten oder einer Vorgesetzten beizubringen. Für sie sind alle respektablen Menschen einander gleich. Keiner hat den Vorrang vor andern. Nur die Ladies vor den Gentlemen. Das ist auch der Geist hier – da, wo wir in Kairo verkehren. Es hat so etwas unendlich Angenehmes! Es macht das Leben so frei und leicht . . .«

»Und andere müssen das Geld dazu verdienen!«

»Ja . . . die Leute haben's eben! Das gilt als selbstverständlich! Es wird gar kein Wesens davon gemacht!«

»Na und ihr . . . euch schickt Schwiegerpapachen immer so munter die Moneten herüber?«

»Ja. Das heißt . . . in letzter Zeit . . . gar zu grob wollten wir ihm doch nicht kommen!«

»Was habt ihr denn da gemacht?«

»Na – wozu hat denn der Mensch das Kommißvermögen!« meinte der Leutnant Merker träumerisch.

»Das reißt ihr an?«

»Nach Noten!«

»Das ist aber doch furchtbar leichtsinnig!«

»Das wäre bei anderen leichtsinnig, die darauf angewiesen sind! . . . Aber wir – was glaubst du denn, daß die paar Kröten von Zinsen in unserm Etat jährlich ausmachen, gegenüber der väterlichen Zulage . . . Das ist doch eine Formsache . . . Vorschrift . . . Alles bei uns. Man lebt hinter Stacheldraht und Drahtzäunen. Ach, es muß so schön sein, einmal ein freier Mann zu sein! . . . Was ist denn dahinten für Grünzeug in der Wüste?«

»Ismailia!«

»Donnerwetter, da muß ich an Land! . . . Also laß es dir gut gehen! Grüße Muttern, wenn du sie siehst! Adieu!«

Langsam rollte der Eisenbahnzug durch die Wüste dahin. Helmut Merker war allein in seinem Abteil. Er hatte auf der einen Seite die hölzernen Gitterläden des Fensters geschlossen, um sich gegen die stechende Abendsonne zu schützen. Auf der anderen sah man wieder das Meer. Aber ein Meer von toten, bis an den Horizont reichenden Sanddünen, erstarrt in seinen Hügeln und Tälern, ein fahles, schwefelgelbes Licht über der unendlichen Einsamkeit.

Und in dieser stillen Stunde frug er sich in einem plötzlichen Erstaunen: Bist du denn das wirklich, du? Der Oberleutnant Merker aus Alsheim an der Bergstraße, der hier frei wie ein Fürst lebt, der mit einem Lord und sonst der Blüte Britanniens verkehrt, ein unabhängiger Gentleman, weiter nichts? Es war so unwahrscheinlich – man war nicht umsonst im Land von Tausendundeiner Nacht, im Reich der Wunder. Und wieviel Wunder lagen noch dahinter, jenseits der Schwelle von Suez . . . die Palmen Indiens, die Pagoden von China . . . die Welt war so weit . . . so weit . . .

Aber am ersten April morgens um sieben Uhr stand das zweite Bataillon in rechts abmarschierter Sektionskolonne, Front nach der Bergstraße, zum Exerzieren bereit. Und am rechten Flügel des zweiten Zuges der achten Compagnie eingetreten, den Säbel in der Hand, der Oberleutnant Helmut Merker. Und vorne, im Kampf mit seiner alten Himmelsziege, der Hauptmann Grempe, den Kopf vorgestreckt, um irgendeinen Fehler zu entdecken: ›Na, Herr Leutnant . . . Ihnen steckt wohl der Urlaub noch in den Gliedern?‹

Lieber Gott – was ahnte der gute Grempe nun so eigentlich von der Welt? Aber er war der Vorgesetzte! . . . Ein sonderbarer Begriff . . . ein Vorgesetzter . . .

Es wurde Helmut Merker trübe zumut, je mehr die Dunkelheit über die Wüste hereinbrach. Er hüllte sich fröstelnd in seinen Paletot. Gedrückt saß er in der Ecke. Es wurde ganz nacht. Und dann plötzlich Lichterhelle. Eine mächtige Bahnhofwölbung. Tobendes Gewühl – Kairo.

Draußen, in der bunten Nacht der Straßen das Farbengewimmel des Orients. Selten einmal zu dieser Stunde noch ein Europäer. Aber ihre Nähe schwebte über Türken und Arabern, über Fellachen und Kopten, über Syrern und Sudanesen. Man fühlte: sie waren da. Überall wachte ein unsichtbares Auge. Der Geist des weltumspannenden britischen Imperiums. Geräuschlos wie durch einen Fingerdruck auf einen elektrischen Knopf arbeitete dieser riesige Apparat. Ägyptische Große rollten vorbei, geputzte Leute vor der Karosse, levantinische Millionäre in Luxusautomobilen, da ritt ein Pascha mit seinem Gefolge – aber mitten in dem Volk, das ihnen ehrfürchtig nachstarrte, schlenderte irgendwo irgendein glattrasierter angelsächsischer Gentleman, einfach grau gekleidet. Von unbestimmtem Alter, den Sommerpaletot lose über dem Arm. Seinen kühlen prüfenden Augen entging nichts. Er, der einfache Fußgänger, war vielleicht einer der wirklichen Herren hier im Lande, nach seinem Willen tanzten da draußen die edelsteinbehängten orientalischen Puppen. Hier und überall auf der Erde. Was auch da draußen geschah, es geschah wenig ohne, fast nichts wider ihn.

Als Volk sind sie von erstarrtem Dünkel – aber der einzelne macht so gar nichts aus sich. Das fiel Helmut Merker auf, während er zwei Stunden später mit seiner Frau in Frack und weißer Binde nach dem Dinner in einem der Fremdenpaläste am Esbekieh-Platz inmitten der Briten, ihrer Freunde, im Drawing-Room saß. Edith war glücklich. Das war die Gesellschaft, die ihr Herz ersehnte. Most selected . . . ringsum waren Menschen, die irgendwie im siebten Grad von einem Earl abstammten, durch einen Scheffel Erbsen mit einem Lord vervettert waren . . . die ›society‹ – der Traum einer Engländerin . . . ihre Wangen waren gerötet, ihre Augen leuchteten – sie plauderte nach rechts und links, dann geradeaus mit hinreißender Liebenswürdigkeit, in eine raffzähnige, gespenstig hagere, ältliche Miß hinein, die etwas ganz Besonderes war. Edith war lebhafter als die andern. Das machte das deutsche Blut. Ihr Mann blieb schweigsam. Er schaute vor sich in das Gewirr des glänzend hellen, weiten Raumes, in den Ballsaal dahinter, mit seiner Zigeunermusik – es war kein Mangel an schönen Frauen und Mädchen – aber er beachtete nicht die britischen Ladies, die schmächtigen Dollarprinzessinnen, die Pariser Mondainen und griechischen Millionärinnen – er betrachtete nur die Männer – die Engländer – mit Neid – jawohl mit Neid. Nicht mit Neid auf das, was sie waren, sondern wie gut sie's im Leben hatten. Die waren frei. Denen stand die Welt offen. Gott mochte wissen, wo sie überall herkamen. Dort drüben die braungebrannten, jungen Sportsmen im Frack hatten noch vor vierzehn Tagen am Blauen Nil Flußpferde geschossen: jetzt tanzten sie hier. Und der kleinere Herr mit dem lustigen Kindergesicht da vorn hatte draußen in der Halle seine Koffer reisefertig stehen. Er ging in ein paar Stunden als Kings messenger nach Afghanistan. Zwei oder drei der Familien umher waren auch auf dem Weg aus den Dschungeln Indiens nach der Londoner Season. Der stille Herr neben dem Leutnant hatte zwei Jahre in Äquatorialafrika zugebracht. Ein riesiger junger Bursche trat schlenkernden Schritts, lachend, ein Kabeltelegramm hochhaltend, heran.

»Gute Neuigkeiten aus Tibet. Jack wohlauf!«

Jack war sein Bruder. Man schlug sich da irgendwo, an der Nordgrenze Indiens. Unter den Anwesenden waren manche Sachverständige. Man besprach die Lage dort. Hinter Helmut Merker sagte ein älterer Gentleman leise und eindringlich zu den andern: »Ich habe beste Nachrichten über Hongkong. Der Aufstand im Innern wächst. Die Haltung der südchinesischen Vizekönige . . .«

Kairo – Peking – Kalkutta – Nigeria . . . das wirrte sich im Gespräch durcheinander, floß zusammen. Die Erde ward zu einer Einheit. Und nicht einmal zu einer großen. Die Weltkugel schien plötzlich lächerlich klein. Und überall wehte der ›Union Jack‹, war das Schild des britischen Konsuls, qualmte der Rauch britischer Panzer. Der Leutnant Merker kämpfte mit sich, gegen sich. Als er später allein mit seiner Frau in ihren Räumen oben war, sagte er: »Weißt du: deine früheren Landsleute haben so etwas Beneidenswertes an sich. Sie sind alle satt!«

»Oh! Das Dinner war doch nicht so gut!«

Er mußte lachen.

»So mein' ich's auch nicht! Ich meine: die Kerls haben's eigentlich nicht mehr nötig, auch nur den kleinen Finger zu rühren! Was sie tun, das geschieht aus freien Stücken! . . . Gewiß, sie gehen unter die Menschenfresser und knallen sich am Ende der Welt mit den Wilden herum, aber man könnte sich ebensogut vorstellen, daß sie daheim bleiben und irgendwo Moorhühner schießen oder Cricket spielen.«

»Natürlich arbeitet ein Gentleman nicht um sein Leben!«

»Ja eben! Dann wären wir alle in Deutschland nach deinen Begriffen keine Gentlemen! Denn bei uns heißt es nun einmal durch die Bank: schuften! Da wird jedem sein Arbeitsplatz angewiesen und dann los! . . . Ewig: du mußt! . . . Du mußt! . . . Du mußt! . . . Und du mußt hier und du mußt dort und du mußt dies und du mußt jenes . . . Es ist eigentlich gräßlich!«

Er ging aufgeregt im Zimmer auf und nieder. Sie schaute ihn mit offenem Munde an. Ihr Gatte war ihr wieder einmal ein Rätsel. Nun schloß er, stehen bleibend: »Und wenn's einmal einer bei uns nicht nötig hat und macht doch – aus purer Gewissenhaftigkeit – die Tretmühle mit, so dankt es ihm keiner! Die guten Leutchen halten das für selbstverständlich. Dazu ist man doch, nach ihrer Überzeugung, einzig und allein auf der Welt da!«

Frau Edith hörte nur halb zu. Ihr Kopf war anders eingestellt. Er haftete an den Sachlichkeiten dieser Erde, an praktischen Dingen, über deren Vorhandensein und Zweckmäßigkeit kein Zweifel walten konnte.

»Wenn der Robinson unser Auto nur wirklich hochgeschraubt hat,« meinte sie nachdenklich, »sonst sind die Pneus plattgedrückt, wenn wir jetzt heimkommen!«

»Ja, wenn wir jetzt heimkommen!« wiederholte er, mit einem ungeduldigen Seufzer, und dann nach einer Weile: »Erinnerst du dich an diesen athletischen jungen Engländer gestern, hast du das eingefallene Gesicht gesehen, die blauen Schatten unter den Augen? Er war jetzt zum zweitenmal umsonst im westafrikanischen Urwald, um eins von den aussterbenden weißen Nashörnern zu schießen. Er sagt, er geht, sowie er hergestellt ist, zum drittenmal hin, und wenn es ihm sein Leben kostet! Es ist ja Unsinn, natürlich . . . aber der Mann tut doch wenigstens, was ihm paßt! Da kolkt ihm kein Vorgesetzter hinein!«

»Hallo: stillgestanden!« sagte Edith und lachte. Es war das erste deutsche Wort, das sie seit langem sprach. Sie hatte es daheim auf dem Exerzierplatz aufgeschnappt, an dessen Rand sie sich zuweilen über die Rumpfbeugungen und den langsamen Schritt der Rekruten wie über eine Zirkusvorstellung zu amüsieren pflegte. Er seufzte.

»Ja. Stillgestanden! Ewig stillgestanden!« sprach er und gab ihr einen Kuß. »Na . . . Gute Nacht!«

An einem der nächsten Tage saß er um die Mittagstunde, wo sich jetzt, in der zweiten Hälfte März, die Sonne schon glühend auf den Straßen fühlbar machte, im Schatten seines, auf den Palmengarten des Hotels hinausgehenden Zimmers, und schrieb an seinen Bruder Leopold nach Ludwigshafen. Er überlegte lange, bis er die richtigen Worte für den letzten Absatz seines Briefes fand.

»Du hast immer und allezeit das Recht, mir Vorhalte zu machen, lieber Leopold! Wer so viel als älterer Bruder an mir und für mich getan hat, wie Du, den will ich stets mit Dankbarkeit anhören. Also deswegen brauchst Du Dich in Deinem letzten Brief nicht zu entschuldigen. Es fragt sich nur, ob es was hilft, was Du sagst!

Du schreibst, Du hättest von deutschen Bekannten aus Ägypten gehört, wir seien in den sechs Wochen schon halbe Engländer geworden! Also so toll ist's nicht. Ich bin immer noch ein guter Deutscher – glaub' mir's! . . . Nur sehe ich jetzt die Welt ein bißchen anders an, als es vom Stammtisch im ›Roten Hahn‹ in Alsheim aus geschieht. Das kann mir keiner verdenken!

Ich hab' eine gewisse Sehnsucht, Leopold! Das will ich gar nicht leugnen! Ich habe hier etwas entdeckt, was ich doch bisher nicht so recht kannte – was man in Deutschland überhaupt nicht kennt: den unabhängigen Gentleman! Das ist die eigentliche englische Blüte. Der Mann, der frei ist und doch kein Müßiggänger, sondern sich selbst sein Handeln vorschreibt. Es liegt so viel Würde und Anstand darin. So viel Männlichkeit. Ich muß gestehen: er hat's mir ein wenig angetan. Um so mehr, als ich mir immer sagen muß, daß ich jeden Augenblick so leben könnte, wenn ich wollte. Ich hab' ja Geld genug dazu, und meine Frau wäre selig, aus der kleinen Garnison weg in die Freiheit zu kommen, wenn sie mir es auch mit keinem Wort verrät. Dazu ist sie zu gewissenhaft. Sie hat es mir versprochen, eine deutsche Offiziersfrau zu werden, und das hält sie, so gut sie's eben kann! Und ebenso will ich meinem Beruf treu bleiben. Ich muß nur erst einmal aus dieser Luft hier heraus. Die hat so etwas in sich. Ich kann es nicht schildern. Man kommt sich vor wie der Herr der Erde. Man spricht immer Englisch und weiß selbst nicht warum. Darin geb' ich Deinen Bekannten schon recht. Aber lasse mich nur erst einmal wieder meinen Waffenrock zuknöpfen und den Säbel an der Seite fühlen – dann ist's schon gut! Gruß! Dein Bruder

Helmut.«

Dieser Gedanke an den ›unabhängigen Gentleman‹ ließ dem Oberleutnant Merker keine Ruhe mehr. Er sah diese von ihm beneidete Menschenklasse auf Schritt und Tritt um sich. Er sah diese fröhlich-gesunden, scheinbar von keiner Last und Sorge der Erde angekränkelten Sportsmen, wie sie des Morgens hinaus über den Nil in die Wüsteneinsamkeit der Pyramiden kanterten, er sah sie des Nachmittags als phlegmatisch-zufriedene Wasserratten im Schatten ihrer windgeblähten Segel auf dem Nil, er sah sie des Abends im Frack und weißer Binde im Geplauder mit den Damen und im Kreise der Männer, im ernsten politischen Gespräch. Er wußte auch, wie behaglich sie drüben in Altengland lebten, Füchse hetzten, die Füße gegen das Kaminfeuer stemmten, im Hydepark ihren Viererzug lenkten, bummelten oder sich nützlich machten, ganz wie jeder wollte, alle Dinge der Welt aus der Vogelschau überblickten und selber frei waren wie der Vogel in der Luft. Er war allmählich so aufgeregt, daß er kaum seine Geduld bewahren konnte, als der kleine kranke sächsische Gerichtsassessor Kuntze ihm eines Tages auf der Hotelterrasse wehmütig sagte: »Ja, ja – Herr College von der militärischen Fakultät: Die schönen Tage von Aranjuez – die sind nu auch bald vorbei! Nu heißt's wieder in die Hände spucken und an die Arbeit gehen!«

Er wandte sich hochmütig und achselzuckend ab – jawohl: da unten, im farbigen Lärm der Straße, die Eseltreiber und Stiefelputzer – die mußten jeden Morgen ans Werk. Sonst hatten sie am Abend kein Kupferstück für Datteln und Brot. Aber ein unabhängiger, wohlhabender Mann wie er . . . er eilte mit langen Schritten davon, und der kleine Sachse, der es doch gar nicht böse gemeint hatte, schaute ihm verwundert nach.

»Was meinst du, Edith,« sagte er am nächsten Morgen zu seiner Frau, «wenn ich ans Regiment telegraphiere und um Nachurlaub bitte?«

»Es wäre so schön! Wir könnten dann mit Brooklands durch Palästina reiten.«

Das war eine schon lange vorbereitete Partie. Cook und Sohn hatten die Vorbereitungen getroffen. Man schlief unter Zelten. Man besichtigte die heiligen Stätten. Und vor allem: man wäre in allerbester, ausgewählter englischer Gesellschaft. Ediths Herz schlug höher bei dem Gedanken.

»Wir haben auch die Einladung auf die Musgravesche Jacht,« fügte sie hinzu. »Zu der Kreuzfahrt nach den Ionischen Inseln. Oh . . . und dann Konstantinopel! . . . Nie war ich noch in Konstantinopel!«

Sie sprach das so entschieden aus, als habe ihr das Schicksal einen Pflichtteil im Leben vorenthalten.

»Gut. Ich kabele mit bezahlter Rückantwort!« sagte ihr Mann.

»Aber ich weiß, was sie antworten werden!« Edith Merker verfiel auf einmal in das Deutsche und machte den ihr wohlbekannten preußischen Tonfall des Regimentskommandeurs in ihrer englischen Aussprache nach: ». . . ›Sie denken, der Dienst ist ein gutes Ding für andere! . . . Oh . . . Sie sind mir jetzt auch gut für den Dienst! . . . Kommen Sie nur! . . . Kommen Sie schnell! . . . Hier stehen schon die Soldaten! . . . Man wird in der Kaserne so froh sein, Sie zu sehen‹ . . .«

»Ja, spotte nur!« sagte ihr Mann. Es war ihm schon öfters aufgefallen, daß Edith ihren ursprünglichen Respekt vor ihrer neuen Umgebung verloren hatte und anfing, Alsheim und alles, was drum und dran war, humoristisch zu betrachten. »Ich telegraphiere!«

Am nächsten Tag kam die lakonische Antwort: »Abgelehnt. Regiment.«

Eigentlich hätte er es sich sagen können. Aber er saß doch, den Kopf auf die Hände gestützt, und war wütend.

»Was man nun alles so wie zum Hohn vor der Nase hat: Einladungen zur Season nach London . . . die Segelwoche in Cowes . . . Herbstsport in Schottland! . . . Sogar nach Indien bin ich zu Jagden eingeladen!«

»Oh . . . Sie verbieten dir ja alles!« sagte seine blonde Frau. »Meine Freundinnen haben gestern so gelacht, wie ich ihnen erzählt hab', wir dürfen nie eine Stunde weit irgendwohin fahren, wenn es unser Hauptmann nicht erlaubt! Sonst werden wir eingesperrt! Sie haben's nicht geglaubt!«

Helmut Merker erwiderte nichts. Er blieb die letzten Tage vor Abgang des Dampfers in trüber und gereizter Stimmung. Den einen Abend hatte er, während sie im Kreise ihrer englischen Freunde saßen, seit fast einer Stunde kein Wort gesprochen. Er war in seine Gedanken versunken. Um ihn herum saßen Herren, die er nicht kannte. Vorgestellt hatte man sich einander kaum, nach zwangloser britischer Sitte. Es genügte, wenn man zur Gesellschaft der Lady Musgrave, der Gönnerin seiner Frau, gehörte. Die Gentlemen in den Klubsesseln plauderten halblaut. Plötzlich horchte er auf. Er hörte, wie einer leise und bestimmt zu den andern sagte: »Die deutsche Flotte hätte nie gebaut werden dürfen. Daß sie überhaupt schwimmt, ist die Verurteilung unserer Politik. Wir haben geschlafen!«

»Und sie jetzt noch zu versenken, ist ein rauhes Werk!« meinte der zweite sinnend.

»Und doch müssen wir es tun und Deutschland vernichten!« versetzte ein dritter mit einem sonderbaren, sorgenvollen Geschäftsernst. »Sobald wie möglich. Bis zum bittern Ende! Kein Opfer ist dafür zu groß!«

Alle die anderen nickten und schwiegen. Helmut Merker sah sie betroffen an. Waren das die liebenswürdigen Gentlemen von vorhin? Und wie kamen sie dazu, das in seiner Gegenwart zu sagen? Natürlich – sie hielten ihn, der die ganze Zeit nicht den Mund aufgetan, für ihren Landsmann! Im selben Augenblick rief Edith ausnahmsweise auf deutsch zu ihm hinüber: »Hellie – ich bin müde! Wir wollen schlafen gehen!«

»Ich komme schon!« antwortete er, auch auf deutsch, und stand auf. Mit ihm zusammen schnellten die drei Herren aus ihren Sesseln empor. Sie waren ehrlich entsetzt. Sie starrten ihn hilflos an. Sie wußten nicht, was sie sagen sollten.

Endlich begann der eine: »Ich bin wahrhaftig traurig, Sir . . . ich ahnte nicht, Sir . . .«

Helmut Merker reichte ihm die Hand zum Abschied.

»Bitte, erwähnen Sie es nicht weiter!«

»Ich bitte um Verzeihung, Sir! Es war nicht für Sie bestimmt, Sir!«

»Aber nichts, was wir nicht auch wissen! . . . Guten Abend, meine Herren!«

Oben im Zimmer atmete er befreit auf und streckte die Arme aus.

»Uff, Edith: die Lektion hat mir not getan!«

Sie war erstaunt.

»Was ist denn geschehen?«

»Nichts Besonderes! . . . Nur . . . es ist ganz gut, wenn einem mal die Schuppen von den Augen fallen! . . . Herrgott ja . . . Man ist da mitten unter Leuten . . . weißt du, Edith: Es ist hohe Zeit, daß wir wieder in unser olles, ehrliches Deutschland zurückkommen! Ich kann's auf einmal kaum mehr erwarten!«

Er sprach jetzt wieder Deutsch. Sie auch. Sie meinte, den Schiffskoffer zuklappend, den sie schon fertig gepackt hatte: »Manchmal kann ich gar nicht verstehen, was du meinst!«

Er legte zärtlich den Arm um sie und sagte: »Das ist, weil du drüben, jenseits des Kanals, geboren bist und ich hier, diesseits. Aber du bist mir ja über das bißchen Wasser gefolgt. Du bist meine liebe, süße Frau. Du wirst dich schon auch in Deutschland heimisch fühlen!«

»Oh . . . Kairo und Alsheim!« sagte sie und lachte. Sie meinte es nicht böse. Der Vergleich belustigte sie. Er sah sie betrübt an. Er merkte diese Wandlung in ihrem Gesichtskreis und konnte doch nicht hindern, daß ihr hier, aus dem Sehwinkel der größten Stadt Afrikas, in der Nähe dreier Weltteile, die ferne kleine Garnison an der Bergstraße immer mehr zusammenschrumpfte, putzig und winzig wurde, wie eine ausgepackte Spielzeugschachtel mit bunten Bleisoldaten. Er betrieb voll Eifer die Reisevorbereitungen. Es trieb ihn aus Ägypten weg, wie aus Feindesland. Als sie ein paar Tage später im Hafen von Alexandrien am Bug des Lloyddampfers standen, wo eine Ahnung einer kühlen Brise wehte und sich die meisten Passagiere luftschnappend zusammengedrängt hatten, sagte er, mit einem Blick auf das weite Häusermeer unter der blauen Himmelswölbung, aus dem sich einsam ragend die Pompejussäule erhob: »Ich freue mich förmlich auf den Anblick der ersten deutschen Kaserne!«

»Wie lange?« frug Edith und knüpfte sich die Schleierzipfel hinten fester. Das traf ihn jäh. Es lag etwas darin, als kennte sie ihren Mann besser als er sich selbst. Ihre Züge waren rosig und heiter. »Look here!« rief sie und deutete auf die Masten eines vor Ägypten gescheiterten Schiffs, die schräg und sonderbar mitten aus der Wasserfläche ragten. An ihnen vorbei nahm der Dampfer seinen Weg gen Norden, nach Europa.



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