Rudolph Stratz
Seine englische Frau
Rudolph Stratz

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10

Helmut Merker ließ seinen Gaul in Schritt fallen, legte dem irischen Hunter die Zügel auf den Hals, lüftete seine Kappe und trocknete sich die Stirne. Die Sonne schien jetzt, um die Mitte September, so heiß wie im Hochsommer auf die Grafschaft Kent hernieder, den großen Garten Englands im Süden, der gerade um diese Jahreszeit dem einsamen Reiter so mahnend das Bild der heimischen Pfalz in die Erinnerung rief. Wie dort, so leuchteten auch hier die roten Äpfel aus weiten Wäldern von Obstbäumen, an hochgespanntem Draht rankten sich die grünen Hopfreben, waren Hunderte von Händen mit dem Einernten der goldfarbigen Dolden beschäftigt. Wenn er die Augen schloß und nur um sich die sonnige Wärme, unter sich das leise Knarren des Sattels auf dem Pferderücken verspürte, so konnte er sich einbilden, diese letzten zweieinhalb Jahre seien nur ein Traum gewesen, und der hier ritt, sei nicht ein Gentleman, im Süden Großbritanniens, der in das Heim seines Schwiegervaters John Wilding auf Rosemary-Hills zurückkehrte, sondern der Oberleutnant Merker vom 198ten Infanterieregiment in Alsheim an der Bergstraße, auf dem freundlichst geborgten Klepper des Bataillonsadjutanten, leichten Sinns und leichten Beutels – vor sich, da drüben, irgendwo hinter Rhein und Vogesen die Zukunft . . . das Leben. – Jetzt kannte er das Leben besser . . . Er seufzte . . . er griff in die Tasche und holte einen zerknitterten Brief heraus und las ihn wieder einmal, wie schon oft seit gestern:

»Euer Hochwohlgeboren

werden nochmals und diesmal dringend ersucht, sich endgültig darüber äußern zu wollen, ob Sie nach Beendigung Ihres in Kürze ablaufenden Urlaubs sich wieder um Verwendung im Frontdienst zu bewerben gedenken oder welches sonst Ihre Absichten sind. Ich sehe einer Meldung hierüber in nächster Zeit entgegen.«

Es war eine dienstliche Anfrage des Regimentskommandeurs. Der Oberst selbst – der gleiche noch wie im vorigen Jahr – hatte das Schriftstück unterzeichnet. Der Leutnant Merker schaute es tiefsinnig an, schüttelte den Kopf, gab der träg gewordenen Stute eine Schenkelhilfe und ritt weiter. Um ihn war das Leben der englischen Landstraße: Farmer und Farmerfrauen, die auf leichten Wägelchen ihre Doppelponies selbst kutschierten, Radler, ein Trupp Backfische von einem nahen Schloß, mit langen flatternden blonden Mähnen, wie besessen im Jungensitz einhergaloppierend, ein würdevoller Lakai auf raschem Jagdpferd hinterdrein, friedliche Hammelherden am Grabenrand, Golf spielende Gentlemen auf den Wiesen . . . England . . . Immer wieder England . . . Und überall sich gleich . . .

Helmut Merker furchte die Stirne und legte den rechten Unterschenkel leise an das Pferdehaar. Der Gaul zog im Galopp mit ihm davon. Durch zwei Reihen winziger Häuschen eines Städtchens, dann von der Landstraße ab, einem Hügel zu. Hoch oben auf dem thronte ein weißes Gebäude – fast ein Schloß – hohe Baumgruppen dahinter, bunte Teppichbeete, blauer Seespiegel mit dem träumerisch schwimmenden Schnee der Schwäne, Spaliere von Orangenbäumchen und Rosenhecken, Durchblicke weithin in stille Wald- und Wasserwildnis – es war wie eine Verkörperung schweren, fest gegründeten, großbürgerlichen englischen Reichtums. Ein breiter Fahrweg führte zu Rosemary-Hills empor. Unten am Parktor standen die Gitter offen. Eine weißgekleidete, junge Frau lehnte an ihnen. Ihr breitrandiger Strohhut war zum Schutz gegen die Sonne nach hinten gerückt und beschattete das regelmäßige, heiter-hübsche Gesicht. Sie schirmte die Augen mit der Hand und spähte. Dann winkte sie dem Heransprengenden fröhlich zu. Er schwang sich aus dem Sattel und begrüßte Edith und ging neben ihr, den Zügel des hinterher trottenden Pferdes lose um den Arm, den Weg hinauf.

Edith Merkers lebhafte blaue Augen strahlten. Ihre zarten, ein wenig sommersprossigen Wangen waren frisch gerötet.

»Gute Nachrichten, Hellie!« sagte sie auf deutsch. Es war schon ein besonderes Zeichen, wenn sie das tat. Sie unterhielten sich oft wochenlang nur englisch zusammen. Deutsch nannte er zuweilen in einer Anwandlung von trübem Humor ihre Sonntagnachmittagsprache. »Gute Nachrichten, Hellie! Ich hab' eben ernstlich mit Pa geredet! Du weißt, den ganzen Sommer ging es nicht! Wenn er über Sonntag aus der City kam, dann war er so schweigsam und mißgestimmt wie nie, solange ich mich erinnern kann, und hat alles von sich abgewehrt . . . Father wird eben alt. Das ist's. Er schont sich nicht. Da kann man nicht helfen. Aber nun hab' ich mir ein Herz gefaßt und ihn heute früh, wie du weg warst, gefragt . . . Und da war er so gut, so weich . . . er hat sich im stillen schon alles überlegt – viel besser, als ich je hoffte . . . Ich bin ihm so dankbar . . . er will dir selbst nachher das Weitere sagen, Hellie . . .«

»Es handelt sich um unser Verbleiben in England?«

»Ja! Natürlich!«

»Da ist jedes Wort überflüssig, Edith!« versetzte er trocken. »Unsere Tage hier sind gezählt. Noch vierzehn! Dann geht's heim. In den Dienst! . . .«

Die junge Frau blieb stehen und starrte ihn an. Sie war plötzlich ganz blaß geworden. Er vermied es, ihrem Blick zu begegnen. Er sprach zwischen den Zähnen: »Gestern hab' ich einen Brief vom Regiment bekommen. In mein altes Regiment komm' ich wahrscheinlich doch nicht mehr! Gott weiß, wo sie mich hintun. Ist mir auch ganz gleich! . . . Wenn ich nur erst mal England im Rücken hab'!«

»Nein!«

Es war ein empörter Aufschrei, so, als hätte er in ihrem Vaterland sie selbst beleidigt. Er hob zornig den Kopf.

»Doch!«

»Never, Hellie – never!«

Das Blut stieg ihm in die Schläfen. Aber er beherrschte sich.

»Erstens bleib' bitte beim Deutschen, wenn wir von Deutschland reden . . .«

»Ich will nichts von Deutschland hören!«

»Und zweitens, Edith . . .« noch immer zwang er sich zur Ruhe: ». . . mache dir doch klar: Einmal müssen wir zum Schluß kommen! Seit dem Frühjahr, den ganzen Sommer durch, geht nun der Kampf zwischen dir und mir! – Ich sag' ›ja‹ – du sagst ›nein!‹ ich sag' Deutschland, du sagst England – jetzt steht die Entscheidung vor der Türe . . .«

»Es ist schon entschieden!«

Nun verlor er die Geduld. Er brauste auf. Seine Stimme, sonst schon an der frohgemuten Ruhe des englischen Gentleman geschult, hatte einen schneidenden, befehlenden Kehlklang, als stünde er auf dem Exerzierplatz.

»Ich hab's satt, Edith. Es muß ein Ende nehmen. Dafür bin ich der Mann. Du hast mir zu folgen!«

Sie schüttelte eigensinnig den Kopf und lächelte dabei sonderbar vor sich nieder, als wollte sie sagen: Du tust ja schließlich doch, was ich will . . . Es schien ihm schon halb wie Spott, wie Mißachtung. Es machte ihn noch zorniger. Er fuhr fort: »Ich weiß, daß die Deinigen hinter dir stehen und dich aufhetzen! . . . Aber ich hab' nicht einen Haufen Engländer oder Halb-Engländer geheiratet, sondern dich! . . . Ich war ein Esel – das geb' ich zu: daß ich überhaupt mit dir hierher gekommen bin! . . . Das hätt' ich nicht sollen! Wenn man dem Deubel den kleinen Finger gibt, dann nimmt er gleich die ganze Hand! . . . Aber ich reiß mich los! . . . Ich muß jetzt weg . . . ich muß . . .«

Das Pferd hatte sich sacht vom Arm seines Herrn frei gemacht. Es schnupperte umher, wieherte und lief dann fröhlich nach dem Stall. Er achtete nicht darauf. Er hörte die Stimme seiner Frau: »Solange wir hier ohne eigenes Heim waren, Hellie, habe ich immer noch versucht, mich an den Gedanken zu gewöhnen, wieder nach Deutschland zu gehen! Oh – ich habe so darunter gelitten, Hellie. Ich hab' es heute father gesagt: ›Du machst es mir so schwer, meinem Mann zu widerstehen. Ich steh' ja vor ihm mit leeren Händen!‹ . . . Father war so gut! . . . Er hat mich gestreichelt und auf die Stirne geküßt und will uns hier . . .«

»Es ist mir ganz gleich, was er will! Ich dank' ihm für seine guten Absichten! Aber wenn er seinen ganzen Kassenschrank ausleert . . . Ich muß heim und in den Dienst! Verstanden?«

Helmut Merker erschrak. So hatte er seine sonst so gleichmütige Frau noch nie gesehen. Sie verfiel in einen Weinkrampf. Sie ballte die Hände.

»Ich hasse Deutschland! – – Ich hass' es! . . . Wir wollen englisch bleiben . . . ich und Klein-Mary . . . und du auch . . . ja . . . du auch . . . Deutschland ist ein schreckliches Land. Die Männer trinken Bier und die Frauen Kaffee. Wenn ich auf die Post gehe, ist der Beamte grob zu mir. Wenn ich auf der Eisenbahn fahre, ist auch der Beamte grob zu mir. Wenn ich im Stadtgarten auf dem Rasen geh', so kommt der Beamte und schreit mich an. Man weicht mir auf der Straße nicht ordentlich aus. Oh . . . Es ist kein Land für eine Lady!«

Er wollte sie unterbrechen. Aber nun war sie im Zuge: »Eure Gesellschaften sind langweilig. Die Männer sitzen in einem Zimmer, die Frauen im anderen. Sie sprechen von den Dienstboten. Mich interessieren meine Servants nicht. Ich soll in Deutschland in die Küche gehen und nachschauen. Ich soll eine Hausfrau sein. Eine Lady geht nicht in die Küche. Gottlob: seit ich wieder in England bin, habe ich keine Küche mehr gesehen . . .«

»Niemand verlangt doch, daß du . . .«

»Und die Männer im anderen Zimmer reden von ihren Regimentern. Mir sind eure Regimenter gleichgültig. In euern Regimentern hassen sie England. Und wir sind doch so viel reicher als ihr. Guter Gott – was wäre unsere Majorin hier . . . die Mrs. Kaufer – mit ihren fünfhundert Pfund im Jahr . . . Nein . . . nun laß mich reden . . .«

Atemlos, tränenerstickt, voll Zorn überstürzte sie ihre Worte: »Ich will keine Vorgesetzte, wie die Mrs. Kaufer! Ich will nicht anderen Damen gehorchen! . . . Ich will nicht, daß sie mich zum Five o'clock einladen, und wenn ich dann dasitz', mir sagen: ›Ihr Federhut ist zu teuer, Liebste‹ . . . oder: ›Geben Sie doch nicht sechs Gänge! Wir anderen können das nicht!‹ . . . Ich kann nichts dafür, daß es Paupers gibt! . . . Ich will tun, was ich will! In England tut jeder, was er will!«

Sie stampfte erbittert, aus nassen Augen Helmut Merker anschauend, mit dem Fuß auf: »Und ich will meinen Mann für mich haben! Nicht einen, der jeden Tag vor Sonnenaufgang aufsteht und das ganze Haus mit Kaffeekochen in Unruhe bringt und seinen Säbel sucht und nach seinen großen Stiefeln schreit und in der Eile die Türen wirft und wegläuft, als ob es brennte, und der Bursche mit Gepolter hinterdrein, und nichts ist unsicherer, als wann er endlich wieder heimkommt . . .«

»Edith . . .«

»Ich will einen freien Mann – nicht einen, den sie wie einen Schul-Boy einsperren, weil er einmal des Abends in Frankfurt war – oh – was hab' ich geweint, über den Spott meiner Brüder! Ich will nicht einen Mann, der mit der Hand an der Mütze dasteht, steif und tot, wie die Wachsfiguren bei Madame Tussaud: ›Zu Befehl, Herr Major!‹ . . . Ich will meinen Mann . . . für mich . . .«

Sie schluchzte verzweifelt: »Ich will dich! . . . Ich hab' dich doch so lieb . . . da drüben stehen andere zwischen uns! . . . Ich verlier' dich halb an fremde Leute in Uniform, die mich nichts angehen . . . und ich will dich doch ganz für mich . . . für mich allein . . .«

Die Stimme versagte ihr. Sie brach ab. Er stand ergriffen neben ihr. Endlich legte er leise den Arm um sie und versetzte: »Gerade, wenn du mich so liebst, Edith, mußt du mir folgen!«

»Nein. Wenn du mich liebst, dann verläßt du mich nicht!« Sie trocknete sich schweratmend ihre Tränen. »Aber du liebst mich eben nicht, Hellie! . . . Alle meinen's . . . Mother meint es auch! Oh . . . Es beschämt mich so . . . Dir sind deine Soldaten und Gewehre und die schlechte Luft in der Kaserne und die groben Reden deiner Vorgesetzten – alles ist dir lieber als ich . . .«

»Was du mir bist, das brauch' ich nicht erst zu sagen!« Er sprach jetzt wieder ruhiger. »Das weißt du auch so gut wie ich! . . . Wir könnten so glücklich miteinander sein. Es ist ja nur das Äußere, das . . . Du hast doch vor dem Altar gelobt, mir zu folgen, Edith . . .«

Sie warf trotzig den blonden Kopf zurück.

»Das hab' ich auch getan! Aber du hast mich freiwillig in meine Heimat zurückgebracht!«

Er biß sich auf die Lippen und schwieg. Nach einer Weile versetzte er: »Das war dies eine Mal! . . . Aber du hast in der Trauformel nachgesprochen, überhaupt deinem Manne untertan zu sein . . .«

»Ach! Das nimmt doch niemand hier mehr ernst! . . . Das ist veraltet. Das entspricht nicht mehr der Würde einer englischen Frau! Wir sind mündig! Wir sind gleichberechtigt. Viele meiner Freundinnen haben die Stelle bei der Trauung einfach weggelassen! Wenn ich eine Suffragette wäre . . .«

Sie war so aufgeregt, daß sie am ganzen Körper zitterte. Er schüttelte den Kopf. Er frug: »Ja, und wenn nun Mann und Frau verschiedener Meinung sind – wer soll denn dann in der Ehe den Ausschlag geben?«

»Der, der das Geld gibt! . . . Alles Geld kommt von mir!«

Sie sah, wie er jäh zusammenzuckte. Sie bereute ihre Worte. Sie legte ihm die Hand auf die Schulter und wollte ihn begütigen.

»Ich denke ja nie daran, Hellie! Nie! Was ist denn Geld zwischen uns? Nur die Meinigen sagen es immer!«

Helmut Merker schüttelte mit einer leisen Bewegung ihre Rechte ab und trat zur Seite. Seine Frau sah ihn bekümmert und ratlos an. Sie hätte so gerne alles wieder gut gemacht. Aber sie wußte nicht wie. Sie fing an, sich zu fürchten. Er war so verändert. So stumm. Endlich versetzte er merkwürdig ruhig: »Du hast recht, Edith! Das war das entscheidende Wort!«

»Ich meine es doch nicht so, Hellie!«

»Ich weiß! . . . Verzeih mir! . . . Ich möchte jetzt gerne allein sein!«

Er wandte sich ab. Sie rief ihm klagend nach: »Oh, Hellie, geh nicht so von mir! Ich hatte so gute Nachrichten: Pa will uns Rosemary-Hills hier als dauernden Wohnsitz geben. Wir werden es von ihm erben. Wir sollen es jetzt schon als unser Eigentum betrachten . . .«

Helmut Merker schüttelte finster den Kopf und stieg zwischen der Pracht der Teppichbeete zu dem mächtigen Bau auf dem Hügel empor. Hinter ihm war es still geworden . . . Er ging in den rechten Seitenflügel, den er mit den Seinen bewohnte. An den stieß ein Turmerker. Nach drei Himmelsrichtungen sah man durch dessen Fenster die sommerlich lachenden Fluren Süd-Englands, ganz in der Ferne einen grauen, fein silbern flimmernden Streifen – das Meer. Es wehte ein schmeichelnder Duft aus den Blumenbeeten unten im Garten. Schritte knisterten da auf dem Kies des Weges. Edith ging langsam zwischen den blühenden Hecken, neben ihr die weißbehaubte Nurse, die den Wagen mit der kleinen Mary schob. Der oben sah es stumm. Er stand, ohne sich zu rühren. Dann griff er sich an die Stirne. Was war das alles? Um sich hatte er Frau und Kind, Reichtum, ein liebliches Land, Sorglosigkeit auf Lebenszeit . . . warum mußte er denn fort? Was war das für ein Ruf von ferne, über den Wassern: Komm zurück! Ein Leben ohne Tagesmüh und Feierabend ist kein Leben. Erkenne dich selbst in deiner Arbeit! Zeige dich so deiner Frau – gerade, weil sie dich liebt, soll sie das in dir begreifen und ehren . . .

Er ging auf und ab. Hell schien die Sommersonne in das englisch heitere Gemach. Draußen zwitscherten die Vögel. Weit drüben, auf den Wiesen am Fluß, sprangen weiße Gestalten – junge Leute und Mädchen beim Fußballspiel. Das ganze Leben war hierzulande ein Spiel. Niemand begriff ihn. Auch Edith nicht. Die am wenigsten. Er frug sich verzweifelt: Was soll ich tun? Ich muß meine Seele retten und will doch meine Frau nicht verlieren! Wie mach' ich das?

In seiner Tasche knisterte ein Papier. Er zog es hervor. Es war die Anfrage seines Regiments. Er studierte sie noch einmal durch. Plötzlich setzte er sich an den Tisch und griff nach einem Depeschenformular und fing an zu schreiben. »Melde . . .« Da flüsterte wieder hinter seinem Stuhl ein unsichtbarer Versucher: Warum melden? Hier im Land hast du nur zu befehlen! Schau um dich: Alles, worauf dein Auge trifft, ist dein! Dies schloßartige Haus, die weiten Gärten – eine liebende, geliebte Frau . . . was du dir nur als armer junger Kerl in Träumen ersehnt, schüttet das Schicksal über dich in Hülle und Fülle! Genieß es! Sonst Verdienst du's nicht! . . .

»Melde gehorsamst . . .« Wieder das Stocken . . . Die Stimme von hinten: Wenn du Engländer wärest, brauchtest du keiner Menschenseele zu gehorchen. Da trügst du das Haupt eisensteif im Nacken. Wärest Herr, hier und überall auf Erden, wo Briten wohnen . . .

Die Feder knirschte. Fest, langsam zog sie die Buchstaben:

»Melde gehorsamst, daß ich wieder in Frontdienst einzutreten wünsche.

Oberleutnant Merker.«

Er stand schwer atmend auf. Es war, als würde die Welt hier um ihn grau. Als verblaßten Sonnenglanz und Sonnenschein. Er sagte sich: Was hilft's? Ich muß! Ich trete mein Glück und meinen Reichtum mit Füßen. Ich handle wie ein Verrückter. Aber ich kann nicht anders. Mögen sie mich auslachen!

Dann ging es ihm, während er hinunterschritt, um die wichtige Depesche persönlich dem Butler zur Besorgung einzuhändigen, durch den Kopf: Nein. Sie werden nicht lachen! Sie werden Achtung vor mir haben! Vielleicht zum erstenmal wirklich Achtung!

Er hatte das Blatt abgegeben und nahm den Rückweg außen um das Haus, an den ebenerdigen Eckfenstern des Arbeitszimmers seines Schwiegervaters vorbei. Die Scheiben waren geöffnet. Man hörte von innen Männerstimmen. Geschäftsfreunde, die aus London herübergekommen waren. Es waren kritische Zeiten. Der südpersische Konflikt zwischen Deutschland und England hatte sich verschärft. Auf der Börse fieberten die Kurse. Helmut Merker hatte gestern, beim Portwein nach dem Dinner, lang und breit davon sprechen gehört. Es interessierte ihn nicht. Er verstand davon nicht die blaue Bohne. Er konnte auch in dem flüchtigen Vorbeistreichen außen nicht erkennen, wer alles in dem dämmerigen, raucherfüllten Zimmer war. Nur Mr. Mathes, das alte City-Original, steckte seinen ungepflegten, verwilderten Grauschädel aus dem Fenster und schrie: »Well, Mr. Merker – gibt's Krieg?«

»Hoffentlich!« sagte der deutsche Leutnant auf Urlaub, stehen bleibend.

»Mit wem? Mit uns hier?«

»Das ist Seiner Majestät Sache! Mir ist jeder recht!«

Der alte Hagestolz oben lachte dröhnend.

»Das sagt er so tapfer! Und dabei sitzt er hier weit vom Schuß!«

»In vierzehn Tagen bin ich wieder auf dem Exerzierplatz, Herr Mathes!«

»So? . . . Wieder die armen Rekruten schinden? Das ist ja das Neueste? . . . Warum denn? Seit wann zahlt denn das liebe Preußen so üppig, daß sich das noch für Sie lohnt?«

Der Leutnant trat, die Hände in den Taschen, die Zigarette schief im Mundwinkel, an das alte Rauhbein heran und fixierte ihn.

»Seien Sie mal ja still über Deutschland, Herr Mathes!« versetzte er kaltblütig. »Sie haben gar kein Recht, da mitzureden. Ich hab' es Ihnen schon vor Jahren bei Anfang unserer Bekanntschaft gesagt: auf Deutsche, wie Sie, legen wir daheim wenig Wert . . . Guten Tag, Herr Mathes!«

»Guten Tag!« erwiderte der Alte lachend und wandte sich ins Zimmer zurück. »Du – John: dein Schwiegersohn gefällt mir! Der weiß, wie man mit mir reden muß. Der versteht einen zu nehmen!« Außer ihm waren noch Mac Cornick, der blonde, träumerische Baumwollspekulant aus Liverpool, und der alte Mr. Fleck, der Manchestermann, anwesend. Beide saßen, in Depeschen und Berechnungen vertieft, und schauten erst auf, als John Wilding dem andern die Antwort schuldig blieb. Da merkten sie: der kleine, alte Herr war eingeschlafen. Das widerfuhr ihm jetzt öfter. Er lag, in seinen Sessel zurückgelehnt, die Augen geschlossen, die Furchen tiefer Müde auf dem stillen, sorgenvollen Gesicht. Erst ein freundschaftlich bärenhafter Schulterschlag des Mr. Mathes ließ ihn auffahren. Er musterte eine Sekunde verwirrt die Geschäftsfreunde und war dann sofort wieder mitten in der Sache: »Ich sehe keinen Grund, vor der Hamburger Konkurrenz zurückzuweichen!« sagte er nüchtern und hartnäckig auf englisch. »Seit einem Jahr kämpfen wir in Südamerika drüben bis aufs Messer. Und ich kämpfe weiter!«

Augustus Fleck der Altere streckte seinen hageren, glattrasierten Geierkopf mit den tiefen Hautfalten des Halses gegen den Hausherrn vor. Er zögerte etwas mit der Frage: »Sage: Wird es dir denn nicht zu hart? Kannst du es auf die Dauer ohne Mühe mit deinen flüssigen Geldern durchhalten?«

Das freundliche Antlitz des alten Citymanns ihm gegenüber zeigte tiefes Erstaunen. Kopfschüttelnde Respektabilität. Schweigen auf eine peinliche Entgleisung. Auch die beiden andern blickten mißbilligend den skeptischen Lancashirer Spinner an. Was war überhaupt noch sicher in der City – wie konnte dann noch ein Akzept als Bargeld von Hand zu Hand gehen, wenn man schon die Unterschrift von John Wilding und Kompanie . . .? Der selbst lächelte jetzt. Er hatte eine gütige Art, darüber hinwegzugleiten, mit der Milde eines abgeklärten, ruhigen, vielerfahrenen Mannes.

»Wenn dir meine Wechsel nicht mehr sicher genug sind, Augustus . . .« sprach er mit einer kaum merklichen feinen Ironie, über die die beiden andern lachen mußten, und der alte Geier verwahrte sich, selber ganz erschrocken über diese Zumutung: »Ich bitte dich! . . . Ich hab' doch eben fünfundzwanzigtausend Pfund von dir hereingenommen. Und MacCornick und Mr. Mathes noch mehr!«

»Nun eben!« schloß John Wilding aufstehend die Sitzung. »Ich denke, wir haben nun alles besprochen! . . . Nur kalt' Blut! Der Markt wird sich auch wieder erholen . . .«

». . . wenn es nicht Krieg mit Deutschland gibt!« brummte der Schotte.

». . . in dem wir Deutschlands Seehandel ruinieren!« ergänzte Augustus Fleck kühl.

»Hoffentlich!« sagte John Wilding mit dem bedächtigen Nicken des Geschäftsmanns. Er begleitete die Besucher bis zum Tor. Unterwegs meinte er noch einmal, aus der Sorge seines Herzens heraus: »Hoffentlich! Dann hätten wir auch im Salpetergeschäft wieder freie Hand!«

Er winkte den drei im Auto davonrollenden Gentlemen nach und kehrte in sein Arbeitszimmer zurück. Eine Weile saß er da, still in seinem Stuhl, den Blick starr geradeaus. Dann klingelte er dem Diener: »Ich lasse Mr. Merker bitten, zu mir zu kommen!«

Als sein Schwiegersohn bei ihm eintrat, winkte er ihm, Platz zu nehmen. Die Handbewegung hatte etwas Geistesabwesendes. Er fuhr sich mit der Rechten über die Stirne und seufzte.

»Das alles hier,« sagte er, »dies Rosemary-Hills, habe ich mir für später gebaut. Ich dachte, ich würde einmal hier bleiben können und in Ruhe meinen Lebensabend genießen. Dazu wird es nicht kommen! Ich muß in die City: Morgen, übermorgen, alle Tage! Die City läßt mich nicht los.«

»Du solltest dich aber mehr schonen!«

Der alte Herr nickte, mit einem bitteren Zug um die Lippen. Er sowohl wie der andere sprachen Englisch miteinander.

»Erzähle das doch deinen Landsleuten, mein Lieber! Die sind an allem schuld!«

Der Leutnant lachte.

»Freilich! . . . Was gibt's denn noch in der Welt, woran Deutschland nicht schuld ist?«

»Überall,« sagte der graue Citymann, ohne darauf zu achten und in Gedanken verloren, »überall trifft man auf die Deutschen – der Kampf nimmt kein Ende. Ich muß jetzt auf meine alten Tage einen Boxermatch mit Hamburg austragen. Wann der aus sein wird, weiß ich nicht. Für mich wahrscheinlich erst nach meinem Tod.«

Er schaute trübe vor sich hin. Helmut Merker hatte, wie er dem stillen, kleinen Herrn gegenübersaß, ein seltsames Gefühl des einander Fremdseins. Als er vor Jahren zuerst nach England gekommen, hatte er arglos und herzlich den Onkel in der City als Blutsverwandten begrüßt. Jetzt schien ihm der Schwiegervater, im engen Zusammenleben, immer mehr ein richtiger englischer Gentleman, den Stockbriten um ihn gleich geworden, verwittert und ergraut in der zähen Salzluft des Inselreichs. Und so dünkten ihm hier alle Dinge: Auf den ersten Blick verwandt. Vetternart. Dann allmählich die Erkenntnis: es liegen Welten zwischen uns und euch! Keine vermittelnde Brücke verbindet sie. Man muß Engländer werden, oder man kann unter euch nicht leben . . .

»So steht Rosemary-Hills den größten Teil des Jahres leer!« sprach der alte Herr müde. »Ich komme Sonntags einmal hinaus. Meine Frau noch weniger. Vielleicht noch Fred ab und zu. Dafür genügt ein Flügel. Der kann uns ja vorbehalten bleiben. Im übrigen mögt ihr, du und Edith, hier dauernd wohnen und es einmal von mir erben. Ich bestreite nach wie vor die Kosten. So habt ihr euer schönes Heim! Bist du zufrieden?«

Helmut Merker hatte ruhig zugehört. Nun sagte er: »Danke sehr! Aber was tun wir von Deutschland aus mit Rosemary-Hills?«

»Ihr bleibt hier!«

»Wer will mich denn dazu zwingen?«

»Ihr selbst in Deutschland!« versetzte John Wilding trocken. »Ich war seit beinahe fünfzig Jahren nicht dort! Ich hab' es meinem Vater versprechen müssen, nie, ohne äußerste Not, hinzugehen. Ich will es auch nicht! . . . Ich hab' gar keine Lust, mir meine Todfeinde aus der Nähe anzusehen! . . . Du und Edith – ihr habt in Deutschland seinerzeit im ersten Jahr außerordentlich viel Geld gebraucht! Ich hab' es euch gegeben. Aber jetzt kann ich es nicht mehr geben und will es nicht. Jetzt brauche ich das Geld gegen Deutschland! Im Geschäft. Nach Deutschland schicke ich nicht einen Farthing mehr . . . verstehst du . . . nicht einen Farthing!«

Der alte Herr war aufgestanden. Er schlug mit der Hand auf den Tisch. Er zitterte. Er war bleich. Sein Schwiegersohn erhob sich, stumm und verwundert.

John Wilding ergriff eine Nummer der ›Hamburger Nachrichten‹, die zwischen einem Stoß englischer Blätter vor ihm lag, und schüttelte sie in der Luft, als beutelte er einen Feind am Kragen. Der gemessene, peinlich respektable Citymann war wie ausgetauscht.

»Da lies einmal! Die Hamburger . . . der Konzern Hinrichsen – verdoppeln ihre südamerikanischen Unternehmungen! Eine Zehnmillionenanleihe!«

»Von den Geschichten hab' ich ja keinen blassen Schimmer!«

»Aber ich, mein Lieber! . . . Ich weiß, woher alles Unglück für uns kommt! Von euch da drüben! . . . Ich bin alt! Ich möchte meinen Frieden mit Gott und den Menschen machen und mein Haus bestellen! Da springt ihr mir im Salpetergeschäft drüben an die Kehle . . .«

»Zum Donnerwetter: Ich doch nicht!«

»Du nicht!« Der kleine Gentleman lief verstört im Zimmer auf und nieder. Er wußte kaum mehr recht, was er sprach. »Du willst wieder heim, in eure Armee, und mit der Armee an unserer Küste landen – was?«

Der Leutnant Merker mußte trotz des Ernstes der Lage lachen.

»Das ist ein Kohl, Vater, den man nur euch hierzulande aufbinden kann, weil ihr von militärischen Dingen so viel versteht wie ich vom Chinesisch. Das sage ich dir gerade als Offizier!«

»Du wirst mir eure Geheimnisse auch nicht auf die Nase binden, mein Bester . . .«

»Jeder Waisenknabe auf dem Kontinent . . .«

»Es ist mir auch ganz gleich, ob es Krieg gibt!« schrie John Wilding mit rotem Gesicht. »Ich bin schon mit deinen Landsleuten in Krieg! . . . Sie haben ihn mir aufgezwungen. Nun geht's bis zum bitteren Ende! . . . Ich will keinen Deutschen unterstützen! – Ich schneide mir damit in das eigene Fleisch. Ich will nichts von einem Deutschen wissen. Du wirst hier bleiben, als Mann einer Engländerin – mit Engländer werden – verstanden?«

»Verrückt!«

»Mäßige diesen Ton!« sagte der alte Herr. Seine Lippen zitterten vor Zorn. »Du überhebst dich! Du faßt deine Stellung hier im Familienkreis falsch auf. Ich sehe die ganze Zeit, wie du deine Frau quälst. Ich will nicht, daß Edith länger leidet. Ich bin gesonnen, das gründlich abzustellen . . .«

»Das merk' ich!«

»Nochmals: Nimm eine andere Sprechweise an! . . . Die deine ist unbescheiden! . . . Die verbitt' ich mir! Am meisten von einem jungen Ausländer!«

Helmut Merker schüttelte den Kopf.

»Ich hab' dich nicht gereizt! Es muß etwas andres sein, was dich so in Aufregung bringt und wofür ich gar nichts kann! – Ich hab' lediglich mein gutes Recht . . .«

Sein Schwiegervater unterbrach ihn mit einer kurzen geschäftlichen Handbewegung.

»Die Sache ist erledigt!« sagte er. »Ich habe meine Gründe! . . .«

». . . das heißt: euer verfluchter Deutschenhaß. Für den dank' ich eben . . .«

»Ihr habt früher in Deutschland gehungert!« versetzte John Wilding. »Man kann euch auch jetzt noch hungern lassen! . . . Was willst du denn in deiner Heimat ohne Geld? Sie nehmen dich ja nicht einmal ohne Geld wieder in der Armee. Du kannst Steine klopfen gehen!«

Der kleine Citymann war jetzt wieder ruhig geworden. Er hatte, nun er seiner Sache sicher zu sein glaubte, schon fast seine stille Zurückhaltung wieder. Er setzte sich und kramte wieder in seinen Papieren: »Die Art, wie du meine Wohltaten aufnimmst, kränkt mich tief. Es zeugt von Verkennung deiner Stellung. Du bist hier rein der Empfangende. Vergiß das nicht! Auch Edith gegenüber in Zukunft nicht! . . . Ich bitte dich ernstlich darum . . . Nun, du kennst jetzt meine Ansichten! . . . Ich hab' jetzt zu tun . . .«

Als Helmut Merker das Zimmer verlassen, blieb er stehen und ballte die Fäuste. Die Wut zitterte in ihm. Er haßte dies ganze Land. Er haßte die roten Wimpelchen auf dem Golfrasen da unten. Er haßte die Porzellanpagode auf dem Seitengestell, die höhnisch nickend ihm die Zunge herausstreckte. Er haßte die Sportbilder an den Wänden und die illustrierten Magazine auf dem Tisch, er haßte beinahe sogar den grauen, alten Mac Gregor, der sich treuherzig wedelnd heranschleppte und zu ihm aufschaute, als wollte er sagen: ›Ja, mein bester Sir, so ist das Menschenleben! . . .‹

Verfluchte Gesellschaft! . . . Er lief in sein Zimmer, stand ratlos da – Edith war nirgends zu entdecken – raffte sich zusammen, fing an, über Hals und Kopf zu packen – Rasiermesser, Krawatten, Strandschuhe blindlings und kunterbunt in den Reisesack – hielt inne – ja – wohin denn? . . . Man war ja gefangen . . . man hing ja an der Strippe . . . die Bande hielt einen ja fest . . . Wenn er nur mit Edith hätte sprechen können! Das war der einzige Mensch, der ihm nahe stand in diesem ganzen verwünschten Inselkerker . . . Wenn er es ihr nur hätte erzählen können, wie der Alte ihm plötzlich gekommen war . . . rein aus dem Häuschen . . . So behandelte er, Helmut Merker, noch nicht einen Schuhputzer . . . aber was war er denn viel mehr in den kalten Fischaugen dieser Leute? . . . Oh . . . Wenn Edith das erfuhr . . . Er lachte wild auf und schmiß die gelblederne Tasche in die Ecke, daß der Inhalt wirr durcheinanderkollerte . . . Sie wußte das alles doch schon lange vor ihm! . . . Das geschah ja mit ihrem Willen, auf ihren Wunsch . . . sie staken ja alle unter einer Decke! . . . Er starrte auf eine Lederschachtel mit dem wohlgebügelten Cityzylinderhut, dem Wahrzeichen des Gentleman, und gab ihr einen sinnbildlichen Fußstoß, daß sie flog, und sagte sich zähneknirschend: Warum verkauft unsereins auch seine Seele! . . . Alles machen sie mit Geld! Man kann sich ihrer nur mit Geld erwehren. Gott sei Dank: Ich hab' doch noch etwas Geld . . . das Kommißvermögen . . .

Er besaß eine dunkle Vorstellung, daß er und wahrscheinlich auch Edith im Lauf der Zeit wiederholt Summen von diesem Kapital abgehoben hatten. Wieviel – das ahnte er nicht. Auf der Bank in London, auf die er bei der Übersiedlung sein deutsches Konto hatte übertragen lassen, mußten sie's wissen. Dort konnte er sich Rechnung aufstellen lassen. So rasch wie möglich. Es war der letzte Weg zur Freiheit. Zum Rückzug über See. Sonst saß er hilflos hier fest. Er setzte sich atemlos an den Tisch, schrieb seiner Frau ein paar Zeilen: »Ich muß in Geschäften nach London. Bin zum Dinner wieder da« und fuhr zur Station. Dann kam derselbe jähe Wechsel wie überall in England: In zwei Stunden der Übergang von parkgrüner lieblicher Ländlichkeit in donnernden Nebel, von blauem Himmel und Sonnenschein in dämmernde Nacht des unermeßlichen schwarzen Ameisenhaufens an der Themse . . . Wer Eile hatte, ging jetzt, zur Geschäftszeit, in der City zu Fuß. So verließ auch Helmut Merker in der Nähe der Bank von England sein Taxi, drängte sich durch das Gewirr und erreichte, am Kontor seines Schwiegervaters vorbei, die Filiale des deutschen Bankhauses. Seine Kehle war trocken, als er um einen Auszug seines Guthabens bat.

Der Beamte ging und kam nach einiger Zeit zurück. Er reichte ihm ein Zettelchen. Auf dem stand mit Bleistift: »614 Pfund 13 Sh. Habet.«

Wenig mehr als zwölftausend Mark . . . Der Leutnant Merker sah verwirrt auf das Blatt. War das der Rest der Hunderttausend von vor zwei Jahren? Er frug: »Das ist alles?«

»Ihr augenblicklicher Saldostand!«

Er gab sich alle Mühe, sich seinen Schrecken nicht anmerken zu lassen. Er nickte nachlässig.

»Danke! Es stimmt!« sagte er, grüßte und verließ den Raum. Draußen ging er planlos dahin, durch Cheapside und Holborn-Viadukt, die endlose Oxfordstreet entlang. Am Eingang des Hydepark standen Menschen. Eine Volksrednerin sprach schrill und wild gestikulierend unter freiem Himmel auf sie ein, drüben trommelte und sang die Heilsarmee, ein Lord mit hechtgrauem Zylinder lenkte seinen Viererzug in der Richtung nach Ladies Mile. Es war das alte Bild. Es war England. Helmut Merker sah es leeren Auges, verstört. Er wiederholte sich immer wieder: Ohne Geld kann ich aus England nicht weg. Ohne Geld kann ich mit Frau und Kind drüben in der Armee nicht ankommen! Großer Gott – was mach' ich denn nur?

Er fing, in dem rauhen Pfeifen des Herbstwindes, der über die weiten, einsamen Rasenflächen um ihn strich, zu rechnen an. Es machte Mühe. Wer konnte sich nachträglich an all das Zeug erinnern – an die vielen Ausgaben – Wenn man eben mit dem, was der Schwiegerpapa gab, für den Augenblick nicht reichte und nicht gleich wieder um einen Scheck bitten wollte, hatte man sich kurzweg auf der Bank das Nötige geholt. Die Leute dort führten jedenfalls richtig Buch und Rechnung. Es mochte schon stimmen. Es summierte sich eben so gräßlich, wenn man so in den Tag hinein lebte . . .

Er war wie vor den Kopf geschlagen. Dumpf schlenderte er dahin. Er sagte sich, den Blick am Boden, den Zylinderhut in die Stirne gerückt, die erloschene Zigarette im Mundwinkel, immer von neuem: ›Ich bin in der Sackgasse. Es gibt keinen Ausweg. Keinen Rückweg. Ich bin ohnmächtig gegen meine Frau mit ihrem Vater. Die beiden sind einig. Sie haben das Heft in der Hand . . . Sie sind stärker als ich. Ich bin ein Gefangener der Engländer auf Lebenszeit‹

Ihn fröstelte. Nie war ihm dieser britische Himmel so grau, dieser Wind so kalt, diese Gesichter so leer und langweilig erschienen wie heute. Er haßte sie. Er wollte fort von ihnen. Er wollte zurück. Ein verzweifeltes Heimweh packte ihn, deutsche Erde zu betreten – alles war besser als dies Nichtssein und Nichtstun hier, die Stallfütterung bis zum Grab. Er dankte für das englische Gnadenbrot. Deutscher Stolz erwachte in ihm dagegen. Und bittere Reue . . .

Da vor ihm, in Piccadilly, durch das er langsam seinen Rückweg gegen Osten nahm, schritten in gleichgültiger Ruhe die Mitglieder der Clubs, die Blüte des Inselreichs. Er sah diese steinernen, glattrasierten Gesichter, diese hageren athletischen Gestalten. Das war der ›unabhängige Gentleman‹, den er seinerzeit so bewundert. Gerade vor ihm ging solch ein vornehmer Angelsachse, ungefähr von seiner Größe, aber gut ein Vierteljahrhundert älter, das blonde Haar stark übergraut. Auf seinen nüchternen Zügen, in seinen ausdruckslos-wasserblauen Augen, in seiner lässig-steifen Haltung lag die Selbstgerechtigkeit des Insulaners: die Zufriedenheit, da zu sein, Brite zu sein, Mitglied jenes Clubs an der Ecke von Pall-Mall zu sein. Stille Genügsamkeit und grenzenloser Hochmut in Einem . . .

Und Helmut Merker dachte sich in einem plötzlichen Schrecken: Herrgott – das bin ja ich in dreißig Jahren! Das ist wie ein Doppelgänger, der einem die Zukunft zeigt! Solch ein Kerl werd' ich auch hier allmählich mit Gottes Hilfe – aber ohne Recht und Grund, anders wie der da . . . ich mache es ihnen nur äußerlich, aus verzweifelter Langeweile, nach . . . trotte vom Club zum Dinner, vom Dinner zum Club, der unnützeste Bursche unter der Sonne . . . Und drüben ist Deutschland . . . mein liebes Deutschland . . . Wieder war es wie ein ferner, gewaltiger Ruf über den Wassern. Er blieb stehen und sagte sich: Ich werd' noch verrückt! . . . Dort ist mein Vaterland . . . Hier hält mich meine Frau . . . Eines streitet gegen das andere . . . ich werd' verrückt . . .

Noch einmal überlegte er alle Hilfsquellen. Es gab keine. Er konnte in Deutschland keine schaffen, seiner Frau kein Leben bieten, wie sie es gewohnt war, es fordern durfte. Er mußte hier bleiben. Da drüben in der City, wo das Herz der Welt schlug, wo der Schweiß von Zulu und Kuli, der Schein der Bergmannslaterne und der Seewind im Segel, die Glut der Schiffskessel wie der Wassersturz afrikanischer Stromschnellen, alles, alles auf Erden sich in knisternde weiße Fünfpfundnoten verwandelte, dort holten sich John Wilding, und tausend andere den Reichtum förmlich aus der Luft. Die anderen Weißen, braunen, schwarzen Menschen waren ihnen leibeigen. Er auch – der Schwiegersohn . . .

Eine tiefe Traurigkeit ergriff ihn. Ein verfehltes Leben . . . Eine hoffnungslose Zukunft . . . Und dabei das Lächerliche: Um einen der Überfluß. Alles, wonach man sich sehnte. Und alles nichts. Nur ein Hohn in den Dingen: Du wolltest ja ein unabhängiger Gentleman werden. Nun bist du's . . .

Er konnte sich nicht entschließen, in dieser trostlosen Stimmung heute nach Hause zurückzukehren. Er ging in das Cecil-Hotel, schickte eine Depesche an Edith: »Komme erst morgen,« und ließ sich ein Zimmer geben. Es dämmerte schon. Lang stand er am Fenster und schaute über die kleinen Gartenanlagen und das menschenleere Embankment tief unten hinaus auf die düstere Themse. Wie überall in London entweder tosender Lärm oder Kirchhofstille herrschte, so war auch hier plötzlich, während einem noch die Ohren vom Trubel des Strand klangen, ein beinahe unheimliches Schweigen. Zäher gelblicher Nebel über den Wassern, trübe, kleine Lichtkreise der Laternen in ihm – am anderen Ufer, rot und grün aufstrahlend, der Riesenumriß eines Mannes mit einer Flasche – eine jähe Flammenschrift über dem Horizont: ›Ein Whiskey von vielen Verdiensten‹ . . . Wieder Dunkel. Zur Rechten, melancholisch wie die Mondscheibe leuchtend, das Zifferblatt des Big-Ben, das Wahrzeichen von Westminster – England . . . England überall . . . England für immer . . . Er atmete gepreßt. Ihm war zumut, als hätte man eine lebenslängliche Freiheitsstrafe über ihn ausgesprochen. Hoffnungslos trat er ins Zimmer zurück und machte Licht. Er hatte keinen Frack mit. Er merkte, wie sehr er in diesem einen Jahr schon anglisiert war, an dem Unbehagen, für diesen einen Abend den gewohnten Gesellschaftsdreß zu entbehren. Als er seinerzeit die Uniform ausgezogen, hatte er sie weiter gar nicht vermißt.

»Oh . . . ich Esel . . .« sagte er verzweifelt. Die Tränen waren ihm nah, während er aus der Einsamkeit seines Zimmers hinunter in die Hotelflure ging. Unten, in den Wandelgängen, vor dem Glastor, war es voll von Menschen. An- und Abreisende in Gruppen. Koffer. Deutsche und französische Laute. Unablässig in dem großen Hof vorfahrende Autos. Aus einem stieg ein junger, elegant gekleideter Mann. Er sah Helmut Merker auffallend ähnlich. Aber seine hübschen Züge besaßen nicht dessen gesunde, sonnengebräunte Frische. Sie waren bleich und übernächtig. Seine Augen nicht so klar. Sie hatten einen eigentümlichen gespannten und gequälten Glanz. Ein blasiertes, ironisches Lächeln lag um seine Lippen. Er schaute sich, in Frack und weißer Binde, das Monokel im Auge, die Hände in den Taschen des kurzen khakifarbenen Sportpaletots, mitten in der Halle stehend, nach Bekannten um, erblickte plötzlich den andern und ging auf ihn zu: »Na . . . alter Kerl . . .« sagte er vertraulich. »Sieht man dich auch mal bei Gelegenheit? . . . Eigentlich toll: Zwei Brüder . . . leben beide seit einem Jahr in England und . . . na . . . ich bin ein kolossal reservierter Herr . . . Ich wollt' dir nicht lästig fallen . . . hätte deine hiesige spießige Verwandtschaft ja auch nur erschreckt!«

Er zeigte vergnügt seine Zähne. Selbstsicher, voll einer flotten Frechheit, mit den Menschen fertig zu werden. Helmut Merkers Antlitz verdüsterte sich beim Anblick seines Bruders Hugo, des Bankvolontärs a. D., des verlorenen Sohns der Familie. Er trat einen Schritt zurück. Er nahm die Hand des andern nicht. Der lachte: »Immer noch so etepetete? Kinder: das steckt doch nicht an. Außerdem bin ich 'ne Seele von 'nem Menschen. Das habt ihr nur nie genug gewürdigt!«

»Du hast unsere arme Mutter an den Bettelstab gebracht!« sagte der Leutnant Merker in aufsteigendem Zorn. »Du hast Schimpf und Schande über unsern Namen gebracht. Wir haben uns alle von dir losgesagt. Ich begreife nicht, woher du den Mut nimmst, hier auf einmal auf mich zuzukommen . . .«

Der Abenteurer nickte und schaute seinem älteren Bruder belustigt ins Gesicht.

»Du hast's freilich schlauer angefangen, Helmutchen, als ich armes Luder! Wieviel hat dir denn der alte John Wilding mitgegeben? Ich rate dir, laß dich beizeiten auszahlen! Sonst sperren sie dir noch einmal die Temporalien! . . . Es wackelt was in der City . . . Es wackelt . . . Es gibt einen Riesenkrach . . .«

»Ich glaube, du bist verrückt!«

»Ich weiß, was ich weiß . . .«

»Du!«

»Unsereins hört mehr, als ihr ahnt!« sagte der Bruder Hugo nachlässig. »Ich komme unter viele Leute. Ich habe viele Verbindungen! Also . . . du bist gewarnt, mein Bester! Und zum Dank könntest du mir jetzt aus deinem großen Portemonnaie was pumpen. Ich bin grade nicht bei Kasse!«

Helmut Merker hielt immer einen Schritt Abstand von dem Glücksritter.

»Erstens hab' ich kein Geld . . .« sagte er finster.

»Hoho – fängt es beim Schwiegerpapa schon an?«

»Glaub doch nicht, daß ich auf dein Gerede etwas gebe! Und zweitens: Wir alle haben genug Opfer für dich gebracht. Werde erst wieder ein anständiger Mensch. Laß das Spiel und . . . und noch bedenklichere Sachen, die damit zusammenhängen . . . Ernähre dich von deiner Hände Arbeit!«

»Na – wenn du glaubst, daß sich die Karten von selber mischen . . .« sagte der Abenteurer frech lachend. »Nee – oller Moraltrompeter – da bist du auf dem Holzweg! . . . Ich arbeit' im Schweiß meines Angesichts! Oft bis morgens um fünfe! . . . Wenn andere schlafen können, dann sitz' ich wach . . . ich sorg' für mich! Ich liege niemandem auf dem Beutel! . . .«

»Adieu . . .«

»Und eh' du mir Standpauken hältst . . . über ehrliche Arbeit und so . . . was tust denn du, mein Jüngelchen? Weniger wie ich! Nischt! . . . Hast dich schleunigst auf die faule Haut gelegt und läßt dich von deiner Frau ernähren . . .«

»Sei still!«

»Na – weißt du: das kann jeder! Das imponiert mir weiter gar nicht! Das gibt dir noch lange kein Recht, hier so großartig zu tun! . . . Da tät' ich mich nun wieder schämen an deiner Stelle! Verstehst du mich? Herrgott – was der Mensch blaß wird! . . . Nerven habt ihr, Kinders, Nerven! . . . Na, ich danke! Da käm' ich weit damit, wenn ich keine besseren Nerven hätte . . . Also, wie ist's mit cash? Gib doch ein bißchen was von deinem Mammon ab! Hast du wirklich nichts bei dir?«

Helmut Merker hatte sich abgewandt. Er lief davon, ohne sich um den andern zu kümmern, der ihm verblüfft und achselzuckend nachschaute und dann vertraulich zwei südlich schwarzbärtige, verdächtige Erscheinungen vom Monte-Carlo-Typ begrüßte. Er rannte über das lange Hofviereck des Cecil-Hotels und hinaus auf den Strand.

Stundenlang schweifte er da draußen umher, durch die Lichterhelle und die zweifelhaften Gestalten der großen nächtlichen Londoner Bummelstraße, durch dunkle Seitengassen mit noch dunkleren Schatten – Matrosen – Lumpensammler – große Federhüte – am Themseufer hin, wieder zurück, immer gejagt durch das Bewußtsein: Also so weit bin ich gekommen, daß sogar dieser Mensch, der schon zweimal das Gefängnis von innen gesehen hat, in seiner Art auf mich herunterschaut! . . . Er ist ein Desperado. Er fürchtet sich nicht vor dem Leben. Er bietet ihm eine eiserne Stirne. Ich bin in seinen Augen, und auch in denen der anderen, ein Mensch, der sich am Schürzenband seiner Frau durchs Dasein ziehen läßt . . . Alle verachten mich schließlich! Und ich mich selber am meisten!«

Spät nachts kam er in sein Hotel zurück, und warf sich erschöpft auf das Bett. Am nächsten Vormittag fuhr er heim. Als er ausstieg, reichte man ihm auf der Station eine eben für ihn eingetroffene Depesche. Sie kam aus Deutschland. Von seinem Regiment. Nicht dienstlich, sondern eine vertrauliche Vorhersage des Adjutanten.

»Ab ersten Oktober 220tes Regiment Czenstowitz versetzt. Wernicke.«

Czenstowitz . . . Soweit er sich entsann, war das irgendwo da hinten in Schlesien in der Dreikaiserreichecke. Er war nie in der Gegend gewesen, überhaupt nie weiter als bis zur Elbe in den Osten des Reichs gekommen. Es war ihm auch ganz gleich, wohin ihn das Schicksal verschlug. Nur dienen . . . dienen . . . sich selber fühlen . . . Nichts anderes hatte mehr in seinem Kopfe Raum. Er war wie im Fieber.

Edith saß in ihrem Zimmer und las. Es war ein hübsches englisches Bild: die weißgekleidete junge, blonde Frau, der zierliche Teetisch daneben, Sonnenhelle und huschende Blätterschatten aus dem Grün vor dem Fenster, das buntfarbige Herbstastern umrahmten. Sie klappte ihren Roman aus der britischen Gesellschaft zu, sah zu ihrem Mann empor und sagte vorwurfsvoll: »Oh – Hellie? . . . Wo bist du denn geblieben?«

Es lag immer noch die alte Gemütsruhe in ihren Worten. Er dachte sich: Ja, du glaubst, du bist meiner sicher! . . . Euch stört ja nichts in eurer göttlichen Gelassenheit. Aber heute stimmt die Rechnung nicht! . . . Ihr taxiert uns Deutsche ja doch immer und ewig falsch . . .

Er trat dicht an seine harmlos lächelnde Frau heran und versetzte kurz und fest: »Folgendes sind die Neuigkeiten, Edith! Erstens: wir sind vom ersten Oktober ab nach Czenstowitz versetzt . . . in das dortige Infanterieregiment . . .«

Er las völlige Verständnislosigkeit in ihren blauen Augen. Er ergänzte: »So gemütlich wie in Alsheim ist es da wahrscheinlich nicht. Es wird schon ein ziemlich gottverlassenes Nest sein. Aber was hilft's!«

»Ja,« sprach sie beruhigt. »Da wir doch nicht hingehen, Hellie!«

»Nicht? Zum Donnerwetter – wenn's der Kriegsherr befiehlt.«

Sie schaute in sanftem Erstaunen um sich. Da war doch überall das fröhliche alte England.

»Oh . . . Ich bin eine Frau, Hellie!« sagte sie. »Ich habe keinen Kriegsherrn!«

»Aber ich! . . . Und zweitens, Edith: weißt du, wieviel noch von unserem Kommißvermögen übrig ist?«

»Nein!« meinte sie gleichgültig.

»Kaum mehr ein Achtel! In knapp zwei Jahren! . . . Ist das nicht schrecklich? Ich möchte mich selber ohrfeigen, wegen unserm Leichtsinn!«

Auf die junge Frau vor ihm machte die Mitteilung weiter keinen Eindruck. Sie legte sich sorgfältig ein Lesezeichen in ihr Buch.

»Was ist denn daran schrecklich, Hellie?« versetzte sie friedlich. »Wir bitten Pa, daß er uns den Pool wieder auffüllt! Pa gibt gern!«

»Drüben gibt er uns keinen roten Heller!«

Sie zuckte die Achseln, mit einer ungeduldigen Bewegung: »Laß doch endlich diese fixe Idee mit dem da drüben! Es ist ja schon langweilig!« Er setzte sich neben sie. Er sprach heftig auf sie ein. Seine Worte flogen. Seine Stimme zitterte vor Aufregung.

»Ich habe mir alles überdacht und berechnet, Edith! Ich hab' jetzt nur noch einige Jahre bis zum Hauptmann zweiter Klasse. Für die achtzehnhundert und zwölfhundert Mark jährlich, die die Vorschrift als Zulage verlangt, reicht es noch von dem bißchen Kapital, bis ich in den Hauptmannsgehalt erster Klasse komme! Wir müssen uns natürlich höllisch einschränken, Edith: eine ganz kleine, bescheidene Wohnung – nur ein Mädchen neben dem Burschen – im Osten ist gewiß alles billig. Wenn wir da sehr, sehr sparsam sind . . .«

Er begegnete ihrem Blick und verstummte. In dem lag etwas Forschendes und Besorgtes – ein ehrliches Bangen: ›Um Gottes willen – du wirst mir doch nicht krank werden, Hellie?‹ Und zugleich erschien es ihm selber als ein ganz lächerlicher Gedanke, diese verwöhnte junge Frau hier aus allem Luxus ihres Lebens herauszureißen und in Not und Sorge an die russische Grenze zu verschleppen. Er konnte sie sich gar nicht in solcher Enge denken. Er wartete verstört, was sie erwidern würde. In ihrer Stimme klang nur fassungsloses Staunen.

»Wir sollen in die Fremde unter die Paupers gehen, wo wir hier alles haben, was wir brauchen? . . . Oh, Hellie . . . was sagst du da? Man könnte sich ja vor dir fürchten!«

»Was sein muß, muß sein!«

Sie legte die Hände ineinander.

»Ich soll wohl am Herd stehen und kochen? . . . Und Strümpfe stopfen? Und kein Auto haben? . . . Und Kleider vom vorigen Jahr tragen?«

»Ja. Wenigstens, bis dein Vater Vernunft annimmt! Das wird er schließlich, wenn wir nur . . .«

»Oh, schäme dich, Hellie, einer Lady so etwas zuzumuten! Auch nur in Gedanken! . . . Ich bin ganz erschrocken . . .«

»Nicht nur in Gedanken! Das wird wirklich so!«

»Nun höre aber bitte auf! . . . Vergiß nicht, Hellie, daß du ein Gentleman bist . . .«

Seine Geduld war zu Ende. Er brach zomig los: »Ich pfeife auf euern verwünschten Gentleman! Ich bin ein Deutscher! Ich will was tun! . . . Ich will was sein! . . . Bei uns verachtet man nicht die Leute, die sich nützlich machen . . . Da verachtet man die, die ihrem Herrgott die Tage stehlen wie ihr alle hier beisammen! . . . Deinen Vater ausgenommen! Der ist der Packesel! . . . Und ihr sitzt in eurem Egoismus da und laßt den alten Mann ruhig sich zu Tode arbeiten! . . . Schau doch mal deine Brüder an! Die Kerle stinken ja vor Faulheit . . .«

Edith Merker hielt sich entsetzt die Ohren zu.

»Oh . . . Hellie . . . Hellie . . . nie hätte ich gefürchtet, von meinem Mann solche Worte zu hören!«

»Sie stinken vor Faulheit! . . . Jetzt wird alles gesagt. Ich nehm' kein Blatt mehr vor den Mund . . . Ich mach' mir jetzt endlich einmal Luft. Ihr alle seid hier faul bis zum Exzeß! Ihr denkt nur ans Vergnügen! . . . Deine Mutter rutscht wie eine Besessene in der Welt herum . . . Ich kann mir euch alle gar nicht anders denken als mit dem Reisesack in der Hand, auf dem Weg zu einem ›fun‹! Es ist kein Ernst in euch, Edith! Euch geht's viel zu gut. Die ganze Woche laßt ihr andere Leute für euch schuften und dann lauft ihr Sonntags zweimal in die Kirche und tut scheinheilig mit eurer Frömmigkeit . . . Oh . . . Ich kenn' euch jetzt . . . aber gründlich . . . Ihr seid eigentlich eine tolle Gesellschaft . . .«

Frau Edith brach in helles Weinen aus. Sie fühlte in England sich selbst getroffen und gekränkt. Ihr Mann fuhr bitter fort: »Und weil ihr ums Totschlagen nichts tut, so sollen's andere auch nicht! Da fallt ihr unsereinem in den Arm, wenn er ehrlich und anständig seinem Beruf nachgehen will! . . . Wollt ihn auch zu so 'nem Tagedieb machen! . . . Zu so 'nem öden Sportfex! . . . Einem langweiligen Londoner Pflastertreter! . . . Danke gehorsamst! Dazu kriegt ihr einen Kerl wie mich nicht!«

Die Tränen liefen strömend über Ediths Wangen. Sie hob beschwörend die Hände: »Hellie! Wir meinen es doch alle mit dir so gut!«

Plötzlich wurde er ruhig. Unheimlich ruhig.

»Nee, Kind!« sagte er kaltblütig. »Das ist nicht wahr! Und wahr ist, daß ihr auf mich herunterschaut! Nach euren Begriffen ist es gut und schön, wenn ein Mensch blödsinnig auf seinem Geldsack hockt. Aber es muß sein eigener sein. Sonst verachtet ihr solch einen Burschen! Besonders wenn es ein Ausländer ist! Habt übrigens ganz recht!«

Sie weinte immer mehr. Sie warf sich auf den Diwan, den Blondkopf in den Armen. Er trat zu ihr und legte ihr die Hand auf die Schulter: »Hast du mir nicht gestern gesagt: das Geld kommt von mir! . . . Dein Vater hat mir gleich darauf dasselbe gesagt! Am Abend hat mir mein Bruder gesagt – ein Mensch, den man nicht mit der Feuerzange anrührt: Du lebst ja vom Geld deiner Frau! Nun ist's genug! . . . Nun heißt's für mich: Darüber weg oder zugrunde! . . . Ich geh' jetzt und hol' mir in Deutschland meine Selbstachtung wieder! . . . Und du gehst mit hinüber! Du bist meine Frau!«

Sie sprang auf die Füße. Sie schrie auf: »Du hast doch selbst gesagt: dort ist die Armut, Hellie!«

Er zuckte zusammen. Sie fuhr fort: »Großer Gott – bin ich denn dazu geboren, zu hungern! Dann hätte ich anders erzogen werden müssen! Aber so ist's eine schimpfliche Grausamkeit, Hellie! . . . Dem bin ich nicht gewachsen!« Sie lief auf ihn zu. Sie faßte seine Hände. Ihre Brust bebte. Aber es war schon wieder mehr Festigkeit in ihrer Stimme.

»Und du auch nicht, Hellie! Du noch weniger! . . . Du brauchst den Reichtum noch viel mehr als ich, weil du ihn früher nicht gehabt hast. Du taugst nicht zu einem Pauper! Und du taugst auch nicht mehr zu einem Soldaten!«

»Edith!«

»Schon einmal sind wir von dort weg! . . . Jetzt, in einer so harten Lage, hältst du es erst recht nicht mehr aus! . . . Du wirfst doch bald wieder deinen Säbel fort! In einem halben Jahr sind wir doch wieder in England! . . . Wozu erst diese bittere Zeit durchmachen? Wozu sich hier auslachen lassen? . . . Hellie . . . ich bin deine Frau . . . ich steh' vor dir . . . ich hebe meine Hände zu dir auf und bitte dich: Nimm Vernunft an! . . . Bleib hier . . .«

»Ich kann nicht!«

»Dann liebst du mich eben nicht mehr!«

Sie schrie es auf. Sie schluchzte fassungslos und laut. Er schloß die Fenster, damit man draußen nichts höre, und sagte dann bestimmt: »Gerade, weil ich dich liebe, Edith, muß ich fort – ob mit dir oder vorläufig ohne dich. Denn ich weiß: du liebst mich ja doch! Du kommst mir bald nach, wenn du siehst, daß es mir ernst ist . . .«

»Nein! . . . Nein!«

»Es hat nichts mit unserer Liebe zu tun, Edith! Die bleibt bestehen. Es ist nur eine Kraftprobe zwischen uns, wer der Stärkere ist – ob Deutschland oder England, in unserer Ehe! . . . Diese Probe muß einmal entschieden werden! Der Mann muß der Stärkere sein. Wenn ich gehe, verlier' ich dich nicht, Edith, nur wenn ich bleibe! . . . Denn dann bist du hier mein eigentlicher Kerkermeister. Kein Mensch kann den lieben, der ihn zeitlebens eingesperrt hält. Ich muß frei sein – wegen dir noch mehr als wegen mir!«

Sie verstand nicht, was er meinte. Sie hörte nur einen neuen Vorwurf gegen sich aus seinen Worten. Sie fühlte sich schuldlos. Ungerecht behandelt. Sie blickte ihm verstört und doch in all ihrem Trotz ins Gesicht und trocknete dabei ihre Tränen. Die englische Zähigkeit kam zum Durchbruch.

»Wir wollen jetzt nicht weiter streiten, Hellie! Du bist so aufgeregt, wie es ein Gentleman nie sein sollte. Du wirst auch wieder ruhiger werden. Wir haben ja Zeit. Es sind noch vierzehn Tage bis zum ersten Oktober!«

»Das schon! . . . Aber ich gehe jetzt gleich!«

»Hellie!«

»Heute noch! Ich halt' es nicht mehr aus!«

Edith schrie wild auf und wich vor ihm zurück. Sie lief in das Nebenzimmer. Jetzt stand sie mit ihrem Töchterchen auf dem Arm auf der Schwelle.

»Hellie . . . da ist Klein-Mary! . . . Willst du's übers Herz bringen, uns beide zu verlassen . . . deine Frau und dein Kind?«

Er legte die Hand über die Augen, um das Bild da drüben nicht zu sehen. Er fühlte, wenn er das lange anschaute, dann hatte er verspielt für immer. Er faßte mit einem harten Griff nach der Türklinke. Seine Kehle war heiser.

»Ich verlass' euch nicht! . . . Ich geh' nur voraus! . . . Ich mache Quartier für euch. Du kommst nach?«

Sie schüttelte den Kopf. Sie sah seine Blässe. Wieder war die Siegeszuversicht in ihr wach, das Vertrauen auf die Selbstverständlichkeit, daß englischer Wille die Oberhand behielt . . .

»Nein, Hellie . . . ich würde hier mit Klein-Mary warten, bis du zurückkommst . . . du selbst . . . in ganz kurzer Zeit . . . das weiß ich . . . Aber, gottlob – es wird ja nicht nötig sein! . . . Du gehst nicht von mir, Hellie! . . . Du kannst es ja gar nicht . . .«

Er stand dicht vor ihr, küßte plötzlich sie und das Kind – murmelte etwas – es klang wie: ›Auf Wiedersehen drüben‹ – und dann . . . ihre Augen weiteten sich vor Schrecken . . . er hatte doch die Kraft . . . er wandte sich jäh ab . . . er eilte durch die Türe . . . die schloß sich hinter ihm . . . sie hörte seine hastigen Schritte auf der Treppe . . . dann verklangen sie auf dem Kies des Gartens . . .

Durch den kam eben der alte Mr. Mathes aufwärts und erblickte Helmut Merker, der, den Strohhut in der Hand, sonst so, wie er im Hause ging und stand, an ihm vorbeilief, ohne einmal den Kopf rückwärts zu drehen. Er schrie: »Well, Mr. Merker – ist der Krieg erklärt? . . . Müssen Sie zu den Preußen?«

Er erhielt keine Antwort. Helmut Merker eilte weiter, blindlings die Straße entlang, an der Eisenbahnstation vorbei – dorthin konnte man ihm ja noch folgen, auf ihn einreden, ihn zurückhalten – auf Fußwegen quer über Land – durch irgendeinen fremden weitläufigen Park, in dem der Wächter am Eingang ihn höflich als einen Gentleman grüßte und Damwild neugierig von den Wiesengründen herüberäugte – auf der anderen Seite hinaus – er war jetzt schon gut eine Stunde unterwegs – da war ein Städtchen – spielende Gestalten, die Fußbälle flogen – drüben rauchte der Schlot einer Lokomotive. Es war ein Zug nach Dover. Er stieg ein und kam im Stadtbahnhof an und eilte an dem inneren Wasserbecken vorbei zum Hafen. Da war ein Hotel. Er blieb stehen. Sein Herz kämpfte sich in der Erinnerung zusammen. An der Stelle hatten er und Edith sich vor Jahren zum erstenmal gesehen . . .

Ein Augenblick der Schwäche. Dann schritt er weiter. Zäher Seenebel umher. Die Welt war grau. Wurde immer düsterer, sonnenlos, während er den endlosen, in die Wasserfläche hineinragenden Hafen-Pier entlangging. Hoch in der Luft, auf dem Fahrdamm neben ihm donnerte der Expreßzug, der die Fahrgäste aus London unmittelbar bis an das Schiff brachte. Zugleich mit ihnen erreichte er den Dampfer. Es war jetzt so trübe, daß man nicht mehr von dessen einem Ende zum anderen sehen konnte. Schattenhaft bewegten sich die Menschen auf ihm. Es war wie in einem Geisterland. Er frug sich: Was ist denn das alles? . . . Wach' ich oder träum' ich? Was hab' ich denn getan? . . .

Die Dampfpfeife brüllte . . . brüllte wieder . . . ein drittes Mal. Ein Schiffsjunge stand vor Helmut Merker und bot ihm eine Lederdecke zur Miete während der Überfahrt an. Das brachte ihn wieder zu sich. Es durchschoß ihn: ›Wenn ich jetzt noch aussteige . . .‹ Aber da erkannte er: der Dampfer war schon in Fahrt. Man hörte es nur an dem Gurgeln des Wassers unten an der Schiffswand. Sehen konnte man nichts als ein eintöniges Grau umher. Durch das suchte das Expreßboot das Ausgangstor, machte eine jähe Schwenkung und steuerte langsam, vorsichtig in die grauen Nebelmauern über dem Meer, in die unbestimmte Weite hinein.



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