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17. Kapitel.

Nie hätte Sina sich vorstellen können, daß in einem einfachen Leben, wo die Tage so gleichförmig dahingingen, wie es in Wilhelms Familie der Fall war, sie je eine solche Befriedigung empfinden könnte, wie sie jetzt empfand. Es war auch wunderbar. Ein Tag verging eigentlich so wie der andere und doch brachte jeder Tag etwas Neues. Niemals mehr hatte sie das Gefühl der Leerheit um sie her und im eigenen Innern, wie es nun sechs volle Jahre lang jeden Abend so quälend über sie gekommen war, sobald die angestrengte Thätigkeit hinter ihr lag und sie in der stillen Abendstunde zu sich selbst gekommen war. Woher kam nur das volle Leben in den engen Schranken? In Sina selbst war ein neues Leben erwacht und damit die warme Teilnahme am Wohl und Weh der Menschen um sie, die alle wie sie nach Glück und Frieden suchten und so oft vergebens ihr Leben lang. Nun verstand sie zum erstenmal, wie die selige Großmutter sich so glücklich fühlen konnte in ihrem Wohlthun und ihrer Teilnahme für alle, die um sie her lebten, mit ihrer offenen Hand und dem glaubensfreudigen Herzen, das sein unversiegbar frisches Leben jeden Tag an der Quelle alles Lebens erneuern konnte. Seit Sina selbst diese Lebensquelle wieder gefunden und das eigene Schöpfen daraus ergriffen hatte, war auch in sie ein neuer, froher Mut zum Leben gekommen. Sie fühlte auch ein wohlthuendes Gelingen in dem kleinen Anfang einer Thätigkeit, wie sie sich ja zu übernehmen vorgenommen; sie hatte hier zu erziehen. Dazu war ihr auch gleich noch ein Haushalt zugefallen, den sie zu führen hatte. Ohne alles Hinzuthun von ihrer Seite hatte sich die Sache so gemacht und Sina fand, daß sie in dieser Richtung sich noch viel Mangelndes anzueignen hatte. Auch in dieser Thätigkeit hatte sie als Vorbild das sichere Walten der Großmutter vor Augen, dem sie nachzukommen wünschte. Sie wußte, daß das Wohl des Hauses in der Hand der Frau liegt und was dieses Wohl begründet, das wußte sie auch. Wollte sie sich fortan der Erziehung von Mädchen widmen, so mußte sie auch hier erst aus eigenem Erfahren kennen, was sie ihren Zöglingen, als zu den notwendigsten Kenntnissen gehörend, beizubringen hatte. So hatten auch diese Beschäftigungen für sie ein besonderes Interesse gewonnen. Daß das gleichförmige Leben dennoch jeden Tag etwas Neues mit sich brachte, dafür sorgten die Kinder, vornehmlich Sineli, die durch ihre eigenartigen Einfälle der Tante täglich neue Überraschungen bereitete. Auch Marie war viel lebendiger geworden und stand in fortwährendem Verkehr mit der Tante, seit diese das Vertrauen des Kindes gewonnen und sein stilles, aber tief fühlendes Wesen aufzuschließen vermocht hatte. So war es zwischen Sina und dem Kinde geworden von einem Abend an, da Sina zu den Kindern von ihrer frommen Mutter geredet und dann mit ihnen gebetet hatte, so wie sie es jetzt konnte: Da hatte Marie ihre Hand ergriffen und festgehalten, so als wollte sie sich nicht mehr davon trennen und hatte gesagt: »So hat Mama auch mit uns gebetet.«

Wilhelm wollte wohl auch seinen Teil an der Freundin haben, doch trug sein Gesicht immer den Ausdruck der tiefsten Befriedigung, wenn er Sina mit seinen Kindern zusammensitzen und sich mit ihnen beschäftigt sah.

Marianne hatte ohne weiteres Sina als Herrin des Hauses eingesetzt und nun durfte auch nicht mehr das Kleinste ohne ihr Gutachten geschehen. Nun war auch noch Elsi, die hatte sich für alles mögliche Sinas Rat zu holen, vor allem für die weitere Erziehung ihrer Kinder. Wenn Sina meinte, bis jetzt habe Elsi die Kinder doch ohne ihre Hilfe recht gut erzogen, so behauptete Elsi, es sei nur darum, weil bis jetzt alles, was sie von Sina gewußt und gelernt, noch vorgehalten habe. So hatte Sina ein reiches Arbeitsfeld, das ihr kaum Zeit übrig ließ, sich zu besinnen, wie ihr weiteres Leben sich gestalten und welche Schritte sie thun sollte, um der Thätigkeit, die sie in Aussicht genommen, einen festen Boden zu geben. Immer wieder bewegte sie den Gedanken hin und her, ob sie nicht dableiben und dem alten Freunde als Schwester zur Seite stehen und seine Kinder erziehen könnte. Aber da war immer wieder das Hindernis, daß Wilhelm zu seinem Geschäft nach der Stadt zurückkehren mußte und sie den einsamen Mann doch nicht noch seiner Kinder berauben konnte, auch wenn er es noch wollte. Ihm nach der Stadt folgen und dort in der Stellung als Freundin bei ihm bleiben, das konnte sie nicht thun, darüber war sie völlig mit sich im Klaren. Wie sie auch den Gedanken hin und her überlegte, immer wieder blieb sie ratlos bei der Frage stehen, wie die Sache auszuführen wäre, ohne den Vater und die Kinder zu trennen.

Sechs Wochen waren schon verflossen, seit Sina in ihr Vaterhaus zurückgekehrt war. Die Mitte des Monats August war da. Die Vogelbeeren an den Bäumen im Garten leuchteten rot in der Sonne, als die ersten Boten des nahenden Herbstes. Eben saß die kleine Familie am Frühstückstisch, auf den die Morgensonne ihre freundlichen Strahlen warf. Marianne brachte wie gewöhnlich die Postsachen herein, die tägliche Zeitung für den Herrn obenauf gelegt. Wilhelm ergriff diese.

»O, schon wieder einer!« sagte er, nachdem er da und dort einen Blick in das Blatt geworfen. »Da verliert unser Land aber einen Mann, der nicht sobald ersetzt wird. Professor Clementi verläßt die Universität –r– und folgt einem Ruf nach Breslau.«

»Kennst du diesen Professor?« fragte Sina, indem sie sich tief über Sinelis Tasse beugte und so viel Brocken in die Milch schnitt, daß Sineli verwundert auf die anschwellende Masse schaute.

»Wir sind vor Jahren in Paris zusammengetroffen, er war freilich Studierender, ich in einem Handelshause, aber als deutsch Sprechende fanden wir uns doch öfter zusammen. Wir besuchten dasselbe Kaffee und fanden uns immer in der deutschen Gesellschaft zusammen. Mir war nur immer leid, daß ich nicht zu seinen nähern Bekannten gehörte. Clementi war von all den jungen Herrn weitaus das begabteste und dazu das anregendste Mitglied der Gesellschaft. Er hat auch gehalten, was er damals versprach, er soll in der Chirurgie ungewöhnliches leisten, überhaupt ein ganz hervorragender, allgemein hochgeschätzter Mensch sein, wie ich von mehreren Seiten her gehört habe.«

»Hör' auf, Tante Sina, hör' auf, es ist dick genug,« schrie Sineli der rastlos fort Arbeitenden zu.

»Hier ist auch ein Brief an dich,« sagte Wilhelm, denselben Sina überreichend.

Sie machte ihn schnell auf und versteckte ihr Gesicht dahinter, ihre innere Erregung mochte vielleicht darauf zu lesen sein. Nachdem Sina drei –, viermal ihr Blatt zu lesen begonnen und kein Wort davon erfaßt hatte, wurde sie ihrer fahrenden Gedanken wieder Herr und fing nun an zu begreifen, was sie las. »Ach daß ich mein Wort nicht gegeben hätte!« rief sie plötzlich aus.

Wilhelm schaute verwundert von seinem Zeitungsblatt auf.

»Da schreibt mir die Vorsteherin unserer Schule in Breslau, ich möchte mein Wort halten und von September bis Neujahr noch meinen Unterricht fortsetzen, erst mit Anfang des neuen Jahres könnte die richtige Stellvertreterin bei ihr eintreten.«

»Sina, da bliebest du uns ja kaum noch vierzehn Tage, vielleicht nur noch eine Woche! Ich hatte so fest daraus gehofft, du bleibest bei uns bis – doch wenigstens bis zum Schluß unseres Aufenthaltes in deinem Vaterhause!«

Wilhelm sagte die Worte mit einem so schmerzlichen Ton, daß die zartfühlende Marie augenblicklich sich an ihn schmiegte und zu schluchzen anfing. Jetzt steckte Sineli ihren Löffel mitten in ihre feste Milchsuppe, wo er ausrecht stehen blieb, und sprang von ihrem Stuhl herunter und auf den Vater los.

»Tante Sina darf nicht gehen, Papa, sei du nur wieder froh,« tröstete sie, »Tante Sina muß unsere Mama sein und eine Mama darf nicht fort, und die Marianne hat gesagt, Tante Sina wird die allerbeste Mama für uns und auch für den Papa, wir müssen nur noch ein wenig warten. Aber nun wollen wir nicht mehr warten, sag' es jetzt der Tante Sina, Papa, sag' es ihr jetzt, daß sie unsere Mama sein muß.«

»Tante Sina muß doch nichts, Kind,« sagte der Vater ausweichend.

»Aber dann will sie, nicht wahr, Papa, sie will?«

»Frag' sie selbst, Kind,« sagte jetzt Wilhelm so bestimmt, daß Sina im Tiefsten erschrak. Sein Blick bestätigte ihr, daß er sein Kind allen Ernstes zum Sprechen aufgefordert hatte. Sie schaute ihn flehentlich an, als wollte sie ihn bitten, das Kind zurückzuhalten.

Wilhelm stand aus und ging hinaus.

Sineli hatte sich schon an die Tante gehängt und rief voller Freude immer zu: »Ja du willst schon, Tante Sina, nicht wahr, du willst schon unsere Mama sein?«

Sina nahm das Kind auf ihren Schoß.

»Sieh, liebes Kind,« sagte sie in herzlicher Weise, »ich habe Euch ja so lieb, als wäre ich Eure Mama, das ist die Hauptsache.« »Aber nun wollen wir davon nicht mehr sprechen; ich gehe auch noch nicht so bald fort, wir können doch noch viele Tage zusammen sein.«

»So will ich es dem Papa sagen,« schlug Sineli befriedigt vor und rannte fort, ihn zu suchen.

Marie war ihm schon in aller Stille nachgegangen.

Sina zog sich aus ihre Stube zurück. Was hatte das unglückselige Sineli angerichtet! Gewiß hätte der Vater aus sich niemals wieder diese Frage gethan. Er hatte sie wohl hauptsächlich um der Kinder willen gethan, sagte sich Sina. Was sollte sie nun thun? »Nein, unmöglich,« sagte sie in ihrer Erregung laut vor sich hin, nachdem sie innerlich die Frage hin- und herbewegt hatte. Würde sie das Rechte thun, die Mutter der Kinder zu werden, als Frau an Wilhelms Seite zu treten? Nein, unmöglich, sagte sie noch einmal. Es konnte nicht das Rechte sein, was von vornherein ein Unrecht in sich schloß, auch wenn Gutes damit bezweckt werden konnte. Hatte sie nicht eben eine Warnung erhalten davor, einen solchen Schritt zu thun? War nicht nur beim Nennen des einen Namens ihr ganzes Wesen in eine Erregung gekommen, wie kein anderer Name auf Erden je in ihr hervorgerufen hatte? So lebendig wie vor sechs Jahren stand noch sein Bild in ihrem Herzen, und wie konnte sie denken, daß es von einem andern verdrängt werden, daß es erlöschen könnte? Das konnte sie nicht glauben, sie wollte es auch nicht. Nein, ein tiefes Unrecht würde sie begehen, ihr halbes – ihr bißchen Herz, das sie geben konnte, Wilhelm gegen seine treue Liebe zu bieten, sie würde es auch nicht zu thun im stande sein, sie war vollständig im Klaren über ihren Entschluß. Sie setzte sich hin und schrieb: »Lieber Wilhelm, ich bitte Dich, laß uns unser geschwisterliches Verhältnis ungestört aufrecht erhalten, so lange wir noch beieinander sind, ich bitte Dich auch um der Kinder willen. Laß uns noch zusammenleben und uns lieb haben wie bisher!« Sie schloß ihr Billet und ging, es in Wilhelms Stube zu legen. Dann kehrte sie zurück und nahm ein neues Blatt vor, es war für Martha Halm bestimmt. Sina schrieb der Freundin, sie möchte doch so bald sie es möglich machen könnte, zu ihr kommen und den Rest des Sommers bei ihr zubringen. Sie richte diese dringende Einladung an die Freundin, fuhr Sina fort, weil sie die Stelle gefunden, die Martha Halm ihr Leben lang gesucht hatte, die große Lücke, die sie besser als jede andere, so wie es sein müßte, auszufüllen im stande sei. Es würde wohl eine Aufgabe für ihr ganzes Leben werden können, fügte Sina hinzu, und eine beglückende Ausgabe, einem der besten Menschen und seinen zwei mutterlosen Kindern in ihr einsames Leben hinein das zu bringen, was nur sie durch ihr eigenes Sein und Wesen zu bringen vermöge.

Daß der Herr des Hauses selbst keine Ahnung von ihrer That hatte, berichtete Sina freilich nicht, aber sie war ihrer Sache so sicher, daß sie nur nach der Zusage der Freundin verlangte. Es war ihr unzweifelhaft, daß Martha Halm, erst einmal von Wilhelm und den Kindern gekannt, ihnen völlig unentbehrlich werden mußte und ihr Haus, wie kaum jemand anders es thun könnte, wieder so zu gestalten vermöchte, wie es Marie zu gestalten begonnen hatte. War doch Sina die Ähnlichkeit im Wesen und Ausdruck der beiden gleich bei der ersten Bekanntschaft mit Martha Halm aufgefallen und dieser Eindruck hatte sich ihr im Umgang mit derselben nur verstärkt. Am Schluß des Briefes sagte Sina: »Wenn freilich Ihre Hoffnung sich erfüllt hat und Sie die Stelle im Hause des Professors angenommen haben oder anzunehmen im Begriffe sind, dann ist die Frage gleich entschieden und ich kann Ihnen nur noch Glück wünschen zu der erfreulichen Thätigkeit.«

Sina ging, ihren Brief durch Elsis Kinder noch zur Post bringen zu lassen. Als sie aus dem Hause trat, kam Marianne eben mit dem großen Gemüsekorb aus dem Garten herein. Sie sah etwas gewitterhaft aus. Jetzt deutete sie mit dem Finger nach der Gartenbank hinaus und sagte kopfschüttelnd: »Wenn nur das nicht wieder angeht! Dort sitzt der Herr und starrt in den Boden hinein und die Kinder stehen daneben. Das ältere weint natürlich und das Kleine dreht im Ärger an des Vaters Rockknöpfen herum, bis es sie alle abgedreht hat. So war es nie mehr, seit Sie gekommen sind, aber vorher oft genug. Was ist doch ein Haus ohne eine Frau! Exakt wie eine Uhr ohne Zifferblatt, das läuft nur so zu und kein Mensch weiß, was an der Zeit ist und wenn unsereins es noch wüßte, so hat man keinen Halt. Wenn es doch Gottes Wille wäre, daß da wieder eine Frau hereinkäme!«

Sina ermunterte Marianne, den Mut nicht zu verlieren, ihre Hoffnung könnte ja vielleicht noch in Erfüllung gehen. Auch sprach Sina noch ihre Freude darüber aus, daß Marianne einer neuen Herrin so viel guten Willen entgegenbringen würde, brach dann aber die weiter aufsteigenden Gedanken der Marianne damit ab, daß sie ihr sagte, es sei der letzte Augenblick, den Brief noch fortzubringen. Dann eilte sie ins Nachbarhaus hinüber. Als Sina nach einem kurzen Gespräch mit Elsi zurückkehrte, trat sie in den Garten ein, die kleine Familie aufzusuchen und womöglich die Beschäftigungen des Tages ins gewöhnliche Geleise einzulenken. Im Garten war niemand mehr zu finden. Sina hatte eben die Stufen vor dem Hause betreten, als von drinnen ein ganz furchtbares Geschrei ertönte. Rasch öffnete sie die Hausthür, da lag vor ihr auf der Steinplatte Sineli und schrie aus allen Kräften. Sie hob das Kind auf und trug es auf sein Bett.

»Wo thut's weh, Kind, komm wir wollen schon helfen,« beruhigte sie, »sag mir nur, wo's weh thut.«

Es that überall weh nach des Kindes Behauptung, aber besonders am Fuß. Sina wollte versuchen, ob das Kind darauf stehen konnte, es ging nicht, sie sah, daß da etwas gar nicht in Ordnung war.

Unterdessen hatte sich die ganze Familie im Schlafzimmer eingefunden und nachdem nun Sina den kranken Fuß mit kaltem Wasser behandelt und in einen festen Verband gebracht hatte, konnte man endlich vernehmen, was geschehen war. Sineli hatte, wohl um sich für die niederschlagenden Eindrücke, die vorangegangen waren, zu entschädigen, einen Ritt auf dem Treppengeländer unternommen, war dann wie der Blitz der ganzen hohen Treppe nach heruntergekommen und zuletzt mit großer Gewalt auf die steinerne Hausflur hingeschleudert worden.

»Ob der Fuß gebrochen ist?« fragte der Vater, der schreckensbleich auf Sinas Bemühungen um das Kind geblickt hatte.

»Jedenfalls muß sofort zum Arzt geschickt werden,« sagte Sina, »entweder ganz gefährlich verstaucht oder gar gebrochen ist der Fuß und darf nicht zu sehr anschwellen, bevor der Arzt kommt.«

Wilhelm sann hin und her, wer wohl am schnellsten den Weg zurücklegen werde, es war eine gute Stunde bis zum großen Flecken hinunter, wo der Arzt wohnte. Aus Sinas Rat entschloß er sich dann, sofort einen Wagen zu nehmen und selbst hinzufahren, um den Doktor gleich mitbringen, ihm nötigenfalls auch nachfahren zu können, wenn er auf einer Berufstour sein sollte. Marianne lief nach dem Wagen des Wirtes, der in kurzer Zeit vorfuhr und den geängstigten Vater fort brachte. Sina saß am Bette der Kleinen, die nun ganz gemütlich auf ihrem Kissen lag und alles Leid vergessen hatte, denn auf ihren wieder aufsteigenden Unwillen und ihre wiederholte Behauptung: »Du darfst doch nicht gehen, Tante Sina, nein, du darfst doch nicht gehen,« hatte die Tante geantwortet: »Solang du nicht wohl bist, geh ich jedenfalls nicht fort und bleibe den ganzen Tag hier an deinem Bette sitzen.« Das war eine befriedigende Aussicht und Sineli begann Pläne zu machen, was man nun den ganzen Tag lang in dieser Lage für Kurzweil treiben könnte. Es war seit des Vaters Abreise nicht mehr als eine halbe Stunde vergangen, als Marianne unter der Thür erschien: »Das hat sich gut geschickt,« rief sie herein, »unser Herr muß den Doktor gleich angetroffen haben, die Herren fahren eben zum Haus heran.«

Hocherfreut lief Sina hinaus, die Ankommenden zu empfangen. Rasch öffnete sie die Hausthür –, sie schrak zusammen, schneeweiß und regungslos blieb sie stehen – vor ihr stand Professor Clementi. Er trat einen Schritt zurück, auch er sah sehr überrascht aus. Wilhelm war nun auch die Stufen herauf gekommen:

»Sina, ich habe das Vergnügen, dir Professor Clementi vorzustellen,« rief Wilhelm ungewöhnlich angeregt vor Freude über seinen Besuch. »Ist es nicht ein wahrer Segen, daß mir der alte Freund eben entgegenfahren muß, wie ich unten auf die Hauptstraße einlenke. Clementi, ich stelle Ihnen Fräulein Normann vor, eine alte Freundin unseres Hauses.«

»Auch eine alte Bekannte von mir,« sagte der Professor, wieder näher tretend.

Noch machte Sina keine Bewegung. Alles Blut war ihr zum Herzen geströmt, sie konnte kaum aufatmen, um keinen Preis hätte sie ein Wort hervorbringen können.

»Fräulein Normann erinnert sich meiner wohl gar nicht mehr,« setzte Professor Clementi hinzu, während ein erzwungenes Lächeln über seine Züge flog.

Sina hatte die Herrschaft über sich selbst wieder gewonnen.

»Doch, Herr Professor, ich erinnere mich Ihrer sehr wohl,« sagte sie, mit Gewalt die Bewegung unterdrückend, die in ihrer Stimme nachklang, »es war mir nur so überraschend, Sie hier zu sehen.«

»So hast du Professor Clementi auch gekannt, Sina? Davon hatte ich ja keine Ahnung,« fiel hier Wilhelm ein, seinerseits aufs Höchste überrascht.

»Es war nur ein flüchtiges Zusammentreffen schon vor Jahren,« erwiderte der Professor an Sinas Stelle, die sich rasch abgewandt hatte, um die Herren nach dem Krankenzimmer zu geleiten.

»Übrigens bin ich eigentlich verwundert, warum Sie mich hieherschleppen, Falk, Sie haben ja, wie ich sehe, die ärztliche Hilfe im Haus!«

Wilhelm starrte den Freund fragend an.

»Du hast natürlich längst vergessen, Wilhelm, daß ich eine Zeit lang die Universität besuchte, bevor ich in ein anderes Arbeitsfeld überging,« schob Sina rasch ein; sie mußte genau auf die Worte gehört haben, trotz ihres Weitergehens. Wilhelm begriff nun, daß Sina vorübergehend den Professor gekannt hatte und auch wie dieser vermuten konnte, die ärztliche Hilfe sei schon da. Sina öffnete schnell die Schlafstube, um die Herrn einzuführen und auch um dem Gespräch ein Ende zu machen. Professor Clementi fand den Fuß nicht gebrochen, aber so übel zerquetscht, daß eine gute Zeit lang keine Rede von Stehen oder Gehen für die Kleine sein würde.

Er verordnete nun, was mit dem Fuß gethan werden sollte und wünschte vor allem genau zu zeigen, wie der Verband zu befestigen sei. Dabei schaute er fragend auf Wilhelm, um zu erfahren, wer die Pflege zu übernehmen habe. Wilhelms Augen suchten Sina, die schon Hand angelegt hatte, um das Kind zurechtzulegen.

»Das Verbinden werde ich übernehmen, Herr Professor,« sagte sie, »wenn Sie denken, ich werde es gut machen.«

»Das werden Sie ohne Zweifel,« entgegnete er herantretend, »meine Erfahrung hat mich gelehrt, daß Verpflegen und Verbinden von Frauenhänden am besten besorgt wird.«

Er besorgte nun den Verband unter Sinas Augen und erklärte ihr genau, was hauptsächlich zu beobachten und was zu vermeiden sei.

Diese Erklärungen schienen Sinelis Mißfallen zu erregen. Plötzlich rief die Kleine ärgerlich: »Ja, ja, das weiß Tante Sina schon gut genug.«

Der Professor lachte: »Die Kleine ist empört, daß ich Sie belehren will. Das ist ja sehr nett. Aber woher weißt du denn, daß Tante Sina das schon gut genug weiß, meine Kleine?«

»Weil sie schon alles weiß und ganz gut machen kann,« erwiderte Sineli immer noch ein wenig ärgerlich.

»Das nenne ich Vertrauen,« lachte der Professor, seinen Verband abschließend. »So, nun gib mir eine Hand, Kleine, nachher will ich auch Tante Sina nicht mehr belehren. Und nun, mein guter Freund,« fuhr er zu Wilhelm gewendet fort, »reise ich weiter, komme aber nach einigen Tagen zurück und sehe nochmals nach der kleinen Patientin!«

Wilhelm sah sehr enttäuscht aus. Jedenfalls wollte er den Gast nicht fortlassen, ohne daß er eine Erfrischung zu sich genommen hätte und führte ihn nach der Stube zurück, wo Marianne auch schon alle Vorbereitungen zum Abendessen getroffen hatte.

Aber Professor Clementi war nicht mehr zu halten, nicht einmal niedersetzen wollte er sich, er meinte, er könnte den Abend gerade noch den Fuß des Gletschers erreichen, den er morgen besteigen wollte, da wäre keine Zeit zu verlieren.

»Sie hatten mir aber doch schon so viel wie versprochen, bei mir zu bleiben und erst zu sehen, wie es morgen um meine Kleine steht, bevor Sie weiter reisen würden,« sagte Wilhelm mit Vorwurf im Ton. »Es thut mir zu leid, Clementi, Sie so schnell wieder zu verlieren, ich hoffte bestimmt, Sie wenigstens einige Tage bei mir behalten zu können.«

»Es ist richtig, ich hatte Ihnen so viel wie zugesagt, Ihre Gastfreundschaft in Anspruch zu nehmen. Nun aber, da des Kindes Zustand meine Gegenwart wirklich nicht erheischt, kehre ich zu meinem Reiseplan zurück, gedenke aber mein Wort zu halten und Ihre Kleine in einigen Tagen wieder zu besuchen.«

Der Professor hatte es so eilig, daß er nicht einmal mehr nach Sina fragte. Erst als Wilhelm seinen Freund zum Gasthaus hinunter begleitete, wo dieser seinen Wagen gelassen, sagte der Scheidende: »Empfehlen Sie mich Ihrem Fräulein.« Dann war er fort.

Hatten die tiefgehenden Ereignisse des Tages Wilhelm so niedergeschlagen, daß er in sein stummes Brüten zurückgefallen war, so hatte ihn das unerwartete Forteilen des wiedergefundenen Freundes in einer Weise verstimmt, daß er sich aussprechen und dem Ärger Luft machen mußte.

Als er allein mit Sina beim Nachtessen saß, begann er in halb klagender, halb gereizter Weise: »Auf wessen Wort kann man denn noch gehen! Wenn ich in eines Menschen Wort mein Vertrauen gesetzt habe, so war es in Clementis Wort, und den nun so veränderlich erfahren zu müssen und dazu ohne allen Grund, das ist mir wahrhaft bemühend.«

»Wie kamst du nur überhaupt dazu, ihn hieher zu bringen?« fragte Sina, der immer noch zu Mute war, als müßte sie im nächsten Augenblick aus einem Traum erwachen.

»Es ist ja wahr, das weißt du noch gar nicht,« rief Wilhelm aus. »So war's: Ich fahre unten in die Hauptstraße ein und rufe eben dem Kutscher zu: Nun drauf los! Da kommt von der andern Seite ein Wagen, dem wir ausweichen mußten und da mein Kutscher eben sein Roß angetrieben hat und nun zurückreißt, bäumt es sich und wirft uns beinahe um. Der Herr springt aus seinem Wagen mir zu Hilfe zu kommen, ich erkenne Clementi, er erkennt auch mich. Ich steige auch ab, wir grüßen uns, wechseln einige Worte, ich sage ihm, daß ich Eile habe, sonst ließe ich ihn nicht so an meiner Behausung vorüberfahren und teile ihm den Sturz der Kleinen mit. Da bin ich ja gerade Ihr Mann, sagt er mit der größten Freundlichkeit, springt in meinen Wagen hinein, gibt Befehl, daß der seine nach dem nahen Gasthaus fahre und wie ich nun in meiner Freude ihm danke und frage, ob auch mit dieser Unterbrechung sein Reiseplan nicht zu arg gestört werde, antwortet er mir in der liebenswürdigsten Art: Den geängsteten Vater beruhigen zu können, gebe ihm doch eine viel größere Befriedigung, als den festgesetzten Reiseplan zu verfolgen. Übrigens komme es ihm nicht darauf an, einen Tag mit dem Weiterreisen zu zögern, wenn es nötig sein, oder mir eine besondere Beruhigung gewähren sollte. Ich erfasse gleich mit großer Freude das Anerbieten. Kaum hat er, freilich in größter Freundlichkeit, das will ich ihm auch nicht vergessen, das Kind besorgt, so eilt er trotz meiner Erinnerung an sein Versprechen so davon, als wäre die Weiterreise keinen Augenblick zu verschieben. So etwas hätte ich Clementi nie zugetraut.«

Sina schwieg nachdenklich eine Weile still.

»Sollte ihm etwas im Hause nicht gefallen haben, als er hier war, und er darum wieder so schnell fortgeeilt sein?« sagte sie dann. Davon wollte Wilhelm nichts wissen, was sollte ihm denn mißfallen haben?

»Wußte er, daß deine Frau nicht mehr lebt?« fragte Sina nach einer Weile.

»Ja, er frug nach ihr, ich sagte ihm, daß ich Witwer sei.«

Sina sagte nichts mehr, sie blieb so still und nachdenklich den Rest des Abends durch, daß es Wilhelm auffiel, der jetzt sehr an ihre anregenden Gespräche gewöhnt war. Als sie sich trennten sagte er:

»Du hast mir nie von deinem Universitätsleben erzählt, ich kann mir denken, daß die plötzliche Erscheinung des Professors in dir viele Erinnerungen an jene Zeit erweckt hat. Es thut dir doch nicht leid, dein Studium aufgegeben zu haben, Sina? du hättest es gewiß gut durchgeführt, aber du kannst noch Besseres thun mit deinen Kräften.«

»Nein, Wilhelm, es thut mir nicht leid,« antwortete Sina bestimmt, »aber heute hättest du doch froh sein können, die ärztliche Hilfe gleich im Hause zu haben.«

»Die Hilfe, die ich hatte, war mir lieber. Den Arzt konnte ich wohl holen, aber die mütterliche Sorge und Pflege nicht. Wo holt man die Menschen, die in ein ödes trauriges Haus neues frohes Leben bringen und fremder Leute Kinder lieben und leiten, als gehörten sie ihnen selbst an?«

»Glaub mir, Wilhelm, es gibt wirklich noch solche Menschen, es gibt viele Frauen, die von Herzen gern sich der Verlassenen annehmen und ihr ganzes Leben in voller Freudigkeit dafür verwenden. Du siehst, ich bin nur eine Stümperin in der Sache, ich habe sie begonnen und weiß sie nicht zu vollenden. Aber sei guten Mutes, du wirst sehen, daß es noch Frauen gibt, die gerne helfen, wo es not thut. Übrigens ist eine solche Arbeit am schönsten und lohnendsten, das habe ich in der kurzen Zeit an deinen Kindern erlebt. Was ich für sie thun konnte, haben sie mir mit ihrer Liebe und durch die Freude, die ihr geistiges Aufwachen und Werden mir bereitete, hundertfach vergolten.« Sina drückte ihrem Freund ermutigend die Hand und verließ ihn.

Sineli mußte eine Enttäuschung erleben. Sie hatte sich vorgestellt, daß nun ein besonderes Vergnügen für sie beginnen werde, indem Tante Sina an ihrem Bett sitzend ein ununterbrochenes Gespräch mit ihr führen würde. Statt dessen saß die Tante so seltsam schweigend da, wie sie noch gar nie gethan hatte, und wenn Sineli mahnte, nun sollte sie doch einmal wieder etwas erzählen, hörte sie nur gar nicht darauf. Erst wenn das Kind zum dritten- oder viertenmal die Mahnung wiederholte und dazu schrie, als wäre die Tante vom entferntesten Winkel des Hauses herzurufen, gab sie endlich Antwort. Das war nun gar nicht, wie Sineli sich ihren Aufenthalt im Bett ausgedacht hatte, das mußte der Papa wissen. Als er denn am Abend Sinas Platz am Bett eingenommen hatte, während sie nach der Küche verschwunden war, kam Sinelis Anklage heraus mit einer eingehenden Beschreibung, wie Tante Sina den Kopf in die Hand lege und gar nichts mehr sehe und höre, bis Sineli zuletzt immer hintereinander aus allen Kräften ihren Namen rufe. Der Papa fand das Unglück nicht groß und meinte, Sineli habe sich gar nicht zu beklagen, und Tante Sina unterhalte und erzähle viel mehr, als andern Kindern je erzählt werde, wenn sie krank seien. Aber Sineli war mit der Beruhigung nicht zufrieden, sie wollte wenigstens wissen, warum Tante Sina so thue, vorher habe sie gar nie so gethan, erst seit sie am Bett sitze und den Fuß verbinde, sei sie so geworden. Da meinte denn der Papa, das sei nun ganz begreiflich: »Da hat sie nun deinen kranken Fuß zu besorgen,« sagte er, »und dazu kam noch der Herr Professor von der Universität, wo die Tante Sina einmal war und Medizin studieren wollte und da kommt ihr nun alles wieder in den Sinn, was sie dort hörte und lernte, und so wird sie denn nachdenklich und du mußt sie nicht immer plagen, daß sie reden soll, sie denkt auch gern einmal wieder an diese Erlebnisse.«

»Warum wollte Tante Sina denn nicht mehr Medizin studieren?« mußte Sineli weiter wissen.

»Weil sie dann junge Mädchen zu allem Guten erziehen wollte und das ist ein Glück für dich, sonst kenntest du keine Tante Sina,« war des Vaters Schlußerklärung.

Am vierten Tag nach Sinelis Fall kam ein Brief von Fräulein Halm. Sie war überglücklich, Sinas Einladung folgen zu dürfen, vor allem, nun wieder mit ihr zusammen zu sein, dann auch um ihre schöne Heimat zu sehen und nicht zum wenigsten, um die offene Stelle kennen zu lernen, in der Sina die Lücke erkannt, nach welcher Martha Halm seit Jahren ausgeschaut hatte, um da einzutreten und einmal jemanden nötig zu werden. Die Hoffnung auf eine Stelle in Professor Clementis Hause hatte sie aufgeben müssen. Ihre Bekannte hatte sie benachrichtigt, daß der Professor verreist sei, wohin wisse sie nicht. Er hatte sie nur noch so eilig besucht, daß sie keine Fragen über seine künftige Hauseinrichtung an ihn thun konnte. Er selbst hatte nie mehr von der Sache gesprochen, vielleicht hatte er sich wieder anders besonnen, oder die alte Regentin wollte keine junge Gehilfin. Er hatte ihr den kleinen Jungen empfohlen und ihr mitgeteilt, daß er weiter für denselben sorgen und ihn in ihrer Pflege lassen wolle, wenn es ihr so recht sei, was sie sehr glücklich machte. Dann habe er Abschied von ihr genommen und werde nun wohl zu ihrem großen Leid nicht mehr nach –r– zurückkehren.

Sina ging, Wilhelm mitzuteilen, daß sie den Besuch einer Freundin erwarte, deren Gegenwart ohne allen Zweifel auch für ihn und die Kinder viel Angenehmes mit sich bringen werde.

Er nahm die Nachricht kühl auf und meinte, wenn diese Freundin ihm und den Kindern nur nicht wegnehme, was sie jetzt besitzen, so sei er schon zufrieden, zu bringen brauche sie dann nichts. »Wir werden also beide Besuch haben,« fügte er hinzu, »eben habe ich den Professor aus dem Fußweg erblickt, er wird gleich hier sein.«

Sina hatte sich innerlich so gut auf diese zweite Ankunft vorbereitet, daß sie sich sicher fühlte, keinen sie so beherrschenden Eindruck zu zeigen, noch auch zu empfangen, wie bei der ersten unerwarteten Erscheinung. Die Nachricht machte ihr aber dennoch einen Eindruck, der lähmend auf sie wirkte, so daß sie einen Augenblick wie festgenagelt stand, während sie doch forteilen wollte.

»Willst du ihn hier empfangen?« fragte Wilhelm.

»Nein, keine Rede davon, du hast ihn zu empfangen, ich gehe auf meinen Posten,« entgegnete Sina und lief nach der Schlafstube der Kinder. Sie war froh, noch eine kleine Weile Sinelis unbefangenen Gesprächen zuzuhören und sich wieder zurechtzufinden und fest zu machen. Diese kindische Schwäche mußte nun einmal überwunden sein. Sie fühlte sich auch bald wirklich ruhig und sicher, nun konnte kommen, wer wollte.

Unterdessen hatte Wilhelm den Professor empfangen, war aber noch so erfüllt von der Enttäuschung, die er beim ersten Besuch an seinem Gast erlebt hatte, daß er ein zweitesmal nichts davon wollte und gleich nach der ersten Begrüßung herausfuhr: »Nun Clementi, sagen Sie mir lieber gleich, daß es Ihnen bei mir nicht gefällt, und daß Sie nach Ihrem Krankenbesuch sofort wieder abreisen werden, nicht daß ich nochmals hoffe, einen schönen Tag mit Ihnen zuzubringen, und dann angeführt bin und zudem noch den ungewöhnlichen Ärger habe, daß ein Clementi mir das thun kann.«

Der Professor lachte: »Sie scheinen die Sache sehr ernst genommen zu haben, mein lieber Freund. Ich will auch ganz aufrichtig gegen Sie sein. Sie sagten mir, Sie seien Witwer und wie ich in Ihr Haus komme, finde ich eine Freundin bei Ihnen, mit der Sie schon in intimem du verkehren, in der ich also Ihre Verlobte erkenne. In solchen Verhältnissen trete ich nicht gern als störender Gast in ein Haus. Es ist mir auch nicht entgangen, daß meine Ankunft dem Fräulein einen Eindruck verursachte, der sie ziemlich kühl und steif machte, dem Gast gegenüber.«

»Das war der Grund Ihrer Veränderlichkeit? Sie haben nicht gut geraten, Clementi,« sagte Wilhelm mit einem Lächeln, das halb traurig, halb komisch war. »Sie ist nicht meine Verlobte. Sie hat das intime du gewollt, um das geschwisterliche Verhältnis gleich wieder festzustellen, das in früheren Jahren zwischen uns stattfand. Ihr stand es immer fest. Sie sollten diese Persönlichkeit kennen, Clementi. Wie sie in der kürzesten Zeit mein verödetes Haus, meine verwilderten Kinder, selbst mich alten, vertrockneten Mann umgestaltet und überall hin ein neues Leben gebracht hat, wohin sie ihren Fuß gesetzt, das ist ganz unglaublich!«

»Sie werden noch enthusiastischer als Ihre Tochter in Ihrer Beschreibung der Freundin,« sagte der Professor lachend. »Die Kleine hat mir bei unserer ersten Begegnung kategorisch erklärt, Tante Sina hätte ich nicht zu belehren, die wisse schon alles, und wie mir scheint, stimmt der Vater mit der Tochter völlig überein. Wenn wir nun aber vor allem weiteren die kleine Patientin aufsuchen würden, Falk, wäre es nicht das richtigste?«

Wilhelm war ganz einverstanden, geleitete den Freund nach dem Krankenzimmer, verschwand dann aber, da die ärztlichen Untersuchungen und Beschlüsse ihn immer mit einem geheimen Grauen erfüllten, und sein Kind wußte er ja in besseren Händen, als die seinigen waren.

Sina empfing den Professor mit einer Ruhe, die durch die innere Anstrengung, mit der sie errungen wurde, Steifheit genannt werden konnte.

Der Professor löste den Verband auf und besah den Fuß. Er fand diesen bedeutend besser, freute sich auch des guten Verbandes, der genau so ausgeführt worden war, wie er angeordnet hatte.

»Wenn Fräulein Normann die Pflege weiter führen will, so hätte ich da nichts mehr zu thun und kann meinen Abschied nehmen,« sagte Professor Clementi, nachdem er neuerdings den Fuß eingewickelt hatte.

»Ja, das ist recht,« rief Sineli erfreut und streckte sehr bereitwillig die Hand zum Abschied aus.

»Na, habe ich dich denn so übel behandelt, Kleine, daß du mich so schnell als möglich fort haben willst?« fragte der Professor lächelnd über Sinelis Eile.

»Nein,« entgegnete rasch die Kleine und fuhr unaufhaltsam weiter, offenbar begierig mitzuteilen, was ihr aus dem Herzen lag. »Aber Tante Sina ist nicht mehr lustig, seit Sie gekommen sind. So sitzt sie mit dem Kopf in den Händen und hört gar nichts mehr, wenn ich ganz laut rufe: ›Tante Sina!‹ so hört sie es nicht, und wenn ich noch viel lauter rufe: ›Tante Sina!‹ so hört sie doch noch nichts und Sie sind schuld daran, weil Sie gekommen sind und das hat sie an die Medizin erinnert, die sie studiert hat. Das hat sie dann nicht mehr gethan, weil sie dann wollte die jungen Mädchen zu allem Guten erziehen und das ist gut, sonst wäre sie nie zu mir gekommen. Das hat der Papa gesagt.«

Sina war erst glühendrot geworden, hatte dann mehrmals versucht, den Mitteilungen Einhalt zu thun, aber der Professor hatte seinerseits der Kleinen so ermunternde Winke gegeben, fortzufahren, daß diese ohne Unterbrechung bis zum Ende fortgesetzt hatte. Auf Professor Clementis Gesicht war ein sonniges Lächeln gekommen.

»Sollte Tante Sina sich nicht auch noch ein wenig weiter zurück erinnern, an den Tag, da sie einem Fremden die schmerzende Wunde mit dem Balsam ihres warmen Mitgefühls linderte?«

Er hielt Sina seine Hand hin. Sie legte die ihrige hinein und schaute ihm voll in die Augen, die ihren Blick suchten.

»Ich habe jenen Tag und den Fremden nie vergessen,« sagte sie und ihre Stimme verriet die Bewegung des Herzens. Sina that sich keine Gewalt mehr an. Der Blick, den sie nie vergessen, ruhte wieder auf ihr und löste allen Bann von ihrem Herzen.

Professor Clementi war aufgesprungen; er hielt Sina in seinen Armen.

»Sina Normann, bist du mein?« fragte er, die Wiedergefundene an sich ziehend. »Damals ging wie ein neuer Lebenshauch die Hoffnung durch mein Herz, du könntest die Meine werden. Aber du hattest ein anderes Ziel gewählt, du wolltest einen Weg gehen, der nicht zu dem meinen paßte. Der Wunsch meines Herzens, eine Frau für mich und mein Haus zu gewinnen, hätte dir recht alltäglich und deinen Flug hemmend erscheinen müssen. Sollte ich dich als Zuhörerin unter meinen Studenten wiederfinden? Ich wandte mich ab von dem Gedanken. Dann warst du verschwunden auf eine andere Universität, meinte Moritz. Ich dachte, um ihm auszuweichen, mir ahnte, es hätte ein Aussprechen zwischen Euch stattgefunden. Ich war im Innersten erfreut, daß ich dich nie als Studentin vor mir sehen würde. Du warst verschollen für mich. Und heute – Sina – ist es so? Du willst mein sein? Du willst mein unruhiges Leben, alles Leid, alle Sorgen, die hineinfallen, mit mir tragen? Du bist viel jünger als ich, Sina, werden nicht viele Genüsse und Freuden des Lebens dir mangeln, die ich nicht kenne?«

Sina hatte ihren Kopf an die Schulter des geliebten Mannes gelegt, während er so zu ihr sprach. Jetzt erhob sie sich und sagte, mit sicherem Bewußtsein ihm in die Augen schauend: »Ich kenne keine Freude, die der gleich käme, dir anzugehören. Ich bin auch nicht mehr zu jung, um die Erkenntnis gewonnen zu haben, was unser Leben reich und unser Herz froh machen kann. Ich weiß nichts Schöneres, als deine Arbeit und deine Sorgen mit dir tragen zu dürfen.«

Professor Clementi schloß Sina enger in seine Arme und flüsterte ihr leise Worte zu.

Bis dahin hatte Sineli ganz still und nachdenklich die Dinge verfolgt, die sich vor ihren Augen zutrugen. Sie hatte eine dunkle Vorstellung, es werde alles noch zu den Erinnerungen an die Zeit des Studierens gehören, die nun gleich ein Ende haben müßten, sobald der Professor wieder verschwinden würde. Aber nun fing ihr die Sache an wunderlich vorzukommen und plötzlich schrie sie aus vollem Halse: »Papa! Papa!«

Die Thüre der Nebenstube öffnete sich, Wilhelm trat auf die Schwelle. Er blieb wie angenagelt fest stehen.

Clementi legte Sinas Arm in den seinigen und näherte sich dem Betroffenen. »Lieber Freund, es ist wunderbar, nicht wahr, aber es ist wirklich so, Sina ist meine Braut, wünschen Sie mir Glück!«

»Sie haben es, Clementi,« sagte Wilhelm, als er sich von seiner unerhörten Überraschung ein wenig erholt hatte. »Sie haben es wirklich schon. Sina ist das Glück, das über Sie, über Ihr Haus, Ihre Arbeit, Ihr ganzes Dasein leuchten wird –«

»Wilhelm, gib mir deinen Brudersegen,« fiel Sina hier ein, »du bist ja der einzige meiner Brüder, den ich in der Heimat habe.«

»Ja, das will ich thun, Sina, und recht von innen heraus. Zwei Menschen, wie Ihr seid, gehören zusammen! Und wie ist's nun, Clementi, werden Sie uns Sina gleich fortnehmen?«

»Im Gegenteil, lieber Freund, eben wollte ich Sie bitten, mir Ihre Gastfreundschaft für heute, vielleicht auch noch für morgen zu gewähren. Sogleich weiterzureisen, wie ich vorhatte, möchte mir doch nun zu schwer werden.«

»Und ich, Wilhelm,« setzte Sina hinzu, »gehe nicht eher von dir und den Kindern weg, bis ich eine Persönlichkeit in deinem Hause weiß, die dir als Freundin und deinen Kindern als eine Mutter zur Seite steht. Nach Breslau kehre ich für einmal nicht zurück, dazu habe ich eine berechtigte Abhaltung im Willen meines Verlobten.«

Aus den zwei Tagen, die Professor Clementi bei seinen Freunden zubringen wollte, wurden erst acht und dann noch einmal acht und wer am meisten gegen die nahende Abreise eiferte, war Wilhelm. Die beiden Männer waren innige Freunde geworden. Nur die Tochter Sineli erhub noch lärmenderen Einspruch, wenn von der Abreise die Rede war, denn mit dem Herrn Professor hatte sie eine ganz ungewöhnliche Freundschaft geschlossen. Er behauptete auch, seiner kleinen Freundin sei er zu einem Dank verpflichtet, der gar nicht abzutragen sei, denn ohne ihre Hilfe hätte er den Weg zu seinem Glück wohl noch lange nicht, vielleicht gar nicht gefunden. Endlich mußte es aber doch sein. Clementi wollte erst noch seine nordische Heimat besuchen, dann in Breslau seine Anordnungen treffen, um noch im Herbst Sina in ihre neue Heimat zu holen.

»Ich werde Moritz in der Erlenau treffen,« sagte er beim Abschied zu Sina, »du schickst ihm wohl deinen Gruß und ich lade den alten Jungen für den folgenden Sommer auf das Gut ein. Da wird er eine unvergleichliche Tante finden, die ihm ein wonniges Leben auf der alten Erlenau bereiten und ihm das letzte Gefühl von Verstimmung über vereitelte Hoffnungen noch völlig benehmen wird, wenn noch ein Rest davon da sein sollte.«

Die Freundin Elsi nahm die Nachricht von Sinas Verlobung mit wahrer Begeisterung auf. »Wie manchmal habe ich es doch schon gesagt, Hans,« mußte sie ausrufen, »wenn doch nur die Sina nicht bei dem Studierzeug bleibt, es ist ja für alle Kinder schade, die auf die Welt kommen und nicht ihr gehören. Was wäre aus dir und mir und unsern Kindern und dem ganzen Haushalt geworden, wenn ich ihr nicht immer abgesehen hätte, wie alles gehen muß und wie die Kinder zu rechten Menschen gemacht werden können.«

Wenige Tage nach der Abreise des Professors langte Martha Halm im Forsthause an. Ihre Überraschung bei der Nachricht, die sie hier empfing, war groß, viel größer aber noch war ihre Freude über diese Vereinigung, denn die zwei Menschen, die Martha Halm auf Erden am meisten verehrte, waren Sina Normann und Professor Clementi.


Der Winter war schon lange eingezogen und hatte alle Höhen des Berglandes und alle Dächer der Stadt Breslau mit tiefem Schnee überdeckt. Sina saß bei der freundlich schimmernden Lampe und las einen Brief. Er war von Wilhelm. Nach den Nachrichten über die Kinder, das Haus, das mit schwerem Herzen wieder aufgenommene Stadtleben, hieß es weiter: »Ich hätte es nie glauben können, daß nach Deinem Verschwinden der Sonnenschein noch einmal in mein Haus kommen könnte, und doch ist es so, und sogar unsere düstere Stadtwohnung ist erhellt davon. Er ist uns freilich durch dich gekommen, in der Freundin, die du in unser Haus geführt hast. Es ist für mich ein Wunder, was sie aus meinen Kindern macht. Die verschlossene kleine Marie, die so schwer hatte sich an jemand anzuschließen und mit dem traurigen Ausdruck in ihrem Gesichtchen immer am liebsten sich hinter mich verkroch, hat Fräulein Halm völlig aufgeschlossen und dadurch so fröhlich gemacht, wie ich sie nie vorher gesehen habe. Wie ein offenes Sonnenblümchen sieht das Kind aus und schaut mit solcher Liebe nach der Sonne, die ihm das Herz aufgethan, daß es mir ganz wohl macht die beiden anzuschauen. Aber was noch wunderbarer ist, mit ihrer unvergleichlichen Güte und dem verständigen Verfahren dazu hat sie das kleine aufrührerische Ding von Sineli so gewonnen, daß das Kind thut was sie will und dazu den heitersten Sinn behält, so als thäte das Persönchen gerade was ihm am liebsten ist. Sogar die brave Marianne, die im Anfang etwas stachlich war, denn die Neuerung war nicht nach ihrem Sinn, hat deine Freundin durch ihre herzliche Freundlichkeit und auch durch ihre Tüchtigkeit in allen Punkten, völlig bezwungen und für sich gewonnen. Ich muß die Frauen bewundern: Sie können die Kinder fremder Leute so in ihre Herzen schließen und sich für sie abmühen und ihnen leben, als wären es die eigenen. Das muß der liebe Gott eigens in das Frauenherz gelegt haben, daß wenn die armen Kleinen das Herbste trifft, das ihr Leben treffen kann, der Verlust der Mutter, noch ein Trost für sie da sei. Welchen Wert solche mütterliche Bewachung und Fürsorge in den frühen Jahren für das ganze Leben hat, kann ich wohl beurteilen, der ich sie so bitter entbehrt habe.«

Jetzt ging die Thür auf und Professor Clementi trat ein. Sina legte den Brief weg und lief ihm entgegen. »Ich habe dir einen erfreulichen Brief zu lesen,« sagte sie, ihn zum Sofa hinführend, »aber erst setzest du dich zu mir und ruhest dich aus, mein Lieber, du siehst recht müde und angegriffen aus. Haben sie dich zu einem schweren Fall geholt?«

»Ja, sehr schwer,« bestätigte Clementi, »und das Schwerste ist mir, daß ich die junge Frau nicht retten kann. Der Mann sitzt neben ihr wie ein Verzweifelter und sieht mich mit stummem Flehen an, so als müßte ich helfen können; die drei Kleinen schliefen so harmlos nebenan. Wie wird das Erwachen für sie sein! Ich muß nach Mitternacht noch einmal nach der Kranken sehen. Bleibst du bei mir bis dahin?«

»Das kann keine Frage für dich sein,« sagte Sina, indem sie mit der Hand über die gefaltete Stirne strich.

Der müde Mann legte seinen Kopf auf ihre Schulter. »Sina,« sagte er und führte ihre Hand an seinen Mund, »ich weiß nicht, wie ich mein Leben ertragen konnte, bevor du bei mir warest.«

Sie küßte die Stirne, auf der die Falten sich leise lichteten.

Für Sina war zur Wirklichkeit geworden, was ihr in ihren Träumen als das Schönste vorgeschwebt: sie hatte die Macht, das Leben des Mannes zu erhellen, zu stützen, froh und reich zu machen, der seine Kräfte ohne Schonung zum Heil für so Viele anwandte. Daß der Weg, den sie gefunden und der sie so glücklich machte, ein Weg nach dem Herzen der seligen Großmutter war, wußte Sina und es war ihr ein besonders lieber Gedanke. Der Geist der Großmutter sollte auch in ihrem Hause walten, das war ihr inniger Wunsch. Ihr Mann theilte ihn, war es doch derselbe Geist, der in seiner ihm unvergeßlichen Mutter lebte.

Die alte Bibel aus der Großmutter Stube war auch nach der neuen Heimat mitgewandert und ein besonderes Zeichen blieb für immer auf dem Spruche liegen, den die Selige noch selbst bezeichnet hatte: »Bringe uns, Herr, wieder zu Dir, daß wir wieder heimkommen.«


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