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15. Kapitel.

Die sieben Wochen waren vorübergegangen. Die Vorsteherin der Schule hatte alle Mittel versucht, um Sina von ihrem Entschluß abzubringen, aber vergebens. Das Einzige, was die Dame erlangen konnte, war, daß Sina versprach, wenn bis zur Zeit der gewünschte Ersatz sich nicht sollte gefunden haben, sie noch bis zu Neujahr den Unterricht übernehmen wollte. Doch nahm sie sich vor, selbst nach einer geeigneten Persönlichkeit auszusehen, um nicht noch einmal zurückkehren zu müssen.

Sina war seit drei Tagen aus der Reise. Die letzte Bahnstation war erreicht. Sina hatte den Postwagen bestiegen, um die einsame Bergstraße hinanzufahren. Als es den letzten Höhen des Bergrückens zuging, stieg sie aus, hier war ja schon die Heimat, jeder kleine Fußpfad war ihr vertraut und voller Erinnerungen der Kindertage. Durch die altbekannten Wiesenwege hinauf wollte sie dem Vaterhause zugehen. Jetzt trat sie wieder aus dem Gehölz aus den freien Pfad hinaus. Dort oben stand das Haus am Waldsaum. Die Abendsonne schien auf die Tannenwipfel dahinter. Dort war das Fenster der Großmutter, fest verschlossen, die ganze Reihe der Fenster von den grünen Laden bedeckt, alles still und abgeschlossen. Aber wie, – nein, es konnte nicht sein – es war doch so – Sina sah noch einmal genau hin – ja, es war so: Im untern Stock, wo die Wohnzimmer waren, da stand alles offen, jetzt konnte sie es deutlich sehen, in eines der Fenster blitzte eben die Abendsonne. Wie konnte das sein? Sina setzte sich einen Augenblick am Wege nieder. Die Eindrücke drangen so auf sie ein, daß ihr die Kniee zitterten. Sie sagte sich: Von allen, die ich lieb hatte, wie wenige werde ich noch dort oben treffen! Die Großmutter lag lange schon unter dem Rasen an der Kirchhofmauer. Zwei Jahre waren es nun, seit der Vater unerwartet auf einer Reise gestorben war. Die beiden Brüder waren weit weg und blieben weg. Und – noch eine – Sina konnte es immer noch nicht recht fassen – die junge, blühende Marie sollte nicht mehr da sein. Vor etwas mehr als einem Jahre war sie durch ein verzehrendes Fieber mitten aus ihrem Glück dem Manne und ihren zwei kleinen Mädchen entrissen worden. Von allen Nahestehenden war einzig noch Elsi da, die treue Freundin der Kinderzeit. Mit dem Aufsteigen dieses Namens fiel nun auch Sina ein, daß die Fenster ihres Vaterhauses wohl von Elsi geöffnet seien, um das Haus zu lüften, denn ihr und ihrem Manne Hans waren die Schlüssel und die ganze Besorgung von Haus und Garten übergeben worden. Jetzt ertönte ein lauter Gesang von oben herunter. Es mußte jemand oben unter den alten Weidenbäumen sitzen, zwischen denen die kleine, hölzerne Bank halb verborgen stand. Es waren Kinderstimmen, die sangen. Sina lauschte wieder, die Melodie war ihr wohl bekannt, die Kinder sangen richtig. Nun konnte sie auch die Worte verstehen:

»Komm auch morgen wieder,
Denn wir sehn dich gern.«

Es war ihr eignes Lied. Ihr Lied, das sie vor vielen Jahren dort unter dem großen Apfelbaum gedichtet und mit Elise draus los gesungen hatte. Wer konnte das Lied kennen und singen?

Sina stand auf und ging den Weiden zu. Da saßen zwei Kinder auf der Bank, ein Mädchen und ein etwas kleinerer Junge, die hielten mitten in ihrem lauten Singen ein und starrten mit großen verwunderten Augen auf die nahende Fremde. Die glänzenden braunen Augen des kleinen Mädchens mit dem kecken Stülpnäschen erkannte Sina augenblicklich, das war Elsis Kind, es war ja die wahrhaftige Mutter, wie sie damals unter dem Apfelbaum aussah. Der Junge mit dem struppigen Flachshaar war ja der unverkennbare kleine Hans.

»Grüß Gott, Kinder, gebt mir die Hand,« sagte Sina bewegt, »wer hat Euch denn Euer Lied gelehrt? Wollt Ihr's noch einmal singen?«

»Die Mutter hat's uns gelehrt und sie singt es daheim immer mit uns,« antwortete die Kleine in der unerschrockenen Weise ihrer Mutter. Der Junge hatte sich ein wenig hinter die Schwester versteckt und hielt sich an ihrem Schürzchen fest.

»Komm hervor, wir müssen noch einmal singen,« sagte diese und zog den Bruder beschützend neben sich. Dann stimmte sie fest an und der Kleine fiel ganz richtig ein. Das war Elsis frische, sichere Stimme – Sina hörte zu wie im Traum. Wurde einmal noch alles um sie, wie es vor langen Jahren gewesen war?

Die Kinder halten fertig gesungen. Sina kehrte mit ihren Gedanken aus fernen Zeiten zurück; ihr war so gewesen, als ob nun gleich der Großmutter Stimme ertönen müßte, um die Enkelin heimzurufen. Aber die Stimme ertönte nicht und die Enkelin war in die Gegenwart zurückgekehrt.

»Du heißest doch Elsi, nicht?« frug sie jetzt die Kleine.

»Nein, nein, so heiß ich gar nicht,« wehrte diese, »Sina heiße ich, wie meine Gotte. Aber meiner Gotte sagt man Sina, aber die Mutter hat gesagt, weil ich doch nie ganz so sein könne, wie die Gotte, so müsse ich auch nicht ganz so heißen, nur Sini: Meine Gotte ist weit, weit fort und sie hat auch das Lied gemacht, darum singt es die Mutter immer mit uns. Und ich muß auch immer recht thun, sonst wenn meine Gotte auf einmal heimkommt und ich nicht recht gethan habe, so will sie mich nicht kennen und nicht mehr meine Gotte sein.«

»Dann will sie meine Gotte sein,« ergänzte der kleine Bube.

»Nein gar nicht, Fridli, was sagst du denn? Das hast du gerade jetzt in diesem Augenblick erfunden und kein Mensch hat es dir gesagt,« meisterte die Schwester den jüngern Bruder.

»Ja, aber sie hat eine Geschichte gemacht und darum heiß ich Fridli,« berichtete er weiter.

»Ja, aber du sagst es gar nicht recht,« berichtigte wieder die Schwester. »Meine Gotte hat eine schöne Geschichte gewußt vom feurigen Eisenhammer und vom guten Fridolin und darum heißt er Fridli und die Mutter hat gesagt, kein Mensch könne eine Geschichte so schön erzählen, wie meine Gotte es kann.«

»Kommt, Kinder, wir gehen miteinander zur Mutter, ich will auch zu ihr,« sagte Sina, an jede Hand eines der Kinder nehmend. Sie hatte sich gedacht, fremd und einsam würde sie vor ihrem Vaterhause stehen und nun empfing sie ein so lebendiges Andenken an ihren Namen. In alter Treue hatte Elsi an ihr festgehalten und ihre Anhänglichkeit auf ihre Kinder verpflanzt. Vor allem andern wollte Sina die treue, alte Freundin sehen. Kaum war sie, die beiden Kinder zur Seite, in Sicht des Bauernhauses gekommen, das am Hügel stand, als Elsi heraus und ihr entgegenstürzte.

»Sina, Sina, ist's auch möglich? Bist du's auch sicher?« und außer sich vor Freude warf Elsi sich an Sinas Hals. Einmal ums andere noch mußte sie ausrufen: »Bist du's denn auch, Sina, bist du's auch sicher?« und vor Freude weinte Elsi, und lachte in Einem Atemzug. Jetzt zupfte die kleine Sini den Bruder am Ärmel und sagte ganz leise:

»Es ist die Gotte! Sieh, sieh, es ist die Gotte.«

Aber Fridli, der bis jetzt stumm die aufgeregte Mutter angestarrt hatte, gab der Schwester einen ungläubigen Stoß zurück, denn das war ihm nicht wahrscheinlich. Er hatte durch alles was die Mutter je und je von der Gotte erzählt hatte, einen solch ungeheuren Eindruck von dieser Persönlichkeit empfangen, daß er dachte, sie sei so groß und gewaltig, daß sie weit über alles andere Lebendige hinausragen müsse und die Frau vor ihm war nicht viel höher als die Mutter.

»Hol den Vater, Sini, aber schnell, er soll auf der Stelle hereinkommen,« befahl Elsi.

Aber die Kleine hatte ihren eigenen Kopf. Sie drängte sich erst an die Mutter heran und fragte ganz leise: »Ist es die Gotte?«

»Ja, ja, natürlich,« bestätigte die Mutter eifrig, »ich habe geglaubt, du kennest sie schon. Ich muß den Hans holen, was wird der sagen!« Und Elsi war schon zur Stube hinaus. Als Hans eintrat gab es ein neues, ungeheures Händedrücken. Worte machte der Hans immer noch wenige, aber er schaute mit seinen ehrlichen Augen so aufrichtig erfreut in Sinas Gesicht, daß es sie mehr freuen mußte, als viele Worte hätten thun können. Endlich kam es denn auch an die Kinder und das Patenkind Sini wurde der Patin nun regelrecht vorgestellt und dann kam Fridli an die Reihe, der seine erstaunten Augen immer noch weiter aufsperrte, und Elsi sagte in überströmender Liebe:

»Es kommt alles von dir her, Sina, schon die Namen, du weißt wohl, unsere Geschichte vom Eisenhammer und dem frommen Fridolin, und alles, was sie können und wissen, kommt von dir, ich habe ja alles von dir bekommen, was nur an mir ist. Aber daß du wieder da bist, Sina! Es ist eine Freude, die ich fast nicht glauben kann!« Und nun rannte Elsi geschäftig an den Schrank und wollte ein Abendessen rüsten. Aber Sina hielt sie zurück:

»Vor allem muß ich nun wissen, was drüben in meinem Vaterhause vorgeht, wo ich gleich hinzugehen gedenke. Es kann ja niemand da sein und doch stehen alle Fenster offen, hast du zum Lüften geöffnet, Elfi?«

»Ach das weißt du ja noch gar nicht, natürlich nicht,« entgegnete diese lebhaft, »da ist Wilhelm eingezogen für den Sommer mit seinen zwei Kindern. Er hat den untern Stock gemietet. Dein Bruder schrieb auf die Anfrage, er soll nur den ganzen untern Stock nehmen, wenn du etwa heimkommest, nehmest du doch den obern und du wolltest jedenfalls nicht, daß jemand in die Stube der Großmutter und in dein Zimmer käme. Der arme Wilhelm ist schrecklich traurig, er sagt fast gar nichts und die zwei Kinder dauern mich so, ich kann sie fast nicht ansehen. Die alte Marianne ist noch bei ihm. Ach es war so furchtbar traurig, daß Marie so früh von ihnen weg mußte! Ihre Mutter hat sie nicht lange überlebt, das weißt du, denk ich, schon, und auch der Herr Pfarrer ist ganz alt geworden darüber.

Sina war erstaunt und erschrocken. Nun sollte sie drüben mit Wilhelm zusammenkommen, zum erstenmal, seit sie vor bald sieben Jahren sich getrennt hatten. Aber nicht lange blieb sie im Zweifel, wie sie ihm entgegengehen sollte. Er hatte einen großen Schmerz zu tragen und stand einsam da mit seinen zwei mutterlosen Kindern. Sie wollte in aller Einfachheit zu ihm hinübergehen und ihm für die Zeit, die sie neben ihm zubringen würde, schwesterliche Hilfe und Gesellschaft für ihn selbst und für die Kinder anbieten.

Es wurde Sina nicht leicht, so schnell von den alten Freunden wegzukommen, aber sie bewies Elsi, daß noch eine Menge von Geschäften abzuthun wären, bevor sie sich nur irgendwie drüben einmal eingerichtet hätte, vorerst nur zu einem Nachtlager. Das begriff denn Elsi und auch, daß Sina heute noch mit Wilhelm sprechen und sich mit ihm über ihr Zusammenwohnen auseinandersetzen wollte.

Da er nun mit seiner Magd im Hause wohnte, hatte Sina ihren Gedanken fallen lassen, sich durch Elsi noch heute irgend ein junges Mädchen aus dem Dorf besorgen zu lassen, das bei ihr im Hause bleiben sollte. In der alten Marianne, die schon im Pfarrhaus als Magd gedient hatte, als Sina noch zu Hause war, traf sie ja auch eine alte Bekannte, mit der sie sich wohl zu verstehen hoffte. Elsi begleitete die Freundin hinüber, wollte dann aber noch das sichere Versprechen haben, daß Sina gleich am andern Tag und jeden folgenden Tag ein- oder zweimal zu einem kleinen Besuch zu ihr herüberkomme.

Sina trat erst in den Garten ein. Die Mainelken waren verblüht, aber der Lindenbaum, der mitten drin stand, säuselte lieblich über die Blumenbeete hin. Die Vogeleschen an der Hecke standen hoch und frisch wie ehemals und die Beeren darauf fingen sich schon leise zu röten an. Es war die Heimat, so wie sie immer gewesen war, nur Eines fehlte, die Stimme der guten Großmutter wollte nicht mehr aus dem Fenster ertönen und nach Sina rufen. Jetzt hörte Sina Kinderstimmen von der Stelle herauftönen, wo unter den Vogeleschen die hölzerne Bank stand, die alte, liebe Bank, wo alle schönen Kinderspiele ausgeführt worden waren mit der sanften Marie und der immer heitern Elsi. Sina stieg die Stufen zu der Bank nieder. Zwei kleine Mädchen saßen darauf, die sehr beschäftigt schienen und laut vor sich hin sprachen, jedes für sich, oder wohl zu der Puppe, die es aus dem Schoß hielt. Sina mußte nicht fragen, wem die Kinder gehörten, beide trugen die Züge der Mutter, nur mit einem ganz verschiedenen Ausdruck. Sie waren auch in verschiedener Weise beschäftigt: die ältere Schwester hatte ihre Puppe mit liebevoller Sorgfalt ausgezogen und in das schön geordnete Bettchen gelegt, auf das sie nun ganz behutsam die Decke ausbreitete und auf allen Seiten festmachte, damit das Kindchen von keiner Luft berührt werde. Die kleine Schwester war unterdessen emsig bemüht, der Puppe, die querüber auf ihrem Schoß lag, einen Fuß noch völlig abzudrehen, der wohl durch vielerlei nicht eben sehr sorgfältige Behandlung schon halb abgerissen war. Die Arbeit war ziemlich mühsam und die Kleine hob eben das erhitzte Köpfchen auf, um eine Pause zu machen. Ihr Blick traf auf Sina, die aus einer kleinen Entfernung die Kinder betrachtete.

»Der Papa ist ins Haus hineingegangen, du kannst schon zu ihm,« sagte die Kleine ermunternd, so als denke sie, die Fremde stehe da, weil sie nicht wage, weiterzugehen. »Aber du mußt an seiner Thür klopfen, die Marianne gibt dir keinen Bescheid, sie holt Bohnen. Dort kannst du sie sehen, im kleinen Acker. Morgen haben wir Bohnen zu Mittag.«

»So, da freust du dich wohl drauf?« sagte Sina, nun herzutretend. »Willst du mir nun auch den Weg zu deines Vaters Thür zeigen, liebes Kind, und das Schwesterchen kommt wohl auch mit uns?«

Die ältere Schwester hatte sich schüchtern hinter die Esche zurückgezogen mit ihrem Kinderbettchen, während die jüngere sich so keck an die Fremde gewandt hatte.

»Komm nur mit, Marie, sie thut uns nichts,« beruhigte die Kleine ihre zögernde Schwester, indem sie selbst von der Bank heruntersprang, die Puppe mit dem halb abgerissenen Fuß auf den Rasen warf und Sinas Hand ergriff, um sie zu geleiten.

»Komm mit uns, Marie,« sagte Sina, sich dem Kinde nähernd und es freundlich bei der Hand nehmend. »Ja, du mußt Marie heißen, das kann nicht anders sein; und wie heißest denn du, Kleine?«

»Sineli heiß ich,« kam rasch heraus, »von der Tante Sina her, die weit fort ist, und wenn sie einmal heimkommt, dann machen wir ein großes Fest, das hat der Papa gesagt.«

Sina war mit den Kindern die steinernen Stufen vor dem Hause hinaufgestiegen und durch die offene Thüre in den Korridor eingetreten. Eben öffnete sich das gegenüberliegende Zimmer und Wilhelm erschien auf der Schwelle. Er blieb wie angewurzelt stehen und blickte auf die Erscheinung vor ihm, Sina, an jeder Hand eines seiner Kinder.

»Papa, sie will zu dir,« berichtete Sineli jetzt, ihre neue Bekannte rascher heranziehend.

Nun streckte Wilhelm ihr seine Hände entgegen: »Ist es wirklich wahr? Sina – Fräulein Normann« – seine Stimme war sehr bewegt.

Sina ergriff seine Hand. »Nein, Wilhelm, wir sind zu alte Freunde, wir wollen uns nicht wie Fremde begrüßen,« sagte sie herzlich. »Grüß Gott, Wilhelm, in meinem Vaterhaus, mit den Kindlein unserer Marie! Ich mußte nicht fragen, wem diese Kinder gehören, sie haben beide ihre blauen Augen, die ältere ist auch in jeder Bewegung unsere Marie, die Kleine freilich ist anders.«

»Ich habe schon oft gedacht, die hat mehr von der Tante Sina als nur den Namen,« sagte Wilhelm lächelnd, indem er am angrenzenden Zimmer die Thür aufmachte, »aber nun wollen wir doch in die alte Stube eintreten. Zum letztenmal sahen wir uns da mit der lieben Großmutter zusammen.«

Sineli hatte sich von der Hand ihrer Begleiterin längst losgemacht und rastlos am Vater gezupft, seit er die Fremde begrüßt hatte. Jetzt konnte die Kleine endlich zum Wort kommen.

»Papa, heißt sie nur sonst Sina, oder ist es etwa Tante Sina?« frug sie halblaut ganz angelegentlich.

»Ja, ja, Tante Sina ist's, das muß ich Euch ja sagen, Kinder! Grüßt Tante Sina!«

Jetzt schoß Sineli auf sie los: »O das ist gut, daß du einmal gekommen bist, Tante Sina, jetzt wollen wir gleich das große Fest feiern!«

»Ich glaube, jetzt wird gleich das Fest des Bettgehens folgen,« meinte der Papa; »da kommt ja schon die Marianne, Euch zu holen.«

Die eintretende Marianne stutzte einen Augenblick, dann lief sie aus Sina zu, drückte ihr die Hände und rief einmal ums andere: »Wer hätte das gedacht! Wer hätte das erwartet! Ach, wenn sie doch noch da wäre! Wie hätte sie sich gefreut! Ach, wenn ich noch daran denke, wie's im Pfarrhaus war, wenn Sie kamen und waren noch ein kleines Ding, wie unser Sineli, und unser Marieli von damals sprang vor Freude in alle Ecken, wie sonst nie und holte alles Spielzeug heraus. Und dann kam ich mit den Äpfeln und den Rosinen und die beiden Kinder zu sehen so voller Freude! Und dann so bald, so bald!« Jetzt bedeckte Marianne ihr Gesicht mit der Schürze und schluchzte dahinter.

Sina hatte große Freude, die wackere Marianne wiederzusehen, mit deren Erscheinung so manches Andenken an die entschwundenen Kindertage vor ihr auftauchte, auch manche, nicht unbegründete Beängstigung, die ihr diese Persönlichkeit eingeflößt hatte. Da war so oft irgend ein Streich verübt worden, zu dem Sina die nachgebende Marie verlockt hatte, der jeden Augenblick von der Marianne entdeckt werden konnte, und dann hingen die Strafbaren von ihrer Gnade ab, denn die Marianne war eine große Macht im Pfarrhaus. Nachdem sie sich von der ersten Überraschung und den Gefühlen, die sie dabei übermannt hatten, erholt, erklärte Marianne gleich, sie werde alles besorgen, was für Sina nötig sei, sie habe Zeit und sie würde nicht leiden, daß jemand anders die alte Freundin des Pfarrhauses bedienen sollte.

Als Marianne endlich mit den Kindern verschwunden war, nicht ohne daß Sineli noch das Versprechen errungen hatte, morgen werde das große Fest stattfinden und am Abend werde Tante Sina die Kinder zu Bette bringen, setzten sich Wilhelm und Sina zusammen, wie in alter Zeit und begannen einander ihre Erlebnisse mitzuteilen, von der Zeit an, da Sina ihr Vaterhaus verlassen hatte. Vor allem wünschte sie nun, Wilhelm möchte ihr noch von seiner Marie und den letzten Jahren erzählen, in denen Sina nur spärliche Nachrichten zugekommen waren, wie sie selbst auch der Freundin nur wenig von ihrem Leben mitgeteilt hatte.

Auf diesen Wunsch antwortete Wilhelm bewegt: »Ach Sina, es ist so schnell gesagt: ›Seine Frau ist ihm gestorben‹, aber alles, was damit zusammenhängt, die Leiden vorher, die Leere und die schweren Gedanken nachher, das ist eine lange und thränenreiche Geschichte, heute wollen wir noch nicht davon reden. Einmal erzähle ich Ihnen dann alles.«

Sina sah, wie sich die guten Augen des Freundes mit Thränen füllten. Sie wollte gern auf die Mitteilungen warten und ging nun zu ihren eigenen Angelegenheiten über, indem sie Wilhelm ihre Pläne auseinandersetzte. Sie wollte bis zum September jedenfalls dableiben, dann nach Deutschland, wo sie nun viele und erfreuliche Beziehungen hatte, zurückkehren. Für einmal gedachte sie, trotz der Vorschläge der Marianne, ein junges Mädchen zu sich zu nehmen, das ihr während der Zeit ihres Aufenthaltes im Vaterhaus die kleine Wirtschaft besorgen könnte.

Davon wollte nun Wilhelm nichts wissen, Marianne würde aufs tiefste beleidigt, meinte er, wenn sie nicht besorgen dürfte, was Sina wünschte, Zeit hätte sie ja wohl für die beiden kleinen Wirtschaften. »Freilich, Sina, wenn ich sagen dürfte, was ich gleich hoffte,« fuhr er etwas schüchtern fort, »so möchte ich vorschlagen, gemeinsame Wirtschaft für die Zeit Ihrer Anwesenheit hier zu machen. Sie wären ja doch auch sehr allein in den Räumen, wo Sie gewohnt waren, immerfort mit der guten Großmutter zusammen zu sein. Es könnte Ihnen auch manchmal schwer werden. Aber ich weiß schon, ich rede doch nur aus Eigennutz, was wäre es auch für ein Gewinn für mich und meine Kinder und welch eine immerwährende Freude, Sie so beständig bei uns zu haben!«

Sina sann eine kleine Weile nach, dann sagte sie: »Ich würde mich auch freuen, mit Ihnen und den Kindern unserer Marie so zusammen zu leben und es wäre mir eine große Befriedigung, wirklich etwas für Sie und die Kinder sein und thun zu können. Ich will Ihren Vorschlag annehmen, aber ich habe dabei auch einen Wunsch, Wilhelm, Sie werden mich gewiß verstehen. Ich wünsche, daß wir uns dann wieder du nennen, so wie in alter Zeit, so daß das geschwisterliche Gefühl zwischen uns wieder recht aufkommen kann und daß auch alle, die um uns sind, verstehen, daß wir uns Bruder und Schwester sind.«

Wilhelm hatte erst mit einigem Erstaunen Sina angeblickt, nun ergriff er ihre Hand und sagte in alter Herzlichkeit: »Ich danke dir tausendmal! Du weißt alle Wege zu ebnen, wie immer. So bist du wieder die nahe Freundin Sina für mich, wie in alter Zeit! Kein Bruder könnte dich werter halten und dir dankbarer sein, als ich dir's bin, Sina.«

Wilhelm war völlig aufgethaut. Er konnte nicht aufhören, Sina zu danken, daß sie seinen Vorschlag angenommen hatte und ihr zu sagen, wie wohl er wisse, welch ein Segen es für sein Haus, für seine Kinder sei, daß sie mit ihnen bleiben und leben wolle, wenn auch nur eine Zeit lang. Nun würde so vieles anders werden, das ihm schwer machte und das er nicht zu ändern im Stande sei, nun müßte alles gut werden.

Sina konnte mit keiner Einwendung die sichern Hoffnungen für sein Haus stören, die den Freund durch ihr Dableiben so erfüllten und beglückten, daß er Sina am Ende des Abends ganz verjüngt vorkam. Die alten Freunde trennten sich endlich in großer Herzlichkeit und Sina stieg nach ihrem alten Kämmerchen hinauf. Sie stellte sich ans Fenster und schaute auf die stille Landschaft hinaus. Wie anders hatte sie sich ihre Ankunft in der vereinsamten Heimat vorgestellt! Mit welcher Liebe war sie empfangen worden, wie lebendig hatten die alten Freunde ihr Andenken bewahrt! Sie war beschämt und gerührt. Das alte Leben in der Heimat war ihr so ganz entschwunden gewesen, wenn sie noch daran zurückgeblickt hatte, so war es wie auf ein für immer vergangenes und erloschenes Gut. Jetzt wehte ihr so heimatlich die alte, warm erhaltene Liebe aus der Kinderzeit entgegen! Sie wollte auch für Wilhelm und seine Kinder eine rechte Tante sein und für sie thun, was in ihren Kräften lag. Auch für die anhängliche Elsi und ihre Kinder wollte sie sich nützlich machen. Die Freunde sollten nicht umsonst ihr solches Zutrauen bewahrt haben. Aber trotz der wohlthuenden Eindrücke des Tages war Sina im Grunde des Herzens voller Traurigkeit und diese stieg mehr und mehr empor und verdrängte alle andern Gedanken. Hier hatte die Großmutter allein ihre letzten Tage verlebt und vergebens nach der Enkelin verlangt, die fortgegangen war, sich eine Thätigkeit zu suchen, da diejenige, die vor ihr lag, ihr zu nichtig erschien. Wie sah Sina jetzt alles anders an! O, daß die Großmutter noch lebte, wie wollte sie so gern mit ihr all den Hilflosen und Bedürftigen nachgehen, die der Großmutter so sehr am Herzen lagen, deren Verlassensein ihr wohl noch in ihrem Scheiden schwer gemacht hatte. Sinas letzter Gedanke des Tages, der ihr bis in den Traum hinein nachging, war die schmerzliche Erinnerung: Hier hatte die Großmutter allein ihre vielen Sorgen um andere getragen, allein hatte sie sich freuen müssen und so allein war sie gestorben!


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