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10. Kapitel.

Am nächsten Tag kam Moritz Clementi mit ungeheuren Schritten Sina nachgelaufen, um sie einzuholen.

»Sie gleiten davon wie ein Wiesel,« sagte er außer Atem, nun er neben ihr herschritt, »fast wäre mir ein Unglück passiert in meiner Eile, Ihnen nachzukommen: Ein Schritt noch und ich hätte Fräulein Valevsky umgerannt. Da geht sie stocksteif mitten über den Weg, wie ich im vollen Lauf daherkomme, einen Anprall setzte es natürlich ab. Und jetzt eben sieht sie uns nach, als wären wir zwei zweifelhafte Existenzen und sie ein kundiger Detektive, sehen Sie sich doch einmal um, Fräulein!«

»Überlassen wir sie ruhig ihren Betrachtungen,« entgegnete Sina und ging weiter, ohne sich umzusehen. »Sie haben es heute eiliger, als gewöhnlich,« setzte sie nach einer Weile hinzu, als ihr Begleiter immer noch längere Schritte machte.

»Ich muß gehen, meinen Onkel zu begrüßen, der von einer Reise zurückgekehrt ist und mich erwartet,« berichtete Clementi. »Wenn Sie mal so weit sind, Fräulein, daß Sie in seine Klinik kommen, da werden Sie Ihre Freude an dem Manne haben. Das ist ein Mann für Sie, das weiß ich! Was suchen Sie denn dort in der Hecke? Sie werden doch nicht denken, daß Sie im Dezember Veilchen finden?«

Sina hatte sich abgewandt und ihr Gesicht auf die Hecke gebeugt, sie fühlte, wie die Glut ihr in die Wangen gestiegen war. Tief hinein durchforschte sie die dürren Reiser der Weißdornhecke.

»Ich höre schon, fahren Sie nur fort,« sagte sie mit einer erzwungenen festen Stimme. »Warum sollte Ihr Onkel gerade mir solche Freude machen?«

»Nicht nur Ihnen, aber Ihnen gewiß noch besonders, fein Wesen ist darnach,« fuhr Clementi eifrig fort. »Seine Studenten verehren ihn alle, nicht einen der andern Professoren so wie ihn, lange nicht. Er verdient es auch, in jeder Richtung ist er ein vorzüglicher Mensch, Mensch, an Gaben, an Wissen, an Herz, an Charakter. Habe ich nun nicht recht, wenn ich sage: Das ist ein Mann für Sie? Wissen Sie das alles nicht sehr zu schätzen? Sind Sie es nicht, die in den Menschen immer alle Gaben vereint sehen möchte? Sie werden erfahren, daß ich nicht übertreibe, es gibt nicht viele Menschen, die sind wie mein Onkel.«

Sina ging nun wieder neben ihrem Gefährten her. »Ist Ihr Onkel hier an der Universität? Wie heißt er denn? Tragen Sie denselben Namen?« frug sie nun so unbefangen, als es ihr möglich war.

»Ja wohl, hier an der chirurgischen Klinik steht mein Onkel, Professor Clementi, daß Sie diesen Namen noch nie gehört haben, nimmt mich wunder,« sagte der Neffe harmlos.

»Hat denn Professor Clementi einen Bruder?« Die Frage war Sina unwillkürlich mit dem Ton der Verwunderung entfahren: Sie wollte schnell etwas hinzusetzen, um sie zu ändern, aber Clementi hörte es nicht, er hatte laut aufgelacht.

»Warum sollte denn mein Onkel keinen Bruder haben können? Das ist doch nichts besonderes? Übrigens war mein Vater wirklich nicht der Bruder, nur ein Vetter des Professors. Aber wir hatten das Gefühl der allernächsten Verwandtschaft zu den Clementis auf der Erlenau, dem Gut der Tante, das uns immer wie eine Heimat war. Mein Vater war Prediger des Dorfes, zu dem die Erlenau gehört, so wohnten wir nur eine halbe Stunde von dem Gut entfernt. Der Onkel und mein Vater waren ganz wie Brüder, meine Mutter war wie eine Schwester des Onkels und die selige Tante war die Mutter von allen. Die hätten Sie kennen müssen! War das eine liebe, herrliche Tante! Immer frisch, immer froh, und welch ein Herz und Verständnis für alle jugendlichen Kümmernisse! Ihr Haus war wie kein anderes, jedem war's wohl da und wie manchem hat sie wieder auf die Füße geholfen, wenn er umkippen wollte! In jeder Verlegenheit liefen sie alle zu ihr, das weiß ich von meinen Freunden. Wie war sie doch liebenswürdig in ihrem unzerstörbar guten Humor! Es war der helle Sonnenschein, wo sie hinkam. Ich kann's wohl begreifen, daß der Onkel so vernichtet heimkehrte von ihrem Sterbebette, sie starb in den Bergen droben.«

»Wohnen Sie denn nicht bei Ihrem Onkel? Wie einsam muß es jetzt in seinem Hause sein! Wer ist denn nun für ihn da?« Sina hielt plötzlich inne, sie hatte unversehens aus dem vollen Drang ihres Herzens gesprochen, jetzt erschrack sie selbst über den Ton ihrer Stimme.

Dem jungen Freund gefiel das warme Interesse, das er mit seiner Schilderung für seinen Onkel erweckt hatte, wie er sich denken mußte. »Wenn Sie nur schon zu seinen Studenten gehörten, dann wüßten Sie, daß ich Ihnen nicht zuviel von dem Manne gesagt habe. Gewiß, er ist es wert, daß man den herzlichsten Anteil an seinem Leben nehme. Nein, ich wohne nicht bei ihm,« fuhr Clementi fort, »der Onkel hat es selbst so bestimmt, er weiß so gut, wie solches sein muß. Er sagt, ein Student muß seine Freiheit haben, aber ein heimisches Haus dazu. Das bot er mir. Ich war oft da, solange die Tante lebte. Sie hat nur zwei Jahre mit ihm hier zugebracht, er kam eigentlich um ihrer Gesundheit willen hieher. Mein Onkel hätte wohl sonst den Ruf an diese Universität nicht angenommen, er hatte dafür eine vorzügliche Stellung aufgegeben nahe an seiner Heimat. Ich für mich glaube zwar nicht daran, daß es der Tante um ihre Gesundheit zu thun war, als sie den Onkel beredete, den Ruf anzunehmen; es war etwas anderes im Hintergrund. Der Onkel hatte eine Pflegeschwester, das heißt, sie war ein Pflegekind der Tante und er hatte das Mädchen sehr lieb, vielleicht etwas mehr, als man gewöhnlich Schwestern liebt. Das weiß ich nun zwar nicht so sicher, ich habe mir's so ausgedacht, weil der Onkel so lange nicht ans Freien denkt. Da, ungefähr vor drei Jahren, wurde sie krank. Mein Onkel pflegte sie Tag und Nacht, als wäre er Arzt und Diakonissin zu gleicher Zeit. Aber sie starb und er war so niedergeschlagen nachher, wie ich nie gedacht hätte, daß er sein könnte. Aber er hatte seine Mutter, die ließ ihn nicht verdorren. Sie drang in ihn, den Ruf hieher anzunehmen. Sie wollte, daß er in einen neuen Boden versetzt werde, damit nicht überall die Erinnerungen an das Geschehene vor ihm auftauchen würden, und daß er wieder frisch keimen und aufleben könne. Erst wollte er nicht fort, da fing die Tante von ihrer Gesundheit zu sprechen an, wie wohl sie sich aus ihren Reisen in der Schweiz immer befunden habe und sagte ihm, sie wollte gern mit ihm ziehen. Die Erlenau konnten sie gut verlassen, da war schon das Jahr vorher meine Mutter nach dem Tode meines Vaters eingezogen, ich war damals auf der Schule in Lübeck. Da entschloß sich denn mein Onkel und zog hieher und nun muß ihn der allerschwerste Schlag treffen, der ihn überhaupt treffen konnte, und da steht er nun ganz allein und hat sein Leid in sich hineinzudrängen. Er kommt eben jetzt aus Holstein zurück, wo er hinmußte, um die Sachen der seligen Tante zu ordnen. Dort hatte er doch noch meine Mutter, aber nun hier in sein verlassenes Haus zurückzukommen, muß ihm schrecklich sein! Wen trifft er auch da! Da ist die alte Frau Holle – sie heißt eigentlich anders, aber wir Kinder nannten sie immer so, weil wir dachten, so müßte die ächte, alte Holle ausgesehen haben. Die Alte mußte gegen achtzig Jahre alt sein, denn sie hat schon bei den Eltern der Tante auf der Erlenau die Wirtschaft geführt und erhielt bei der Tante das Gnadenbrot. Dann ist der Diener des Onkels da, den er auch aus lauter Pietät behält, denn auch der ist schon länger in der Familie als ich mich erinnern kann, ist halb lahm und ein knurriger Kauz dazu. Dann ist noch eine junge Person da im weißen Schürzchen, ich glaube die macht die Betten und so was und wird Rosette genannt, und dann ist noch die Küchenmagd, das ist was nun den Onkel umgibt.«

»Aber nun wird doch Ihre Mutter zu ihm kommen, das ist ja durchaus nötig, das sehen Sie selbst ein und müssen es wünschen,« fiel Sina hier lebhaft ein.

»Nein, nein, das geht nicht, meine Mutter könnte gar nicht leben so weit von der Heimat weg, und dann muß jemand auf der Erlenau sein und da regieren. Ich hoffe nicht, daß der Onkel sie etwa verkaufen will. Nein, nein, das könnte er nie thun! Es ist keines der großen Güter, die Erlenau ist ein kleines Gut, gerade so, wie sie viel Freude machen und wenig Mühe geben, ein wahres Kleinod! Aber ich muß mich empfehlen, ich habe schon viel zu lang geschwatzt; Ihr lebhaftes Interesse an meinem Gegenstand ist schuld daran.«

Clementi verbeugte sich eilig und ging die Straße hinab.

In Sina wogten so viele unruhige Gedanken auf und nieder, daß sie sich nur gezwungen zu ihren Büchern niedersetzte. Sie wußte, die Worte würden nicht haften wollen bei ihr und hatte auch gar keine Lust, jetzt sich die Dinge anzueignen. Aber es mußte doch sein, es mußte gearbeitet werden und tüchtig, das wußte sie. Ohne recht dabei zu sein ging es nicht, das wußte sie auch, und es ging ja einem Examen entgegen. Sie setzte sich an ihren Tisch hin und schlug ihr Buch auf. »Und den edeln Menschen, der allen hilft und für alle ein Herz hat, den lassen sie nun so allein und niemand denkt an ihn,« gingen ihre Gedanken weiter, – »die Dame, der er eine schöne Heimat bereitet hat, sitzt lieber darin fest, als daß sie herkäme, ihm wohlzuthun, ihm sein Haus wieder freundlich und wohnlich zu machen, daß er gern darin eintrete, wenn er von seiner Arbeit kommt, die ihm oft genug zu den müden Gliedern noch ein schweres Herz machen muß.« Dann stieg plötzlich ein neuer Gedanke in ihr auf, den sie verfolgte. Nun hatte sie so lange den Neffen von seinem Onkel erzählen lassen und hatte mit keinem Worte angedeutet, daß sie diesen kenne. Das war doch recht verkehrt von ihr, warum hatte sie es nur unterlassen? Der junge Clementi hatte sie so überrascht, als er plötzlich den Namen des Onkels nannte und von dem zu reden begann, der sich so fest in ihrem Herzen gesetzt hatte, als gehörte er dahin. Sie hatte sich abwenden müssen, ihr war, als könnte der junge Mensch aus ihrem Gesichte alles lesen, was in ihr vorging. Dann hatte sie mit der größten Spannung zugehört, aber es war kein Grund da, selbst zu sprechen, und es wäre immer auffallender geworden, meinte sie, nun erst zu sagen, sie kenne den Mann schon. Die Worte wollten ihr auch nicht von den Lippen. Nun konnte sie doch nicht hintendrein ihrem Freunde noch sagen, daß sie den Onkel einmal getroffen hätte, es müßte ja den jungen Menschen zu sonderbaren Schlüssen bringen. Sie mußte zu schweigen fortfahren. Wenn aber der Neffe zufällig ihren Namen nennen würde, und der Onkel würde einfach sagen, daß er sie kenne, wie dann? Es war zu einfältig von ihr, wie sie sich benommen hatte, so unbeholfen und befangen war sie in ihrem Leben nie gewesen, sie ärgerte sich schwer über ihre unfreiwillige Zurückhaltung. Zu thun war nun für einmal nichts mehr, denn jede Erklärung mußte die Sache nur noch ausfallender machen. Sollte der junge Clementi erfahren, daß sie den Onkel kannte, und davon sprechen, so würde sich dann wohl irgend ein Ausweg finden, um die Sache so harmlos als möglich verlaufen zu lassen.

Unterdessen war Moritz Clementi eiligen Schrittes dem Hause seines Onkels zugelaufen. Er hatte nicht das beste Gewissen. Der Onkel hatte ihn auf drei Uhr erwartet, eben schlug es vier auf dem Turm. Professor Clementi trat rasch aus seiner Thür in dem Augenblick, da sein Neffe in Eile darauf losgeschritten kam.

»Na, Junge, grüß Gott!« sagte der Onkel, seine Hand ausstreckend, »wie viele Stunden glaubst du, daß ich zur Verfügung habe, auf dich zu warten? Gleich nach Drei sagtest du, da sieh« – der Professor hielt seine Uhr hin. »Es bleibt mir keine Minute mehr. Komm' diesen Abend und speise mit mir, vorher ist's nichts mehr.«

Moritz wollte sich entschuldigen und erklären, wie er sich vergessen habe, aber der Onkel winkte abwehrend mit der Hand. »Laß nur gut sein, am Abend das weitere,« dann war er schon um die Ecke herum.

Ein wenig beschämt trat der Neffe den Rückzug an, nicht ohne Bewußtsein den Weg wählend, der an Sinas Wohnung vorüberführte, denselben, auf dem er soeben mit seiner Freundin eine gute Weile hin- und hergegangen war, um das Gespräch zu Ende zu führen. »Es ist wahr, ich hätte ihn nicht warten lassen sollen, er braucht seine Zeit, aber an meiner Stelle wäre noch manchem dasselbe begegnet, und dem Onkel selbst nicht zuletzt.« So schloß Moritz Clementi seine Betrachtungen über den verfehlten Besuch.

Am Abend, als der junge Clementi am Tische seines Onkels saß, fand er in diesem den liebenswürdigsten Wirt und Gesellschafter. Er war in der besten Stimmung, so heiter, wie ihn Moritz seit dem Tode der Mutter noch nicht wieder gesehen hatte. Der Neffe erhielt eingehende Nachricht von seiner Mutter, wie wohl sich diese auf der Erlenau fühle, wie prächtig sie das Gut regiere und die Landwirtschaft verstehe, so daß von den Herrn Verwaltern der Nachbarschaft nicht selten einer und der andere bei ihr anklopfen, um sich ihren Rat zu holen. Sie hätte auch ein so feines Gefühl für Nutzen und Schaden all' ihrer Pflanzungen von kleinauf, daß unter ihren Händen alles gedeihe, als hätte sie eine besondere Sonne und besondern Regen auf ihrem Gut, wie die Nachbarn sagten.

»Sie geht auch mit jedem Birnbäumchen und jedem Erbsenbusch so liebevoll um, als wären es ihre eigenen Kinder,« schloß der Onkel, »da ist es kein Wunder, wenn sie ihr grünen und blühen wie keinem andern ringsumher. Deine Mutter könnte auch nirgendsmehr ihres Lebens froh werden, als auf der Erlenau, wo sie mit jedem Blatt zusammengewachsen ist, wie sie selbst sagt. Sie soll auch da bleiben, das Gut wird behalten und wir beide gehen zusammen hin in die Ferien und freuen uns der alten Erinnerungen, was meinst du, Junge?«

Moritz war völlig entzückt über die Nachricht, daß die Erlenau nicht in fremde Hände komme, daß seine Mutter die beglückende Heimat behalte, und vor allem, daß der Onkel wieder so lebensfroh war, so mitteilsam und liebenswürdig, wie er ihn noch kaum gesehen hatte. In der lebhaftesten Weise sprach der Neffe dem Onkel seine übergroße Freude an all' den Mitteilungen aus und betonte vor allem das Hauptvergnügen an der Aussicht auf fernere beglückende Ferientage auf der Erlenau.

»Und nun Onkel, erzähle ich dir auch etwas, das dir Freude machen kann,« fuhr Moritz fort, »dann wirst du mir auch meine Nachlässigkeit von heute nachmittag verzeihen. Es steht dir ein Student für dein Kolleg in Aussicht, an dem wirst du einmal volle Befriedigung erleben, denn da geht ein unausgesetzter Fleiß Hand in Hand mit einer ganz besondern Begabung, wie es bei uns sonst nicht immer der Fall ist. Dazu ist, die Persönlichkeit ansprechender als die aller andern deiner Schüler, der Student ist nämlich eine Studentin!«

»So, und du meinst, daran hätte ich meine Freude?« rief der Onkel aus. »Laß das, du könntest es besser wissen, ich will nichts davon hören!«

»Nein, nein, Onkel, es ist vollkommen wie ich sage,« eiferte der Neffe, »die junge Dame wird etwas ganz besonderes leisten, da ist ein Ernst und ein gründliches Durchführen der Sache wie gewiß bei wenigen, und durchaus kein unsicheres Probieren und auch gar kein überspanntes Zeug dabei. Die geht fest und einfach ihren Weg auf ihr Ziel los. Ich bin überzeugt, wenn du Fräulein Normann erst einmal kennst, so wirst du deine Freude« –

»Was sagst du?« unterbrach ihn der Onkel mit einer Heftigkeit, daß Moritz ganz erstaunt zu ihm aufschaute.

»Was denn, Onkel? Ich meine, wenn du erst einmal siehst, wie begabt nach allen Seiten hin diese Natur ist, so muß es dir doch Freude machen, sie in deinem Kolleg zu haben. Da sieh, so nennt sie sich.«

Moritz hatte eine Karte herausgeholt und hielt sie dem Onkel hin. Dieser warf einen raschen Blick darauf, eine gleiche Karte trug er bei sich. Er sprang auf und lief eine Weile im Zimmer auf nieder, dann stellte er sich vor seinen Neffen hin:

»Moritz,« sagte er mit einem leidenschaftlich erregten Ton der Stimme, »ich will von dieser Sache nichts mehr hören, sprich mir nie mehr davon! In meiner Klinik habe ich Studenten, für diese trage ich vor, nicht für junge Damen, am wenigsten für solche und Studenten zugleich. Finden sich dennoch junge Damen da ein, so kann ich es nicht hindern, aber ich weiß nichts davon, ich will nichts davon wissen, ich kenne nur Studenten als meine Zuhörer.«

Moritz war völlig verblüfft. Er hatte geglaubt, seinem Onkel ein Vergnügen zu bereiten und nun war dieser durch seine Mitteilung in solchen Grimm und zornige Aufregung geraten, wie er sie noch selten gezeigt hatte. Doch blieb der junge Mann nicht lang in sein Erstaunen versunken, er fand, das beste sei nun, die Sache ganz fallen zu lassen und auf einen neuen Gegenstand überzugehen. Aber was er auch vorbrachte, nichts fand mehr Anklang bei seinem Onkel, der plötzlich wie verwandelt war. Die gute Stimmung war völlig weggewischt. Aus seiner Stirn zogen sich die Falten immer enger zusammen, er sprach fast kein Wort mehr. In düsterm Nachsinnen saß er jetzt in seiner Sofaecke, achtlos für die Anstrengungen des Neffen, ein neues Gespräch aufzubringen. Dieser erkannte denn auch bald das Fruchtlose seiner Bemühungen und verabschiedete sich viel früher, als er zu thun gewohnt war. Der Vorgang hatte ihm einen Eindruck gemacht, den er gar nicht zurechtlegen konnte. So hatte er seinen Onkel nie gesehen. Wie konnte der überlegene Mann, der sich so in der Gewalt hatte, von einer Sache, die ihn doch nicht persönlich berühren konnte, so umgeworfen werden, daß er von einem Augenblick auf den andern die heiterste Stimmung verlor und nicht wieder gewinnen konnte. Wenn die jungen Damen in seine Klinik kommen wollten, so wußten sie ja, was sie thaten und daß sie als Studenten da waren. Der Professor hatte ja alle Freiheit, sie als solche anzusehen, zu einer solchen leidenschaftlichen Aufregung war doch kein Grund da. Er mußte den Vorfall Fräulein Normann erzählen, ihr Interesse mußte diesen in doppelter Weise erregen, einmal handelte es sich doch um ihre eigne Sache und dann hatte sie ja eine besondere Teilnahme für die Persönlichkeit seines Onkels gefaßt und sich immer gerne von ihm erzählen lassen, das hatte Moritz längst mit Vergnügen bemerkt. Beirren ließ sie sich jedenfalls dadurch nicht in ihren Ansichten, die ging ihren Weg so fest, als irgend einer, sagte sich Moritz. Bei dem Anlaß würde sie sich auch selbst aussprechen über die Sache und irgend ein durchschlagendes Wort sagen, das er dann seinem Onkel entgegenhalten wollte.

Sobald am folgenden Tag Sina aus der Halle getreten war, stand der junge Clementi auch schon an ihrer Seite und begann mit Lebhaftigkeit ihr sein gestriges Gespräch mit dem Onkel und dessen unerwarteten Ausbruch des Unwillens zu schildern. Schneller als gewöhnlich waren die beiden vor Sinas Wohnung angelangt, sie hatte den Schritt immer mehr beschleunigt. Sie stand heute nicht wie gewöhnlich auf dem Platz vor dem Hause still zu einem letzten Wort, mit einem raschen Gruß eilte sie hinein. Clementi war enttäuscht von dem Eindruck, den seine Mitteilung auf die Zuhörerin gemacht; war sie beleidigt davon, daß sie gar nicht gesprochen hatte? Sie wußte aber sonst deutlich zu sprechen, wenn sie sich von etwas beleidigt fühlte. Oder hatte sie vielleicht gar nicht zugehört, als er sprach? War sie mit andern Gedanken beschäftigt gewesen? Ihre Augen hatten wirklich einen Ausdruck von Abwesenheit oder Zerstreutheit gehabt, als sie ihn während der Erzählung anblickte. Die Frage war nun für einmal nicht zu ergründen, er wollte später darauf zurückkommen.

Unterdessen hatte sich Sina in ihrer Stube auf einen Sessel geworfen und ihren Kopf in beide Hände gelegt wiederholte sie sich, was sie eben gehört hatte. Daß Professor Clementi ihren Namen kannte, hatte er also dem Neffen gar nicht ausgesprochen. Hatte er über seine Reise und allem andern ihr Zusammentreffen vergessen? Nein, das war nicht möglich, das fühlte sie mit Gewißheit. Aber er wollte das Geschehene vergessen, er wollte sie nicht mehr kennen, er wollte es nicht wissen, wenn sie in seine Klinik kommen würde. Sie ging weiter in ihren Gedanken und langte da an, daß sie sich sagte: mit den Studenten dort zusammentreffen, möchte sie auch nicht, das müßte aber doch unvermeidlich so kommen. – Aber es war noch lang bis dahin, sie wollte die Sache nicht weiter verfolgen, es konnte sich vieles ändern bis zu der Zeit. Sie wollte vor allem nun einmal den Gedanken nicht mehr nachhangen, die dieser Name immer wieder in ihr erweckte, diese Macht, die sie immer wieder erfaßte und beherrschte, mußte gebrochen sein. Auch sie wollte vergessen, alles vergessen, das war viel besser als immer wieder suchen und sinnen, wie einem Menschen wohl gethan werden könnte, der selbst so gern wohl that und schweigend und einsam litt. Aber er wollte ja nichts von ihr, er wollte sie vergessen, sie gar nicht mehr kennen. Und über der Erinnerung an das, was sie vergessen wollte, vergaß sie alles andere so sehr, daß die Stunden ihr unvermerkt verstrichen, bis drüben am Turm ein Schlag nach dem andern ertönte. Sie fuhr erschrocken auf. Um drei war sie eingetreten, sechs hatte die Uhr geschlagen. Nun hieß es nacharbeiten, ungesäumt und tüchtig.


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