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5. Kapitel.

Am wolkenlosen Himmel stieg am andern Morgen die Sonne hinter den Bergen herauf und leuchtete warm in alle Blumenkelche, die sich ihr entgegen öffneten. Sina ging mit ihrer Großmutter am Arm nach dem Frühstück in den Garten hinaus, was an jedem sonnigen Morgen geschah, um nachzuschauen, wie weit die hellgrünen Blättchen des jungen Blumenkohls über Nacht vorgeschritten seien, und die Glasdecke wegzuheben, mit der die kaum entsprossenen Pflänzchen noch bedeckt werden mußten, wenn am Abend die Sonne unterging. Sina trank mit Wonne die frische Morgenluft ein und brach einmal ums andere in helle Freudenrufe aus über den Frühlingsjubel der Vögel, die von allen Blütenbäumen herunter schmetterten. »O Großmütterchen, heute ist's zu wunderherrlich auf Erden! Heute mußt du uns wieder ziehen lassen und für den ganzen Tag. Ich habe einen Plan gemacht, wie wir von der Tiefseebrücke nach der andern Seite auf den Bergrücken steigen und dann durch den großen Buchenwald zurückkehren können. O denk dir's, Großmutter, alle die jungen Buchen im ersten Grün! Wir können aber erst spät am Abend heimkommen. Gelt du hast es nicht ungern, daß ich schon wieder fortlaufe?«

»Nein, nein, Sina, gehl nur und freut euch,« sagte in größter Freundlichkeit die Großmutter. »Ich mag es dem guten Wilhelm auch so sehr gönnen, daß er diese sonnigen Frühlingstage recht in Freude genießen kann. Sein einsames Vaterhaus ist gar zu still und voller Schatten für einen jungen Menschen.«

»Du hattest von jeher eine Zärtlichkeit für Wilhelm, Großmutter,« sagte Sina ein wenig lachend.

»Er ist so herzensgut, und daß er so die früheste Jugend ohne eine Mutter durchleben mußte, hat mir immer weh gethan, wenn ich ihn ansah,« fuhr die Großmutter mitleidig fort. »Auch jetzt kommt es mir übers Herz, wenn ich denke, wie er nun dort lebt in dem sonnenlosen Haus mitten in der Stadtgasse und sein Vater von nichts als von Geschäften mit ihm redet, denn der Mann kennt nichts anderes.«

»Da kommt er schon gelaufen! O wie erwünscht! Nun können wir gleich alles festsetzen,« rief Sina hocherfreut und lief Wilhelm entgegen, der eilig den Hügel heraufkam. »Was ist dir, Wilhelm?« fragte sie erschrocken, als sie ihm näher kam.

Auf Wilhelms Gesicht lag ein so tiefer Schatten, wie sie ihn noch nicht gesehen hatte. »Eben ist ein Brief meines Vaters gekommen,« berichtete Wilhelm mit erregter Stimme, »einer unserer Hauptangestellten im Geschäft ist erkrankt, ich soll sofort, heute noch nach der Stadt zurückkehren.«

»O wie schade! wie schade!« mußte Sina einmal ums andere ausrufen. Die Großmutter war nun auch herzugetreten und nahm herzlichen Anteil an der betrübenden Wendung der Dinge. Sina hatte für heute noch einen so besonders schönen Plan gemacht, der muß nun dahinfallen,« sagte sie bedauernd. »Aber ich hoffe eines, Wilhelm, du kannst wohl einmal über den Sonntag herkommen, bevor das junge Grün dunkelt, dann kann der Plan noch ausgeführt werden.«

Wilhelm zeigte wenig Hoffnung auf die Möglichkeit, dem schönen Vorschlag Folge leisten zu können; einmal wieder im Geschäft eingespannt sei es nicht mehr so leicht, sich wieder frei zu machen, meinte er. Dann fragte er ein wenig schüchtern, ob denn nicht Sina noch einen kleinen Spaziergang durch den schönen Morgen machen würde, da er gleich nach Tisch aufzubrechen habe. Der Vorschlag war ganz nach Sinas Wunsch. Sie nahm ihren Strohhut von der Wand und stand schon zum Auszug bereit. Auf Wilhelms Aufforderung, die Richtung des Ganges zu bestimmen, schlug sie den Weg zum Lindenhügel ein, wo sie als Kinder so oft auf der Bank unter den zwei Linden gesessen und auf den blauen See hinuntergeschaut hatten. Sie gingen bis zur alten Bank hinauf und setzten sich hin.

»Daß ich so plötzlich fort soll, daß ich eben jetzt fort soll, eben jetzt!« Hier stockte Wilhelm auf einmal, nachdem er viel erregter zu sprechen begonnen, als er je vorher gethan hatte.

Sina schaute ihn verwundert an. »Es ist nur gut, daß du jetzt daheim bleibst und keinen Aufenthalt im Ausland mehr zu machen hast, so kannst du doch viel leichter und öfter wiederkommen,« sagte sie beruhigend.

Sinas ruhige Auffassung der Lage schien keinen ähnlichen Eindruck bei Wilhelm hervorzubringen. Er sprang von der Bank auf und lies in einer bei ihm ganz ungewohnten Hast hin und her. Dann stand er plötzlich still vor Sina und brachte vor großer Bewegung kaum die Worte heraus: »Sina, ich kann nicht fort, ohne dir's auszusprechen und ein Wort von dir zu haben: du hast es gefühlt, wie wohl mir wieder bei Euch geworden ist und daß ich hier meine Heimat habe. Kann ich hoffen, daß du mir einmal, ich will dich ja nicht drängen, nur gib mir eine Hoffnung, daß du mir einmal eine bleibende Heimat bereiten und sie mit mir teilen willst?«

»Ach Wilhelm,« stöhnte Sina, die totenbleich geworden war und ihr Gesicht in beide Hände verborgen hatte, »warum mußtest du das sagen? Unsere Freundschaft war so schön, so schön! Wir waren ja wie Geschwister. O können wir nicht so fortfahren? Es gibt ja nichts schöneres!«

»Nichts?« sagte Wilhelm schmerzlich. »So habe ich mich ganz getäuscht, wenn ich in Augenblicken zu verstehen glaubte, du könntest für mich noch ein wärmeres Gefühl als für einen Bruder haben, und könntest dein Leben mit mir teilen wollen.«

»Ja, das könnte ich ja gut, Wilhelm,« sagte Sina jetzt, ihre Hände von den Augen nehmend und ihn voll anblickend. »Gewiß, ich wollte nichts lieber, als daß du wieder hieher zu uns kämest und wir wieder ganz miteinander leben könnten wie früher. Nie hatte ich einen Bruder lieber als dich, aber ein wärmeres Gefühl kenne ich gar nicht, vielleicht ist es gar nicht in meiner Natur. Aber können wir denn nicht fortfahren wie immer, Wilhelm? O laß uns doch fortleben in der alten Freundschaft, nicht wahr, so als hättest auch du nie einen andern Gedanken gehabt. Ich bitte dich, Wilhelm, versprich mir's doch!«

Sina hielt ihre Hand hin und schaute flehentlich den Freund an. Die Thränen waren ihr in die Augen gekommen.

Er wandte sich ein wenig ab und sagte in der freundlichsten Weise, aber mit einer recht traurigen Stimme: »Ja, ich fühle es wohl, daß du kein wärmeres Gefühl kennst, du kannst nicht einmal begreifen, wie weh du mir thust, Sina.«

Er hatte schnell seine Augen getrocknet und kehrte sich wieder zu Sina, die aufgestanden war, und ohne weitere Worte schlugen beide den Heimweg ein. Sie gingen schweigend nebeneinander bis zum Försterhaus, wo Wilhelm mit kurzen Worten von der Großmutter Abschied nahm. Dann drückte er Sina noch einmal die Hand und ging mit schnellen Schritten zum Pfarrhof hinunter. Sina schaute ihm schweigend durch das offene Fenster nach. Die Großmutter hatte schon mit Verwunderung Wilhelms Abschied hingenommen und Sinas ungewöhnliches Benehmen dabei, wie nun auch nach seinem Fortgehen vermehrte ihr Erstaunen. So lange und so unbeweglich dastehend hatte Sina in ihrem Leben noch keinem Menschen nachgeschaut. Immer noch stand sie dort, Wilhelm mußte längst verschwunden sein.

»Sina,« sagte endlich die Großmutter, »du wirst nicht denken, daß ich nichts davon bemerke, wenn etwas vorgeht, das dich ganz verändert. Willst du nicht mit mir darüber reden, was vorgefallen ist?«

Sina kehrte sich stürmisch um und brach los: »Ach, Großmutter, es ist alles verdorben! alles für immer! Und es war so schön! Das ist's mit diesem Heiraten! Warum kann man denn nicht in Freundschaft zusammenkommen und bleiben und sich daran freuen! Wie kommt er nur auf den Gedanken, ich sollte ihm eine Heimat gründen und mit ihm darin leben! Nie ist mir im allerleisesten ein solcher Gedanke gekommen. Nun hat er das ausgesprochen und ist ganz traurig, daß ich es nicht begreift, und nun ist alles verdorben!«

Die Großmutter hatte still dem Ausbruch zugehört, aber es war ein wehmütiger Ausdruck auf ihr Gesicht gekommen. »Der arme Wilhelm!« sagte sie jetzt teilnehmend. »Daß du es auch sein mußtest, an die er sein Herz hing, ich hatte andere Gedanken für ihn und gewiß wäre er glücklich geworden und hätte glücklich gemacht!«

Diese Worte zündeten wie ein Blitz in Sinas Herz; mit einemmal sah sie hell, wie alles war, als hätte man ihr in den klarsten Worten ausgesprochen, was sie noch vor einem Augenblick nicht geahnt hatte. Sie wußte, was die Großmutter meinte, sie verstand jetzt plötzlich Maries Thränen. Marie war diejenige, die Wilhelms Worte dem eigenen Herzen nach verstanden hätte, wären sie an sie gerichtet worden. »O Großmutter,« stöhnte Sina schmerzlich, »es ist noch viel trauriger, als ich meinte. Jetzt sehe ich alles ganz klar. Alle Freude ist vernichtet und nichts mehr ist gut zu machen. Nie kann es mehr zwischen uns allen Dreien werden, wie es war. Wenn ich nur von alldem nichts wüßte und gar nichts mehr zu hören bekäme! Ach, was kann ich nur thun, könnte ich doch alles ungeschehen machen!«

»Du kannst nichts thun und hast da auch nichts mehr zu thun,« entgegnete die Großmutter, die Aufregung der Enkelin beschwichtigend. »Hättest du etwas unrechtes gethan, hättest du aus Leichtsinn und mit Wissen einen Freund verletzt, so müßtest du dir's bitter vorwerfen und nach allen Mitteln suchen, es gut zu machen. Aber so liegt die Sache nicht, es ist eine Schickung, die du nicht ahntest, die hast du anzunehmen und den lieben Gott weiter machen zu lassen, er führt die Sache schon hinaus, wie es gut ist, da hast du nun weiter nichts auszudenken, noch ihm nachzuhelfen. Es ist aber recht, Sina, daß dir bei dem Anlaß das Verständnis aufgegangen ist dafür, wie man einen Menschen tief kränken und verletzen kann, wenn man durch allzuwarme Freundlichkeit ihn zu dem Glauben bringt, er sei uns so lieb, wie nur ein solcher uns lieb sein kann, mit dem allein wir leben und ihm eine Heimat gründen möchten, wie Wilhelm es ausgesprochen hat. Denk daran, Sina, du hast es nötig mit deiner Lebhaftigkeit. Sieh, das Beste, was ein Mensch dem andern geben kann, ist, daß er ihn lieb hat, und damit sollte nie ein Mensch leichtfertig sein, so daß er einen andern täuschen und tief kränken kann, das thut zu weh.«

»Ach Großmutter, ich habe ihn ja nicht täuschen und nicht kränken wollen, das ist ja gerade mein Leid, daß es so gekommen ist,« rief Sina leidenschaftlich aus.

»Das weiß ich, daß du das nicht thun wolltest, Sina. Aber du weißt nun auch, daß so etwas geschehen kann, ohne daß wir es wollen, aber doch nicht ohne unser Hinzuthun. Ich traue dir auch zu, daß du niemehr in eine solche Sache Hineinkommen wirst, du weißt nun, daß sie für beide Theile mit Leid und Wehthun endet. Nun gehe in dein Kämmerlein und bitte Gott, daß Er dir ein aufrichtiges Herz geben und es allezeit so erhalten möge, so wird auch die rechte Ruhe wieder darin einkehren.«

Sina antwortete nicht mehr. Sie küßte die liebevolle Großmutter und ging nach ihrer Kammer.


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