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3. Kapitel.

Es ging nicht, wie die Kinder gehofft und sich das Wiedersehen ausgedacht hatten. Wilhelm wurde bei seiner Rückkehr ins Vaterhaus so still und teilnahmlos für alles, was die Kameraden trieben, die ihn wieder aufsuchten, daß sie ihn bald aufgaben und nicht mehr nach ihm fragten. Es war, als ob ein fortwährender Kummer an ihm nagte. Der Vater suchte ihn zu zerstreuen, stellte ihm auch vor, er sollte nun ein rechtes Interesse für seine neuen Studien fassen und das angenehme Leben, das vor ihm liege, zu ergreifen und zu schätzen lernen. Es half nichts. Wilhelm arbeitete, was sein mußte, aber er ging traurig und schweigsam umher und zog sich scheu vor aller Gesellschaft zurück. Nach wiederholten, eindringlichen Fragen entdeckte der Vater endlich, daß ein fortwährendes Heimweh an dem Knaben nagte und daß sein einziger Wunsch war, wieder in das Pfarrhaus zurückzukehren zu denen, die ihm vor allen andern lieb geworden waren. Diesen Wunsch konnte der Vater nicht gewähren. Wilhelm war nun in den Jahren, da er vielerlei, vor allem die neuen Sprachen gründlich zu erlernen hatte, um nachher in das Geschäft seines Vaters eintreten zu können. Es war völlig unmöglich, sich diese Kenntnisse da anzueignen, wo sein Sohn hinstrebte, doch beschloß der Vater, ihn in eine neue, anregende Umgebung zu bringen, wo Wilhelm weniger allein und von vielen Altersgenossen umringt sein würde, unter denen er wohl neue Freunde finden könnte. Wilhelm wurde auf eine höhere Schule nach Deutschland versetzt, da sollte er drei Jahre bleiben, ohne heimzukehren. Des Vaters Gedanke dabei war, in dieser Weise könnte der Junge am besten vergessen, was ihm jetzt zu sehr am Herzen lag und sich eines neuen Lebens erfreuen.

Nach Verfluß der drei Jahre, während welcher er ziemlich spärliche Briefe an die Freunde geschrieben hatte, erschien Wilhelm endlich wieder im alten Pfarrhaus. Er sah zart und schmächtig aus wie früher, doch war er jetzt ein hochaufgeschossener Jüngling geworden, der eben sein zwanzigstes Jahr angetreten hatte. Der Vater war nicht einverstanden gewesen mit dem Besuch und hatte denselben nur unter der Bedingung gestattet, daß Wilhelm gleich am andern Tage zurückkehren würde, da eine Stelle für ihn in Paris offen stand, die der Vater sehr gewünscht hatte und die sofort besetzt werden mußte. So war Wilhelms Besuch so flüchtig, daß die alten Freunde nach der langen Trennung sich kaum recht wieder erkennen konnten. Daß Wilhelm das alte Herz mitgebracht hatte, konnten freilich alle bald fühlen. Er hatte nicht das kleinste Ereignis, kein Plätzchen, kein Blümchen vergessen, das ihm in den vergangenen Tagen lieb geworden war. Sina und Marie, welche um seiner spärlichen Briefe willen auf den Gedanken gekommen waren, Wilhelm sei nun ein Herr geworden, der sich um die fünfzehnjährigen Mädchen nicht mehr kümmere, waren hocherfreut, sich mit dem alten Freund in allen Interessen und Erinnerungen der vergangenen Tage wieder zusammenzufinden. Nur die Kürze des Besuches trübte das Wiedersehen und Wilhelm mußte versprechen, bei seinem nächsten Wiederkommen eine viel längere Zeit für das Pfarrhaus und die dazu gehörenden Freunde zu finden. Auch Hans und Elsi wurden noch herbeigeholt, Wilhelm wollte auch sie begrüßen und sie seiner alten Anhänglichkeit versichern.

Noch einmal gaben Sina und Marie dem Freund das Geleite bis zu der alten Buche, in deren Rinde noch die fünf Namen, wenn auch durch die Zeit etwas dunkel geworden, deutlich zu lesen waren. Vor dem altbekannten Baum stehend, stiegen in den Dreien erst recht die Erinnerungen an die vergangenen schönen Zeiten auf und Wilhelm mußte sich Gewalt anthun, seinem Versprechen, so bald heimzukehren, treu zu bleiben. Aber es mußte sein und ein kurzer Abschied mußte ihm leichter werden als ein langer. Nach einem Händedruck lief er wie ein Hirsch den Berg hinunter und erst als er gleich hinter den Tannen verschwinden mußte, schaute er noch einmal zurück.

Viel länger, als irgend eines aus dem Freundeskreise erwartet hatte, dauerte diesmal die Trennung. Wilhelm war nie ein eifriger Briefschreiber gewesen, es hatte auch in seinen Briefen immer ein so trauriger Ton durchgeklungen, daß man fühlen konnte, beim Schreiben übernahm ihn jedesmal von neuem das Leid der Trennung und ein tiefes Heimweh nach der alten Heimat, was ihm selbst peinlich sein mußte. Dann blieben seine Briefe länger und länger aus, zuletzt kamen nur noch die Festtagsbriefe an die ganze Familie auf Weihnachten oder am Neujahrstag. Erst empfanden Sina und Marie dieses zunehmende Schweigen als eine Untreue des Freundes, dann war es ihnen nach und nach selbst recht so, denn neue Eindrücke und Erlebnisse hatten den Kindertagen gefolgt und erfüllten ihr Herz und ihre Gedanken. Sie hatten beide, nach der Sitte des Landes, für einige Zeit das Vaterhaus verlassen, um in einer Erziehungsanstalt ihre Ausbildung zu vollenden. Als siebzehnjährige Mädchen waren sie heimgekehrt und lebten nun wieder in den alten Umgebungen, aber von vielen neuen Plänen und Gedanken erfüllt. Auf ihre Nachfrage bei der Heimkehr hatten sie vernommen, Wilhelm sei schon seit längerer Zeit in England und werde wohl noch ein Jahr dort zubringen.

Im Pfarrhaus war große Freude, das einzige Kind, die sanfte Marie, die ihren Eltern nie eine trübe Stunde bereitet hatte, wieder zu besitzen. Die Zeit ihrer Abwesenheit war den liebevollen Eltern viel länger geworden, als sie es sich gedacht hatten, und doppelt war nun die Freude an der wiedergekehrten Tochter, als sie sahen, daß diese selbst kein höheres Glück kannte, als das Leben im Vaterhaus wieder aufzunehmen. Marie hatte aber durch die Entfernung aus demselben nur gewonnen. Zu dem liebenswürdigen Wesen, das ihr von jeher eigen gewesen, hatte sie sich jetzt eine stille Sicherheit in all ihrem Thun erworben, die dem Mädchen das Vertrauen aller gewinnen mußte, die ihr nahe kamen.

Sina war anders heimgekehrt. Hatte sie schon vorher fortwährend den Kopf voller Pläne und das Herz voller weitgehender Wünsche und Hoffnungen gehabt, so war es jetzt, als ob die Flut ihrer wogenden Gedanken immer noch höher ginge. Ein so sprudelndes Leben ging von ihr aus nach den verschiedensten Richtungen hin, daß die Großmutter, deren ganze Freude die heimgekehrte Sina war, doch oft den Kopf schütteln und bei sich sagen mußte: Was soll daraus werden?


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