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13. Kapitel.

Der Entschluß, den Sina gefaßt, war nicht so plötzlich gekommen, wie es den Anschein hatte. Wie oft hatte sie im Stillen fast mit Neid gesagt: Die glückliche Schwester Elisabeth! Wie Vielen kann sie wohlthun, so wie niemand anders es könnte! Welche Befriedigung muß es ihr gewähren, wie froh muß es ihr Herz machen, so vielen Leidenden und Elenden Beistand und Trost bringen zu können! Seit die Großmutter tot war, hatte auch die Aussicht auf die Ausübung des erwählten Berufes für Sina allen Reiz verloren. Sie hatte sich ja als schönes Ziel gesetzt, der Großmutter eine Haupthilfe in ihrem Werk der Wohlthätigkeit zu werden, nun war alles anders. Eigentlich hatte sie ja vorher schon zu der ganzen Sache nicht mehr gestanden wie im Augenblick des Entschlusses. So brachte die peinliche Erfahrung mit dem jungen Clementi nur etwas, das lange vorbereitet war, zu einem raschen Abschluß. Es war für Sina klar, zwischen ihr und Clementi mußte alles Zusammentreffen zu Ende sein, also hatte sie die Universität zu verlassen und nun sollte überhaupt ein neuer Weg eingeschlagen werden.

Sina hatte sich nicht getäuscht, es kam bald eine sehr zustimmende Antwort aus Breslau. Fräulein Tellmann, die Vorsteherin der Schule, schrieb sehr erfreut über die Aussicht auf zwei gute Sprachlehrerinnen, für welche sie vollauf Arbeit hatte.

Auch die Tante sprach ihre volle Zustimmung zu dem Plane aus. Sie schrieb an Fräulein Halm, bis jetzt habe sie im Stillen immer noch befürchtet, die Nichte könnte auf ihren sonderbaren Wunsch zurückkommen, in die Krankenpflege einzutreten. In ihrer Familie habe sich aber wirklich noch nie jemand einer so untergeordneten Berufsthätigkeit zugewandt. Eine Sprachlehrerin zu sein, sei dann doch etwas ganz anderes, das nicht jeder sein könne.

»Was hat denn Ihre Tante für verschrobene Begriffe!« fuhr Sina heraus, als sie den Brief gelesen, den ihr Fräulein Halm überbracht hatte. »Ihren Worten nach zu schließen, müßte man meinen, zu einer Sprachlehrerin brauchte es eine Begabung, wie sie nur Auserwählten zu teil wird, und zur Krankenpflege passe gerade, wer nichts besseres thun könne.«

»Bei uns denken aber wirklich Viele so wie die Tante,« sagte Fräulein Halm entschuldigend.

»Jedem, der so denkt, würde ich eine gelinde Krankheit wünschen, die er in einem Hospital abzuthun hätte, so könnte er zu andern Gedanken kommen,« fuhr Sina eifrig fort, »da konnte er sehen, was die pflegende Schwester zu leisten hat. Erst mit dem Kopf, der wissen muß, was jeder bedarf und wie und wann alles geschehen soll, was ja pünktlich verordnet ist; dann mit den Händen, die so viel auszuführen haben und so gebraucht sein müssen, daß sie wohl und nicht wehe thun; dann mit ihrer Stimmung und dem ganzen Wesen, ein heiteres Gesicht und ein fröhlich ermunterndes Wort müssen ja für die niedergeschlagenen und gedrückten Kranken oft wohlthuender sein als alle Medizin. Und über alles hinaus sollte sie einen Trost kennen, mit dem sie die Leidenden und Sterbenden erquicken kann; da muß sie etwas geben können, das in ihr selbst lebt, Worte thun es nicht. Nur was ein Mensch selbst in seinem Herzen erlebt hat, geht dem andern ins Herz, nachsagen schlägt nirgends ein.«

»Sie sprechen von dem allem, als hätten Sie sich wirklich schon selbst in einer solchen Thätigkeit bewegt,« bemerkte Fräulein Halm.

»Nein, das nicht, aber ich habe viel darüber nachgedacht,« fuhr Sina fort, »und ich kann Ihnen sagen, hätte ich das Bewußtsein, für die Thätigkeit im Krankensaal ebenso befähigt zu sein, wie für diejenige in der Schulstube, ich würde meine Arbeit im erstern suchen nicht um geringeres, sondern um größeres zu leisten.«

Fräulein Halm freute sich dieser Worte ganz besonders. So hatte sie immer gedacht, aber die Tante hatte ihr oft entgegengehalten, nur wer keine rechte Bildung besitze, könne zu solchen Anschauungen kommen, und nun wurden sie so bestimmt von einer Persönlichkeit ausgesprochen, deren Bildung nach allen Seiten hin diejenige der Tante so weit überragte, daß diese selbst die Überlegenheit anerkennen müßte.

Sina und Fräulein Halm waren in Breslau angekommen und in die neue Thätigkeit eingetreten. Sie hatten in den sechs Klassen der Mädchenschule aus den verschiedenen Stufen der Schülerinnen den Unterricht in der deutschen, der französischen und der englischen Sprache zu erteilen. Es war Arbeit genug für sie da. Nachdem sie den von der Vorsteherin festgesetzten Stundenplan eingesehen und nach ihrem eigenen Ermessen die verschiedenen Stunden für jede angeordnet hatten, ergab es sich, daß sie beide den ganzen Tag in Anspruch genommen sein würden und daß auch noch für Hausarbeit gesorgt war in den hochaufgeschichteten Heften, die der sorgfältigen Durchsicht bedurften. Fräulein Tellmann hatte mehrere junge Mädchen in Pension in ihrem Hause. Sie hatte aber sogleich erklärt, die beiden Lehrerinnen hätten sich ihre Zimmer außer dem Hause zu suchen, sie halte es nicht für gut, daß verschiedene, erzieherische Elemente auf die Mädchen einwirkten. Sie wünschte daher auch in sehr bestimmter Weise, daß die Lehrerinnen durchaus bei ihrem Fach bleiben und durch keine Belehrungen, die in andere Gebiete einschlagen, die geistige Entwicklung der Schülerinnen beeinflussen sollten. Diese Vorschriften waren nicht nach Sinas Wunsch. Der Entschluß, in eine solche Stelle einzutreten, war ihr besonders dadurch leicht und erfreulich geworden, daß sie, anstatt der ununterbrochenen Studien, den lebendigen Verkehr mit den jungen Mädchen voraussah. Sie hatte sich darauf gefreut, ihnen nahe zu treten, alles Schöne und Große, das sie kannte, ihnen vor Augen zu bringen, ihre Begeisterung dafür zu wecken und in solcher Thätigkeit selber wieder froh und frisch zu werden. Nun sollte gar kein persönlicher Umgang zwischen ihr und den Mädchen stattfinden, aller Einfluß auf die geistige Entwicklung derselben war ihr geradezu untersagt, den wollte die Vorsteherin allein in der Hand behalten, nur bei der Grammatik sollten die Lehrerinnen bleiben. Hätte Sina die Ansichten dieser Vorsteherin recht gekannt, so hätte sie nicht so schnell zugegriffen. Aber nun war sie da, sie hatte sich zu fügen oder wieder zu gehen, das letztere wollte sie doch nicht. Fräulein Halm war eben so enttäuscht über die Anordnung, sie meinte, der nahe Verkehr mit den jungen Mädchen wäre für sie ja viel notwendiger gewesen, als er für Sina sein würde, die doch ganz andere Quellen der Kräftigung und Erfrischung in sich trüge, als eine arme Natur, wie sie selbst sei, die nur von andern lebe. Aber Martha Halm besann sich keinen Augenblick, ob sie bleiben wollte, oder nicht, sobald sie wußte, daß Sina dablieb.

Die gewünschten Zimmer wurden unweit der Schule gefunden, der Unterricht begann und nun ging es fort und fort vom Morgen bis zum Abend und vom Abend bis in die Nacht hinein mit lehren und lernen ohne Aufhören. Waren die Unterrichtsstunden zu Ende, die hohen Schichten der Hefte durchkorrigiert, so kam die Zeit der Vorbereitung zu weiterer Arbeit, unterrichteten die beiden doch zum erstenmal in ihrem Leben und beiden war es ernst mit ihrem Vorsatze, ihre Ausgabe nach besten Kräften zu lösen.

Die erste Nachricht, die Sina aus der fernen Heimat empfing, war ein Brief der Freundin Marie. So hatte diese in ihrem Leben nie geschrieben. Es ging ein völliger Jubelton durch den Bries. Marie war Wilhelms überglückliche Braut! »So glücklich,« schrieb sie, »daß sie gar keinen Wunsch mehr habe, als nur den, Sina möchte nun bald wieder heimkehren, daß sie alle drei sich der alten Freundschaft erfreuen und die schönen Kindertage noch einmal erneuern könnten. Auch Wilhelm könnte seine Freude daran haben, nun er überwunden, was ja schwer genug für ihn gewesen sei, das habe sie selbst ja wohl verstanden. Sina sollte nur nicht zögern und endlich wieder zu denen zurückkommen, die sie so sehnlich erwarteten.«

Für Sina war diese Nachricht herzerfreuend. Schon immer war es ihr tiefer Wunsch gewesen, daß die beiden zusammenkommen möchten, und immer hatte sie im Stillen der Vorwurf gepeinigt, daß sie wohl selbst das Haupthindernis gewesen, das dieser Vereinigung im Wege gestanden hatte. Der Ton des Brieses war ihr rührend. Kein Hauch eines verhaltenen Frohgefühls über Sinas Entfernung, kein leiser Schatten mehr von einem Leid, das die Freundin getragen hatte und das ihr ja mit Sinas Namen zusammenhing, nur ein Herz voll lauterer, unveränderlicher Liebe sprach aus jedem Worte des Briefes. Nun konnte auch Sina sich darauf freuen, einmal wieder mit den alten Freunden zusammenzukommen und mit ihnen die schönen Tage der frühern Zeiten zu erneuern. So schrieb sie an Marie in den Ausdrücken der wärmsten Freude über das Glück ihrer beiden nahen Freunde, welches zu sehen und mit ihnen zu teilen ihr als ein auserlesener Genuß vor Augen stehe. Für einmal dürfe sie aber an kein Ausspannen denken, nun sie einmal diese Arbeit übernommen habe, die ihre Zeit und ihre Kräfte vollauf in Anspruch nehme. Auch ihre sämtlichen Ferienzeiten habe sie nötig, um alles zu bewältigen, was sie sich selbst anzueignen wünsche und was sie an den Schülerinnen erreichen sollte.

Die neue Arbeit war schon groß genug, wie Fräulein Tellmann sie behandelt wünschte, sie wurde aber noch weit ausgedehnter durch die Art, wie Sina sie ausführte, denn was sie unternahm, mußte gründlich durchgeführt werden. Es war ein rastloses Treiben, in das sie hineingekommen war und das sie nun fortsetzen mußte. In ihrem Innern hatte Sina niemals ein Gefühl des Wohlseins und der Befriedigung, dessen war sie sich immer bewußt, ohne sich je Rechenschaft zu geben, warum es denn eigentlich so sei, dazu war schon gar keine Zeit da. Der Zwang der unausgesetzten Arbeit war ihr recht, er hatte allen Träumereien ein Ende gemacht. Die Möglichkeit, wieder mit der alten Macht aufzusteigen und die Herrschaft zu gewinnen, war den unnützen Gedanken abgeschnitten. Hatte Sina nach allen Unterrichtsstunden am späten Abend ihr letztes, fehlerbefreites Heft aus der Hand gelegt und war der erste, freie Augenblick gekommen, so fielen ihr sogleich vor Ermüdung die Augen zu, sie hatte sich niederzulegen. Dann im Traume, da stiegen die alten Bilder wohl wieder auf, so frisch, als hätte sie alles an dem eben vergangenen Tag erlebt. Da ruhte immer wieder der warme Blick auf ihr und die bewegte Stimme erzählte von der Mutter. Dann sah sie wieder das edle Angesicht mitleidsvoll über einen Elenden gebeugt, der sich grollend abwandte. Einmal stand ein kleiner Krüppel dabei und hielt sich mit aller Macht an dem Niedergebeugten fest, wie an einem Retter. Sie wußte, das war der kleine Junge des elenden Mannes. Jetzt erhob sich die hohe Gestalt und wies auf den verkrüppelten Kleinen und sonderbar schmerzlich blickten die tiefliegenden Augen sie an und die bekannte Stimme sagte: »Sie haben keine Zeit für ihn gehabt. Sie mußten ja studieren.« Da stürzten ihr vor Schmerz und Entrüstung die Thränen aus den Augen und sie rief aus: »Was konnte ich denn thun? Sie wollten mich ja nicht mehr kennen!«

Sie erwachte in der Aufregung, sie hatte wirklich geweint. Der Traum war so lebendig gewesen, daß sie die hohe Gestalt mit dem kleinen Krüppel an der Hand den ganzen Tag vor den Augen hatte, mitten in der vollen Thätigkeit.

Ihren gewohnten, täglichen Gang ins Freie hatte Sina hier nicht wieder aufnehmen können, im Gegenteil, sie kam fast nicht dazu, sich nur am Sonntag einmal die Zeit zu einem längern Ausgang zu nehmen. Es war schon eine kleine Reise, bis sie nur vor die Stadt hinausgelangte. Ihr Zimmer, wie das Schullokal, lagen inmitten der hohen Häuser des bewohntesten Stadtviertels. Aus ihrem Fenster konnte sie wohl den Sonnenschein drüben an den weißen Mauern sehen, aber kein grünes Blatt, keine Blume ringsum, sie hätte nicht erraten können, welche Zeit des Jahres gekommen war. Kam auch über Sina niemals ihre alte Fröhlichkeit und ihre Freude am Leben, so eilte ihr doch die Zeit dahin, wie sie es nie vorher erfahren hatte. Das war ein Segen der Arbeit. Die Wochen schwanden dahin, als wären es Tage, die Monate zerrannen, als hätten sie kaum noch die Hälfte der Tage von ehemals. Ein Jahr war um und das zweite schon mit seinen Frühlingstagen da. Sina konnte nicht fassen, wie es möglich war. Es war aber so und vor ihr lag die Bestätigung in einem Briefe von Marie, dem ersten, seit diese aus einer längern Krankheit erstanden war. Sie erzählte Sina von ihrem unvergleichlich glücklichen Leben an Wilhelms Seite, das nun noch um eine Freude reicher geworden, durch die Erscheinung einer kleinen Marie, von der schon eine ganze Menge wunderbarer Thaten zu berichten waren. Am Schluß des Briefes kam noch ein Auftrag von Elsi, die längst schon die fröhliche Frau des Nachbars Hans geworden war. Sie ließ Sina zu Gevatter bitten für ihr kräftiges Töchterlein, das eine entschiedene Ähnlichkeit mit Sina auf die Welt gebracht hatte, wie die glückliche Mutter hartnäckig behauptete, wenn schon niemand anders diese Ähnlichkeit entdecken konnte. Elsi ließ Sina inniglich bitten, ihr doch die große Freude zu machen. Sina sollte weiter gar nicht belästigt werden, nur ihr die große Freundschaft erweisen und erlauben, daß Elsi für ihr Kind den Zusammenhang mit einer so geliebten Patin annehmen dürfe. Die vergangenen schönen Kindertage stiegen vor Sina auf, als sie so las. Es that ihr wohl, einen Augenblick mit hineinzutauchen in die sonnige Lust jener sorglosen Kindertage.


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