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8. Kapitel.

Sina war nach ihrer neuen Wohnung gefahren. Die Familie, in der sie nach Abrede ganz als dazugehörend, aufgenommen werden sollte, bestand aus der Mutter, einer Witwe und zwei erwachsenen Kindern, einem Sohn und einer Tochter. Der erstere war Lehrer der Mathematik an der Industrieschule, die Tochter Lehrerin der ersten Klassen der Mädchenschule. Sina hatte sich sehr auf den Umgang mit diesen zwei Hausgenossen gefreut, mit denen sie so viele gemeinschaftliche Interessen haben mußte. Bald nach ihrer Ankunft saß sie mit den neuen Bekannten am Familientisch und der junge Lehrer gab sich alle Mühe, Sina in ein Gespräch über wissenschaftliche Gegenstände hineinzuziehen, er wußte ja, durch die Bekannten der Pfarrfamilie, wen er vor sich hatte. Aber Sina war so zerstreut, daß sie kaum vernahm, was gesprochen wurde. Es war ihr völlig entschwunden, daß sie sich gefreut hatte, die beiden jungen Leute zu finden und sich mit ihnen zu unterhalten. Es machte alles, was sie umgab, was sie sah und hörte, nicht den leisesten Eindruck auf sie, sie strebte nur darnach, wegzukommen und allein zu sein. Sobald das Abendessen zu Ende war, stand sie auf, um sich zurückzuziehen, was die Hausfrau gleich unterstützte, da, wie sie erklärte, das Fräulein von der langen Reise sichtlich ermüdet und mitgenommen sei. Sina war sehr froh und erleichtert, als sie nun allein in ihrer Stube war, denn sie hatte mit aller Anstrengung der Unterhaltung ihrer Wirte nicht folgen können und hatte doch das Gefühl gehabt, daß jene zum größten Teil ganz eigens für sie bestimmt war. Jetzt endlich konnte sie ihren Gedanken freien Lauf lassen. Sie öffnete das Fenster, um hinauszuschauen, wie sie's gewohnt war, wenn ihr die Gedanken wie Wellen rastlos durchs Herz fluteten. Das war nun freilich nicht wie zu Haus. Da lag nicht der stille Garten mit den duftenden Blumenbeeten und oben über ihm in alle Weite hin der funkelnde Sternenhimmel. Unten ging die schmale gepflasterte Straße dahin und drüben stand eine lange Häuserreihe. Eine Laterne an der nahen Hausecke warf ihren trüben Schein auf das Straßenpflaster. Sina verließ das Fenster und setzte sich in die Sophaecke. Sie war nicht müde, im Gegenteil, sie war so frisch und lebendig, daß sie am liebsten hinausgelaufen und unter dem Sternenhimmel hingeschweift wäre, wie sie zu Hause that, wenn besondere Gedanken sie anregten. Aber jetzt war sie nicht zu Haus, sie war in der Stadt, da war kein Umherschweifen in der Nacht möglich. Sie saß nun unbeweglich in ihrer Ecke, aber in großer Lebendigkeit stiegen die Gestalten des Tages vor ihr auf, – der neue Bekannte, der Unglückliche – dann wieder der hilfreiche Arzt, der freundliche Begleiter. Jedes seiner Worte wiederholte sie, sie wußte genau, wie er bei diesem und jenem Ausspruch ausgesehen hatte. Seine Worte der Liebe und Verehrung für die Mutter wiederholte sie sich mehrmals und nochmals, wie tief und innig konnte doch dieser erst so unbeweglich scheinende Mann empfinden! Und als er ihr sagte: »Sie erinnern mich an meine Mutter« – wie war der Blick, den er auf ihr ruhen ließ, so warm, so herzgewinnend. Sina blieb eine lange Zeit dabei stehen. »Er konnte nur so blicken, weil er an seine Mutter dachte,« sagte sie sich endlich – den Blick sah sie aber immer noch aus sich ruhen – immer noch, wenn sie auch weitern Gedanken nachging: – Wie mochte er sein Haus gefunden haben, öde und leer und traurig – nirgends mehr die sorgliche Hand der Mutter in allem, das ihn umgab, nie mehr ihre freundlichen Worte bei seiner Heimkehr von der Tagesarbeit. Wer war nun um ihn und ordnete sein Haus? Er hatte nicht geantwortet. O wer doch dem einsamen, so tief fühlenden Mann sein Haus wieder heimisch und wohnlich machen, wer ihm doch sein schweres Leid durch liebevolles Mittragen erleichtern und ihm leise die Fürsorge und Teilnahme einer Mutter – nicht ersetzen, nein – das konnte niemand, aber doch einen kleinen Teil davon ihm wiedergeben und wieder einige Freude am Leben in ihm erwecken könnte! Als sie soweit gekommen war in ihren Gedanken, sagte sich Sina: »Ja, die Großmutter hatte recht, die schönste Thätigkeit aus Erden ist, einem andern Menschen beistehen, sein Leid mit auf sich nehmen, sein Trost und seine Hilfe sein, aus die er sich verläßt, durch die er wieder froh werden kann. Ja, ich wollte, ich könnte es sein,« sagte Sina fast laut in ihrer lebhaften Empfindung und ein Bedauern beschlich sie, daß sie nicht sogleich ihr ganzes Vorhaben aufgeben und in dem leeren Hause die Stelle einer Haushälterin annehmen und alles so herstellen konnte, wie sie es für diesen Mann wünschte. Aber jetzt fuhr sie auf, die Lampe war am Ausflackern. Wie lächerlich! Wie kann man nur auf so dummes Zeug kommen! sagte sie ärgerlich. Sie zog ihre Uhr heraus – es war drei Uhr des Morgens. Eben konnte sie bei dem erlöschenden Lichte noch ihre Sachen weglegen und ihr Bett finden. –

Sina hatte sich ihr erstes Erwachen in der Universitätsstadt anders vorgestellt. Mit größter Lust würde sie zuerst ihr Studierzimmer ordnen und einrichten, dann gleich die Lehrer aufsuchen, bei denen sie ihre Vorstudien zu machen gedachte und dann fröhlich mit vollen Segeln auf das Meer der Wissenschaft hinausfahren. Nun saß sie da und hatte weder Lust noch Mut, die neue Laufbahn zu beginnen. Es waren dieselben Gedanken, mit denen sie gestern eingeschlafen, die heute seit dem ersten Erwachen ihr wieder nachgingen und alle andern in den Hintergrund drängten und wie auslöschten. Es wollten auch ganz sonderbare Fragen in ihr aufkommen: Hatte sie sich selbst so täuschen können über ihren Beruf, sogar über ihren eigenen Wunsch und Drang dazu? Es war alles verschwunden davon. Sollte sie lieber gleich umkehren und der Großmutter sagen: Du hast recht gehabt, helfen und trösten zu können, wo gelitten wird, das ist das Beste im Leben. Aber umdrehen und alles abgeben, bevor sie nur begonnen hatte, das war doch zu mißlich! Nein, nein, davon konnte keine Rede sein, und dann war sie ja doch auf dem Wege sich anzueignen, was so Vielen Trost und Hilfe bringen konnte. Nein, sie wollte mutig und eifrig vorwärts und nicht mehr den Gedanken nachhängen, die sie wie unterjochten und alle Thatkraft in ihr lähmten.

Sina war aufgesprungen. Mit allen Kräften machte sie sich an ihre Arbeit, räumte aus den Koffern in die Schränke, machte sich ihren Schreibtisch zurecht und stellte ihre Bücher auf. Das kleine Schlafstübchen nebenan wurde zugeschlossen und nun war das Zimmer eine regelrechte Studierstube geworden, was es sein sollte. Nun ging Sina den jungen Professor aufzusuchen, an den Maries Vater sie empfohlen, damit der Sachkundige sie weise, ihr die Fächer bezeichne, in denen sie sich für die Hochschule vorzubereiten hatte und ihr die Lehrer nenne, die sie am schnellsten und besten zu ihrem Ziel führen würden. –

Schon waren mehrere Wochen vergangen seit Sina angekommen war. Mit fieberhaftem Eifer hatte sie sich in ihre Arbeit gestürzt und mit aller ihrer Willenskraft blieb sie vom frühen Morgen bis zum späten Abend dabei. Sie wollte vorwärts, so schnell als möglich und noch etwas wollte sie mit ihrer Arbeit erreichen, die unnützen Gedanken wollte sie damit verscheuchen und niederdrücken, denn sie wirkten hemmend auf sie, da sie immer wieder die Fragen in ihr wach riefen, ob sie auch weitergehen, ob sie nicht eher wieder umkehren sollte? Mit Genuß und Freude an der Arbeit selbst, sowie sie sich's gedacht hatte, war sie nicht bei ihrem Studieren. Sie erzwang sich die Ausdauer, mit der sie von früh bis spät daranblieb, aber nie erwachte sie mit dem Gefühl der Freude, ihre Arbeiten aufzunehmen. Wie konnte ihr nur so alle Freude aus dem Herzen gekommen sein? Sie sagte sich manchmal selbst verwundert, so sei sie doch in ihrem Leben nie gewesen, so matt und unstät, so gleichgiltig gegen alles um sie her. Hatte sie denn für nichts und niemanden mehr eine rechte Teilnahme? Nur zuweilen stieg wie ein Freudenstrahl in ihr auf, sie wußte nicht, was es war, worauf konnte sie sich denn plötzlich so zum aufjubeln freuen? Sie suchte danach. Ja, das war es, sie freute sich, daß sie von Professor Clementi eine Nachricht zu erwarten hatte, einen Brief, vielleicht einen Besuch, irgend eine Mitteilung jedenfalls, er hatte es versprochen. Daß sie aber darauf sich so freuen konnte, ärgerte sie wieder, es war doch recht kindisch, sie wollte gar nicht mehr daran denken. Aber der Freudenstrahl schoß unversehens wieder auf. Was ihr auch noch wie Sonnenschein ins Herz fiel und sie hätte froh machen können, wäre nicht immer ein leiser Vorwurf daneben in ihr aufgestiegen, das waren die Briefe der treuen Großmutter. Nun die Sache einmal entschieden war, rüttelte die Gute nicht daran herum, sondern schrieb ganz fröhlich und eingehend über alles, was sich daheim zutrug und ermunterte Sina in ihrem Lerneifer fortzufahren, damit sie um so schneller ans Ziel komme. Darauf freue die Großmutter sich täglich, hieß es immer wieder, und sie bete, daß der liebe Gott alles zu einem guten Ziele führe, was die altväterische Großmutter nicht recht zu begreifen vermöge. Das Eine nur wünschte sie, daß Sina nicht ganz vergessen möchte, daß ohne seinen Segen ihr nichts gelingen werde, das sie zu vollbringen gedenke. Auch von der Freundin Marie kamen Briefe, aber sie schrieb nicht so eingehend, wie die Großmutter, man konnte den Worten eine leise Zurückhaltung anfühlen, sowie wenn die Feder vermeiden wollte, etwas zu berühren, das immer wieder nahe lag, besprochen zu werden. Sina ging schweigend in diese Weise ein, berührte nichts, das den gemeinsamen Freund betraf, wandte auch seinen Namen nie an. Sie hoffte, mit der Zeit würde die gute Marie wohl den alten, freien und harmlosen Ton wieder finden. Legte Sina nach des Tages Arbeit ihre Bücher weg, um einen Gang ins Freie zu machen, so stiegen die zurückgedrängten Gedanken mit doppelter Macht wieder auf und sie hing ihnen wieder nach. Es lag ein unwiderstehlicher Zauber in den Worten, die sie immer wieder hörte und in dem Blick, den sie so lebendig auf sich gerichtet sah, daß er ihr immer wieder das Herz bewegte. »Er hatte dem Andenken der Mutter gegolten,« – sagte sie sich immer zuletzt – aber sie fühlte ihn doch, als ob er ihr gehörte. »Ob Professor Clementi schreiben, ob er plötzlich einmal bei ihr eintreten würde?« Das war gewöhnlich ihr erster und immer ihr letzter Gedanke des Tages. Den Namen Clementi hatte sie noch nie nennen gehört. Sie sah außerhalb ihrer Unterrichtsstunden niemanden, als ihre Hauswirte und diese immer kurze Zeit während der Mahlzeiten, die Sina so rasch als möglich abthat, um gleich wieder an ihre Beschäftigungen gehen zu können. Zur Arbeit zwang sie ihre fahrenden Gedanken gern zusammen, aber diese Mühe sich auch noch zu geben, um einer Unterhaltung willen, die keine Anziehung für sie hatte, das war ihr zuviel. Sie sagte sich gern dabei, es werde ja den Leuten selbst lieb sein, ihre Zeit ungestört mit einander zubringen zu können, wie sie bisher gethan hatten.


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