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11. Kapitel.

Fräulein Halm hatte seit vielen Wochen das Kolleg nicht mehr besuchen können. Sie hatte an einem typhösen Fieber schwer krank darniedergelegen. Nun war Ostern da und die Frühlingsserien hatten begonnen. Sina hatte die Kranke öfter besucht und ihr geraten, vor den Ferien die Kollegienbesuche nicht mehr aufzunehmen und alle Studien liegen zu lassen, bis sie sich erst wieder ganz kräftig fühle.

Eben jetzt trat Sina wieder bei der Genesenden ein und fand sie über ein Buch gebeugt, das Sina wohl kannte. »Nun sitzen Sie doch schon wieder am Studieren und dabei sehen Sie so müde und angegriffen aus, daß Ihnen Ihr Arzt das Buch sogleich aus der Hand nehmen und Ihnen verbieten würde, es wieder zu ergreifen, bevor Sie ganz anders aussehen.«

»Ich habe auch den Arzt nicht gefragt, ob ich meine Arbeiten wieder aufnehmen dürfe, ich weiß wohl, daß er mir's nicht erlaubt hätte,« entgegnete Fräulein Halm, ihr Buch aus der Hand legend. »Aber ich muß wirklich wieder beginnen, ich bin so schrecklich zurückgekommen und es wird mir nicht leicht, von so langer Zeit her alles nachzuholen, ich habe nicht einmal Lust und Mut dazu. Ach, mir wird alles Lernen so schwer, und wenn ich an das Maturitätsexamen denke, das ich machen soll, wird mir so angst und bange, daß ich denke, ich wollte lieber, ich wäre nicht mehr von der Krankheit ausgestanden.«

»Solche Gedanken kommen noch von der Schwäche und Angegriffenheit her, die Ihnen die Krankheit zurückgelassen hat,« beruhigte Sina. »Sie haben vor allem nötig, auszuruhen und Kräfte zu sammeln. Unser Examen liegt auch noch so weit weg, daß Sie noch gar nicht daran zu denken brauchen. Da ich die Ferienzeit hier zubringe, so können wir auch dann und wann ein wenig zusammen arbeiten. Ich komme zu Ihnen und wiederhole ein wenig bei Ihnen, was wir während Ihres Ausbleibens gehört haben.«

Fräulein Halm dankte für die große Freundlichkeit, die sie gern annehmen wollte. »Sie werden aber bald müde werden, wenn Sie erfahren, wie schwer ich lerne,« setzte sie hinzu, »ich habe auch nie die rechte Lust und den Eifer dazu, die man doch haben sollte, um sich alles, was man braucht, in den Kopf zu bringen.«

»Warum haben Sie nur diesen Weg gewählt, der Ihnen doch weder leicht wird, noch Sie sehr zu befriedigen scheint?« fragte Sina. »Oder hatten Sie bei der Wahl nur das Ziel im Auge? das könnte ich auch verstehen.«

»Ich habe nicht selbst meinen Weg gewählt, gezwungen wurde ich freilich auch nicht dazu, und nun ich einmal angefangen, will ich auch fortfahren. Etwas rechtes wird nicht daraus, aber ich hätte wohl auch auf einem andern Weg nichts rechtes geleistet.«

Martha Halm hatte einen sehr verzagten Ausdruck in ihren guten, blauen Augen, wie sie so sprach.

»Nun gehen Sie viel zu weit in Ihren Worten,« fiel Sina tadelnd ein, »gerade mit Ihrem pflichttreuen Wesen werden Sie besser als viele andere, etwas rechtes leisten. Bei Ihnen kommt es entschieden nur darauf an, daß Sie die Stelle finden, wo Sie Ihre Kräfte und Anlagen recht verwerten können. Vielleicht sind Sie wirklich nicht auf dem Wege, der Sie dahin bringt. Könnten Sie denn nicht noch einen andern einschlagen? Wollen Sie mir nicht sagen, wie Sie überhaupt dahin gekommen sind?«

»Ich will Ihnen gern erzählen, wie ich auf den Weg kam, wenn es Sie nicht langweilt,« meinte Fräulein Halm und aus Sinas Ermunterung hin fuhr sie fort: »Ich habe meine Eltern sehr früh verloren. Die Mutter kannte ich nie, an den Vater erinnere ich mich nur dunkel, ich war kaum fünf Jahre alt, als er starb. Wir wohnten bei Frankfurt, mein Vater war von dort gebürtig, meine Mutter war Schweizerin. Nach dem Tode des Vaters kam ich in die Familie seines ältern Bruders, der in der Nähe lebte. Er hatte selbst vier Kinder. Meine ganze Kindheit durch hatte ich immer und überall das Gefühl, ich sei den andern im Weg, ich sei zu viel und jedermann wäre froh, wenn ich nicht da wäre. Das Gefühl war nicht aus der Luft gegriffen, oft hörte ich Worte, mein überflüssiges Dasein betreffend, die sich in mein Herz einbrannten. Vielleicht dachte man, ich verstehe sie nicht, ich verstand sie nur zu gut.

Als ich sechzehn Jahre alt war, wurde ich nach der Schweiz versetzt, so war es unter den Verwandten angeordnet worden. Ich kam zu einer Tante, Schwester meiner Mutter, einer Witwe, die keine Kinder hat. Sie ließ mich zwei Jahre lang eine höhere Schule besuchen, dann wünschte sie, daß ich mich für einen Beruf entscheide, damit ich nachher meinen Weg machen könne. Etwas zu meiner weitern Ausbildung wollte sie schon noch für mich thun. Am liebsten wäre ich gleich irgendwo eingetreten, wo ich eine Lücke ausfüllen, besonders wo ich mich verlassener Kinder hätte annehmen können. Ich verlangte so sehr darnach, einmal nicht mehr überflüssig zu sein, ich war es ja auch der Tante. Aber ich wußte nicht gleich wohin und die Tante drängte mich. So schlug ich vor, ich wollte in die Krankenpflege eintreten, ich konnte ja dann in ein Kinderspital kommen und da wohl genug mutterlose Kleine finden, deren ich mich annehmen konnte. Aber meiner Tante gefiel der Vorschlag nicht. Sie meinte, sie habe mich nicht die zwei Jahre lang so vieles lernen lassen, damit ich nachher nur thue, was jede könne, die nichts gelernt habe, und wenn ich doch die Krankenpflege im Sinn habe, so soll ich lieber gleich Medizin studieren, das sei dann doch ein rechter Beruf und was ich schon gelernt, könne ich dazu gut brauchen. Ich erinnerte sie daran, daß ich besser mit den Händen und dem Herzen, als mit dem Kopf arbeiten würde. Ich sagte ihr auch, daß ich eine solche Scheu davor habe, unter die Studenten hineinzusitzen, daß ich diese Empfindung kaum überwinden könnte. Aber es half nichts, die Tante blieb dabei, und ich war ihr zu viel schuldig, um mich widersetzen zu dürfen. So kam ich auf den Weg, der gewiß nicht meiner Natur angemessen ist, das fühle ich jeden Tag und hätten Sie mich damals als ich zum erstenmal den Hörsaal besuchen sollte, nicht unter ihre Flügel genommen, ich glaube, ich wäre vor Scheu gar nicht hineingegangen.«

»Es ist mir lieb, daß Sie mir das alles erzählt haben,« sagte Sina, »nun versteh' ich auch vieles, das mir an Ihnen nicht recht begreiflich war. Mit Ihrer Tante bin ich aber nicht einverstanden, warum sollte denn die Krankenpflege kein rechter Beruf sein? Wollen Sie wissen, warum ich für mich nie an diesen Beruf gedacht hätte? Ich meine, den recht auszuführen, braucht es etwas ganz anderes, als nur seine geistigen Kräfte etwas anzustrengen; dazu braucht es soviel Hingebung und Liebe und Geduld, man muß wirklich sich selbst vergessen und aus Erbarmen den andern dienen können, um den Beruf zu erfüllen. Das ist doch wohl nichts geringeres als ein anderer Beruf ist. Ich nun habe die guten Eigenschaften nicht, die er fordert, ich habe den Opfermut nicht. Und dann ist noch etwas, ich weiß nicht, wie Sie darin denken, Fräulein Halm, wir haben nie darüber gesprochen. Ich meine, wenn man so an den Leidens- und Sterbelagern steht, so sollte man einen Trost haben für die Armen und Kranken, und ich weiß ganz gut durch eine liebe, fromme Großmutter, daß es solchen Trost gibt. Sie kann ihn geben und so vielen wohlthun damit. Aber ich brächte kein Wort über meine Lippen, ich hätte selbst nichts in mir, womit ich in solchen Lagen wohlthun und trösten könnte; es muß doch in uns selbst lebendige Wahrheit sein, was wir andern zum Trost sagen könnten.«

»O, das würde mir gar nicht schwer werden,« entgegnete Fräulein Halm unbedenklich, »da wäre mir der beste Trost ein herzliches Gebet zu unserm Gott und Herrn, der unser aller Leiden und Sterben in seiner Hand hält. Und für Leidende beten würde mir nicht schwer, das Gebet war schon mein einziger Trost, als ich ein kleines, verlassenes Kind war und zu keinem Menschen gehen konnte, wenn ich in großer Angst und Not war, wie man doch als Kind oft ist und sich nicht zu helfen weiß. Und ich wußte etwas, das machte mich unaussprechlich glücklich im Stillen, ich wußte, daß dem lieben Gott alle seine Kinder gleich lieb sind, daß ich vor ihm nicht das überflüssige Kind war, wie sonst überall. O, wie wohl wurde mir immer, wenn ich alle meine Kümmernisse vor dem lieben Gott ausschütten und zu ihm flehen konnte: Hilf du mir, du bist ja mein Vater! Das habe ich heute noch ganz so wie damals!«

Sina schaute mit Verwunderung auf die Sprechende; in die sonst immer so scheu und zaghaft blickenden Augen war ein Ausdruck so sicheren Glückes gekommen, daß in Sina ein Gefühl wie Verlangen aufstieg, solches Glück auch zu kennen. Der Ausdruck von freudiger Zuversicht, der das Antlitz der schüchternen Martha Halm ganz verändert hatte, ging Sina noch nach, als sie wieder in ihre Wohnung zurückgekehrt war. Sie mußte an ihre Großmutter deuten. Daß diese ihren festen Halt und ihre frohe Zuversicht in allen Lagen des Lebens aus ihrer tiefen Frömmigkeit schöpfte, das wußte Sina wohl, es war ihr aber immer ganz selbstverständlich vorgekommen, so als könnte es nicht anders sein. Aber daß das junge Mädchen in ihrem Glauben so froh und sicher war, daß sie gern damit an jede Leidensstätte treten wollte, das gab Sina viel zu denken, sie fühlte eine Macht in dem Mädchen, vor der sie sich recht nichtig und haltlos vorkam.

Die schönen Junitage waren nun gekommen, die Zeit der großen Ferien rückte heran. Sina freute sich täglich mehr daraus. Daheim in den alten Verhältnissen, im nahen Zusammenleben mit der liebevollen Großmutter mußte wieder alles gut werden. Dort unter den langgekannten lieben Bäumen im alten Garten, mit dem Mainelkenbeet in der Mitte, wo die Bienen darüberhin summten im Sonnenschein, wo die blauen Schwertlilien und die duftenden Sommerrosen blühten, wie vor alter Zeit, dort mußte ihr Herz wieder frei und froh werden und völlig genesen von den krankenden Gedanken, die immer wieder unruhig in ihrem Herzen aufstiegen. Seit Sina wußte, daß Professor Clementi zurückgekehrt war, hatte sie jedesmal das Universitätsgebäude mit einer gewissen Furcht betreten, sie könnte ihm begegnen, und jedesmal mit einem Gefühl der Enttäuschung verlassen, weil sie ihm nicht begegnet war. Noch nie war sie mit ihm zusammengetroffen.

Eben jetzt, am sonnigen Juniabend, schritt sie mit gewohnter Raschheit durch die Halle und trat hinaus in demselben Augenblick, als ebenso rasch zwei Herren eintreten wollten. Diese konnten dem Zusammenstoß eben noch ausweichen, und nachdem sie beide in höflichster Weise gegrüßt, traten sie in die Halle ein. Sina fühlte, wie eine brennende Glut ihr bis in die Augen hinaufstieg; sie eilte hinaus. Sie hatte die beiden Clementi getroffen.

»Das war sie!« sagte ein wenig aufgeregt der Neffe, als die beiden durch die Halle schritten. Ein durchdringender Blick traf ihn aus den Augen des Onkels.

»Für gewöhnliche Menschen gibt es mehr als eine sie!« sagte er in scharfem Ton. »Du mußt ein ungewöhnlicher Mensch oder ein Mensch in ungewöhnlichem Zustande sein, wenn es für dich nur noch eine gibt!«

Der Neffe war rot geworden. »Ich meinte – ich wollte sagen – es ist wahr, Onkel, es ist schon ziemlich lang, seit wir von ihr gesprochen haben; es war Fräulein Normann, die Studentin, von der ich dir erzählt habe. Sieht sie nicht außerordentlich gut aus? Man sieht doch auf den ersten Blick, daß man es mit einer hervorragenden Persönlichkeit zu thun hat. Das ist sie auch wirklich, ich habe sie nun durch das tägliche Zusammentreffen recht nahe kennen gelernt, ich weiß, daß du sie noch schätzen lernen wirst.«

»Hab' ich dir nicht gesagt, daß ich durchaus nichts von allem hören und wissen will?« fuhr der Professor seinen Neffen mit ungewohnter Heftigkeit an, indem er von innerer Erregung angetrieben die Treppen hinauflief. »Laß mich einmal in Ruhe, sprich mir kein Wort mehr von dieser Sache,« rief er dem erstaunt Nacheilenden zurück. Dann stand er plötzlich still und seine Stimme verriet eine immer noch steigende Aufregung: »Wie, Moritz, wenn damals, da du als kleiner Junge deiner Mutter den ganzen Tag auf Schritt und Tritt nachgingst und sie nicht aus den Augen ließest, wie ich mich wohl erinnere, wenn damals diese Mutter am frühen Morgen schon den Jungen fortgeschoben hätte: ›Geh' zur alten Kathi, ich muß Audienz geben!‹ und eine Stunde nachher noch einmal: ›Geh« zur alten Kathi, ich muß auf die Praxis!‹ und dann wäre sie fortgelaufen und den ganzen Tag fortgeblieben, wie hätte es wohl dem Jungen geschmeckt, Moritz? Und was meinst du, was wäre das Leben auf der Erlenau für Jung und Alt gewesen, wäre deine Tante von früh bis spät vom Haus weg ihrem Beruf nachgegangen, wäre sie Ärztin gewesen? Es wäre wohl recht gemütlich gewesen für uns alle beide, nicht?«

Moritz mußte lachen in der Erinnerung an die alte Kathi, vor der er sich gefürchtet hatte wie sein Leben lang vor keinem andern Menschen mehr, denn sie hatte ein strammes Regiment in ihrer Küche geführt und dieses bis auf die kleinen Söhne des Hauses ausgedehnt; sie hatte die Rechte einer langjährigen Familienstütze.

»Aber es wäre doch ein Unrecht,« sagte er noch halb lachend und ermuntert durch des Onkels plötzliches Stillestehen, nachdem er so gejagt hatte, »wenn man an alle jungen Mädchen die Forderung stellen wollte, daß sie nichts erlernen und nichts ergreifen sollten, als was ihr Haus und ihre Familie glücklich macht, auch wenn es sie selbst am glücklichsten machen sollte. Es gibt ja doch viele, die niemals ihr eigenes Haus haben und allein ihren Weg suchen müssen. Und du stellst die Frauen zu tief, wenn du meinst, sie können nichts besseres leisten als nur so als Nebenfiguren in verwandten Familien mitzulaufen.«

»So, ich stellte die Frauen zu tief? Das mußtest du entdecken, Junge!« sagte der Professor mit einem halben Lächeln. »Ich will dir was sagen: solche Nebenfiguren habe ich an Krankenbetten kennen gelernt, das sind die hilfreichen Tanten, der Schirm und Schutz der Kinder, die Stütze und die Zuflucht aller Dienenden, der Trost der Kranken, die rechte Hand der Hausfrau und das rechte Auge des Hausherrn. Nicht wenige Räderwerke prächtig fortlaufender Hauswirtschaften stünden plötzlich still, wenn die Tante wegträte und die leise ordnende Hand des ganzen Treibens wegzöge. Sollte nun auch ein junges Mädchen den unabweisbaren Beruf in sich fühlen, Arzt zu werden, nun, so soll sie ihm folgen. Ich glaube zwar, – zur Ehre der Frauen sage ich es – sie fühlen diesen Beruf in sich, indem sie den des Arztes mit dem der Krankenpflegerin in ihren Gedanken zusammenschmelzen. Wo ist die Frau, die nicht lieber verbinden und heilen als schneiden und brennen würde? Warum denn den Beruf wählen, in dem der Mann ohne Zweifel ungleich mehr und besseres leisten kann und nicht denjenigen, in dem die Frau nie erreicht wird, wo der Mann sich gar nicht messen kann mit ihr? Meinst du, ich stelle damit die Frau wieder zu tief? Sollte man in diesem Beruf vielleicht weniger gutes wirken können als in dem des Arztes? Als ich an meinem großen Hospital im Norden stand, habe ich erfahren, was Frauenpflege für die Kranken ist. Trat ich in den Krankensaal ein, so schauten aller Augen verlangend nach der Thür; aber es galt nicht mir, die suchenden Blicke wollten mich durchdringen, um zu entdecken, ob auch Schwester Elisabeth hinter mir hereinkomme. War ich allein, so fielen alle die Kopfe mutlos auf die Kissen zurück; kam sie wirklich hinter mir her, so erglänzte ein wahrer Sonnenschein aus allen Gesichtern. In den Kindersaal einzutreten war gar nicht auszuhalten, wenn ich sie nicht zur Seite hatte, gleich die Verzweiflung aus all den bleichen Gesichtchen. Stille Thränen und Schluchzen und nicht selten lautes Wehgeschrei, das war der Empfang für mich. Kam sie mit, gleich alle die magern Ärmchen in der Lust vor Freude und ein Winken und Grüßen und eine Wonne in all' den kleinen, elenden Gestalten, daß ich ganz froh wurde darüber. Wie mußte es ihr selbst wohlthun! Wir hatten der Kleinen so viele, daß Schwester Elisabeth mehr als genug Arbeit mit ihnen hatte, und da war sie gar nicht zu entbehren. Ich konnte sie nicht mehr aus den Saal der Männer gehen lassen; darüber brach dort ein wahrer Aufruhr aus. Die Schwachen und Alten weinten und sagten mir, ich habe kein Erbarmen, ich nehme ihnen den einzigen Trost weg, die jüngeren grollten und schalten, das Hospital sei eine Mördergrube, nur unter Schwester Elisabeths Pflege sei auszuhalten, was da ausgehalten werden müsse, und diesen Halt entreiße man ihnen. Junge Ärzte, Assistenten fand ich so viele ich wollte, aber diese kostbare Frauenhilfe, wie könnte die vervielfacht werden? Das war meine tägliche Frage. Als ich das Hospital verließ, wurde ich sofort sehr gut ersetzt, sollten sie aber dort die Schwester Elisabeth verlieren, so werden sie sich kaum zu helfen wissen, das weiß keiner so gut wie ich selbst. Und ich sollte derjenige sein, der die Frauen niedrig stellt? Absurd, Moritz!«

»Ja, Onkel, diese Schwester Elisabeth ist nun gerade eine besondere Erscheinung, die du anerkennst, aber zu solchem Beruf bedarf es auch eigener Gaben.«

»Hast du nicht eben auch von einer besondern Erscheinung und einer eigenen, außerordentlichen Begabung gesprochen?« fiel der Onkel dem Neffen ins Wort, »und wo solche Begabung und der Entschluß, einem Beruf sich völlig hinzugeben, zusammentreffen, da muß der Beruf der Schwester Elisabeth einer Frau, eine ganz andere Befriedigung und der leidenden Menschheit eine ganz andere Wohlthat gewähren, als derjenige der Ärztin. Du aber, Moritz, wirst wohl nicht besonders wünschen, daß die Persönlichkeit, von der du sprichst, irgend ein Berufsleben der Übernahme einer eigenen Häuslichkeit vorziehe, wie?«

Moritz wurde dunkelrot.

»Du hast wohl gedacht, der Onkel mit seinen zwölf Jahren mehr auf dem Rücken, als du deren trägst, sei zu alt, so was nur noch zu verstehen, geschweige zu erraten, er hat es doch gethan.«

»Nein, Onkel, so habe ich nie gedacht,« sagte der Neffe lebhaft, der sich nun gefaßt hatte. »Mein Ehrenwort, Onkel, etwas ganz anderes habe ich erst heute noch gedacht, ich will dir's sagen: Ich sagte mir, wenn ich einmal ein Mädchen – ich meine, wenn ich an ein Mädchen recht ernstlich denken würde, so wäre ich froh, wenn dies Mädchen meinen Onkel nicht kennen lernte, daß es nicht die beiden Clementi vergleichen würde.«

»Laß nur gut sein, Junge,« sagte der Onkel kurz, »und denke daran, wir sprechen nie mehr von der Sache. Du weißt, daß ich von den weitern Studien der Dame nichts wissen will.«

Nun ging er.

Der Onkel mußte sich über dem Gespräch vergessen haben, wie sonst nie, dachte Moritz, so lange hatte der Mann sich niemals zu einer Unterhaltung Zeit genommen, wenn man ihn nicht am Abend in seinem Hause aufsuchte.

Am Nachmittag desselben Tages, als Moritz mit Sina nach Hause wanderte, teilte er der mit Spannung Lauschenden treulich jedes Wort des Gespräches mit, das er heute früh mit seinem Onkel geführt hatte, nur den Schluß ließ er weg.


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