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9. Kapitel.

Der Lehrer der Botanik, bei welchem Sina ihren Privatunterricht begonnen hatte, riet ihr, dieses Fach sogleich an der Universität zu belegen, da sie dazu hinlänglich vorbereitet sei, was sie befolgte. Die Ferienzeit, während welcher Sina angekommen, war nun zu Ende. Die Kollegien begannen. Als Sina zum erstenmale das Universitätsgebäude betrat, erblickte sie ein junges Mädchen, das scheu und unsicher in der großen Halle hin – und wiederlief. Sobald die Herumirrende Sina gewahr wurde, kam sie schnell heran und frug in schüchterner Weise, ob die Dame vielleicht hier schon bekannt sei und ihr den Hörsaal zeigen könne, wo Botanik gelesen werde, sie hätte die Nummer vergessen.

»Da gehen wir gleich zusammen hin,« entgegnete Sina. »Bin ich auch selbst zum erstenmal hier, so werden wir uns doch zurecht finden.«

Der scheue Blick wich jetzt einem Ausdruck des Zutrauens und der Dankbarkeit in den sanften, blauen Augen, die aus Sina gerichtet waren. Die Art und Weise und die ganze Erscheinung des schüchternen Mädchens erinnerte Sina an ihre Freundin Marie und hatten daher etwas ansprechendes für sie. Unwillkürlich mußte sie sich im stillen fragen: Wie kommt wohl gerade dieses Mädchen auf einen Weg, der ihr einen leisen Schrecken einzuflößen scheint. Sina nannte sich der neuen Bekannten. Martha Halm war der Name, den diese zurückgab.

Die beiden traten in den Hörsaal ein. Das Zimmer war angefüllt mit Studenten. Auch einige Damen waren da. Gleich auf der ersten Bank saßen deren zwei nebeneinander, sie sahen etwas fremdartig aus. Alle Plätze derselben Bank waren besetzt. Einige Reihen weiter zurück saß eine junge Dame auf einem Eckplatz, neben ihr waren noch mehrere Plätze frei. Sina nahte sich der Bank und stand einen Augenblick abwartend, ob die Studierende weiter rücken oder ihr zum eintreten Raum machen wollte. Die junge Dame saß über ihr Buch gebeugt und nahm durchaus keinen Anteil an dem, was um sie her vorging. Sie hob den Kopf keinen Augenblick empor, sie rührte sich nicht. Sina mußte sich an ihr durchzwängen, um ihren Sitz zu erlangen. Fräulein Halm folgte ihr mit Mühe.

Als Sina aus ihrem ersten Kolleg zurückkehrte, lag ein Brief auf ihrem Tisch. Von einer klaren, festen Männerhand stand ihr Name und Wohnort darauf geschrieben. Ihr Herz fing so zu klopfen an, daß sie einen Augenblick still halten mußte, dann öffnete sie. Sie hatte richtig geahnt, das Billet war von Professor Clementi. Er schrieb, längst hätte er gern die versprochene Nachricht gegeben, wenn er sie nur erhalten hätte. Nachfragen an Privatleute hatten zu nichts geführt. Endlich hatte er sich an eine Behörde gewandt und soeben die Antwort erhalten, der arme Mann sei wenige Tage nach seinem Sturz ins Wasser gestorben. Alles was er zurückgelassen, sei ein kleiner, elender Junge, der wohl ein Krüppel bleiben werde. Die Mutter sei nicht mehr am Leben. Das völlig verwahrloste Kind sei für einmal im Armenhaus aufgenommen. Gern hätte er selbst die Nachricht dem Fräulein überbracht, hieß es zum Schluß, wäre sie nicht in dem Augenblick gekommen, da er sich eben zu einer Reise nach Norden gerüstet hatte, die keinen Aufschub dulde. Sein Wunsch wäre, daß ein zweites Zusammentreffen mit dem Fräulein durch einen erfreulicheren Grund herbeigeführt werden möchte als das erste, dennoch werde ihn dieses als wohlthuende Erinnerung auf die Reise begleiten.

Sina hatte das Briefchen schon mehrmals gelesen, sie las es wieder und wieder. Es ging ein Hauch der Herzlichkeit durch die Zeilen, so als kämen sie von einem nahen, langgekannten Freund. Heute konnte sie nicht weiter studieren, sie mußte hinaus, weit vor die Stadt hinaus, auf jene Anhöhe, wo sie in die sinkende Sonne und den goldenen Abendhimmel hineinschauen konnte. Dort stand sie lange, lange und schaute nach dem goldenen Meer, es war so schön, so herrlich anzuschauen und so wonnig sangen die Vögel über ihr in den Abend hinein. Sie wußte gar nicht, warum es heute so wunderbar schön war hier oben wie sonst noch gar nie.

Die Herbstmonate waren vergangen, der Dezember nahte. Sina hatte mit Einwilligung der Großmutter beschlossen, die kürzeren Ferienzeiten in der Stadt zuzubringen, um die Zeit recht zu Nutze zu ziehen und erst für die langen Sommerserien heimzukehren. Es waren nun eben sechs Wochen verflossen, seit sie den Besuch ihres Kollegs begonnen, der Privatunterricht in den andern Fächern hatte früher schon seinen Anfang genommen. Auf alle Seiten hin arbeitete sie mit unablässigem Fleiß. Aber es war keine ruhige, wohlthuende Thätigkeit, die Sina betrieb, es war ein Darauflosmachen, ohne Rast, ohne Ruhe, so als ob dadurch ein inneres Fieber verarbeitet werden und sich legen sollte. Wer sie mit ihren Heften unter dem Arm dahin rennen sah, der mußte denken, schon um ihres Eifers willen müßte die Studierende mehr leisten als alle andern.

Fräulein Halm konnte ihre Schüchternheit nicht ablegen. Sie hielt sich zu Sina so nahe sie nur konnte, es war offenbar, daß sie nur unter diesem Schutz sich in der ungewohnten Umgebung wohl fühlte.

Ein klarer Dezembermorgen hatte den langen, unfreundlichen Nebeltagen gefolgt. Die unbeschneiten Wege waren hart gefroren, so recht zu tüchtigem Wandern ins Land hinaus einladend. Eilenden Schrittes kam Sina über den großen Platz auf das Universitätsgebäude zugelaufen. Es war später, als sie gewohnt war zu kommen, die Vorlesung konnte begonnen haben. Der schöne Morgen hatte sie zu einem Lauf verlockt, der ihr die Zeit so kurz erscheinen ließ, daß sie fast zu spät gewahr wurde, wie sehr sie sich zu eilen hatte. Aber Sina konnte laufen. In der Eintrittshalle stand sie einen Augenblick still und schaute suchend um sich. Regelmäßig traf Fräulein Halm hier mit ihr zusammen, denn allein betrat das Fräulein den Hörsaal nie, irgendwo wartete es immer Sinas Ankunft ab. Es war niemand zu sehen. Zeit war keine zu verlieren, Sina stürzte die Treppen hinauf. Sie kam gerade noch recht, eben erblickte sie den Professor von der andern Seite kommend. Sie trat ein, zwängte sich wie gewöhnlich an der Regungslosen vorüber an den gewohnten Platz hin. Fräulein Halm war nicht da, ihr Platz war unbesetzt, weiterhin folgte, wie gewöhnlich, die volle Reihe der Studenten. Der Hörsaal war sehr besetzt, heute war fast kein leerer Platz zu sehen. Der Professor hatte begonnen. Einige Minuten später trat ein ungewöhnlich großer Kraftmensch ein, schaute rundum und den einzigen leeren Platz gewahrend, schritt er zu der Bank hin. Eine kleine Weile stand er wartend; die Regungslose saß über ihr Heft gebeugt, füllte den ganzen Raum aus und regte sich nicht. Sina war weiter gerückt, nicht zweifelnd, ihre Nachbarin würde nachfolgen. Es geschah nicht. »Rücken Sie mir näher, Fräulein, es ist kein anderer Platz da,« sagte Sina jetzt leise, denn es kam ihr einfacher und viel leichter vor, daß der hünenhafte Mensch sich an die Ecke setze, als daß er sich in die Reihe hineinzwingen sollte. Das Fräulein rührte sich nicht. Jetzt nahm der Große einen riesenhaften Schritt, um das Hindernis zu übersteigen, und mit ungeheurem Gepolter fuhr er aus die Bank nieder, indem er Sina einen solchen Puff versetzte, daß sie ihn unfreiwillig auf ihren Nachbar übertrug. »Entschuldigen Sie,« sagte sie leise und war glühendrot geworden, denn der Professor hatte mit einigem Erstaunen seine Blicke auf die bewegte Gruppe gerichtet.

Als Sina den Hörsaal verließ, traf sie draußen mit ihrer Nachbarin zusammen. Die beiden hatten bis heute noch kein Wort miteinander gewechselt, aber jetzt wünschte Sina mit ihr zu sprechen. Sie hielt die junge Dame an und stellte sich ihr vor.

»Mein Name ist Valevsky, was wünschen Sie von mir?« entgegnete diese kurz.

»Ich möchte Sie gern darauf aufmerksam machen,« fuhr Sina fort, »daß wir wohl selbst den Gewinn davon haben, wenn wir gegen unsere Mitstudierenden höflich sind und ihnen keine Veranlassung zu Störungen geben, wie diejenige von heute war. Gewiß war sie auch dem Herrn Professor ärgerlich.«

»Wenn die Herrn Studenten sich gern vor den Professoren blamieren, so ist das ihre Sache, das kann uns nicht berühren,« war die Antwort.

»Mich hat sie sehr deutlich berührt, das kann ich Ihnen sagen,« versicherte Sina, »und daß ich meinem Nachbar einen solchen Stoß versetzen mußte und dazu unter den Augen des Professors, war mir gar nicht gleichgültig. Die Herren waren immer höflich gegen uns, warum sollten denn wir es nicht sein, wenn es uns dazu noch so wenig kostet? Sie hatten nur um einen Platz weiter zu rücken.«

»Die Universität ist kein Institut, wohin man geht, um Höflichkeiten zu erweisen und sich diese erwidern zu lassen,« sagte Fräulein Valevsky sehr bestimmt. »Das einzig Richtige, wodurch wir unsere Stellung hier behaupten und alte, verrostete Vorurteile widerlegen können, besonders auch das Voraussehen schillernder Beziehungen Lügen strafen, ist, dem Prinzip zu folgen, das ich angenommen habe. Ich schaue weder nach rechts noch nach links, gehe meinen Weg und lasse jeden den seinigen gehen. Ich bin hier, um zu studieren, weiter gar nichts, die dasselbe thun wollen, mögen es thun, für mich sind sie durchaus Luft.«

»Eine schwere Luft, wie ich soeben erfahren habe,« meinte Sina. »Nein, Fräulein, Ihrem Grundsatz kann ich nicht folgen. Warum sollten wir denn hier anders sein, als wir überall sonst sind? Ein unbegründetes Vorurteil verliert sich von selbst, die einfache Höflichkeit hat durchaus nichts Schillerndes und was ich von einem andern wünsche, bin ich ihm auch schuldig. Ich wünsche aber sehr, daß die Herren höflich gegen mich seien, darum will ich es auch sein.«

»Thun Sie, was Sie nicht lassen können, mich werden Sie nicht vom richtigen Weg abbringen,« schloß Fräulein Valevsky und empfahl sich.

Kaum war sie aus dem Gebäude getreten, als Sina einen jungen Herrn aus sich zukommen sah; es war ihr Nachbar, der den unfreiwilligen Stoß erhalten hatte.

»Mein Fräulein,« sagte er mit höflichster Verbeugung, »ich möchte meinen Freund, den großen Haon, bei Ihnen entschuldigen. Er ist mit etwas mehr Schwung, als unumgänglich nötig war, in die Bank hineingeraten und dadurch etwas aus dem Gleichgewicht gekommen. Er ist kein roher Mensch und würde von sich aus keine Fliege beleidigen, er hilft sich nur in schwierigen Fällen nach seiner Weise. Es thut mir doppelt leid, daß die Folge des gewaltsamen Schrittes Sie treffen mußte, da Sie doch den besten Willen zeigten, einen natürlichen Weg zu bahnen.«

»Mir war die Sache auch nicht recht, die Störung war mir besonders ärgerlich für unsern Professor,« entgegnete Sina. »Sie trifft ja freilich kein Vorwurf dabei, Sie hatten mitzuleiden.«

»Es war zu ertragen. Darf ich Ihnen meine Karte geben, mein Fräulein?« Damit zog der junge Herr diese auch schon aus seinem eleganten Kartentäschchen, nahm diejenige Sinas entgegen und entfernte sich mit derselben Höflichkeit, mit der er sich eingeführt hatte.

Sina schaute auf die empfangene Karte: »Moritz Clementi, stud. med.« stand darauf. »Wieder der Name!« Sie fühlte, wie ihr das Blut warm in die Wangen gestiegen war. Den Augenblick nachher sagte sie sich ärgerlich: »Es ist doch recht kindisch, das soll mir nicht wieder geschehen.« Bei näherem Nachdenken fand sie auch: an einer Universität können doch wohl zwei denselben Namen tragen und sich gar nichts angehen. Nur die Sprache der beiden Clementi war so ganz dieselbe, aus derselben Gegend mußten sie stammen.

Fräulein Halm blieb auch die folgenden Tage aus. Nun ging Sina nach der Wohnung der sonst so regelmäßigen Schülerin, es mußte ihr etwas zugestoßen sein. Sie lag zu Bett an einem ermattenden Fieber, das der Arzt als eine recht langweilige Sache ansehen mußte, da er der Kranken völlige Ruhe und Stille verordnet hatte. Sina fand es daher besser, ihren Besuch nicht zu wiederholen, sie wußte von Fräulein Halm selbst, daß diese von ihrer Hauswirtin aufs beste verpflegt wurde.

Sina hatte nun ihren Platz im Kolleg neben dem des jungen Clementi, wie sie ihn bei sich selbst nannte. Er hatte auch noch etwas sehr jugendliches in seiner Erscheinung wie in seinem ganzen Wesen. Er mußte dasselbe Stadtviertel mit ihr bewohnen und wie sie den Fußpfad, der durch die große Wiese hinter dem Krankenhaus hinführte, der breiten Straße vorziehen. Regelmäßig betraten sie zusammen den Weg und gingen hintereinander die einsame Wiese entlang, doch ging es nicht lange so weiter. Clementi redete Sina an und da sie ganz einfach und natürlich Antwort gab, wurden die Gespräche länger und nun gingen die Sprechenden nebeneinander her und ihre Unterhaltung wurde immer lebhafter.

Clementi war ein großer Naturfreund, vor allem liebte er die Bäume und wußte auch ringsum Bescheid, wo die schönsten Exemplare zu finden waren. Darin traf Sinas Geschmack ganz mit dem seinigen zusammen und nun er das entdeckt hatte, wurde er nicht müde, ihr von den herrlichen Buchenwäldern seiner Heimat zu erzählen. Er war aus Holstein gebürtig. Wenn er von dem wunderbaren Rauschen seiner Wälder erzählte, konnte Sina in volle Begeisterung geraten und ihre erregte Teilnahme feuerte den Erzähler zu immer neuen Schilderungen an. So waren die beiden in kurzer Zeit ganz gute Freunde geworden. Sina fühlte sich auch sehr sicher in dieser Freundschaft und freute sich daran. Sie hatte eine rechte Sympathie für den jungen, offenen, so wohlerzogenen Menschen. Er kam ihr vor wie ein jüngerer Bruder, mit dem sie gern in aller Zutraulichkeit verkehrte. Sie hatte das Gefühl, in jeder Beziehung weitaus die ältere von beiden zu sein, was sie in dem Verkehr um so freier machte. Sina war nun schon so sehr daran gewöhnt, den jungen Clementi auf ihrem Weg zu finden, daß sie sich unwillkührlich umsah, als sie zum erstenmal seinen Schritt nicht hinter sich vernahm. Sie war freilich etwas eilig hinausgegangen; er kam ihr nachgerannt.

»Sie tragen wirklich mit Recht Ihren Namen, Fräulein,« sagte er keuchend, »wer vermag Ihnen nachzukommen, wenn Sie losstürzen!«

»Was hat denn mein Name mit der Entdeckung zu thun, die Sie eben gemacht haben? Das ist mir nicht klar,« entgegnete Sina.

»Erst müssen Sie den Namen kennen, dann wird's klar werden, mein Fräulein,« fuhr Clementi an ihre Seite tretend fort. »Wie Sie wissen, sind Sie unter die Studenten gegangen und teilen nun ihr Los: Sie haben einen Cerevisnamen wie wir alle und der Ihrige ist dazu viel kräftiger als der meinige, Sie heißen: Der Bergsturz! Dieser Name kommt daher, daß sie gewöhnlich derart durch die Lande stürzen, daß ein friedlich daher kommender Wanderer oft vor Verschüttung nicht sicher ist. Aus dem Hochland sollen Sie ja auch stammen.«

Sina lachte. »Das letztere ist richtig! Haben Sie denn alle die Damen mit Namen beehrt?«

»Gewiß, gewiß! Da ist Ihre Nachbarin, das polnische Fräulein Valevsky, die nennen wir das Nebelschiff, da diese Gestalt fortwährend wie in dichtem Nebel herumsteuert und alle Fahrwasser unsicher macht. Dann sind die zwei Damen aus der ersten Bank, kennen Sie diese?«

Sina verneinte.

»Es sind Russinnen. Das ›Unzulängliche‹ heißt die eine, das ›Ereignis‹ die andere. Das kommt daher, daß mein Freund Haon herausgefunden hat: Die Zwei an dieser Stelle sitzend, erfüllen das Wort: Das Unzulängliche hier wird's Ereignis.«

»Der ist boshaft!« warf Sina ein.

»O nein, keine Spur, er ist die beste Seele, harmlos wie Bachwasser. Haben Sie etwa erraten, woher er selbst seinen Namen hat?«

»Nein!«

»Sie bemerken, er ist ein umgekehrter Noah. Dieser hat doch den Wein ins Dasein gerufen, er aber vertilgt ihn, wo er ihn findet.«

»So, nun ist's gut, daß wir gleich am Scheideweg angekommen sind, ich weiß der Cerevisnamen nun ganz genug,« sagte Sina, »die übrigen schenke ich Ihnen!«

»Nicht einmal den meinen wollen Sie noch wissen? Das zeigt wenig Freundesinteresse.«

»Nun so sagen Sie ihn schnell, es ist gerade noch Zeit bis zum Kreuzweg.«

»Zephyr heißen sie mich! Könnte ich nicht auch sagen: das ist boshaft! Ich säusle doch nicht. Weil ich das laute Lärmen und Schreien nicht mag und nicht mitmache, wo solches vorauszusehen ist, muß ich so heißen, aber Bosheit ist nicht dabei, die kennen wir nicht. Sie sind doch nicht beleidigt, mein Fräulein? Sie gehören nun einmal zu uns, soviel können Sie doch wohl ertragen?«

Sina versicherte, daß sie durchaus nichts von Beleidigung wisse, und daß sie gar nicht schwer zu tragen habe an seinen Mitteilungen.

Als sie in ihrer Stube angelangt war, setzte sie sich hin und wollte wie gewöhnlich ihre Eindrücke und zerstreuenden Gedanken, neue und alte, mit der Arbeit niederkämpfen. Ihre Augen lasen die Worte der Pflanzenbeschreibung im Buch, das vor ihr lag, aber ihre Gedanken wanderten umher. Ertragen konnte sie gewiß recht wohl, was sie gehört hatte, aber es kam ihr doch so fremdartig vor, daß sie mitten in dem burschikosen Zeug sein sollte. Der neue Freund erschien ihr noch viel jünger und unreifer als bisher. Es war ihr, als sei um sie her eine große Öde und Leere und gar nichts da, das der Mühe wert wäre zu ergreifen und zu verfolgen. Sie dachte an die Großmutter und ihre Thätigkeit unter ihren Armen und Kranken. Mußte sie nicht oft nach der kräftigen Hilfe der Enkelin verlangen? Hätte diese nicht bei ihr bleiben und ihre guten Kräfte zur Freude der Großmutter gleich da anwenden sollen, wo es keines weitern Studiums gebrauchte, um viel Not zu lindern und schwere Herzen zu erleichtern? Wäre ihr eigenes Herz nicht befriedigter bei solcher Thätigkeit? Dann stieg ein Bild vor ihr auf, wie ein ernstes Antlitz mit edeln Zügen über einen armen Elenden gebeugt war und mit der größten Sorgfalt die halb erstarrte Hülle pflegte. Dann sah sie dieselbe hohe Gestalt an andere Schmerzenslager treten und alle Kraft einsetzen um Hilfe und Rettung zu bringen. Und nun folgten ihre Gedanken dem ernsten Manne, wie er müde in sein stilles Haus eintrat und sich allein hinsetzte, wo sonst eine harrende Mutter ihn mit freundlichem Wort empfangen und mit Verständnis und warmer Teilnahme die schweren Eindrücke seines Tages aus sich genommen hatte. Und sie hörte die Worte: »Sie erinnern mich an meine Mutter.«

Sina sprang auf. »Immer wieder, immer wieder!« rief sie halb in Angst, halb in Entrüstung, als werde sie von einer Macht angepackt, der sie doch entflohen war und vor der sie endlich sicher zu sein glaubte. Sie warf ihr Buch weg und lief hinaus.


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