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6. Kapitel.

Sina war einige Tage lang außergewöhnlich still und in Gedanken versunken umhergegangen. Marie hatte sich nie gezeigt derweilen, Sina hatte nie begehrt zu ihr zu gehen.

Am letzten sonnigen Maimorgen, als die Großmutter sich geruhlich an den Tisch gesetzt hatte, um ihre Sämereien für den Sommerflor zu erlesen, trat Sina herein, setzte sich neben sie hin und sagte in ganz unternehmender Weise: »Großmutter, ich muß mit dir reden.«

»Da bin ich Sina, und höre zu,« entgegnete diese lächelnd.

»Ja, aber ich weiß nicht, was du sagen wirst,« begann Sina, ein wenig zögernd, »du mußt nicht gleich erschrecken und denken, ich fahre ganz unbesonnen in etwas Unbekanntes hinein. Gewiß, Großmutter, ich habe alles reichlich überlegt und weiß genau, was ich thun will: Ich will Medizin studieren.«

Die Großmutter legte ihr Samenpapier aus der Hand und schaute die Enkelin an, als müsse sie sich überzeugen, daß sie's auch wirklich sei. »Redest du im Ernst zu mir oder sagst du so etwas, um zu sehen, was ich für ein Gesicht dazu machen würde?« fragte sie jetzt, immer noch auf Sina blickend, als wüßte sie nicht recht, was sie aus ihr machen sollte.

»Im vollen Ernst, Großmutter, glaub' mir's nur,« erwiderte das Mädchen zuversichtlich. »Ich bin ganz entschlossen und möchte nur gern, daß du recht mit einverstanden wärest.«

»Setz dich hier zu mir her, Kind,« bedeutete ihr die Großmutter. »Erst muß ich die Sache verstehen und begreifen, wie du zu dem Gedanken gekommen bist, ehe ich nur ein Wort sagen kann. Sage mir jetzt eines,« fuhr sie fort, als Sina sich neben ihr niedergelassen hatte, »solltest du auf einmal einen unüberwindlichen Zug zu diesem Beruf empfinden, Sina, hast du eine besondere Fähigkeit in dir entdeckt, die dich dazu treibt? Oder ist es etwas anderes? Sucht dir das Ereignis der letzten Tage nach und möchtest du darum fort, aus allem weg, das damit zusammenhängt, damit dich nichts mehr daran erinnert? Möchtest du ein ganz neues Leben ansangen, in dem du dich frei vom vergangenen fühlst, so als wäre nichts geschehen? Hat dir dieser Wunsch deinen Entschluß eingegeben?«

Sina saß eine Weile sinnend, dann sagte sie: »Nein, das kann ich nicht sagen, daß ich eine besondere Fähigkeit zu dem Beruf in mir entdeckt hätte, aber das haben gewiß auch Hunderte nicht, die ihn treiben; mit Fleiß und Eifer kann ich doch wohl erreichen, was diese leisten. Aber es ist etwas anderes, das mich dahin treibt: siehst du, Großmutter, die Geschichte mit Wilhelm hat mir so vielerlei Gedanken erweckt über mein künftiges Leben. Ich muß doch etwas machen aus meinem Leben, ich will eine bestimmte Arbeit haben, bei der etwas rechtes herauskommt. Daß ich den Beruf des Arztes wähle, sollte dich doch freuen, Großmutter, du bist ja so sehr für jede Art von Wohlthun eingenommen und in dem Beruf kann ich gewiß vielen Menschen wohlthun.«

»Aber warum solltest du denn einen so aparten Weg einschlagen müssen, um Arbeit zu finden und um wohlzuthun, Sina? Ich komme ja mit dem besten Willen nicht zum zehnten, nicht zum zwanzigsten Teil zu allem, das um uns her gethan werden sollte, das so bitter notthut. Denk an meine alten Elenden, an die Kranken an allen den einsamen Orten, wo sie so verlassen liegen. Denk an alle die armen Kleinen, die verwahrlost und eingesperrt in den Stuben liegen, weil die Mütter auf die Arbeit hinaus müssen. Und deine alte Blinde, die einen tausendfältigen Segen auf dich herunterwünscht, wenn du kommst und ihr etwas vorliesest! Ist das Feld dann nicht groß genug, wo du wohlthun kannst in der nächsten Nähe von Tag zu Tag?«

»Aber, Großmutter,« fiel Sina hier ein, »das ist ja gar keine bestimmte Arbeit, kein Beruf, wo ich meine ganze Lebenskraft und mein ganzes Interesse einsetzen kann und der mir bleibt für immer.«

»Für immer bleiben auch Kranke und Verlassene und arme, vernachlässigte Kinder gibt es jederzeit zu pflegen,« entgegnete die Großmutter, »und müßtest du einmal dein Brot verdienen, so hättest du in dieser Pflege deine Zeit nicht verloren. Es gibt genug Anstalten, wo Frauen mit geschickter Hand und einem Herzen voll Mitleid ihre Stelle finden, wo sie ihr Leben lang wohlthun können. Und dann, Sina, wenn du dein ganzes Interesse und deine Lebenskraft in deinen Beruf setzen würdest und du wolltest doch einmal dein eigenes Haus haben, wie käme es dann? Vor lauter Beruf ginge in deinem Haushalt alles drunter und drüber, denn Tag und Nacht, zu jeder Zeit müßtest du laufen, wohin du gerufen wirst, du wolltest ja doch dann eine begehrte Ärztin fein, nicht eine, die niemand braucht.«

Aber jetzt fuhr Sina auf: »Das begehre ich ja gar nicht, mir ein eigenes Haus zu gründen, das ist nicht für mich, Großmutter, und so unthätig dasitzen, gerade so, als ob ich von einem andern erwartete, daß er komme und mir einen Lebensweg aufthun sollte, will ich auch nicht, ich will mir diesen selbst machen.«

»Wie weißt du denn so bestimmt, daß du nie wünschen wirst, deinen eigenen Hausstand zu haben? das möchte ich doch gern wissen,« meinte die Großmutter.

»Das weiß ich, kann ich nun wohl wissen,« entgegnete Sina, »in der ganzen Geschichte mit Wilhelm habe ich deutlich erfahren, daß ich mich nie, nie so binden und an einen Menschen ketten lassen könnte. Ich wünsche und hoffe viel schöneres für mein Leben; daß es mein ganzer Ernst und mein einziges Verlangen ist, den ersehnten Weg zu betreten und darin zu bleiben, da kannst du ganz sicher sein. Nur eines fehlt mir zu der vollen Freude daran, daß du nicht recht einwilligen willst, Großmutter. Aber du thust es doch noch, nicht wahr? Du siehst, daß ich nur diesen einen Wunsch habe und nur noch deine Zustimmung brauche, um glücklich zu werden.«

Die Großmutter schüttelte den Kopf, aber in ihrer freundlichen Weise fuhr sie fort: »Daß du meinst, mit achtzehn Jahren habest du schon alle Erfahrungen auf diesem Gebiet hinter dir, ist noch recht jung. In deiner Familie sind die Frauen, die so kühl und unberührt durchs Leben gehen, nicht bekannt. Ich hatte andere Gedanken für dich, am liebsten wollte ich dich bei mir behalten, solang als möglich; aber damit will ich dir das Herz nicht schwer machen, wenn du nur auf dem Wege glücklich zu werden glaubst, den du vor dir siehst. Ich kann es nicht verstehen, liebes Kind, aber ich will dir nicht im Wege stehen, wenn dein Vater mit der Sache einverstanden ist, den hast du vor allem aus anzufragen.«

Sina sprang auf und umarmte in stürmischer Freude die Großmutter. »O du liebes Großmütterchen,« rief sie zärtlich aus, »ich habe wohl gewußt, wie gut du bist und daß du mir gewiß hilfst, wenn du siehst, wie klar und sicher ich meinen Beruf vor mir sehe und wie glücklich es mich macht, ihn zu ergreifen. Und siehst du, Großmütterchen, wir trennen uns nicht so ganz, alle Ferienzeiten bringe ich natürlich bei dir zu und bin ich fertig mit meinem Studium, so kehre ich heim zu dir für immer und besorge alle deine Kranken und Elenden und wir haben ein ganz herrliches Leben zusammen. Nicht wahr, das kannst du so recht vor uns sehen und dich freuen darauf, wie ich, nicht wahr, Großmütterchen?«

»Ach nein, liebes Kind, freuen kann ich mich nicht über die Sache,« sagte die Großmutter freundlich, »sie ist mir zu fremd. Und dann Sina, habe ich auch die Befürchtung, wenn du vor: mir weg bist, so kommst du immer noch etwas weiter weg von der Quelle, deren Wasser ins ewige Leben fließt und uns erquicken und heilen kann, wo wir's bedürfen. Du bist schon kein frommes Kind mehr, wie du warst, Sina, und wenn du nun wegkommst und in ganz neuen Dingen lebst und die Großmutter dich nie erinnern kann, daß das Menschenherz ohne Verkehr mit dem lebendigen Gott immer leerer und dürrer wird, bis es vertrocknet, wirst du dann ganz vergessen, was dich allein lebendig erhalten und der Trost und das Licht deiner Tage sein kann? Wirst du nicht zu beten aufhören, Sina? Ich wollte, du könntest jetzt so recht aus dem Herzen mit mir die Worte sagen, wie du sie aus meinem Schoß als kleines Kind gebetet hast:

»Wir stolze Menschenkinder
Sind eitel arme Sünder
Und wissen gar nicht viel,
Wir spinnen Luftgespinnste
Und suchen viele Künste
Und kommen weiter von dem Ziel.

Gott laß dein Heil uns schauen,
Auf nichts vergänglich's bauen,
Nicht Eitelkeit uns freun.
Laß uns einfältig werden
Und vor dir hier auf Erden
Wie Kinder fromm und fröhlich sein!«

Sina erinnerte sich wohl, wie sie auf der Großmutter Schoß gesessen und gebetet hatte. Es waren so schöne, friedliche Kindertage! Aber Sina war jetzt zu freudig erregt, um lange bei der Erinnerung verweilen zu können. Sie legte schmeichelnd ihren Arm um den Hals der Großmutter und sagte: »Ich kann dich ja nie, nie vergessen, Großmutter und darum auch nicht, was mit dir zusammenhängt. Sag', Großmütterchen, wie wäre es, wenn ich gleich jetzt an den Vater schreiben würde? Hättest du nichts dagegen? Er könnte dann am Sonntag antworten, bis dahin hätte er meinen Brief.«

»So thue es,« sagte in freundlicher Zustimmung die Großmutter, aber es war ein Ausdruck der Wehmut auf ihr Gesicht gekommen, der Sina einen Augenblick zurückhielt. Aber was sie unternehmen wollte, war ja doch etwas, an dem die Großmutter nachher ihre größte Freude haben mußte, sagte sich Sina und nun ging sie, dem Vater ihre Angelegenheit vorzulegen.


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