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7. Kapitel

Acht Tage darauf kam die Antwort des Vaters, die dahin lautete, Sina habe die Sache mit ihrer Großmutter auszumachen, was diese bestimmen würde, sollte ihm auch recht sein. Er hätte zwar gedacht, Sina würde die Großmutter nicht verlassen, deswegen gefalle ihm die Sache nicht recht; indessen lege er die Entscheidung unbedingt in die Hand dieser besten Leiterin; was sie für gut halte, werde das Richtige sein.

Sina bemerkte, daß der Brief die Großmutter wieder etwas schwankend gemacht hatte, indem die Entscheidung so völlig in ihre Hand gelegt war. So bot das Mädchen noch einmal alle Mittel auf, die ihm zu Gebote standen, um der guten Großmutter eine entgiltige Einwilligung abzuringen. Sie wurde gegeben. Von dem Augenblick an stürzte Sina sich in eine fieberhafte Thätigkeit teils um alle zur Reise nötigen Gegenstände bereit zu machen, teils auch, um den Gedanken an die Trennung von der Großmutter zu verscheuchen, da dieser seit dem Worte der Entscheidung manchmal ganz beängstigend im Herzen des Mädchens aufsteigen wollte.

In der Universitätsstadt, die Sina zu ihrem Aufenthalt im Auge hatte, obschon diese von der Heimat ziemlich weit entfernt lag und eine nähere gewählt werden konnte, lebte eine ferne Verwandte der Pfarrfamilie. Durch ihre Freundin Marie wollte Sina sich mit dieser in Verbindung setzen, um in der fremden Stadt doch jemand zu haben, an den sie sich wenden konnte, wo es nötig war, hauptsächlich um durch diese Vermittlung zu einer wünschbaren Wohnung in einer ordentlichen Familie zu gelangen. Sobald Sina mit sich einig war darüber, daß sie nicht in der Nähe bleiben, sondern die fernere Universität beziehen wollte, ging sie nach dem Pfarrhof hinunter, um der Freundin Marie ihren festen Entschluß mitzuteilen. Marie konnte erst vor Erstaunen und Überraschung kein Wort sagen. Sie hatte erwartet, Sina komme, um ihr eine ganz andere Mitteilung zu machen. Sina hatte sich solange nicht mehr gezeigt, daß es Marie so war, als wäre etwas besonderes vorgefallen. Dazu war Wilhelm so zerstreut und seltsam gewesen bei seinem Abschied, daß Marie sicher erwartet hatte, die Freundin bringe die Mitteilung, Wilhelm werde sie nächstens fortholen und sie werde ihm mit Freuden folgen. Wie war Sina zu dem völlig verschiedenen Entschluß gekommen! Aber Sina ließ keine Fragen aufkommen und als nun die Frau Pfarrerin eintrat und nach der ersten großen Verwunderung die Sache eingehend besprechen wollte, entschuldigte sich Sina, daß die viele Arbeit, die sie vor der Abreise noch zu bewältigen habe, ihr keine Zeit lasse und eilte wieder fort, denn die Ansichten der Frau Pfarrerin über ihren Entschluß begehrte Sina nicht zu hören. Marie versprach, gleich an die Verwandte zu schreiben, wollte aber dagegen das Versprechen von Sina haben, daß sie vor der Abreise noch Zeit finden werde, mit ihrer ersten und ältesten Freundin den großen Entschluß und auch die Gründe, die ihn herbeigeführt, recht zu besprechen. Sina versprach nur flüchtig, wenn die Zeit dazu reichen würde und eilte fort. Am liebsten hätte sie nun kein Wort mehr über alles gesprochen, sie sah ja wohl, mit welcher Verwunderung die Sache von allen Seiten ausgenommen wurde. Mit Marie über den Entschluß und besonders über den Grund, der denselben herbei geführt, zu sprechen, dazu hatte sie nun gar keine Lust, Marie sollte nichts davon erfahren. Die Großmutter sagte wenig mehr, das Sina schwer machen konnte. Nur manchmal, wenn hintereinander in Menge die Bitten und Botschaften ihrer armen Alten und Kranken ankamen, seufzte sie etwa: »Da wären junge Hände und Füße nötig, um überall nachzukommen.« Einmal ruhte ihr liebevoller Blick lange sinnend auf der emsig beschäftigten Sina. Zuletzt schüttelte die Großmutter leise den Kopf und sagte vor sich hin: »Ob das auch der rechte Weg für dich ist, Kind? Was wirst du mit deinem Herzen machen? Das Lernen wird es nicht ausfüllen. Du bist deiner Mutter Kind, du bist eine Waldenburgerin, du hast das Herz der Waldenburger.«

»Was haben sie denn für besondere Herzen, die Waldenburger?« fragte Sina lachend.

»Warme und starke,« sagte die Großmutter eifrig. »Sie müssen lieb haben, das können sie ganz. Und du willst da hinausgehen so allein und wo ist die Notwendigkeit dazu?«

»Die ist in meinem eigenen Wesen, Großmutter,« versicherte Sina, »und siehst du, das warme Herz der Waldenburgerinnen kann ich dann gut brauchen für meine Kranken, ich wüßte sonst gar nicht, was damit thun.«

»Du gehst nicht zur Krankenpflege fort; da wollte ich ja gar nichts sagen, wenn das dein Begehren wäre, ich könnte mich fröhlicher in die Trennung schicken; da könntest du dein Herz voll warmer Liebe und Teilnahme brauchen,« stimmte die Großmutter bei. »Aber den menschlichen Körper kennen zu lernen und ihn einmal zu zerschneiden und einmal wieder zusammenzusetzen, dazu braucht es Studium und Wissenschaft und nicht das Herz.«

Sina mußte ein wenig lachen über den Eifer der Großmutter. »Wenn ich dann zuletzt heim komme und alle deine Alten und Kranken jung und gesund mache, dann söhnst du dich mit allem aus und freust dich unbeschreiblich über meine Wissenschaft, denn die ist dir dann viel nützlicher als mein Herz,« schloß Sina und legte schmeichelnd ihren Arm um den Hals der Großmutter. Aber diese schüttelte noch einmal den Kopf und sagte wehmütig: »Und wirst du auch wiederkommen?« Aber davon wollte nun Sina gar nichts wissen, das war ja doch ganz sicher. Die ersten großen Ferien würden sie schon heim bringen, meinte sie, und so immerfort und wie schnell würden auch die wenigen Jahre vorbeigehen! Rüstig fuhr nun Sina in ihren Vorbereitungen weiter und schneller, als sie selbst erwartet hatte, war der festgesetzte Tag der Abreise herangekommen. Der Vater hatte vorher noch heimkehren wollen, war aber verhindert worden. Er schrieb, er werde Sina in nicht zu ferner Zeit an ihrem neuen Wohnort besuchen. Der Abschied von den Freunden im Pfarrhaus und von Elsi hatte am Abend vorher stattgefunden, die letztere konnte sich fast nicht in die Sache finden. Sie meinte, nun sei alles aus und man könne sich über nichts mehr freuen, wenn Sina fort sei und in hundert Fällen werde sie hilf- und ratlos dastehen, wenn sie nicht mehr zu Sina hinüberlaufen und ihren Rat holen könne. Aber es mußte sein, wie Elsi auch jammerte. Sina hatte nur noch von der Großmutter Abschied zu nehmen, und das war der schwerste.

»Geh' in Gottes Namen, Kind,« sagte die Großmutter, Sina liebevoll umfassend. »Gott behüte dich auf deinen Wegen! Bewahre dein Kindergebet im Herzen:

Laß uns einfältig werden
Und vor dir hier auf Erden
Wie Kinder fromm und fröhlich sein!«

Sina konnte nichts mehr sagen. Sie schluckte hinunter, was beengend in ihr aufsteigen wollte und sprang in den Wagen. Bis zu der Ecke um die alten Weidenbäume schaute sie zurück und sah oben am Wege die Großmutter mit dem weißen Tüchlein winken. Die Strecke bis zur nächsten Bahnstation war in einer Stunde zurückgelegt. Sina bestieg den Zug und fuhr thalabwärts, dem See zu, wo sie das Schiff zu besteigen hatte. Nun konnte sie sich ganz ihren Gedanken überlassen. Sie saß allein aus ihrer Seite im Waggon, es war überhaupt nur noch ein Passagier mit ihr da und ein recht ruhiger, wie es schien. Er saß aus der andern Seite am Fenster und schaute regungslos in die Landschaft hinaus. Sina that ebenso. Noch lag ihr der Abschied von der Großmutter schwer auf dem Herzen. Und wie war es dieser jetzt zu Mut? mußte sie sich fragen. Nun ging sie wohl nach dem Garten hinaus und schaute nach ihren Blumen und Früchten. Es war die Zeit ihres Morgenganges durch den Garten und um den kleinen Gemüseacker herum. Ob sie auch ihr friedliches Lächeln auf dem Gesicht hatte wie immer? Oder hatte die Trennung es verscheucht für heute? Für noch länger? Nein, das mochte Sina nicht denken. Lieber schaute sie in die Zukunft hinaus, wie sie wieder heimkehren und der Großmutter erzählen würde von all ihren Erlebnissen und von ihrer Freude an ihren Studien und wie die gute Großmutter sich mitfreuen würde. Jetzt hielt der Zug an. Hier mußte ein Volksfest im Gange sein. Schaaren von jungen Leuten, Burschen und Mädchen wimmelten durcheinander und Blumen und Fahnen und bunte Bänder schimmerten und flatterten aus allen Seiten. Sina schaute eine Weile auf das Menschengewirre. Es war lustig anzusehen. Die Leute wollten alle den Zug besteigen; da mußten wohl noch Wagen angehängt werden; es ging immer noch nicht weiter. Jetzt fiel Sinas Blick auf den Mitreisenden, der sich nun gewandt hatte. Er saß mit geschlossenen Augen, die Arme in einandergelegt an die Wand gelehnt. Er schlief nicht, das war zu sehen, aber völlig teilnahmlos gegen alles, was vorging, saß er unbeweglich da, auch jetzt, da ein lautes Jauchzen erscholl und von allen Seiten die Gesänge der nun Eingestiegenen angestimmt wurden. Was Sina besonders auffiel, war der düstere Ausdruck, der aus dem regungslosen Gesichte lag. War es ein Ausdruck des Schmerzes, oder des Unwillens? Nein, es war wirklich Leid, was wie tiefer Schatten auf diesen Zügen lag. Man fuhr weiter. Sina mußte von Zeit zu Zeit wieder hinschauen, ob der Ausdruck aus dem Gesichte sich nicht verändere. Aber er blieb so. »Ach Gott,« dachte Sina, »dem thut auch etwas weh,« und sie mußte sich recht mit dem tiefen Schmerzenszug beschäftigen. Nach einer Weile hatte der Fremde sich wieder zum Fenster gewandt, in der Stellung verblieb er.

Gegen Mittag war man am See angelangt. Viele der Reisenden blieben, um mit dem Zug weiterzufahren, einige verließen die Wagen und bestiegen das nahe liegende Schiff. Sina befand sich unter diesen. Sie ließ sich auf dem Verdeck in einer Ecke nieder, wo sie vor dem Wind geschützt die grünen Höhen längs des Sees und die schneeigen Gipfel der Alpen im Hintergrund betrachten konnte. Der Dampfer rauschte fort. Es war ein sonniger Sommertag. Hell und freundlich wiegte sich der See um das grüne Gestade und das Blau des Himmels spiegelte sich weithin in dem klaren Wasser. Sina hatte eine zeitlang ungestört in ihrer stillen Ecke gesessen, als im Vorderteil des Schiffes ein Getümmel ausbrach und immer zuzunehmen schien. Die wenigen Reisenden, die in Sinas Nähe gesessen hatten, waren alle nach der Vorderseite des Schiffes dem Tumult zugelaufen. Nur der Steuermann stand noch da aus seinem Platz. Sina näherte sich ihm und frug, ob er wisse, was die Ursache des Lärmens sei.

»Es ist einer ins Wasser gefallen,« antwortete er gelassen.

»Ums Himmelswillen,« rief Sina erschrocken aus, »man wird ihn doch retten! Warum halten sie denn das Schiff nicht an?«

»Haben ihn schon,« sagte kaltblütig der Steuermann.

Nun eilte auch Sina der Vorderseite des Schiffes zu und wo der Menschenknäuel nicht sehr dicht war, versuchte sie durchzublicken. Aus dem Boden lag der Mann, der sichtlich aus dem Wasser gezogen worden war, einige der Schiffsleute knieten um ihn und rieben und schüttelten ihn.

»Nicht so! Nicht so!« ertönte jetzt eine wohlklingende Stimme und eine hohe Männergestalt beugte sich auf den Daliegenden nieder und ordnete an, was gethan werden sollte, indem der Befehlende mit kundiger Hand sich selbst an die Arbeit machte. Sina erkannte ihren Reisegefährten in dem Herrn, der jetzt mit aller Anstrengung an dem leblosen Körper herum arbeitete. Sie kehrte wieder auf ihren Platz zurück. Eine Weile nachher kamen einige junge Leute vom Vorderteil des Schiffes her und setzten sich in Sinas Nähe. Sie besprachen den Vorfall.

»Was der Doktor sich für eine Mühe macht um den armen Kerl,« sagte einer von ihnen. »Hätte er einen Fürsten ins Leben zurückzurufen, er könnte sich nicht mehr anstrengen.«

»Und doch hat er gewiß nichts als den Dank des Mannes zu erwarten als einzige Belohnung,« meinte ein anderer.

»Der thut nicht um Belohnung willen, was er thut, das kann man ihm wohl ansehen,« fiel ein dritter ein. »Mich nimmt wunder, wer der ist, ein Fremder ist's jedenfalls der Sprache nach.«

Sie äußerten nun der Reihe nach eine Menge von Vermutungen über die Herkunft und den Charakter des Fremden, stimmten aber nur darin ganz miteinander überein, daß er jedenfalls ein Arzt sei, daran konnte man nicht zweifeln. Nach einer guten Weile standen die Herren wieder auf, sie wollten wissen, wie weit der Doktor mit seiner Arbeit gekommen war.

Zwei Stunden mochte die Fahrt gedauert haben. Jetzt hielt das Schiff an, man war angelangt. Noch stand eine Gruppe Menschen in voller Unterhaltung an der Stelle, wo man herauszutreten hatte. Im Vorbeigehen hörte Sina, der Mann sei wieder zum Leben erwacht. Sie schaute nach der Stelle hin, wo sie ihn vorher am Boden liegen gesehen hatte. Durch die Abgehenden lichtete sich die Menge nach und nach und sie erblickte den Mann, wie er bleich und elend aussehend an den Kajütenkasten gelehnt saß. Eben nahm sein Retter Abschied von ihm.

»Vergessen Sie nicht, was Sie thun sollen, sobald Sie heimkommen und nun leben Sie wohl,« sagte der Doktor, und reichte dem Manne die Hand.

»Lebt wohl,« sagte er dumpf und lehnte sich teilnahmlos zurück.

Die jungen Leute, welche neben Sina gesessen und sich so lebhaft über den Doktor besprochen hatten, standen in der Nähe und hörten den Abschied mitan. »Die Mühe war größer, als der Dank,« sagte lachend einer von ihnen, als sie aus dem Schiffe traten.

Sina war empört über die Sache. Seit zwei Stunden hatte der Herr mit dem Verunglückten sich abgegeben und keine Mühe und Anstrengung gescheut und nicht ein einziges Wort des Dankes hatte er erhalten – das war zu arg. So elend war der Mensch nicht mehr, daß er nicht hätte danken können, das war sichtbar. Sina kam in eine ganze Entrüstung. Sie war eine der letzten, die aus dem Schiffe stiegen. Schnell ging sie der Straße zu, wo die Mietwagen standen, es war nur noch einer da. Sie stieg ein, ließ ihr Gepäck aufladen und befahl dem Kutscher, nach der Eisenbahn zu fahren.

In diesem Augenblick sah Sina den Fremden herbeieilen; er sah sich überall um.

»Kein einziger Wagen mehr da? Ich muß noch zur Bahn. Laufen wir, was wir können,« sagte er zu dem Gepäckträger hinter ihm.

»Geht nicht,« gab der zurück und stand still.

Sina beugte sich aus ihrem Wagen, eben war der Fremde ganz nahe gekommen. »Wollen Sie nicht den Platz hier nehmen, ich fahre auch zur Bahn,« sagte sie, den Schlag öffnend.

Mit lebhaftem Dank nahm der Herr den Vorschlag an und schwang sich eilig in den Wagen. Der Kutscher fuhr zu. Es wußten alle, daß es die höchste Zeit war, wollte man den Zug noch erreichen. Schweigend saßen die beiden Unbekannten nebeneinander, während der Wagen durch die Straßen flog. Noch langten sie zur Zeit an. Rasch wurde umgestiegen und nun saßen die beiden Reisenden wieder im Eisenbahnwagen, diesmal einander gegenüber.

»Nun nehmen Sie vor allem noch einmal meinen herzlichen Dank für Ihre Freundlichkeit, mein Fräulein,« sagte jetzt mit gewinnender Höflichkeit der Fremde. »Ohne Ihr Entgegenkommen wäre ich zurückgeblieben und es liegt mir viel daran, heut abend noch zu Hause zu sein.«

»Mein Anerbieten war ja sehr natürlich und ich bin reichlich dafür belohnt, nun ich sehe, daß ich Ihnen damit wirklich einen Dienst leisten konnte,« entgegnete Sina. »Nicht so etwas ist eines besonderen Dankes wert,« fuhr sie mit Lebhaftigkeit noch unter dem Eindruck des eben Erlebten weiter, »aber daß ein Mensch für einen andern, der ihn mit höchster Mühe und Anstrengung ins Leben zurückruft, einen Dank und was für einen Dank haben sollte, das meine ich und kann durchaus nicht fassen, wie der Mensch dasitzen und Sie fortgehen lassen konnte, als ginge ihn alles nichts an, was Sie für ihn gethan hatten.«

Über das Angesicht des Fremden hatte sich ein Lächeln verbreitet während der eifrigen Rede seiner Begleiterin. »Daß Sie diesen Mangel von Dankgefühl so gar nicht begreifen können, darüber kann man Sie nur beglückwünschen, mein Fräulein,« sagte er jetzt und wieder fiel der Wohlklang der Stimme Sina ungewöhnlich ansprechend ins Ohr. »Was ich that, das mußte ich thun, aber ich glaube, ich habe den armen Menschen in ein trauriges Dasein zurückgerufen. Wo sollte der Dank dafür ihm herkommen? Nach allem, was ich von den Umstehenden gehört habe, zu schließen, ist der Mann nicht ins Wasser gefallen, sondern hineingesprungen.«

»Ach, ums Himmelswillen, glauben Sie das wirklich?« rief Sina mit der größten Lebhaftigkeit aus. »Das ist ja schrecklich! Ganz schrecklich! O wären wir doch nicht weggegangen! Wer weiß, was der arme Mann nun thut, wenn er das Schiff verlassen hat! Wir hätten vielleicht etwas für ihn thun können. Hätten wir doch das Schiff nicht so schnell verlassen müssen!«

Sina bemerkte in ihrer Aufregung nicht einmal, wie sie sich mit dem neuen Bekannten zusammenstellte, so als hätten sie ganz natürlicherweise miteinander handeln müssen. Das Lächeln auf dem Gesichte des Fremden brachte ihr plötzlich die Sache ins Bewußtsein. Sie wurde hochrot – ihre Worte konnte sie nicht mehr zurücknehmen, sie schwieg.

Ihr Begleiter schien nicht unangenehm von der Sache berührt worden zu sein. In der freundlichsten Weise sagte er: »Sie haben ganz recht, mein Fräulein; daß ich den Menschen ins Leben zurückrief, legte mir auch eine Art von Pflicht auf, nachzusehen, ob er dieses Leben auch werde ertragen können und dafür zu thun, was in meinen Kräften stand. Hätte ich gewußt, daß ich eine so eifrige, warme Verbündete fände, ich hätte Sie vielleicht gebeten, die Sache für uns beide in die Hand zu nehmen. Es wäre mir unmöglich gewesen, mich unterwegs aufzuhalten, um dem Manne nachzugehen, ich muß heute abend zu Hause eintreffen. Ihre Teilnahme an dem Schicksal des armen Menschen bringt mich aber auf den Gedanken, ihm durch einen Bekannten, den ich in jener Gegend habe, nachzufragen. So könnten wir immer noch etwas für ihn thun, wenn es Ihnen recht ist.«

Mit der größten Befriedigung ging Sina auf diesen Vorschlag ein und da nun bestimmt werden sollte, wie Sina vom Resultat der Nachforschungen in Kenntnis gesetzt werden konnte, ergab es sich, daß die beiden dasselbe Reiseziel hatten. Der Fremde bewohnte die Stadt, in der sich Sina niederzulassen gedachte. So war die Sache einfach. Sobald er Nachricht erhalten würde, wollte er Sina Mitteilung davon machen. Daraus würde sich dann wohl ergeben, was für den Mann die wirksamste Hilfe wäre. Sina war sehr erfreut über diese Aussicht und völlig einverstanden mit der ganzen Anordnung.

Eine Weile fuhren nun die Reisenden schweigend dahin, jeder seine eigenen Gedanken verfolgend. Sina war so sehr von dem Ereignis erfüllt, daß sie nichts anderes denken konnte. In voller Aufregung sagte sie plötzlich wieder: »Wenn nur der arme Mensch nicht in seinem Elend nochmals etwas schreckliches thut, bevor wir ihm nur einige Hilfe bringen können! Er muß ja furchtbares zu ertragen haben, daß er zu einer solchen That getrieben wurde.«

»Ja, es muß schon ein schweres Leid sein, das einen Menschen zu dem Schritt bringt,« entgegnete der Begleiter; »aber es liegt auch etwas lockendes in dem Gedanken: nur ein Augenblick des Schmerzes und alles vorüber! Eine solche Teilnahme, wie die Ihrige, mein Fräulein, für den völlig Unbekannten, möchte übrigens auch in andern den Wunsch erwecken, ihr Leid vor Sie zu bringen. Auch nur schon solche Teilnahme zu fühlen, wem sie auch gelte, thut wohl.«

Sina hatte wohl bemerkt, wie der Ausdruck der Traurigkeit sich wieder über das Gesicht des Fremden verbreitet hatte. Auch er trug irgend ein Leid mit sich herum, das sah sie wohl und hörte es aus seinen Worten. Wie gern hätte sie ein wohlthuendes Wort für ihn gehabt, aber sie wußte ja zu wenig von ihm, was konnte sie sagen? Ein anderer Gedanke stieg jetzt auf in ihr und der natürlich einfachen Weise gemäß, in der sie von Großmutter erzogen worden, sprach sie ihn auch gleich aus: »Ihnen ist aber so vielen voraus ein Trost gegeben, eine immer offene Freudenquelle. Sie sind doch ein Arzt, nicht wahr?«

»Das bin ich,« bestätigte der Fremde, indem er Sina mit einigem Erstaunen anblickte.

»In Ihrem Berufe, meine ich,« fuhr Sina lebhaft fort. »Das Bewußtsein, so vielen ein Tröster und Wohlthäter, so oft ein wirklicher Retter sein zu können, muß viel Leid beschwichtigen und vergessen lassen.«

»Und wo das Leid so eng mit dem Berufe zusammenhängt, als wäre es daraus hervorgegangen, wie dann?« entgegnete in schmerzlichem Tone der Doktor. »Wenn da, wo wir am heißesten zu retten wünschen, unsere Kunst und unser Wissen uns im Stiche lassen und wir ohnmächtig dastehen und zusehen müssen, wie vor uns ein Leben erlischt, das wir vor allen andern zurückzuhalten wünschen; da ist wohl unser großer Trost dahin und für lange.«

Der Doktor wandte sich ab, er war sehr bewegt.

In Sina war die Teilnahme noch lebendiger geworden. Nun wußte sie, was der Schmerzenszug auf dem Angesichte ihres Begleiters sagte: Er hatte ein teures Leben vor sich erlöschen sehen und in Ohnmacht dabei stehen müssen, dessen war sie sicher. Nun stieg das Bild lebendig vor ihren Augen auf und sie mußte die Gedanken verfolgen, die ihr damit einer aus dem andern kamen. In solchem Falle mußte wohl ein Arzt nach dem äußersten suchen, das zur Rettung angewandt werden konnte und doch wieder davor erzittern, es anzuwenden. Welche Qualen mußte er durchgemacht haben! Sina hatte solchen Wunsch, dem Fremden, der ihr durch die Teilnahme ihres Herzens wie ein alter Bekannter vorkam, diese warme Teilnahme auszusprechen und ein Wort des Trostes für ihn zu finden. Aber es ging ihr so seltsam: Bis jetzt war es ihr nur schwer geworden, Worte zurückzuhalten, die ihr zur Unzeit auf die Lippen wollten, und jetzt zum erstenmal konnte sie die Worte nicht aussprechen, die sich ihr doch warm aus dem Herzen auf die Lippen drängten. Aber wenn sie auf das Angesicht mit dem tiefen Leidenszug blickte, kam ihr alles so nichtig vor, was sie sagen wollte, sie schwieg wieder. Dann sah sie den Mann mit dem traurigen Blick wieder an dem Sterbebette stehen, vielleicht eines Freundes, einer Frau, eines Kindes. Vielleicht hatte er gar niemand, der sich um ihn und seinen tiefen Schmerz kümmerte. Es übernahm Sina ganz, wie diese Gedanken in ihr aufstiegen. »Wer doch ein Wort des Trostes für Sie hätte!« Die Worte brachen völlig gewaltsam aus ihr hervor.

Der Fremde schaute auf und blickte in die Augen, die auf ihm ruhten und die ihm ihre warme Teilnahme klarer als alle Worte bezeugten. Er bot Sina seine Hand. »Ihre Teilnahme thut mir wohl, mein Fräulein, mir ist, als klinge mir eine liebe, verstummte Stimme durch Ihren Ton entgegen. So lange Zeit war ich daran gewöhnt, daß eine liebevolle Frauenhand mir jeden Schmerz linderte und alle schweren Wege zu ebnen suchte, bis diese treue Hand kalt und starr in der meinen lag. Sie selbst, mein Fräulein, haben durch Ihre Teilnahme mir erlaubt, so viel von mir zu sprechen,« unterbrach sich der Doktor und suchte seine bewegte Stimme zu kräftigen. »In dem schönen Berglande droben, wohin ich sie geschickt hatte, daß sie sich Stärkung hole, mußte ich eine teure Mutter in die Erde legen. Ich wollte meine freie Zeit oben mit ihr zubringen und kam gerade noch recht, um sie leiden und sterben zu sehen.« Hier hielt der Sprechende inne und wandte seine Augen dem Fenster zu.

Sina hätte gewünscht, er würde noch weiter fortfahren, noch mehr erzählen von der Mutter, die er so lieb gehabt. Die Weise, mit der er von der Verstorbenen gesprochen, hatte ihm aber schon Sinas ganzes Vertrauen erworben. Sie fühlte sich nicht mehr gehemmt. Sie war so erfüllt von dem nahen Zusammenleben dieser Mutter und ihres Sohnes und von dem Schmerz, den dieser in sich tragen mußte, daß ihr die Worte der warmen Teilnahme jetzt ungehindert von den Lippen flossen. Sie sprach es aus, wie gern sie noch mehr von dieser Mutter hören möchte und der Sohn kam bereitwillig ihren Wünschen entgegen. Es that ihm sichtlich wohl, sich in die Zeiten der glücklichen Kinder - und Jugendtage zurückzuversetzen, in denen überall das Höchste und Beste, die Zuflucht in aller Not und die Quelle aller Freuden seine Mutter war.

»Wie konnte sie trösten! Wie konnte sie aber auch selbst fröhlich sein!« fuhr er fort, indem die lieben Erinnerungen offenbar immer lebendiger vor ihm aufstiegen. »Was konnte sie nicht erfinden, wenn wir in die Ferien heimkehrten, um uns das Haus so lieb zu machen, daß wir nichts besseres wünschten. Daheim zu sein war das Schönste, das wir kannten; da war auch nicht Einer von dem ganzen fröhlichen Kreise, der es nicht fühlte, was diese Mutter war: der Grund alles Wohlseins, der Pfeiler und Eckstein des Hauses, die belebende und erfreuende Kraft, die es durchdrang und erfüllte und zum gefeiertsten Hause im ganzen Umkreis machte.«

»Es war wohl ein schöner Kreis von Geschwistern in Ihrem Hause, die sich um die herrliche Mutter scharten,« fiel hier Sina ein, die den Worten der warmen Liebe und Bewunderung für diese Mutter mit voller Sympathie folgte.

»Nicht von Geschwistern,« entgegnete der Doktor, »aber von Freunden und lieben Bekannten. Kein Ferientag verging, an dem ich nicht aus der nahen Stadt eine Schar solcher mit nach unserm Gut brachte, und kamen erst die großen Ferien, da war unser Haus völlig zum Bienenstock geworden, wo es summte, vom Morgen bis zum Abend. Am dichtesten war immer die Mutter von den Summenden umringt. Es wurde ihr nie zuviel. An jedem neuen Menschenkinde, das ich ihr zuführte, hatte sie ihre neue Freude und ihr besonderes Interesse, denn in jedem fand sie etwas eigentümliches, Anlagen, die ihre besondere Liebe oder Sorge erweckten. Freunde, die aus irgend welchen Gründen einen schweren Lebensgang voraussehen mußten, konnte sie mit wahrer Muttersorge an sich ziehen und ihnen das Schwere zu erleichtern suchen. Die sämtlichen Jungen und nachher Studenten hatten auch eine unbegrenzte Verehrung für sie. Sie war die Vertraute der ganzen Schar, viel genauer kannte meine Mutter die Gedanken und Gefühle aller meiner Freunde, als ich sie je kannte. Wie oft sagte sie damals: ›Was hat doch der liebe Gott für einen Reichtum in unser Leben gegeben durch die vielen, so verschieden gearteten Menschen, die wir alle lieben und uns dadurch selbst so reich machen können!‹ Und je mehr sie diese Menschenkinder ins Herz schloß, desto weiter wurde dieses Herz. – Geschwister hatte ich keine,« setzte der Doktor nach einer Pause hinzu, »aber eine Pflegeschwester lebte von kleinauf in unserm Hause, auch sie ist nicht mehr da.«

»Doch nicht tot?« frug Sina rasch.

»Ja, tot. Auch da stand ich ohnmächtig mit meiner Kunst, auf die meine Mutter alle Hoffnung gesetzt hatte, und wenn in jenen Stunden die ängstlich fragenden Blicke der guten Mutter immer wieder nach meiner Antwort suchten, mußten sie immer wieder aus meinem Gesichte dieselbe lesen: Es ist keine Rettung mehr. Sie war ein vorzügliches Mädchen, die ganze Freude meiner Mutter.«

»Der Sohn wird doch auch einen Teil der Freude ausgemacht haben?« fuhr Sina unwillkürlich heraus.

Trotz der tiefen Falte, die sich auf der Stirne des Erzählenden zusammengezogen hatte, ging jetzt wieder das gewinnende Lächeln über sein Gesicht. »Nun, wenn Sie es so wollen, mein Fräulein, ich habe nichts dagegen. Daß ich in solchen Zeiten keinen Trost in meinem Beruf finden konnte und kann, das werden Sie nun begreifen.«

Sina begriff nun nicht nur soviel, sondern sie meinte, in solchen Augenblicken müßte dem Arzt sein Beruf geradezu zur Qual werden. Sie war so von den Erlebnissen ihres Begleiters erfüllt, daß sie nun, da wieder ein längeres Schweigen eingetreten war, mit größter Lebendigkeit sich sein Haus vergegenwärtigte, wie seine Rückkehr dahin sein würde, und so von einem Gedanken aus den andern kam. »Sie werden doch eine Dame in Ihrem Hause finden, die es Ihnen wohnlich macht, wenn Sie zurückkommen, nicht nur die Dienstboten,« sagte sie plötzlich, dem Wunsche Ausdruck gebend, der ihr eben in Folge ihrer Gedanken sehr lebhaft aufgestiegen war. Sie errötete aber ein wenig dabei, denn mit den Worten war ihr das Bewußtsein gekommen, daß sie ja zu einem ihr völlig Fremden sprach, der nur durch ihre eigene Teilnahme ihr in den Gedanken so nahe stand, daß sie in der Weise zu ihm reden konnte, was er wohl gar nicht begriff, vielleicht unpassend fand.

Einen Augenblick hatte der Doktor sie schweigend angeblickt, dann sagte er, indem er ihre Hand ergriff: »Wenn in solchen Tagen uns noch ein Trost wohlthun kann, so ist es der Anteil an unserm Leid, den ein liebevolles Menschenherz uns fühlen läßt. Nur ein Frauenherz kann eine solche sorgende Teilnahme für das Schicksal eines Fremden hegen und ihn solch' wohlthuende Gedanken der Fürsorge empfinden lassen. Sie erinnern mich an meine Mutter, so war sie zu jedem, den sie leiden sah.«

Die Frage war freilich nicht beantwortet worden, aber Sina wiederholte sie nicht. Der Begleiter hatte ihr die Hand gedrückt und seine Augen hatten während er sprach einen Ausdruck, der ihr das Herz in einer Weise bewegte, wie sie es noch nie gekannt hatte. Sie sagte kein Wort mehr, sie wünschte auch keines zu sagen, sie blieb ganz still. Auch ihr Begleiter sprach nicht mehr.

Es fing an zu dämmern, als das Ziel der Reise erreicht war.

»Ich darf wohl um Ihre Karte bitten,« sagte jetzt der Doktor, indem er die seinige Sina überreichte.

Sina hatte die ihrige auch herausgezogen und übergab sie ihm.

Er las sie.

»Man sollte meinen, Sie wären die Nordländerin und ich der Südländer,« sagte er lächelnd.

»Professor Oskar Clementi« stand aus der Karte, die Sina in der Hand hielt.

»Allerdings,« erwiderte sie. »Wird auch der Herr Professor, auf den wohl viele Geschäfte warten, unsern Unglücklichen nicht vergessen?« setzte sie hinzu, indem beide aus dem Wagen traten.

»Das wird er nicht,« entgegnete der Begleiter, indem er Sina die Hand zum Abschied bot. »Mit dem Unglücklichen hängt dem Professor eine Erinnerung zusammen, die es ihm unmöglich macht, den armen Menschen zu vergessen.«

Sina fühlte einen warmen Händedruck. Die Reisegefährten trennten sich.


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