Heinrich Sohnrey
Friedesinchens Lebenslauf
Heinrich Sohnrey

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9.

Man muß den Mai nehmen wie er kommt.

Die Kirchenglocken zu Lutterbeken läuteten den Sonntag ein. Es deuchte mir, als hätten sie nie zuvor so traurig geklungen; meine Seele erschauerte in dunklen, bangen Ahnungen. Sollte sich vielleicht daheim etwas ereignet haben? Immer und immer drängte sich mir diese quälende Frage auf. – Da kommt Bruder Hanfrieder auf unsern Hof. Bleich und verstört ist sein Aussehen. Er sieht mich traurig an, drückt mir die Hände und sagt kein Wort. Mit einem gellenden Aufschrei starre ich ihn an. Da legt er seine Hände um mich und schluchzt: »Es ist Gottes Wille gewesen, 378 Schwester . . . Unser Vater und unser August . . . Schwester, mußt dich fassen . . . Unser Vater und unser August sind zur Mutter gegangen. – Heute morgen ist's gewesen im Walde . . . der Baum hat einen unvorhergesehenen Fall gethan – und unseren Vater und unseren Bruder erschlagen.« – – –

Ich stürzte um, als hätte der Baum mich selbst getroffen. O Vater, o Bruder! Und doch war's ein lösender und lindernder Gedanke, sie nun bei der Mutter droben zu wissen. Ich konnte sie ordentlich hören, so lebhaft stellte ich mir ihr Zusammensein vor.

Von dem furchtbaren Schlage ist außer uns keiner mehr erschüttert worden, als der liebe alte Seelsorger von Hilgenthal. Die Grabrede ist ihm halb im Herzen stecken geblieben. Als er vom Friedhofe herabkam, hat er sich hingelegt und ist nicht wieder aufgestanden. Am dritten Morgen haben drei lange Glockenschauer der Gemeinde Hilgenthal das Hinscheiden ihres allgeliebten Seelsorgers verkündigt. Es ist kein Haus und keine Hütte gewesen, wo nicht die tiefste Trauer geherrscht hätte. Wie ein einziger Seufzer ging's von Mund zu Mund: »Solch ein Seelsorger kommt nach Hilgenthal nicht wieder«.

Das Wahlrecht wechselte zwischen der Gemeinde 379 und dem Grafen von Hilgenthal, aber so, daß die Gemeinde, die den alten Pastor gewählt hatte, nun erst wieder bei dem drittnächsten an die Reihe kam; der Graf wählte also immer einmal mehr. Jedermann im Dorfe war überzeugt, daß wir diesmal einen »schlimmen« und einen stolzen Pastor bekommen würden, einen, der sich mehr ans Schloß, als an die Hütte hielte.

Und so geschah es fürwahr. Der Pastor von Lutterbeken, den ich ja gut genug kannte, kam nach Hilgenthal.

Mir wurde es ganz weh ums Herz, als ich mir diesen Mann an der Stelle des Entschlafenen dachte. Ein Dornbesen für einen grünen Maibaum?! – O, mein liebes, armes Hilgenthal! –

Soll ich noch mehr sagen? Lieben Leute, ich gewinne es nicht über mich. Es ist mir, als sähe mich der treue alte Pfarrherr, der nun schon so manches Jahr bei unseren Eltern und Geschwistern im Himmel ist, vorwurfsvoll an. Du lieber Gott, ich glaube auch, daß mancher Mensch gar nicht so viel dazu kann, als wir meinen, wenn er den lieben Gott so schlecht versteht.

Doch nun muß ich zu Ende kommen, Kinder. Die Sonne will untergeh'n. –

Auf meinem lieben Hofe an der Tränke erlebte ich schon den vierten Pfingstsonnabend. 380

Als ich mit dem Scheuern, Wischen und Waschen zu Ende war und aus der Hinterthür unseres Hauses guckte, hörte ich in dem Gebüsch, aus dem die Tränke kommt, eine Nachtigall jauchzen, wie noch nie; und als ich aus der Vorderthür unseres Hauses sah, hörte ich einen Burschen jauchzen: »Friedesinchen!« Und er schwenkte den Hut, daß unser Herr, der eben wieder vom Küchenschranke her kam, ordentlich lachen mußte und unsere Kinder neugierig um mich herumkamen und fragten: Wer das wäre?

»Wer das ist? Ei, Kinder – mein – mein Bruder ist's! Nun gebt ihm aber auch gleich die Hand.« Und sie gaben ihm die Hand, und wir lachten alle. Unsere Alteste hatte es aber doch gleich gemerkt und flüsterte: »Warte, warte nur, Friedesinchen, ich glaube, es ist dein Schatz!«

»Ja, du liebes Mädchen, ja! Er ist's. Und nicht wahr, so einen Schatz möchtest du wohl auch haben, wenn du erst 'mal so alt bist wie ich!«

Und sie nickte und lachte; sie war ja auch schon einen ganzen Monat über fünfzehn Jahre alt.

Mein Lorenz war aber auch ein Junge! Wie er nun wieder dastand! So groß und schön, so frisch und rot!

Er mußte nun essen und trinken, als ob er zu Hause wäre, und unser Herr setzte sich mit an 381 den Tisch und schenkte ihm ein Glas Branntwein ein, und die Frau sah ihn an und nickte freundlich, und die Kinder sahen ihn an, und obwohl keiner was sagte, so stand doch in aller Gesicht geschrieben, daß Lorenz ihnen gefiel und daß sich alle über ihn freuten.

Unsere Frau meinte gutmütig, ich könne ihm das Bett in der kleinen Kammer an der Diele in Ordnung machen; aber das wollte ich nicht und brachte ihn nach meinen guten Riepenhusens. Die lieben Leute schlugen die Hände zusammen vor lauter Freude und machten sogleich ihr bestes Bett zurecht.

Am Pfingstmorgen stand ein prachtvoller Maibaum vor unserer Hausthür. Der Racker! Wo er den nur gleich hergekriegt hatte? Nun, gewiß wird der kleine Vater Riepenhusen noch die Nacht mit ihm ins Holz gegangen sein. Auf meine Frage hat er nur pfiffig gelächelt.

Es war nur ein Glück, daß die Lutterbeker Knechte meinen Schatz beim Pflanzen des Baumes nicht erwischt hatten; es wäre ihm sonst nicht gut gegangen.

Meine wackeren drei Mütter erklärten sich schon ganz von selbst bereit, die Festtage über meine Arbeit zu besorgen, und so konnte ich nun am ersten Pfingstvormittage mit meinem Jungen im 382 herrlichen Sonnenschein und Blumenduft nach Hilgenthal wandern.

Ach, war das ein Weg! Aber so schön es auch war in der Welt – wir sahen nur uns – er mich und ich ihn. Und wir hielten uns den mehrstündigen Weg immer an der Hand, und jeder mußte erzählen, was er in den verflossenen drei Jahren erlebt hatte, und immer wieder mußte ich's ihm versichern, daß ich ihn noch gerade so lieb hätte, wie damals, als wir noch in Goltdorf waren. Wer uns hätte zuhören können, würde gewiß das Lachen und Weinen gekriegt haben – so einfältig und so ernst war das alles, was wir auf diesem Wege miteinander verhandelten.

Am ersten Pfingstabend saßen Lorenz und Lorchen, Hanfrieder und ich traulich beisammen unter der Linde. Vom Thi und dem Broseberge klangen helle Lieder zu uns herauf und herab; heute hörten wir's kaum – wir erzählten uns, schmerzbewegt, von vergangenen Tagen und überlegten, ob Lorenz und ich nun endlich auch einen eigenen Hausstand gründen sollten – und wie wir das Wohnrecht zu Hilgenthal erlangen möchten.

Ich hatte wieder so eine heimliche Angst, ließ mir aber nichts aus.

Plötzlich stand Hanfrieder auf und sagte: »Wartet, Kinder, ich werde gleich 'mal zum 383 Bauermeister gehen und mit ihm über die Sache sprechen. Sie sollen bedenken, daß sie zwei tüchtige Leute ins Dorf kriegen, die starke Arme haben und unverdrossen sind zur Arbeit und niemand zur Last fallen werden.«

Klopfenden Herzens harrten wir seiner Rückkehr. Das singende Jungvolk machte eine Pause, und zwischen den ab und an erschallenden Jauchzern herrschte jedesmal eine so tiefruhige Stille, daß wir den Atem der schlafenden Vögel in den Lindenzweigen zu hören glaubten.

Auf dem Thi wurde gerade ein neues Lied angestimmt, als Hanfrieder zurückkam.

Er brachte, wenn auch keine Entscheidung, so doch eine gute Zuversicht. Der Bauermeister hatte sich ausgelassen, er wolle uns keinen Stein in den Weg legen; ja, wenn's allein auf ihn ankäme, sollten wir morgen am Tage den »Intogsschien«Einzugsschein. haben; er hielte Friedesinchen für ein braves Mädchen und traute ihm nicht zu, daß es einen schlechten Mann ins Dorf brächte. Allein er hätte, obwohl die erste, so doch immer nur eine Stimme, mithin müsse er erst die Gemeindeversammlung nach dem Thi berufen. 384

Ließ die Antwort unser Schicksal auch noch unentschieden, so glaubten wir doch das Beste hoffen zu dürfen, denn des Bauermeisters Wort wog immer 'n Pfund. – Lorenz sagte, indem er lustig aufhüpfte und in die Hände klopfte: »Schwager Hanfrieder, für den Gang zum Bauermeister gebe ich einen Krug Braunbier zum besten.«

Am zweiten Pfingstmorgen ging ich mit Lorenz nach Goltdorf. Was man am heißesten wünscht, das giebt man leicht als wirklich aus, wenn auch die Verwirklichung noch im weiten Felde liegt. Die lieben Schwiegereltern wußten sich vor Freuden nicht zu lassen, denn sie konnten nach unseren Darlegungen nicht anderes glauben, als daß wir wirklich schon in »Priester Johannis Lande« wären. »Es ist schon unsere große Sorge gewesen, Kinder,« sagten sie und erzählten, wie die Goltdorfer Hausherren sich erst kürzlich wieder vorgenommen hätten, mit der Freigabe des Wohnrechtes an arme Brautleute hinfort noch viel schärfer zu verfahren als bisher. Brautleute, deren einer Teil nicht einheimisch wäre, sollten überhaupt auf gar keine Aufnahme mehr rechnen können, wenn ihr Vermögensnachweis nicht die Möglichkeit ausschlösse, daß sie oder ihre Nachkommen dereinst 'mal der Gemeinde zur Last fallen könnten. 385

Ich muß gestehen, daß ich bei dieser Erzählung doch leise erschrak; denn ich hegte immer noch den Gedanken, daß im schlimmsten Falle uns die Goltdorfer gewähren sollten, was die Hilgenthaler uns verweigern würden.

In der Frühe des dritten Tages kehrte ich nach Lutterbeken zurück und verlebte die ganze folgende Woche in banger Sorge.

Am Sonntag nach Pfingsten ist der Bauermeister mit der großen Gemeindetrommel durchs Dorf gegangen, hat getrommelt und ausgerufen:

»Es wird bekannt gemacht, daß nach der Nachmittagskirche jeder Hausherr nach dem Thi kommen soll.« –

Zur bestimmten Zeit fanden sich die Hausherren denn auch auf dem Thi ein, und der Bauermeister, den unser Hanfrieder vorher noch einmal tüchtig ins Gebet genommen hatte, erklärte den neugierig aufhorchenden Bauern: »Lindemanns Friedesinchen, Tochter des weiland Holzhauer Hanfrieder Lindemann aus der Lindenhütte, will sich verändern und einen aus Goltdorf freien, sie beansprucht das Wohnrecht in Hilgenthal.« Als die Bauern darauf in ein eisiges Schweigen verfielen, fing der Bauermeister sogleich noch einmal an und sagte ohne alle Umschweife: Seine 386 Meinung wäre, man solle doch nicht immer wieder mit den Schneidersleuten kommen und nicht wieder so hart verfahren wie das letzte Mal bei Horstmanns Annedörte und dem Brackensteiner; man möge dem neuen Paare, das volles Vertrauen verdiene, ohne Bedenken das Wohnrecht frei geben. Eine Minute lang hörte man nichts als das Rauschen der alten Linden, die um den Thi herumstehen; bei kleinem hob ein Gemurmel an, über das schließlich des Drechsler-Ilsen dünne Fistelstimme hinweg tönte wie Habichtsgeschrei über Waldesbrausen. Der Pfänder Bännewitt, der dicht bei ihm stand und ihm lange was ins Ohr gezischelt hatte, mochte ihn noch tüchtig geschürt haben, denn Ilse erhob einen hitzigen Protest gegen den ›parteiischen‹ Vorschlag des Bauermeisters, fand damit auch gleich auf verschiedenen Seiten lebhafte Zustimmung. Da hat der Bauermeister mit der Faust auf den Steintisch geschlagen und gerufen: »Macht, was ihr wollt – ich habe meine Meinung gesagt! Wenn sich aber noch einer einfallen lassen sollte, mir ins Gesicht zu sagen, ich machte parteiische Vorschläge, so schlage ich mit der Faust nicht mehr auf diesen Stein, sondern auf das Maul, an dem der Krampen losgegangen ist. Habt ihr mich verstanden?« 387

Wieder hörte man einen Augenblick lang nur das Kopfschütteln der Linden zu Häupten der Versammlung. Es räusperte sich dann der dicke Klostermeier und sagte: »Leute, die Armenlast wird immer größer. Unser Herr Graf nimmt alles auf, was geritten und gefahren kommt; ›Klein-Paris‹ ist immer voll – und wenn diese Leute nichts mehr können, wem fallen sie zur Last? Der Gemeinde, der Gemeinde! Drum sage ich, die Armenlast wird immer größer, und wir müssen darauf sehen, daß uns nicht noch mehr auf den Hals kommt.«

Allseitige Zustimmung. Selbst der Bauermeister hatte zum Anfange lebhaft genickt. Als der im Hinterhalt lauernde Pfänder Bännewitt dieses gewahrte, klopfte er sich dreimal mit der Faust in die Hand und rief über das Stimmengewirbel hinüber: »Tunnen un Tappen – 't schallder schien un mauter schien un ischer ak!« Durch das nun erschallende Gelächter fühlte er sich noch groß ermutigt und legte nun erst ordentlich los.

Wenn einer von dem Schaden, den die Habenichtse den Bauern jahraus, jahrein zufügten, ein Lied zu singen wisse, so wäre er's; Tag und Nacht müsse er hinter ihnen sein. Das Lindenhüttenmädchen – na, er wolle weiter nichts gesagt haben. Aber sowas wolle dann Ziegen und 388 Schweine und Gänse und Hühner füttern, und nun solle man ihm mal sagen . . . Er hustete und schwieg, denn er sah, daß der Bauermeister eine verdächtige Bewegung mit der Rechten machte. Der Pfänder, verwies der Bauermeister ihn, solle reden, wenn sich das Handtuch hinter der Stubenthür rege – er könne wohl noch immer die Schläge nicht vergessen, die er vorzeiten durch des Lindenhüttenmädchens Vermittelung am Feuerteiche bekommen hätte.

Das brüllende Gelächter, das nach dieser unverblümten Anspielung losbrach, konnten unsere vor der Lindenhütte hören.

Nunmehr ließ der große Landhöfer, einer der Verständigsten nach dem Bauermeister, sich vernehmen: Man wisse ja gar nicht, was das neue Paar besitze; er schlüge vor, sie brächten das erst 'mal ins klare, ehe sie ja oder nein sagten.

Da dieser Vorschlag allen einleuchtete, so ward unser Bruder Hanfrieder, der starr und stumm an einer Thilinde lehnte, herbeigerufen.

Er sollte also angeben, was wir hätten. Und er that's, obgleich sich alles in ihm dagegen widersetzte.

Ich hatte mir nur dreißig Thaler bares Geld ersparen können, denn mein höchster Jahreslohn 389 betrug nicht mehr als achtzehn Thaler; aber ich hatte schon einen ansehnlichen Koffer voll Leinen, Handtücher, Bettüberzüge und was so notwendig zum Hausstande gehört. Viel mehr war's bei Lorenz auch nicht geworden. Er konnte aber noch ein Erbe von fünfundzwanzig Thalern mit aufzählen. Besaßen also zusammen ein Barvermögen von gut fünfundachtzig Thalern. Da haben etliche Hausherrn noch obendrein große Augen gemacht, und einer hat gar gesagt: »Da sieht man's, daß die Leute heutzutage doch gar nicht so klein sind, wie immer geklagt wird. Die armen Mägde entpuppen sich als reiche Bräute.«

Hanfrieder hat ein paar Linden zurückgehen müssen, und es ist ein Surren und Murren unter den Hausherren gewesen wie in einem Bienenkorbe. Man konnte um so unverblümter reden, als von Bornriekens und Frohnhöfers, auf die man sonst wohl Rücksicht genommen hätte, niemand erschienen war; die guten Väter hatten die Zeit nicht finden können; es mochte ihnen ja auch peinlich sein, da sich's um ihre arme Verwandtschaft handelte. –

Nach einer Weile ward Hanfrieder abermals gerufen, und der Bauermeister sagte: »Wir sind willens, dem Paare das Wohnrecht zu geben, wenn es – dies macht die Mehrzahl der Hausherren 390 zur Bedingung – einen Hausherrn bringt, der sich dem Gemeindevorstande gegenüber verpflichtet, ihm eine unkündbare Wohnung zu geben. Du begreifst wohl, Hanfrieder, daß die Gemeinde, die von allen Seiten überzogen wird, sich für alle Fälle sichern muß.«

Und der Thihöfer fügte in begütigendem Tone die Erklärung hinzu, daß die Gemeinde sich mit der Vergebung des Wohnrechtes auch die Pflicht auferlege, im Notfalle für eine Wohnung zu sorgen. Das hätte ja im Augenblicke nichts zu bedeuten, es könnten aber unvorhergesehene Fälle eintreten, die uns herunterbrächten, man hätt's ja erlebt.

Gleichzeitig ertönte des Drechslers Fistelstimme: »Fiemenachzig Dolder in der Slippen sind lichte te verwippen.«Fünfundachtzig Thaler in der Schürze sind leicht vergeudet.

In banger Hoffnung, in beklemmender Ahnung saßen Lorenz und Lorchen unterdessen unter unserm Lindenbaume. Ein von frühern Stürmen geknickter Zweig fiel in dem Augenblicke vor der Lindenhüttenthür nieder, als Hanfrieder zurück kam. Er deutete stumm auf den Zweig und nickte traurig.

Lorenz wußte nun, was die Glocke geschlagen hatte. Und die Lust zu Hilgenthal war ihm schon 391 ganz und gar vergangen; nur auf Zureden der Lindenleute, die uns gar zu gern im Dorfe behalten wollten, hat er sich überwunden und ist hingegangen zu den Bauern, die etwa eine Wohnung hätten vermieten können. Allein es hatte überall 'ne Eule gesessen; schöne Redensarten, Versprechungen aus spätere Zeit hatte der arme Junge genug bekommen, doch keine Zusage, auf die hin der Bauermeister uns hätte den Einzugsschein ausstellen können. Freilich waren die Wohnungen rar, und die Bauern vermieteten natürlich viel lieber an dienstwillige Tagelöhner als an einen Drechsler, der sein Geschäft treiben wollte.

Bornriekens und Frohnhöfers, die uns ja gern aus der Not helfen wollten, hatten leider gar keine Mietwohnungen.

Nun, Lorenz hatte jetzt genug an Hilgenthal, und wären ihm gleich noch zehn Wohnungen auf einmal angeboten, keine vier Pferde hätten ihn mehr festhalten können.

»Da will ich doch lieber zu den Goltdorfern gehen,« sagte er zu den betrübten Lindenleuten und war wieder voll froher Hoffnung. Goltdorf wäre ja auch viel größer und hielte viel eher einen zweiten Drechsler aus als Hilgenthal; dann könne er auch besser nach Göttingen arbeiten. Und in Goltdorf, so weit hat 392 sich gar seine Hoffnung gesteigert, müsse er in wenigen Jahren soviel verdient haben, daß wir uns ein eigenes Häuschen würden bauen können.

Begleitet von den treuen Wünschen der Lindenleute, hat er sich eilends aufgemacht, in fester Zuversicht, daß er in seinem Heimatsorte unser Liebesglück unter Dach bringen werde. Erst danach wollte er zu mir nach Lutterbeken kommen und mir alles erzählen.

Ach Gott, auch diese zweite Rechnung ist falsch gewesen!

So sehr der Grundhofsvater und andere für uns eintraten, verhielt sich doch die Mehrheit der Gemeinde zu dem Antrage um den Einzugsschein nicht viel anders als die Hilgenthaler. Und der Goltdorfer Drechsler war fast noch schlimmer als der Hilgenthaler.

Nun hätte ja doch wohl Rat werden können, zumal da die Grundhofsleute schon daran dachten, uns den Bau eines Häuschens auf ihrem eigenen Grund und Boden zu ermöglichen; auch die anderen, die größtenteils von dem Drechsler und seiner Sippschaft aufgehetzt waren, würden schon wieder zur Besinnung gekommen sein, da die Holzhöfersche Familie doch eine der achtbarsten in ganz Goltdorf war. 393

Allein nachdem einmal der empörende Gemeindebeschluß zustande gekommen war, hätte man Lorenz ein ganzes Schloß anbieten können. »Behaltet es nur und sperrt euren Eigennutz hinein!« würde er geantwortet haben.

Und ich habe ihm diesen Stolz nicht verdenken können. Ein armer Mensch, der kein Selbstgefühl mehr hat, ist wie ein Weidenbaum ohne Saft. –

Noch ehe Lorenz zu mir kam, hatte mir Schwester Lorchen, die immer noch auf dem Grundhofe war, auch gar nicht wieder davon weg wollte, schon in einem Briefe alles mitgeteilt. Und sie schrieb: »Ach du arme, gute Schwester, das Schicksal hast du nicht verdient« . . .

Dann ist Lorenz selber gekommen.

Wir hatten nicht viel mehr zu beraten, er kam mit einem fertigen Entschlusse: Er hatte die Heimat satt und wollte nach Amerika. »Ich kann die Leute nicht mehr angucken,« knirschte er, »ich fürchte mich ordentlich, einem Hilgenthaler oder einem Goltdorfer zu begegnen. Es ist kein Weg breit genug für mich und sie« . . .

Ich suchte ihm den Groll auszureden, ich tröstete, die Leute würden sich schon noch besinnen; wär's in Hilgenthal oder Goltdorf nichts, so gäb's doch noch andere Dörfer; ich nannte auch Lutterbeken und Eberstein. 394

Aber er hatte sich den Amerikagedanken schon fest in den Kopf gepflanzt. »Und was hätten wir denn zuletzt auch Großes,« sprach er auf mich ein, »selbst wenn sie uns in Lutterbeken oder Eberstein mit Pauken und Trompeten einholten? Ich bin in der Fremde gewesen und bin wiedergekommen, ich weiß, wie es draußen aussieht und wie drinnen. Und ich sage: Friedesinchen, die Heimat ist viel zu eng und klein für uns beide. Wir wollen uns nicht von den hartherzigen Bauern auf den Füßen herumtreten lassen. Und wir wollen auch unser Teil haben auf der Welt; aber hier in der alten Heimat kriegen wir's nicht mehr, da sind alle Wege und Stege verrammelt. Über das große Meer müssen wir hinaus, Friedesinchen, in die andere, in die neue Welt, wo noch Raum genug ist für Millionen fleißiger Leute, wie wir zwei und wo noch zwei starke, tüchtige Arme ausreichen« – er reckte seine beiden Arme aus – »für dich, mein Schatz, ein Haus und einen Hof zu schaffen, so groß wie der Hof an der Tränke. Magd bist du nun lange genug gewesen, Friedesinchen, und solltest du nun aufhören, Magd zu sein, etwa um nichts mehr als eine Tagelöhnerin zu werden? Nein, Friedesinchen, eine Frau sollst du werden, die auf ihrem eigenen Hofe schalten und walten kann, die sechs 395 blanke Kühe im Stall und zwanzig Hühner auf dem Wiemen hat« . . .

Und was zählte er in seiner hellen Begeisterung nicht noch alles auf, ehe er schloß: »Und darum, Friedesinchen, muß ich dir vorausgehen, so schwer mir auch das Herz schon ist bei dem bloßen Gedanken daran. Und wenn ich festen Fuß gefaßt habe da drüben – o, es wird gewiß kein Jahr dauern – dann kommst du nach« . . .

Grauenvoll war mir der Gedanke an das große Meer; aber Lorenz wurde nicht müde, mir alles Grauen und alle Bedenken auszureden. Ach, und was giebt man nicht in diesen Jahren einem so lieben Menschen zu Gefallen auf! Und ich sagte: »Ja, Lorenz, geh hin, fahre über das große Meer! Ich will zu unserem Vater im Himmel beten Tag und Nacht, daß er dich treu behütet und bewahrt und uns drüben wieder gesund zusammenführt.«

Da küßte er mich und sang:

»Nun ade, mein herzlieb Schätzelein,
Jetzt muß ich scheiden von dir,
Bis auf den andern Sommer,
Dann komm' ich wieder zu dir!«

Und als das Jahr verflossen war,
Die Zeit fällt mir so lang,
So muß ich wieder nach Hause geh'n
Zu der Herzliebsten mein. 396

Und als ich in die Stuben trat
Im hellen Sonnenschein:
»O großer Gott vom Himmel,
Wo ist mein Schätzelein?«

»Dein Schätzlein ist gestorben,
Heut ist der dritte Tag.«
»So muß ich mein Schätzlein suchen,
Bis auf den Kirchhof hin!«

Und als ich auf den Kirchhof kam,
Den Grabstein schaut ich an;
So muß ich mein Liebchen rufen,
Bis es mir Antwort giebt.

»Ach Schatz, bleib' du da draußen,
Hier ist die dunkle Nacht,
Man hört kein Glöcklein klingen,
Man hört kein Vöglein pfeifen,
Man sieht weder Sonn' noch Mond!«

Ich mußte laut aufweinen. Daß er auch gerade dies Lied sang, das mich schon oft so traurig gemacht hatte!

Und dann – dann ist er gegangen. Ich habe ihm nicht mehr nachgesehen, bin hinaufgestürzt auf meine Kammer, habe mich über mein Bett geworfen und lange geschluchzt.

Schon zwei Wochen darauf ist das Schiff von Bremerhaven abgefahren. Wäre nicht schon die neue Eisenbahn bis Hannover gewesen, hätte Lorenz es wohl nicht mehr erreicht. – – Und 397 dann säße ich hier wohl nicht so und weinte mir die Augen blind. – – Das Schiff ist untergegangen. – Nicht ein Menschenkind soll übrig geblieben sein. Eine genaue Nachricht habe ich nie bekommen. – Ach, du lieber Gott im Himmel, was brauchte ich noch eine genauere Nachricht! – Mein Lorenz hat nie mehr geschrieben, ist nie wiedergekommen. Nie mehr – nie mehr – – – Wenn ich bei Tag und bei Nacht schluchzend nach ihm rief, dann war es mir immer, als hörte ich ihn mit todtrauriger Stimme singen:

»Ach Schatz, bleib' du da draußen,
Hier ist die dunkle Nacht,
Man hört kein Glöcklein klingen,
Man hört kein Vöglein pfeifen,
Man sieht nicht Sonn noch Mond.«

Der treue Mensch aus Eberstein ist noch mehrmals wiedergekommen; ich habe aber immer nur still den Kopf geschüttelt. Und auch noch andere Vorschläge kamen in den nächsten Jahren; – ich habe immer nur still den Kopf geschüttelt. Ich konnte keinem anderen mehr gut sein. Ach du lieber Gott, im stillen Grunde meines Herzens hoffte ich ja immer und immer noch, Lorenz könnte vielleicht doch noch eines Tages wiederkommen. Ich dachte an Robinson, dessen Geschichte unser 398 Hanfrieder einmal in der Lindenhütte vorgelesen hatte. Konnte ihm nicht auch so ein wunderbares Schicksal begegnet sein? An dieser stillen Hoffnung hielt ich mich, nährte ich mein trostloses Leben.

Nun bin ich alt und grau – – nun wird er nicht mehr kommen.

Ich habe mich darein ergeben. Es ist Gottes Wille so gewesen. Und ich habe auch ein Wort, das heißt:

Man muß den Mai nehmen wie er kommt.

Wollt ihr wissen, wie ich in meinem Alter lebe und mit Gott und der Welt mich abfinde, so leset die Geschichte »Hütte und Schloß«,Zweiter Band von »Die Leute aus der Lindenhütte«. die einer aufschrieb, der auch Lindenhüttenluft geatmet hat und unser Leben kennt wie kein anderer in der großen Welt. Und wenn ihr nun, lieben Leute und Kinder, nach Hause geht und eure widerstreitenden Empfindungen über das Gehörte nicht miteinander in Einklang bringen könnt, so wollet dann doch auch sprechen: »Man muß den Mai nehmen wie er kommt.« – – –


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