Heinrich Sohnrey
Friedesinchens Lebenslauf
Heinrich Sohnrey

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20.

Palmsonntag.

Meine Kindheit hatte ihre Augen geschlossen. Der Tag, an dem sie ihren Abschied feiern sollte, den man als Kind in seiner Ahnungslosigkeit und Einfalt schon Jahre lang wie dürstend herbeisehnt, als wäre er das Thor ins wundervolle, wonnevolle Paradies, dieser Tag war nun endlich da und wurde alter Sitte gemäß mit drei langen Glockenschauern eingeläutet. Palmsonntag! Wie der Tag mit seinen verklingenden Passionsgesängen, seinen trotz der Charfreitagsnähe verblassenden Todesschauern, seinem großen Ahnen und Hoffen, wie dieser Tag mit seinen unter Amselsang und jungem Grün sich stürmisch vorbereitenden Auferstehungsgedanken so wunderbar eigen mich berührt und rührt! Ich habe es in meiner Einfalt 199 immer gar eigenartig schön und ergreifend gefunden, daß der Palmsonntag von unserer Heimatkirche seit jeher zur Konfirmation auserwählt war. –

Mein Konfirmationsanzug lag seit Jahren fertig in der Eichenlade. Meine drei älteren Geschwister, Margretchen, Hanneliese und Stineliese, hatten schon die Einsegnung darin empfangen. Gleichwohl erschien er so sauber, als wäre er zu meiner Konfirmation neu angefertigt worden. Der Vater, mit dem es allmählich wieder besser geworden war, öffnete die Lade, und ich nahm mit eigenem Gefühl die Erbstücke heraus: Ein schwarzes Kleid mit kurzen Ärmeln, weiße wollne Armringe, ein weißes, mit Spitzen besetztes Halsgebinde, ›Köllder‹ genannt, ferner ein kleines weißes Umhängetuch, eine weiße Schürze, ein halbseidenes Leibband und eine schwarze Bandmütze mit weißem Strich, der in Trauerfällen zur Stirn herniederhängen mußte.

Blaue Strümpfe mit bunten Zwickeln und ausgeschnittene Schuhe mit schwarzer Quaste auf dem Spann vervollständigten den Anzug. Die Schuhe wurden ›Hackentuffeln‹ genannt, und sie waren keineswegs das Unwichtigste in meinen Augen, erhielt man doch mit dem Konfirmationstage gewissermaßen erst ein Anrecht auf diese Hackentuffeln. 200

Ein schwarzes Sonntagskleid unserer Mutter hatte den Stoff zu dem Festkleide geliefert, weshalb dieses als ein altgeheiligtes Erbstück angesehen und so sorgsam aufbewahrt wurde, daß auch noch meine jüngeren Schwestern, Lorchen und Christine, darin eingesegnet werden konnten.

Es läuteten die Glocken, es rauschten die grünen Bäume vor den Thüren der Kirche; von Prieche zu Prieche schlangen sich die duftenden Blumen- und Blattgewinde, am Altare standen grüne Palmen, und auf dem Altare brannten die großen Wachskerzen.

Ein feierlicher Zug bewegte sich von der Schule in die Kirche. Wir Konfirmanden waren's, und uns voran schritt der Pastor und der Lehrer.

Nachdem die Gemeinde gesungen hatte, knieten wir am Altare nieder und sangen unter leiser Begleitung der Orgel:

»Mein Schöpfer, steh mir bei,
Sei meines Lebens Licht;
Dein Auge leite mich,
Bis mir mein Auge bricht.
Hier leg' ich Herz und Glieder
Vor dir zum Opfer nieder
Und widme meine Kräfte
Für dich und dein Geschäfte.
Du willst ja, daß ich deine sei,
Mein Schöpfer, steh mir bei.« 201

Es herrscht in Hilgenthal die gute alte Sitte, daß die Kinder das erste Abendmahl mit den Eltern gemeinsam nehmen. O lieber Gott – da bin ich die einzige Konfirmandin gewesen, die keine Mutter gehabt hat, und es sind heiße Thränen in meinen ersten Abendmahlskelch geronnen. Auch der Vater, der so ganz allein hinter mir stand, hat sich nur mit Mühe der Thränen erwehren können. Es ist ihm immer so gewesen, als müßte er die Mutter zur Seite haben.

Hernach ist freilich auch die Freude zu ihrem Rechte gekommen: Ich freute mich mit meinen Mitkonfirmanden, weil wir nun keine Kinder mehr wären und daß wir jetzt in Hackentuffeln gehen könnten – ach – und ich dachte nicht daran, wie grundlos diese Freude war und ahnte nicht, wie dornig und düster nun mein Lebenslauf werden sollte.

Was der liebe Gott mir aber auch vorbehalten haben mochte, immer und allezeit sollte die große Inschrift vor meinen Augen stehen, die unser Seelsorger mir in der Stunde meiner Konfirmation an den Markstein meines jungen Lebens gesetzt hatte:

»Sei getreu bis in den Tod,
So will ich dir die Krone des Lebens geben.«


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