Heinrich Sohnrey
Friedesinchens Lebenslauf
Heinrich Sohnrey

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18.

Kommt man aus der Not, so kommt der bittre Tod.

Eines schönen Tages stand unser väterlicher Freund, der Herr Pastor, wieder 'mal unterm Lindenbaume und rief in seiner leutseligen und scherzhaften Laune mir zu: »Ei, Friedesinchen, wie bist du aber groß geworden! Aufgeschossen wie eine Lilie aus dürrem Erdreich, möchte ich fast sagen.«

Als unsere Mutter ihn sah, erschrak sie, denn es fiel ihr ein, daß mir Rock und Hemd schon ganz und gar zu klein geworden waren. Da es mit meinen jüngern Geschwistern nicht besser stand, hielt sie dem vergnüglich lächelnden Herrn Pastor das alte Volkslied entgegen: 175

»Auf Erden ist kein schwerer Leiden,
Dann wann sich einer von neuem muß kleiden:
Ein' neuen Rock, ein Wammes dazu
Und wohl auch gar noch ein paar Schuh.«

Unsere Eltern hatten aber schon jetzt eine gute »Bate«: Hanfrieder führte die Art und die Sense bereits so gut wie unser Vater, und wenns dem Vater manchmal zu sauer wurde, so sagte der gute Junge: »Ruht Euch nur aus, Vater, ich werde es schon alleine zwingen.«

Margretchen, die im Schlosse diente, hatte einen Gulden Zulage bekommen und brachte der Mutter alle Sonnabend ein halbes Brot, das sie übrig hatte. Hanneliese aber kam allmählich in den Ruf, daß sie eine gar fleißige und tüchtige Näherin wäre, mehr Geschicklichkeit hätte als Püsters »Kleine« und Kloppmeyers Fekerstine, die bisher die Hilgenthaler Hemden gemacht hatten. Kein Wunder, daß Hanneliese bald die größte Kundschaft im Dorfe hatte, daß die einen sie noch eher haben wollten als die andern, denn auf gute Hemden gaben die Hilgenthaler Frauen dazumal noch viel, mehr als auf die Kleider. Unsere Hanneliese fühlte sich angesichts ihrer großen Kundschaft freilich mehr geängstigt als beglückt. Sie dachte, daß 176 Püsters Kleine und Kloppmeyers Fekerstine auch leben wollten, die Kundschaft eher gehabt hatten und sich darum durch sie verdrängt fühlen mußten. Sie war zu gut für diese Welt, unsere Hanneliese.

Wie wohl gelitten sie waren im Dorfe, die beiden Schwestern, und wie schön von Gestalt und Angesicht, das zeigte sich, wenn sie zum Pfingstbier oder zur Kirmes auf den Thi gingen. Es war gerade wie beim Hemdennähen: Jeder große Bauernjunge wollte zuerst mit ihnen tanzen, und ich weiß noch, wie die Schwestern strahlten und lachten, daß sie nicht hätten einen Tanz zu stehen brauchen. Es gab aber auch zu Hilgenthal auf dem Thi nicht noch zwei so schöne, züchtige und bescheidene Mädchen als unser Margretchen und unsere Hanneliese.

Ach, ich seh' sie noch immer vor mir – die sanfte Hanneliese und das frohgemute Margretchen! Wie sie miteinander wetteiferten, unsere Eltern froh zu machen, alle Sorgen von der Lindenhüttenthür fortzuscheuchen. Seh' auch noch, wie der Eltern Augen leuchteten, wenn sie auf den beiden Schwestern ruhten.

Es war, als wenn unser Vater und unsere Mutter ordentlich auflebten und noch einmal jung würden. 177

»Paßt auf,« scherzte der Vater an einem Sonntagmorgen, »jetzt kommen wir auch noch 'mal auf einen grünen Zweig.«

»Ei, wir sind ja schon drauf, Vater!« jubelte Hanfrieder, legte den linken Arm um Margretchen, den rechten um Hanneliese und schwenkte sie lustig um sich herum, daß sie lang und laut aufjauchzen mußten. – O Gott – – es ist das letzte Aufjauchzen ihres Lebens gewesen – –

Es fällt mir ein alter Gesang ein:

Ach wie flüchtig, ach wie nichtig
Ist der Menschen Freude!
Wie sich wechseln Stund' und Zeiten,
Licht und Dunkel, Fried' und Streiten,
So sind unsre Fröhlichkeiten.

Ach wie nichtig, ach wie flüchtig
Ist der Menschen Schöne!
Wie ein Blümlein bald vergehet,
Wenn ein rauhes Lüftlein wehet,
So ist unsre Schöne, sehet!

Ach wie flüchtig, ach wie nichtig
Ist der Menschen Glücke!
Wie sich eine Kugel drehet,
Die bald da, bald dorten stehet,
So ist unser Glücke, sehet!

Mitten im Winter war's, da brachten sie unser Margretchen vom Schlosse herab in die Lindenhütte. Sie war plötzlich bedenklich erkrankt, 178 – und ein krankes Mädchen hatten die oben im Schlosse ja nicht gedingt.

Trotz der sorgsamsten Pflege, die unsere Eltern der kranken Schwester angedeihen ließen, ward sie doch immer kränker. Tag und Nacht mußte jemand an ihrem Bette stehen, das der Vater rasch in der Stube aufgeschlagen hatte.

Nachts versah der gute Hanfrieder zumeist den Wartedienst, er würde des gar nicht müde, pflegte er zu antworten, wenn einer kam, ihn abzulösen. Die Eltern mußten die Ablösung fast mit Gewalt erzwingen. Schließlich aber war es aus mit der anscheinend unerschütterlichen Stärke und Standhaftigkeit Hanfrieders. Margretchens schwere Krankheit hatte sich unvermerkt auch bei ihm eingenistet. Mit Aufwendung all seiner Kraft hatte er gegen den ihn anpackenden Würger angekämpft; er wollte und wollte sich nicht gewonnen geben. Da – als er die Axt ergreifen will, um mit dem Vater etliche Stunden nach dem Holzhau zu gehen – sinkt er ohnmächtig um. Nun hat natürlich auch der Vater seine Axt in die Ecke stellen müssen. Er holte das Bett von der Bodenkammer und schlug es an die Stelle des Tisches, der nun seinen Platz ganz vorn in der Stube vor dem Schranke erhielt. 179

Zu der Stunde hat es der Vater noch nicht geahnt, wie lang die Zeit werden sollte, eh' er wieder ins Holz würde gehen können.

Der Arzt, der aus Tannenfeld herbeigeholt werden mußte, zog eine sehr bedenkliche Miene und sprach vom Nervenfieber.

Es dauerte nicht lange, da mußte auch Hanneliese die Flügel sinken lassen. Die Eltern bereiteten ihr eine Stelle neben Margretchen. Etliche Stunden später kam die Krankheit bei Stineliese und den drei Jüngsten zum Ausbruch. Nun blieb nichts anderes übrig, als daß Stineliese, Lorchen und Christine sich in die Butze legten, während der Kleine mit unter Hanfrieders Decke mußte. Anders stand es nicht zu machen; denn in der Kammer herrschte eine eisige Kälte und über die Böhne pfiff der Wind, stäubte der Schnee. Die Eltern fühlten sich auf ein sturmgepeitschtes Meer versetzt, sie bebten wohl, verloren aber den Kopf nicht, sondern führten das Ruder mit dem Todesmute sturmgeprüfter Steuermänner.

Der Leidenskelch sollte indes noch voller gefüllt werden. Nach etlichen Tagen sank auch die Mutter zusammen. Wie sehr sie mit sich rang, – sie kam nicht wieder auf, sie mußte sich drein ergeben. Nun war es, als hätte die tosende 180 Flut unser Schifflein verschlungen, als ragte nur noch der Mastbaum aus dem brausenden Meere.

Frohnhöfers Friedesinchenpate brachte ein Bund Stroh und breitete es neben dem Ofen aus – für Stineliese, das seinen Platz in der Butze der Mutter überlassen mußte. Da war nun das Lindenhüttenstübchen ein richtiges Kriegslazarett geworden.

Obwohl die Leute unserer Freundschaft ab- und zugingen, lag doch eine ungeheure Last auf den Schultern des Vaters; er kam Tag und Nacht nicht von den Beinen. Aber er trug die schwere Last mit unverwüstlicher Ausdauer und ergebungsvollem Herzen. Wie habe ich den Vater so herrlich stark, so innerlich gerüstet gesehen in jener Zeit schwerster Not!

»Wenn nur ich und das Friedesinchen hochbleiben«, sagte er manchmal. Und der liebe Gott erfüllte doch diesen Wunsch. Das schmächtige, weißhaarige Friedesinchen blieb so munter und gesund wie ein Fisch im Wasser.

Ich mußte nun das ganze Hauswesen besorgen: Ich mußte füttern und melken, wischen und waschen, heizen und kochen, als wäre ich die Mutter selbst. Und das war mir so recht nach dem Kopfe; ja, ich einfältiges Ding wußte mir ordentlich was auf meine Wichtigkeit. 181

Immer schon hatte ich danach getrachtet, einmal in schönen Schuhen mit »Kokarden« gehen zu können, wie's die älteren Schwestern seit dem Tage der Konfirmation konnten.

Nun ich so plötzlich unumschränkte Hausfrau in der Lindenhütte geworden war, kam mit dem Bewußtsein meiner Bedeutung auch die Versuchung wieder, auf stolzen Füßen zu gehen. Hanneliesens Sonntagsschuhe, – die sauber geputzt auf dem Wandbrette der Böhne standen, lagen mir im Sinn. Es waren die schönsten im Hause. Aber Hanneliese hielt auch was darauf und zog sie nur zur Kirche an.

Heftig schlug mir das Herz, als ich die Schuhe vom Brette herabkriegte und anprobierte. Sie waren mir natürlich zu groß; aber ich stopfte soviel Moos hinein, bis sie so knapp saßen wie Hoffräuleinsschuhe.

Wie ein Dieb in der Nacht schlich ich darauf die Leiter hinab, in die Küche hinein. Als ich nun zwischen den Töpfen und Eimern herumwirtschaftete und die Augen vor mir niederblinzeln ließ, nach den Schuhen nämlich, drängte sich mir die Überzeugung auf, daß mein verschossener Rock, die geflickte Schürze und das fadenscheinige Brusttuch zu den glanzvollen Sonntagsschuhen gar nicht paßten. Huschte 182 also abermals auf die Böhne und machte mich über die Eichenlade her, in der unser Sonntagszeug aufbewahrt wurde. Ich zog Margretchens weißen Flausrock an, hing Hanneliesens blaugeblümtes Tuch um und band der Mutter »Sonntag-Nachmittagsschürze« vor, die ich natürlich erst fünfmal um die Quere wickeln mußte. Schließlich stach mir auch der Mutter schöne »Bandmütze« so sehr in die Augen, daß ich der Lust nicht widerstehen konnte, mit ihr meinen Anzug zu krönen.

Mit diesem Sonntagsstaate angethan ging's nun in die Küche und – in den Stall. Ich bildete mir ein, eine richtige Gräfin zu sein und verstellte mich in Sprache und Gebärden.

Da indes eine Gräfin gar nichts zu thun hat, wenigstens nicht in der Küche und im Stall, so stieg ich in meiner Selbstschätzung bald wieder zu einer arbeitsamen Bäuerin herab. Und als solche ging ich dann mit dem Milchnapf in den Stall. So behaglich fühlte ich mich in diesem Jugenddünkel, daß ich alles Ernstes wünschte, Mutter und Geschwister möchten nur noch ein Weilchen krank bleiben; es sei ja so hübsch warm in den Betten. Ach, allzubald sollte mir die Vermessenheit dieses Wunsches zum Bewußtsein kommen! – So nahe bei einander liegt in 183 der Kindheit Thorheit und Erkenntnis, Lust und Leid.

Wie ich mit der Milch aus dem Stalle kam, rief der Vater mit gebrochener Stimme zur Thür heraus: »Friedesinchen – Friedesinchen! Wenn du Margretchen nochmals sehen willst, so komm schnell herein!«

Vor Schreck ließ ich den Milchnapf zu Boden fallen und stürzte in meinem komischen Anzuge in die Stube. Es ist nicht zu sagen, was ich empfand, als ich nun sehen mußte, daß unser liebes Margretchen in den letzten Zügen lag und die Mutter in der Butze die Hände rang. Schon meinten wir, es wäre vorüber, als die Schwester plötzlich ihre Augen mir zuwandte und »Friede–sin–chen!« flüsterte. Ich trat näher; indem zog der Vater mir die Bandmütze vom Kopfe. Glühend rot stand ich am Sterbebette. »Frie–de–sinchen« – flüsterte Margretchen in kurzen Stößen, »verdirb – den Rock – nicht – – Sollst – ihn haben – – Aber – zieh ihn – nur – am – – Sonntag – an – – Werde – bra–v – – – – Engel – – – –.«

Jetzt noch drei lange, tiefe Atemzüge – da ward's still. Margretchen, das liebe Margretchen war hinübergegangen – unter die Engel. 184

Wie der Vater sich über Hanneliese, die vorn lag, hinüberbeugte und Margretchen die Augen zudrückte, habe ich ihn zum erstenmal in meinem Leben weinen sehen; – es war, als wenn sich sein ganzer Körper zusammenkrampfte.

»Ach, Vater, Vater – gieb uns Medizin!« wimmerten jetzt die drei Jüngsten in Todesängsten. Ich konnte den Anblick und das Wimmern nicht ertragen, stürzte unter lautem Geschrei hinaus und rief die Nachbarn herbei. Sie kamen, sahen mich höchst verwundert an und wußten anscheinend nicht, ob sie lachen oder weinen sollten. Frohnhöfers Friedesinchenpate faßte mich schließlich bei den Armen und stieg mit mir die Bodenleiter hinauf. Da erst fiel mir mein Anzug wieder ein und jetzt empfand ich fürwahr mehr Scham als Gram. Als die Pate mit heftigem Kopfschütteln fragte, ob ich in diesem lächerlichen Zustande vor dem sterbenden Margretchen gestanden, schlug mein brennendes Schamgefühl in völlige Trostlosigkeit um.

In der Nacht schlief ich bei Frohnhöfers. Die Pate blieb in der Lindenhütte dem Vater zur Seite.

Um Mitternacht hörte ich ihren Ruf: »Friedesinchen, Friedesinchen! Willst du eure Hanneliese nochmal sehen, so stehe auf!« 185

Mit einem Schrei sprang ich aus dem Bette.

Die Pate mußte mich halten und mich anziehen, wie wenn ich ein zweijähriges Kind gewesen wäre, denn ich taumelte und faßte alles verkehrt an.

Als wir in die Lindenhüttenstube kamen, hatte der Vater unserer Hanneliese bereits die Augen zugedrückt. Laut aufgeschrieen habe ich.

Ich mußte hin und die Totenfrau wecken. Ewig steht die schauerliche Nacht mir vor Augen. Von einem unsagbar schrecklichen Grauen getrieben, rannte ich über den gefrorenen Schnee dem Hause des Gemeindepfänders, ehemaligen Faßbindermeisters zu, dessen Frau ja das Totenfrauenamt bekleidete.

Aus Furcht vor dem Pfänder klopfte ich nur ganz leise, leise an, mußte darum lange warten, bis mein Klopfen gehört wurde. Der Hahn auf dem Dache knirschte und kreischte, und ein Leichhuhn oben im Eulenloche des Hauses rief klagend: »Wutte mie? Wutte mie?«

Ich zitterte und bebte, und die Zähne klapperten mir im Munde. – Endlich kam die Totenfrau heraus, richtete eine grämliche Frage an mich und watschelte gähnend vor mir hin. Schluchzend trippelte ich hinter ihr her. Da fuhr sie mich an: »Laß das Schnucken, Dirn! Du stirbst auch 186 – warte nur. Das ewige Heulen – davon kommen die Thränen. Paß bloß auf, daß keine Thränen auf das Totenlaken fallen! Du weißt, das fällt mir zu; sind aber Thränen darauf gefallen, kommt alle Nacht der Tote zu mir her, stöhnt, ächzt und schreit: Ich will ein trocken Laken! Ich will ein trocken Laken! Hu – glaubste, daß mir so was einerlei wäre – alle Nacht die Toten im Hause haben zu müssen, die einen gar nichts angehen?« –

Ich entsetzte mich und bezwang mein zum Weinen drängendes Herz. – – – – – –

In der ersten Frühe des nächsten Morgens kam der Pastor in die Lindenhütte.

Unser Vater empfing ihn mit den dumpfen Worten: »Herr Pastor, – kommt man aus der Not, so kommt der bittere Tod!« –

Da sind dem guten alten Herrn die hellen Thränen über die Backen gestürzt, er hat unseres Vaters Hände genommen, sie zusammengepreßt, aber lange kein einzig Wort hervorbringen können. Doch ob er gleich nichts sagte, ist uns seine Gegenwart dennoch ein Trost gewesen, zumal da er nun um so eifriger durch die That sprach. Ebenso helläugig wie gutherzig, hatte der Gottesmann sofort wahrgenommen, daß es uns in so schwerer Todesnot völlig an Lebensmitteln gebrach 187 – und von dem Besten, das Küche und Keller des Pfarrhauses enthielt, bekamen wir fortan alltäglich unser Teil.

Als das die großen Leute im Dorfe sahen, fühlten auch sie sich unwillkürlich zur Mildthätigkeit getrieben, und wir empfingen Lebensmittel in Fülle.

Unsere Eltern nahmen das Dargebrachte an wie in dumpfer Betäubung. –

Seitdem ich die Leichen der Geschwister nebeneinander auf dem Stroh in der Kammer hatte liegen sehen, fühlte ich ein unsägliches Grauen auf meiner Seele. Der Schauder des Todes mischte sich mit dem Schauer des Aberglaubens. Mußte ich allein in die Küche oder auf den Boden, so zögerte ich erst, dann stürzte ich mehr als ich ging und zerbrach an einem Tage so viel, als der Vater kaum in zweien verdienen konnte. Am schrecklichsten war mir die Nacht auf der Böhne; hörte ich nur einen Grashalm oder einen Strohspier vom Boden rispeln oder die Katze über den Balken pfötchen, so schnurrte ich zusammen, und von meinem Backebocklager kam ich am Morgen wie aus dem Wasser gezogen.

Da rief die Mutter mich an ihr Schmerzenslager, strich mir mit der fieberheißen Hand 188 mühsam die Haare aus der Stirn, schüttelte kaum merklich mit einem leisen Zuge schmerzlichen Lächelns den Kopf und sagte: »Kind, Kind, wovor graut dir denn? Graut dir denn vor den seligen Geistern, die durch unser Häuschen schweben?« Sie mußte mit Schmerzen Atem holen, und ich dachte den seligen Geistern nach, die durch die Lindenhütte schwebten; der Schauder minderte sich, es kam etwas Wundersames über mich, das ich nicht beschreiben kann.

»Und wenn ich sterbe, Kind« – fing die Mutter in mühsamem Flüstertone wieder an, »daß dir dann nur nicht graut vor mir. Ich thu' dir nichts; ich bin auch im Tode noch deine Mutter, nur daß ich euch dann die Stätte im Himmel bereite, statt auf Erden.«

Ich sah die Mutter an und verstand wohl kaum, was sie sagte. Die Mutter sterben? Das konnte ich mir nicht vorstellen, das war zu ungeheuerlich für mein Begreifen.

Hier möchte ich stehen bleiben mit meiner Erzählung und alle meine Sinne verschließen, denn einen Schritt weiter, schwebe ich über einem schauerlich finstern Abgrunde. – O, Mutter!

Die beiden offenen Särge waren, halb gefüllt mit weißen Hobelspänen, an unserer Mutter vorüber getragen in die Kammer, und sie wurden 189 nach kurzer Rast wieder zurückgetragen, vor dem Lager der Mutter her, auf die Diele. Und die Mutter hörte, wie sie die Nägel einschlugen, aber niemand merkte, daß ihr jeder Nagel ins Herz geschlagen wurde. – Und wir Kinder hatten auf Anweisung der Paten die Lichter von den Särgen genommen und damit in alle Ecken der Lindenhütte geleuchtet, – als ein Mittel gegen den Grauel vor den Toten.

Der alte Herr Pastor war, als die Glocken zu läuten begannen, noch einmal an das Lager der Mutter getreten und hatte sie still und gottergeben gefunden. Nur unser Vater war zuletzt scheu um die Butze herumgegangen; er ging und stand und grub alles in sich hinein, und man sah nur ein wenig an seinem Halse und an seinen Lippen, wie es ihn würgte.

Als nach dem Begräbnis unser tief gebeugter Vater mit uns Kleinen vom Friedhofe in die Lindenhütte zurückkehrte und trostsuchend an das Schmerzenslager unserer Mutter treten wollte, brach er auf einmal mit gellendem Aufschrei zusammen: Die Mutter hatte ihn mit starren, gebrochenen Augen angesehen. –

Ich umschlang weinend die herabhängende rechte Hand der Mutter und fühlte, daß sie starr und kalt war. Aber erst als Hanfrieder und 190 Stineliese sich jammernd aufhoben und herzuwankten, ward ich gewahr, daß wir keine Mutter mehr hatten. Dann war mir's, als krachten die Balken zusammen, ich sah und hörte nichts mehr. –

Die Mutter ist die Sonne der Kindheit; strahlt sie nicht mehr, ist das junge Leben frostig und dunkel, muß jedes zarte Blümchen verkümmern. 191


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