Heinrich Sohnrey
Friedesinchens Lebenslauf
Heinrich Sohnrey

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10.

Das alte Artchen.

Wenn die Sonne so recht warm schien, saß am Mehlbeerbusch auf dem »Broseberge« im Oberdorfe immer eine uralte Frau mit krummem Rücken, runzligem Gesicht und schlohweißen Haaren. Die ältesten Leute konnten sich nicht erinnern, sie je anders gekannt zu haben, und da eigentlich niemand wußte, wie alt sie war, so sagte man nur immer, sie wäre schon hundert Jahre alt. Als ich so bei kleinem zu denken anfing, wunderte ich mich, daß ein Mensch immer nur hundert Jahre alt sein sollte.

Das war das »alte Artchen«, wie jung und alt im Dorfe die Frau nannte. 77

Außer einer noch viel älteren Mutter hatte sie in Hilgenthal keine »Frünne,«Die Hilgenthaler nennen ihre Verwandten »Frünne«, Freunde. bei denen sie ihr Haupt hätte niederlegen können. Welch ein Glück, daß sie noch eine so rüstige und vermögende Mutter hatte, die für sie sorgte, die sie hegte und pflegte. Eine Mutter? fragst du erstaunt. Nun, diese Mutter war niemand anders als die – Gemeinde, die Gemeinde Hilgenthal. Sie trug der Alten, als sie nicht selbst mehr danach gehen konnte, das Essen und Trinken zu; sie zahlte die Miete für ihr Stübchen, da es ein eigentliches Armenhaus in Hilgenthal nicht gab; sie lieferte ihr Brennholz, versorgte sie mit Strümpfen und Schuhen, Hemden und Röcken; der liebe Gott aber – siehe, das alte Artchen hatte ja auch noch einen Vater – gab ihr das Liebste, die warme, wohlige Sonne. Und Artchen schien sich wohl dabei zu befinden; sonst wäre es ja auch gewiß nicht hundert Jahre alt geworden und so lange hundert Jahre alt geblieben.

Wir Kinder freuten uns immer, wenn wir über den Broseberg kamen und die »Artchenweesche«, wie wir auf Geheiß unserer Mutter sagten, da am Mehlbeerbusch in der warmen Sonne sitzen sahen; denn wir hatten eine besondere Lust 78 daran, die Grüße und Redensarten der erwachsenen Leute an ihr zu üben. Nicht, daß wir unseren Spott an ihr gehabt hätten, behüte Gott! Wer einmal gesehen hatte, mit welchem herzlichen Erbarmen unsere Mutter an ihr vorüberging, dem war auch für alle Zeit das Sprüchlein ins Herz geschrieben: »Vor einem grauen Haupte sollst du aufstehen und die Alten ehren« . . .

Aber das hohe Alter mußte unserem Kindersinne wohl näher stehen als das gewöhnliche Alter, daß wir angesichts des alten Artchens bei all unserer Schüchternheit auf so drollige Einfälle kamen, uns an der Alten – sozusagen auf das Alter einzuüben.

Geht der Hilgenthaler an zwei Leuten vorüber, die miteinander im Gespräch sind, so pflegt er statt eines Grußes meistens zu fragen: »Na, ist der Rat gut?« Diese Frage hatte besonderen Eindruck auf uns gemacht, und da nur große Leute so fragten und wir gar zu gern groß sein wollten, so nahmen wir uns vor, das alte Artchen auch mal zu fragen, ob der Rat gut wäre. Daß zu einem »Rate« mindestens zwei gehörten, daran hatten wir nicht gedacht; trugen wir doch die unklare Vorstellung von einem Wagenrade mit uns herum, hatten wir doch auch die Leute auf jene Frage oft antworten hören: 79 das Rad wäre wohl gut, aber die Achsen taugten nichts.

Nun, das alte Artchen, das sonst recht empfindlich sein konnte, merkte wohl gleich, um welche kindliche Dinge es sich bei uns handelte, und daß wir die Frage nicht thaten, um sie zu foppen, dafür waren wir ihr schon als Lindenhüttenkinder gut.

Ich seh' uns noch, Stineliese, Lorchen und mich, wie wir uns gegenseitig an den Röcken zupften, um uns Mut zu der Frage zu machen, und wie rot wir wurden, als Lorchen und ich gleich auf einmal die Frage thaten: »No, Artchenweesche, ist der Rat gut?« In guter Laune pflegte sie das eine Auge blinzelnd zu uns aufzuheben und zu lächeln, und als sie das auch diesmal that und freundlich »jo–a!« quäkte – hei wie stoben und flogen wir nun davon! Wie funkelten unsere Gesichter, wie waren wir albernen dummen Dinger so glücklich! Wir kamen uns nun wie Erwachsene vor und wußten uns fürwahr nicht wenig darauf.

Ach, du Einfalt der Kinderzeit! 80


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