Heinrich Sohnrey
Friedesinchens Lebenslauf
Heinrich Sohnrey

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19.

Wie es uns nach unserer Mutter Tode erging.

Mit sechs Kindern war unser Vater zurückgeblieben. Stineliese, eben konfirmiert, mußte nun das Hauswesen besorgen. Stineliese! Unser Vater klagte nicht, aber ich sah ihn am Sonntage und manchen Abend auf der Bank sitzen. den Kopf auf den Tisch gestützt, die Augen vor sich auf den Boden gerichtet. Er pflegte überhaupt nicht viele Worte zu machen, unser Vater; er war eine grüblerische Natur, behielt alles Schwere für sich, so daß unsere Mutter ihm 192 manchmal einen Vorwurf daraus hatte machen müssen; aber so still wie nun, meinte ich, wäre er doch nie gewesen. Wir Kinder standen in dieser Zeit oft scheu beiseite.

Wer schärfer sah, als Kinderaugen sehen konnten, der merkte, daß der Vater in kurzer Zeit um Jahre gealtert hatte. Eines Tages kam er noch lange vor Feierabend aus dem Holze; langsam, gesenkten Hauptes; es schien, als machte es ihm Mühe, über die Hausthürschwelle zu treten. Er stellte die Axt in die Ecke, sah sie eine Weile stumm an, schüttelte dann mühsam das Haupt und sagte: »Kinder, es will nicht mehr.«

Er hatte seine Kräfte übernommen; auch plagte ihn wieder die alte Gicht, die er sich, wie er sagte, in den Kriegsjahren beim Biwakieren auf der nassen kalten Erde zugezogen hatte. Für einen Mann von der Art unseres Vaters konnte es nichts Unerträglicheres geben, als wenn er seiner altgewohnten Tagesarbeit, seinem regelmäßigen Verdienste nicht nachgehen konnte; gleich schweren, schwarzen Wolken legte sich die Sorge über ihn. Es kam hinzu, daß er nun erst recht erkannte, wie sehr der Haushalt seit der Mutter Tode zurückgegangen war. Die Kuh wollte keine Milch mehr geben, die Hühner wollten keine Eier 193 mehr legen, die Gänse ließen die Flügel hängen, und das Schwein, das schon so gut im Stande gewesen war, lag eines Morgens tot im Stalle. Die Mutter, die Mutter, ach, sie fehlte dem Vater und fehlte uns Kindern, sie fehlte uns überall, in der Stube und im Stalle, auf dem Boden und im Keller, in der Lindenhütte und in der Kirche.

Eine Mutter, wie sie in der Lindenhütte gewaltet hatte, ist wie ein Bergquell, der alles tränkt und erquickt, was zu ihm kommt, Menschen und Tiere, Gräser und Blumen, der immer giebt und sich doch nicht erschöpft, auch wenn die sommerliche Sonnenhitze noch so verzehrend über ihm liegt mit ihrer Not und Pein.

Eine alte Schuld, die auf der Lindenhütte stand, drückte den Vater ganz besonders, denn zu Martini war der Zins an die Kirchenkasse zu entrichten. Wenn einer erst im Finstern sitzt, sieht er alles schwarz; der Vater seufzte denn auch schon über die Schande, daß er zum erstenmale in seinem Leben den Zins nicht werde zahlen können.

Da war nun keine Spielenszeit mehr für uns Kinder. Während Stineliese an der Mutter Statt bei Bornriekens für die Ackerschuld arbeitete, mußten wir Kleinen, wenn wir aus der Schule 194 kamen, ins Feld und krauten oder auf unsern Kamp- und Hagenäckern arbeiten. Ich konnte zwischen Schulschluß und Mittag immer gerade noch eine Tracht einbringen, denn um das bare Einkommen mehren zu helfen, mußte ich nachmittags nach dem gräflichen Hofe ins Tagelohn. Das ergab allemal einen guten Groschen. Ach, du lieber Gott, ja! Was unsereins am Abend verdient hatte, das hatte er am Mittage schon aufgegessen; jedenfalls reichte es mit dem Verdienste Hanfrieders zusammen nicht einmal für das Brotkorn aus, weil die Kornpreise sich niemals nach den Tagelöhnern richteten.

Da kam nicht selten ein Tag, daß wir auch nicht einen Knust im Schranke hatten. Nichts aber war mir peinlicher, als wenn ich ohne Halbabendbrot ins Tagelohn mußte: nicht des Hungers wegen, sondern weil ich mich bitter schämte, wenn die anderen ihre »Stücker« aßen und merkten, daß ich nichts hatte. Armut und Not ist nur halb so schwer zu ertragen, wenn man sie seinen lieben Mitmenschen nicht auf die Zähne zu hängen braucht.

Beim Haferbinden auf der Klosterbreite war's einmal – es ängstigt mich noch manchmal im Traume – als ich nicht ein Krümchen in der Tasche hatte; ich war aber satt an der Angst vor 195 der Vesperstunde, und als sie endlich kam und die Leute nach ihren Vesperstücken liefen und sich käuend auf den Rasenweg setzten, hielt ich mich erst abseits und that, als suchte ich ein vierblätteriges Kleeblatt; dann setzte ich mich an den Weg in die Hurke, zog den Rock über den Kopf und wartete in wahrer Todesangst auf das Ende der Marter. Bertrams Wieschen, das auch mit einlegen half, kam mir nach und aß ein großes schönes Butterbrot vor meinen Augen; es schien gar nicht zu merken, daß ich nichts zu essen hatte. Ich war herzlich froh darüber, habe mich nachher aber doch im stillen gefragt, ob sie wirklich nichts merkte, ob sie's nicht merken wollte, um mich nicht in Verlegenheit zu bringen, oder ob sie's nicht merken wollte, um nicht mit mir teilen zu müssen. Dreißig Jahre später, als sie in bitterkalter Winternacht vor ihrem Manne, einem schrecklichen Saufteufel, zu mir flüchtete und ich sie wie eine Schwester aufnahm und erquickte, mußte ich unwillkürlich noch an jene Vesperstunde denken. Ach, es kommt alles wieder herum! Wir sollten daran denken in der Jugend und wir sollten daran denken, wenn's uns gut geht. Es kommt alles wieder herum.

Dankbare Erinnerungen bewahre ich aus jener schlimmen Zeit noch an drei alte Frauen: die 196 »Heinrichbethsche«, die »Dorbethsche« und »Drägers Fegge«, und immer sind es die Oktoberstürme, welche diese Erinnerungen, wenn sie einmal längere Zeit erloschen schienen, wieder rütteln, wecken und anfachen.

Es war schon über die Mitte des Oktobers hinaus, als ich noch mit einem großen Tagelöhnertrupp auf der großen Kartoffelbreite vor dem kleinen Hagen hockte. Rodemaschinen gab's damals noch nicht, die jüngeren Frauen, sowie die Burschen und Männer rodeten mit der dreizackigen Grepe, und die alten Frauen mit den Kindern lasen die Kartoffeln auf, indem sie auf den Knieen hinter den Rodern herrutschten, mochte der Boden trocken oder naß sein. Wenn dann die Stürme, die sich vor dem Hagenwalde stießen und gleichsam stauten, den Regen und Reif zwischen uns peitschten und ich in meinem dürftigen Leinenrocke schwarz und blau fror und keinen Finger mehr krumm machen konnte, dann haben mich die drei Alten allemal eng zwischen sich genommen, mich rechts und links gedrückt und gewärmt und mir alles vor der Hand weg gelesen.

»Deine Mutter hat uns auch oft was Gutes gethan,« sagten sie und erzählten so viel und mit so viel Liebe und Anhänglichkeit von der Teuern, daß auch der schlimmste Tag, daß selbst Eis und 197 Schnee das Glücksgefühl in meinem Herzen nicht auszulöschen vermochten.

So war es eigentlich die Mutter, die mich wärmte, mich tröstete, sie hatte sich in den Herzen der Frauen ein Kapital gesammelt, von dem ich nun die Zinsen zog. Ach, welch ein Segen ist doch eine gute Mutter! Wie nach Sonnenuntergang der Abendhimmel noch lange in milder, schöner Glut steht, so steht das Andenken einer edlen Mutter noch lange vor den Augen der Lebenden, und der Segen ihres Lebens strahlt nach ihrem Tode noch viel länger fort in dem Leben ihrer Kinder. – Ja, daß wir's auch hier nicht vergessen: Es kommt alles wieder herum! 198


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