Heinrich Sohnrey
Friedesinchens Lebenslauf
Heinrich Sohnrey

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3.

Immer noch mehr Bruchbrunnenfische.

Es läßt sich denken, daß die Lindenhüttenmutter ihre Kleinen nicht viel auf dem Schoße haben konnte. Drei Tage nach meiner Geburt ist sie bereits wieder aufgewesen und hat die Kuh gemolken, und acht Tage später hat man sie schon wieder auf dem hohen Kampe hacken sehen. So lange sie ein Kind an der Brust hatte, nahm sie es mit ins Feld und legte es in die KözeKiepe, Tragkorb. hintern Busch; sonst mußten die Ältesten, auch wenn sie selbst noch der Wartung und Pflege bedurften, das Jüngste warten.

Die guten Lehren, die unsere Mutter ihnen vor dem Fortgehen gab, schlugen sie in den Wind, 32 sobald sie allein waren. Weil ich ihnen bei ihren Spielen hinderlich gewesen bin, haben sie mich durch die gewaltsamsten Mittel zum Einschlafen gezwungen. Besonders wirksam ist es gewesen, mir in die Augen und Ohren zu pusten, wodurch ich am ehesten unschädlich geworden bin. So 'n Rackerzeug! Einmal haben sie zwei rote Spinnrockenbänder aneinander gebunden, das eine Ende an der Hotzel festgeknüpft, das andere Ende zum Fenster hinausgezogen; von der Linde aus haben sie dann die Wiege in schaukelnde Bewegung gesetzt. Schließlich haben Bornriekens Kinder noch ein Leitseil geholt und an das Spinnrockenband geknüpft; darauf sind sie so weit von der Lindenhütte abgegangen, wie der Strick lang gewesen ist und haben alle unter großem Jubel gerissen, was das Zeug nur hat halten wollen. Auf einmal ist die Mutter hinzugekommen. Sie schreit laut auf und eilt ins Haus, um nun sehen zu müssen, daß ihr kleines Friedesinchen nicht mehr in der Wiege, sondern mitten auf dem Fußboden liegt. Ich war mit den Kissen aus der Wiege geflogen, lag ganz unversehrt auf dem nackten Boden und hatte mir ganz rote Backen geschlafen. Da wußte die Mutter, daß mir vom lieben Gott ein Engel bestellt war, der mich nicht zu Schaden kommen ließ. 33

Wie ich anderthalb Jahr alt gewesen bin, ist ein neues Schwesterchen angekommen, das hat aber der liebe Gott gleich nach der Geburt wieder zu sich genommen. Abermals nach anderthalb Jahren hat die Bademutter unser Lorchen gebracht – und da habe ich natürlich die Hotzel räumen müssen.

So lange ich das Zweitjüngste blieb, durfte ich bei Vater und Mutter in der Stubenbutze schlafen, die in der Innenwand war und einen »geblümten« Vorhang hatte. Und in der heimeligen Stubenbutze habe ich mein erstes Gebet stammeln gelernt. Unverwischbar steht es mir vor der Seele, wie des Abends beim Schlafengehen der Vater mich die Hände falten lehrte und die Mutter mir das Gebet vorsagte: »So slafe ein Gotte Name«, und dann: »Liebe Gott, mache fomm, daß i Himmel komm!« –

Ich vermag's nicht zu sagen, wie es mir im Herzen aufquillt, wenn ich mir die guten Eltern vorstelle; 's ist mir noch manchmal, als wären sie eben erst unter'm Lindenbaume hingegangen, oder als müßte die Mutter aus dem Schiebfensterchen der Lindenhütte nach dem Vater ausgucken. –

Ich mochte so an zwei Jahre bei den Eltern in der Stubenbutze geschlafen haben, als die unermüdliche Bademutter wieder mal einen 34 Bruchbrunnenfisch in die Lindenhütte brachte, unsern August. Es schien, als sollte die Hotzel auf den Bodenbalken gar nicht wieder hinauf. Nun erhielt Lorchen den schönen Stubenputzenplatz, und mich mußten Margretchen und Hannchen zu sich in die kleine Stubenkammer nehmen, die eigentlich nur ein Gang um die Butze war und kaum für mehr als ein Bett Platz hatte. Im Winter lag ich zwischen Margretchen und Hannchen, im Sommer, wenn's heiß war, mußte ich vor die Füße, oder Hannchen legte sich dahin. Hanfrieder und Stineliese schliefen auf der Bodenkammer; sie hatten das schönste Bett, dafür war's aber auch im Winter höllisch kalt oben, sauste ihnen doch manchmal der Schnee ums Gesicht.

Das mochte wiederum ein paar Jahre gedauert haben, als eines Tages die unverdrossene Bademutter abermals Einkehr bei uns hielt und – was sagst du – wirklich noch einen Bruchbrunnenfisch in die Wiege legte. Die größeren Geschwister murrten darüber im geheimen. August und Lorchen hatten nun das Recht, aufzurücken, August in den Stubenputzenplatz und Lorchen an meine Stelle zwischen Margretchen und Hanneliese, während ich nun allabendlich die Leiter hinaufzutrippeln hatte und meinen Platz zwischen Hanfrieder und Stineliese erhielt. Mit 35 Stineliese konnte ich mich aber nicht recht vertragen; darum nahm der Vater unsern stelzbeinigen Backebock, überflocht ihn mit Stroh und richtete ein Lager darauf her. Nun kam Lorchen in meinen Platz – und ich rückte in das Backebocklager, das der Vater eigentlich für Stineliese bestimmt hatte; sie wußte sich aber zu drücken. Nun, ich habe mehrere Jahre darauf wie auf Samt und Seide geschlafen; nur einmal bin ich im Traume heruntergefallen, doch ohne aufzuwachen. Am andern Morgen trug ich eine blaue Beule an meiner Stirn und ward deswegen von meinen Geschwistern, besonders von Stineliese noch weidlich ausgelacht und gehänselt. Sie hatten eine besondere Neigung, mich zu hänseln; denn ich war in meiner ersten Jugendzeit ein einfältiges Ding und hatte auffallend weiße Haare, weshalb sie mich nur »use witt DeerUnsere weiße Dirn.« nannten.

Daß wir acht lebenskräftigen Bruchbrunnenfische den Eltern manchmal den Kopf an die Erde drückten, ist wohl nicht schwer zu begreifen.

Und wunderlich genug mußten sie es manchmal anfangen, um redlich und recht von einem Tage zum anderen zu kommen. Unsere Mutter war 36 eine gar eigene Frau und wäre lieber verhungert, als daß sie etwa bei ihrem Bruder um etwas angehalten hätte. Und unser Vater hatte genau so'n Charakter. Lieber versagte er sich das Letzte, als daß er etwas angenommen hätte, was nicht verdient war. So weiß ich daß er gern rauchte, sich aber nur am Sonntag und äußerst selten mal zur Feierabendstunde einen Kopf voll gönnte. Einmal suchte er die letzten Pfennige im Schrank zusammen, um sich wieder ein kleines Paket zu kaufen. Unwillkürlich seufzte unsere Mutter darüber auf, während sich in ihrem Gesichte Falten bildeten. Der Vater ruckte und zuckte zusammen, sah eine Minute lang still seine Pfeife an, schlenkerte sie dann um die Hand und sagte: »Kathrinsophie, du hast recht! Und du sollst mich von heute an nicht mehr rauchen sehen.« Und seine Stimme klang so heiter, sein Gesicht war so strahlend, als wunder was für 'ne Freude er hätte. Das fiel der Mutter denn doch schwer aufs Herz, und es wurden ihr die Augen naß.

»Nein, Hanfrieder, was mußt du von mir denken! Ich gönne dir wahrlich von Herzen gern deine Pfeife,« sagte sie mit halberstickter Stimme und eilte selbst nach dem Schranke, um das Geld zusammenzusuchen. Da aber lief unser Vater 37 ganz vergnügt hinauf und brachte seine Pfeife ganz oben auf den Hahnebalken. Und ich habe ihn von dem Tage an nie wieder rauchen sehen. –

Unsere Mutter trank gern ein Täßchen Kaffee; aber seitdem der Vater seine Pfeife auf den Hahnebalken gebracht hatte, schmeckte er ihr nicht mehr; sie kaufte auch nie mehr als ein Viertel zu 14 Pfennigen, und das mußte auf lange Zeit reichen; es war nur, daß der »Deutsche« 'n Namen kriegte.

Gegen Weihnachten schlachteten wir gewöhnlich ein Schwein und machten ein würziges Rauchfleisch davon. Und das wußte unsere Mutter so einzuteilen, daß sie wohl jeden Sonntag im Jahre ein Stück in den Topf stecken konnte. Dabei war sie immer guten Mutes, und oft hörte ich sie sagen: »Mit vielem hält man Haus, mit wenigem kommt man auch aus.«

Wurde uns das Brot zu knapp, so hielten wir uns, ohne saure Mienen zu ziehen, an die Kartoffeln; waren die aber mal nicht gut geraten, was immer das schlimmste war, so mußten wir uns mit Bohnen, Linsen, Erbsen, Wurzeln und Steckrüben begnügen.

Da sich die Steckrüben im feuchten Keller 38 nicht lange zu halten pflegten, wurden sie in den Vorwinterabenden in dünne Scheiben geschnitten, in der Pfanne geröstet, dann in Beutel gethan und unter den Stubenbalken gehängt. Besonders geschah das wegen der mit uns hausenden und mit uns schmausenden Mäusesippschaft. Die Racker hätten's ja anderswo weit besser haben können; allein es schien ihnen nirgends so gut zu gefallen wie bei uns in der Lindenhütte. Wenn sie nur nicht jeden kargen Bissen hätten mit uns teilen wollen! Was mich anbetrifft, so wünschte ich freilich aufs lebhafteste, daß die graue Gesellschaft die Steckrübenschnitzel alle miteinander über die Seite schaffen möchte; denn das Steckrübenmahl war mir ganz und gar zuwider. Aber unerbittlich hielten die Eltern darauf, daß ich meinen Widerwillen bezwang; manchmal half mir der Vater sogar mit seinem Leibriemen nach. »Wenn du mal zu fremden Leuten kommst,« hieß es, »wird man dich nicht erst fragen, ob du ein Essen gern oder ungern hast. Da muß man daran gewöhnt sein, rauh und schlicht zu genießen.«

Der Steckrübentag, der gegen Ausgang des Winters, sowie das ganze Frühjahr hindurch mindestens einmal in der Woche wiederkehrte, 39 war einer der schlimmsten Tage meiner Kindheit, so wunderlich es auch zu sagen ist.

Rauh und schlicht war unsere Lebensweise in der Lindenhütte, und darin bin ich gestählt worden für die harte Not des Lebens. 40


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