Heinrich Sohnrey
Friedesinchens Lebenslauf
Heinrich Sohnrey

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6.

Zu Eberstein im Pfarrhause.

Da Eberstein in der Mündenschen Gegend liegt und von Goltdorf gut vier Stunden entfernt ist, konnte meine Habschaft nicht unterm Arm getragen werden; besaß ich doch schon einen wohlgefüllten großen Eichenkoffer. Ich freute mich daher nicht wenig, als der Grundhofsvater nach der Abrechnung sich aus freien Stücken erbot, mich von 330 dannen zu fahren. Er könne auch gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, meinte er, denn da wir den Weg über Hilgenthal nehmen müßten, wolle er auf der Rückfahrt Lorchen mit herbringen.

Wir brachen am zweiten Festtage in aller Frühe auf, denn wir wollten in Hilgenthal so rechtzeitig eintreffen, daß wir noch in die Morgenkirche gehen könnten. Ich freute mich so sehr auf die Osterpredigt von unserm lieben alten Pastor; hatte ich ihn doch so lange, lange nicht mehr predigen gehört. Ach, und nun die Fahrt durch den frischen, fröhlichen Ostermorgen!

Es ging an zwei Stunden bergan über bleiches Steingeröll, durch Löcher, Rillen und Erdbrüche; es war überhaupt nur der Schein eines Weges. Wenn der Bauer nicht muß, regt er weder Hand noch Fuß. Aber die Strecke, die an dem Vorwerke des Grafen von Hilgenthal vorüberführte, also von ihm zu unterhalten war, befand sich genau in ebenso ursprünglichem Zustande; die Bauern sagten darum: »Eh' der Hilgenthaler Graf nichts machen läßt, brauchen wir auch nichts machen zu lassen.« Und der Graf sagte: »Ich werde den Bauern 'n Teufel thun.« So blieb der Weg wie er war, ein Jahrzehnt wie das andere und ein Jahrhundert wie das andere, ist er doch auch heute noch so. Ach, und ich konnte mir doch keinen schönern Weg denken. 331

Kein Wunder, daß unsere dicken Gäule ordentlich dampften, als wir den Hilgenthaler Kirchturmsknauf in dem waldigen Grunde auftauchen sahen.

In Hilgenthal gab's kein geringes Aufsehen, als der blaue Ausfahrwagen mit den beiden dicken Gäulen vor der Lindenhütte hielt. Die Friedesinchenpate war die erste, die aus der Nachbarschaft herüberkam und die Hände zusammenschlug. Dann kam Bornriekens Friedrichpate und nötigte, daß die Pferde sogleich in ihren Stall gebracht würden. Der Grundhofsvater sollte auch bei Bornriekens frühstücken, und Frohnhöfers wollten wieder, daß er zu ihnen käme. Da wurde aber der Lindenhüttenvater empfindlich und sagte: »Soviel ist in der Lindenhütte auch noch, daß wir einem so lieben Gaste 'was vorsetzen können.« Und also blieb unser Herr – er wollte es auch nicht anders – in der Lindenhütte, während Bornriekens sich mit den beiden Gäulen begnügen mußten. Es dauerte aber nicht lange, da kam die Friedesinchenpate und zog heimlich eine Wurst aus der Schürze, und alsbald war auch Bornriekens Hannepate mit einem tüchtigen Schinkenstücke da, das sie eben so heimlich zu der Wurst that.

Zwei Stunden nach Mittag brachen wir nach Eberstein auf. Die Gäule sprangen durchs Dorf, 332 daß ich vor den winkenden Leuten ordentlich rot wurde; ich wäre durch Hilgenthal lieber bescheidentlich zu Fuß gegangen.

Nach halbstündiger Fahrt gewahrten wir einen Mann, der auf dem Rande des Weggrabens hockte und den Kopf in die Hand gestützt hielt. Er sah aus wie ein Vagabund.

Unser Herr hieb gewaltig mit der Peitsche in die Luft, wohl um zu zeigen, daß er gerüstet sei.

Der Mann drehte den Kopf nach uns hin, blieb aber sitzen. Bei dem ersten Blick in das stoppelumrahmte bleiche Gesicht verging mir die Angst.

»Ist dies wohl der rechte Weg nach Eberstein?« rief der Grundhofsvater.

Der Mann nickte, stand auf und ging neben uns her. »Ich will auch nach Eberstein, ich bin daher. Komme von Wiershausen zurück, wo meine Schwiegereltern wohnen. Mir ist gestern meine Frau gestorben – sitze nun mit meinen vier Kindern allein da; ich weiß auch nicht, was das werden soll . . .« Und er hielt den Ärmel vor die Augen.

– »Brrr!« machte unser Vater, und der Mann mußte sich aufsetzen. Ich mußte ihn immer ansehen, und wenn er sprach, stand es ganz fest bei mir, daß ich ihn schon lange kennen müsse. Es klärte sich auch bald auf. Ludwig Hagenfried war's, der uns als Mühlbursche einst so wohlgethan. 333 Ja, so trifft man sich! Meine Überraschung kann man sich denken. Auch Ludwig Hagenfried erinnerte sich meiner noch und freute sich, daß es mir so gut ginge. Seit jener Pfingstnacht hätte sich vieles, vieles geändert, seufzte er. Ich dachte an die Müllerstochter, für die er damals den Maibaum geholt. Ich mochte ihn aber jetzt nicht danach fragen, es war ja auch nicht mehr nötig, ich wußte ja nun schon, daß sein damaliger Maibaum verdorrt war. –

Als Ludwig hörte, daß ich die Ebersteiner Pfarrmagd würde, beglückwünschte er mich zu der Stelle und versicherte, daß ich's nicht besser hätte treffen können. Es wären grundgütige Leute, die Pfarrersleute zu Eberstein.

Ich verwunderte mich und sagte, es hätte die frühere Ebersteiner Pfarrmagd ein gar schlimmes Gerücht verbreitet.

Er machte eine abwehrende Geste und sagte: Die habe damit nur ihre eigene Untauglichkeit verdecken wollen. Freilich, wer am liebsten auf der faulen Seite liege, der komme bei der Ebersteiner Pastorin schlecht an, denn – das müsse gesagt werden – auf die Arbeit wäre sie nur einmal; aber, sie griffe auch immer und überall selber mit zu.

Und er hatte mir die Wahrheit gesagt, es verhielt sich wirklich so, und ich sah, daß nicht 334 allein eine rechtschaffene Magd durch eine schlechte Herrschaft, sondern daß auch eine gute Herrschaft durch eine schlechte Magd in Schimpf und Schande gebracht werden kann.

Das Ebersteiner Pfarrhaus mit seiner schönen Ackerwirtschaft kam mir vor wie ein sonntäglicher Bauernhof.

Der Pastor war ein starker Mann, von derben Knochen, aber mit einem Herzen von großer Sanftmut; ich habe ihn nie zornig gesehen. Sollte ich etwas thun, hieß er's nur in bittendem Tone, bei dem man immer eine helle Lust kriegte.

Die Pastorin hatte allerdings einen schärferen Zug in ihrem Charakter und war manchmal etwas »hastig«.

Anfangs stellte sie mir manche Falle, um mich zu erproben; bald hier, bald da fand ich Groschen oder Pfennige, die ich arglos aufnahm und abgab. Die Proben waren aber bald zu Ende. Viel später erst hat die Pastorin mir's gestanden, daß es Proben gewesen waren. Standen wir zusammen vor zwei Arbeiten, die Eile hatten, pflegte sie zu drängen: »Greif an, was du am liebsten thust!« Dann blieb ich jedoch bescheiden stehen und entgegnete, Frau Pastorin möchte die Arbeit, die sie am liebsten thäte, zuerst bestimmen; waren indes die Arbeiten ungleich, 335 ergriff ich allemal flugs die schwerste, that dabei aber, als ob es die leichteste wäre.

Zur Winterzeit wurde das Spinnen fleißig betrieben; die Pastorin spann selbst mit und sogar auf einem Rade mit zwei Rollen. Da ruhte ich nicht, bis auch ich das Spinnen auf zwei Rollen konnte.

Das Ebersteiner Jungvolk nahm mich ohne mein Zuthun in seinen ersten Spinntrupp auf. Der Pastor lachte und sagte, ich solle nur getrost hingehen; er hätte bis jetzt noch keine Ursache gefunden, die althergebrachte Art der Geselligkeit zu verdammen. Er pflegte sogar selbst unverhofft in eine Spinnstube zu kommen. Dann mußten ihm die Knechte›Knechte‹ heißen im Hannoverschen die Burschen in ihrem Verhältnis zu den Mädchen. und Mädchen ein altes Lied vorsingen, wofür er ihnen allemal eine schöne Geschichte erzählte. Auf diese Weise hielt der geistliche Herr das Jungvolk ganz unvermerkt im Zaume, also daß in den Ebersteiner Spinnstuben Unkraut nicht wachsen konnte.

Auch unsere Frau ging mit ihrem Spinnrade manchmal aus und zwar nicht nur in die großen Bauernhäuser, sondern auch in die niedrigen Tagelöhnerhütten. Es war ihr kein Haus und keine Hütte zu schlecht, wenn sie nur Reinlichkeit 336 und Sittsamkeit darin fand. Für die Leute aber brach immer eine fröhliche Stunde an, wenn die allgeliebte Pastorin »spinnen kam«.

Und der Seelsorger wußte, daß seine Marie, wenn sie in den Häusern am Spinnrocken saß, lauter Fäden spann, an denen sie die Gemeinde zum Pfarrhause und – zum Himmel zog. Verstehst du das?

Eines Morgens, als ich ganz allein in der Küche am Herde stehe, wankt eine in erbärmliche Lumpen gehüllte Frau herein, streckt bittend ihren rechten Arm empor, von dem die Hand weg ist, und hält jammernd um einen Teller voll warmer Speise an. Ich stand da wie vom Schlage gerührt, und schwarze Flimmer spielten vor meinen Augen, denn – ich hatte in der elenden Bettlerin auf den ersten Blick meine ehemalige Herrin, die Frau des Tannenfelder Metzgermeisters Dienhardt, erkannt. Sie aber schien nicht die geringste Ahnung davon zu haben, wer die war, die sie in so erbarmungswürdiger Erscheinung um einen Teller voll warmer Speise anhielt. Ich mußte mit aller Gewalt an mich halten, daß ich mich der Unglücklichen nicht verriet, und atmete ordentlich erleichtert auf, als die Frau Pastorin herzukam.

Die Bettlerin hob ihren Armstumpf empor, klagte Gott und die Menschen an und erzählte unter 337 verzweiflungsvollen Gebärden: »O, ich war eine der wohlhabendsten Frauen von Tannenfeld – wir hatten ein blühendes Geschäft – und ich habe allen Armen und Elenden, die vor meine Thür gekommen sind, viel Gutes gethan, aber das hat Gott nicht angerechnet, sonst hätte er mich gewiß nicht in dies Elend hineinstürzen können. O wie reich und glücklich könnten wir heute sein! Aber mein Mann ergab sich dem Trunke, unser Geschäft ging zu Grunde. Als uns das Dach überm Kopfe versteigert werden soll, gerät mein Mann in einen so wilden Zustand, daß er das Schlachtbeil ergreift, alles kurz und klein schlägt. – Um ein Haar hätte er dem Gerichtsvollzieher auch noch den Kopf abgehackt, was auch gar nichts geschadet hätte. Aber ein Teufel muß meinen Mann in Stricken gehabt haben, denn er läßt plötzlich von dem Gerichtsvollzieher ab, springt wie ein Löwe auf mich zu und hackt mir die Hand vom Arme!«

Schaudernd stand ich da, während die Pastorin den Kopf schüttelte und die Unglückselige mehr verstimmt, als gerührt ansah! Wie diese dann auf der Eimerbank saß und in gieriger Hast die Speisen verzehrte, die ich ihr geben mußte, schoß es mir auf einmal heiß in die Augen – und ich gedachte der Zeit, da diese Bettlerin 338 meine Herrin war und mich wie einen Hund behandelte. – Mir wollte fast der Verstand stehen bleiben; hernach freilich, als ich wieder ruhiger geworden war, konnte mich dies Ende mit Schrecken nicht mehr befremden. »Es kommt alles 'mal wieder herum wie der Windmühlenflügel«, und: »Wo Zank und Zwietracht ist im Haus, da fliegt der Segen zum Fenster hinaus.« – – Der Schreck über diesen Fall hat mir noch lange Zeit in den Gliedern gelegen, und ich habe wahrhaftig nicht anders als mit heißem Mitleid an die Ärmste denken können. Man vergißt erlittene Unbill leicht, wenn man ein Herz im Leibe hat und denjenigen, der sie einem zufügt, in so schrecklichem Elende sieht.

So konnte ich denn von Glück sagen, daß ich's wieder alles Erwarten so gut getroffen hatte. Ach, hätte nur das Heimweh nach Goltdorf nicht wie eine stete Flamme an meinem Herzen gezehrt!

So oft sich eine Gelegenheit fand, schickte Lorenz einen Brief, und in jedem Briefe stand geschrieben:

»Tausend Seufzer, liebes Kind,
Schick' ich dir wohl durch den Wind.
Durch den Wind und übers Meer –
Schätzchen, wenn ich bei dir wär'.« 339

Und was hätte auch ich wohl besseres thun und schreiben können! Wenn der Wind nach Norden wehte, dann wußte ich: er trifft meinen Lorenz, und ich gab ihm tausend Grüße und Küsse mit; und wenn er von Norden herkam, stellte ich mich gern mitten hinein in das Säuseln oder Sausen und ließ mich von ihm küssen und horchte auf seine Grüße.

Ei ja, was thut man bei zwanzig Jahren nicht, wenn man verliebt ist?

Zum Briefschreiben kam ich nur selten einmal; um so größer war deshalb meine Freude, als Ludwig Hagenfried, dessen Kinder durch Vermittelung unserer Pfarrleute ein Unterkommen bei freundlichen Menschen gefunden hatten, mich eines Tages fragte, ob er nicht in Geismar eine Bestellung für mich ausrichten könne? »Will mir einen neuen Mühlburschenplatz suchen«, sagte er, »und da werde ich wohl weit herumwandern müssen. Gern thäte ich dir einen Gefallen, Friedesinchen, für deine Gutherzigkeit, die du in dieser Zeit an mir und meinen Kindern bewiesen hast.«

Da konnte ich mir's Herz einmal leichter machen; ich glaube, er hat aber nur einen kleinen Teil von alledem behalten, was ich ihm aufpackte. Schon vier Tage später kriegte ich einen Brief aus Geismar, in welchem Lorenz schrieb, daß 340 ein Müllersmann aus Eberstein ihm von einem gewissen Friedesinchen so viel erzählt hätte, seitdem müsse er alle Tage jauchzen, daß dies Friedesinchen sein Friedesinchen wäre. Lorenz war immer noch beim alten Meister, der ihn wie seinen Sohn hielt. Zuletzt aber hieß es in dem Briefe: er könne es nun auf dem lieben alten Flecke nicht mehr aushalten, – ich möchte doch den Ebersteiner Drechslermeister 'mal fragen, ob der nicht einen strammen Gesellen brauche. Darauf mußte ich ihm hinschreiben, daß der Ebersteiner Drechslermeister kaum für sich selbst ausreichende Arbeit hätte, geschweige denn für einen Gesellen. Ich würde aber auch nicht lange mehr in Eberstein bleiben und teilte ihm mit, warum.

Ich hätte meiner jüngsten Schwester, dem lieben Christinchen, versprochen, ihr, wenn sie aus der Schule wäre, ebenso wie unserm Lorchen eine gute Stelle auszumachen. Und ich hätte es im stillen unserer seligen Mutter gelobt. Der Zeitpunkt wäre nun gekommen, und ich wüßte keinen bessern Ort für die junge, unerfahrene Schwester, als das Pfarrhaus zu Eberstein.

Als die Ebersteiner hörten, daß ich einen neuen Dienst suchte, wurden mir von allen Seiten Stellen angeboten, und ich hätte mir die beste aussuchen können, aber ich glaubte sie alle 341 ausschlagen zu müssen, ich wollte mir nicht nur eine andere Stelle, sondern auch ein anderes Dorf suchen, und das hatte noch seinen besondern Grund.

Ein guter, braver Junge in Eberstein hatte mich gefragt, ob ich seine Frau werden wolle. Als ich ihm sagte, daß das nicht ginge, hatte er sich's wohl erst recht in den Kopf gesetzt, und obwohl er einziger Junge war auf einem hübschen kleinen Hofe mit Kuhackerwirtschaft und gewiß auch kein häßlicher Mensch war und leicht ein passendes Mädchen mit Vermögen hätte kriegen können, so wollte er doch keine andere haben, als »Pastors Friedesinchen«. Und die Pastorin neckte mich oft, wenn er, was wohl alle Tage geschah, mit seinen blanken Kühen am Pfarrhause vorüber fuhr. Am Pfingstbier war er der erste, der mich zum Tanze forderte. Und in der Spinnstube war er's, der mir den Wocken drehte. Und wie es hieß, hätten seine Eltern gar nichts dagegen, und die Leute hielten es schon für ausgemacht, daß wir beide einmal ein Paar würden. Der gute Junge that mir leid, und ich dachte es ihm daher leichter zu machen, indem ich ihm aus den Augen ging. Meine lieben Goltdorfer Grundhofsleute hatten eine nahe Verwandtschaft in Lutterbeken, zwei Stunden von Eberstein. So 342 fügte sich's, daß ich mich für diesen Ort entschied.

Die Pfarrleute meinten erst, ich triebe Scherz, als ich vom Weggehen sprach; als sie sich aber von meinem Ernste überzeugten, lobten sie meinen Entschluß und nahmen ohne alle Weitläufigkeiten unser Christinchen an meiner Statt zur Magd an.

Am dritten Tage nach dieser Abmachung kam unsere liebe Frau Pastorin hastig vom Hofe herein und rief: »Friedesinchen, draußen steht ein fremder Bursch, der fragt nach dir. Ist das am Ende der wahre Schatz?«

Zögernd, mit einer glühenden Röte im Gesicht, ging ich hinaus. Und es war wirklich mein treuer Schatz, der da vor mir stand. »Lorenz!« jauchzte ich. »Friedesinchen!« jauchzte er – und lange und innig drückten wir uns die Hände. Fast hätte ich ihn nicht wieder erkannt, so groß und schön stand er vor mir. Ordentlich ein Schnurbärtchen hatte er sich wachsen lassen.

Als die Pfarrfrau hörte, daß der fremde Bursch wirklich mein Schatz wäre, kam sie lachend herzu und zog meinen über und über errötenden Lorenz ins Haus hinein. Und nachdem sie ihm zu essen vorgesetzt hatte, eilte sie hinweg und ließ sich in einer ganzen Stunde nicht wieder sehen. 343

Da saßen wir nun beisammen, und es begann ein Fragen und ein Erzählen, daran kein Ende zu finden war.

Innig freute ich mich, zu hören, daß in Goltdorf noch alles auf dem alten Fuße stände, und fröhlich hüpfte ich auf, als Lorenz erzählte, wie wohl sich unser Lorchen auf dem Grundhofe fühle und wie groß und blühend es schon geworden.

Nun aber wurde mein Junge auffallend einsilbig – und bei kleinem kam heraus, daß unser Hanfrieder mit der Schwester Lorchen bald Hochzeit halten werde, da Stineliese den Schäfer von Hilgenthal freie.

Auflachend rief ich: »Ei, Lorenz – und das erzählst du mit so trübseligem Gesichte? Ist's dir etwa nicht recht, daß unser Hanfrieder euer Lorchen zur Frau nehmen will? Ist dir am Ende die Lindenhütte nicht vornehm genug?«

Jetzt hättet ihr sehen sollen, wie lebendig er ward! »Friedesinchen, hätten wir nur gleich noch so 'ne Lindenhütte, so 'n Häuschen, das so traulich versteckt hinter einem prachtvollen Lindenbaume liegt und zwischen Obst- und Zwetschenbäumen. Friedesinchen, ich denke, wir könnten auch die längste Zeit Brautleute gewesen sein, könnten gewiß auch bald einen eigenen Hausstand 344 beginnen. Brauchtest dir keine neue Stelle mehr zu suchen, meine ich« . . .

Mir zitterte das Herz. »Lorenz, ich habe bereits das Dinggeld von Lutterbeken« . . .

»O, bring' es wieder hin!« rief er; »aber nein, es ist besser, daß ich es hinbringe!« rief er hinterher und sprang auf, als wollte er gleich von der Stelle wegstürmen nach Lutterbeken.

Ich zog ihn wieder auf seinen Stuhl und sagte: »Mein lieber Junge, ich glaube, du hast noch vieles nicht bedacht« . . . Und es war so. Mein Lorenz war ein bißchen ein lustiger Vogel und hatte sich um die Zukunft noch keine großen Gedanken gemacht. Wenn aber so zwei arme junge Leute einen Ehestand gründen wollen, dann muß die Kutsche mit den Gedanken vorher kommen, sonst kommt sie sicher hernach und statt des Glückes setzen sich dann die Sorgen und Nöte zu ihnen; und die Liebe behält auch nicht 'mal ein Plätzlein auf dem Bocke. So klug hatte mich das Leben schon gemacht, und so viel scharfer Wind war mir schon um die Nase geweht.

Lorenz mußte mir recht geben und einsehen, daß es gut und notwendig wäre, noch ein paar Jahre mit der Hochzeit zu warten. Er stand auf, seufzte, fand aber seinen Frohmut wieder 345 in dem Entschlusse: »So will ich unterdessen in die Welt gehen und dort mein Glück versuchen! Gewiß wird es mir anderswo eher gelingen!«

Und so schwer mir's auch aufs Herz fiel, dachte ich doch, daß es gut wäre für ihn und für uns, wenn er sich erst noch ordentlich umsähe in der Welt; er würde, meinte ich auch, in der Fremde mehr verdienen und eher etwas erübrigen können, als in der Heimat. Und ich bezwang mein Herz, ermutigte den Liebsten in seinem Vorsatze und sagte: »Wohin du auch gehst, meine Gedanken werden immer und allezeit mit dir gehen und bei dir sein, ob du's gut triffst oder schlecht.« Und wir weinten beide und küßten uns – und dann ging er rasch davon. Ich konnte ihn vom Pfarrhaus an noch eine Strecke übers Feld wandern sehen. Er kehrte sich immer wieder um und schwenkte den Hut.

Nun war auch der Tag da, an dem ich meine lieben Pfarrleute verlassen sollte. Mir war es weh ums Herz; gab es doch auch sonst noch viele liebe Menschen, treue Freundinnen, deren Herz ich in den paar Jahren gewonnen hatte, von denen ich nun voraussichtlich fürs ganze Leben scheiden mußte.

Ich dachte daran, wie traurig es doch ist um ein armes Mädchen, das nirgends eine bleibende 346 Statt haben kann. Ach, wie sehnte sich mein Herz nach einer festen Heimat, nach einem Stückchen Erde, wo ich mich mit meinem Lorenz hätte anbauen können fürs Leben.

Als ich dann unser Christinchen an der Seite unseres Vaters daherkommen sah und in ihrem Gesicht den Preis las, für den ich mein Opfer brachte, wurde es mir wieder leicht und wohl. Das Bewußtsein, zum Wohle geliebter Menschen ein Opfer gebracht zu haben, ist Sonnenschein der Seele, ist ein Stück zum Glück.

Der Vater blieb eine Nacht im Ebersteiner Pfarrhause und ging am anderen Morgen mit mir nach Lutterbeken.

Da ich unsern Vater gern einmal ganz allein bei mir haben wollte, ließen wir den Knecht, den meine Lutterbeker Herrschaft geschickt hatte, mit meinen Habseligkeiten vorausfahren. Der liebe Gott lächelte uns zu in seinem Frühlingssonnenschein; wir fühlten, er meinte es gut mit uns. In den Wäldern grünten die »Palmen«,Stechpalme. und auf den Wiesen schimmerten die weißen Sterne der Gänseblümchen. Die Palmen erinnerten mich an meinen Konfirmationstag, und die Gänseblümchen führten meine Erinnerung 347 zurück in die frühesten Kindertage, und was die Palmen und Gänseblümchen nicht weckten, das weckte der Anblick des Vaters. Alle Jahre noch, wenn ich einen solchen Frühlingstag erlebe, ergreift mich auf einmal die Erinnerung an jenen Gang mit dem Vater, und es geht mir ein zuckendes Weh durch die Seele.

Wenn ich ihn ansah, wie er trotz seines schon ganz weiß gewordenen Kopfes noch so rüstig ausschritt, trotz seines herzhaften Sprechens nicht einmal mit dem Atem zu kurz kam, mußte ich unwillkürlich die Hände ineinander legen, einen Blick zum Himmel hinauf thun, Gott im stillen danken und ihn anflehen: Erhalte uns den Vater noch lange am Leben, lieber Herrgott! Ach, wie köstlich, wenn man noch Vater sagen kann!

»Ja, Friedesinchen, es werden nun in der Lindenhütte, so Gott will, große Veränderungen vorgehen,« sagte der Vater, »Stineliese wird, wie du weißt, unsern Schäfer freien, und Hanfrieder gedenkt uns dafür das Lorchen aus Goltdorf zu holen. Stineliesens Hochzeit wird wahrscheinlich schon zu Johanni sein, und danach wird Hanfrieder auch bald Anstalt machen. Ich kann wohl sagen, auf das Lorchen freue ich mich ordentlich, das ist nicht mit dem Herzen betrogen, 348 artet ganz auf seinen Vater. Keiner im Regiment hatte das Herz so auf dem rechten Flecke wie mein guter Kamerad Holzhöfer – das soll wohl jeder sagen, der ihn gekannt hat. Na, so darf man doch hoffen, daß der alte Hanfrieder Lindemann der zukünftigen Frau der Lindenhütte nicht im Wege ist, seine alten Tage in Frieden beschließen kann. So wird es auch unser August gewiß gut haben bei Lorchen. Thihöfers hätten ihn gern als Knecht genommen; aber der Wald, der Holzhau, ist dem Jungen sein alles – und so mag er denn Holzhauer sein und bleiben.«

Der Vater hustete ein wenig, lächelte und fragte, wie es denn mit mir und Lorenz stände? Ich schüttete mein Herz aus, und der Vater sagte mit einem leisen Seufzer: »Möge Gott geben, daß ihr auch glücklich werdet mit einander und – und – – daß ihr ein Heim findet, darin ihr euer Glück bergen könnt. Es gilt immer erst dicke, harte Steine zu schmelzen, will ein von irdischen Gütern entblößtes Paar das Wohnrecht haben in einer Gemeinde. Horstmanns Annedörte, die einen Brackensteiner freien wollte, hat bei unsern Hilgenthalern vergeblich ums Wohnrecht angehalten; die Bauern können immer noch die Schneidersleute mit ihren hinterlassenen fünf armen Würmern nicht vergessen.« 349

Das Alter sieht Gespenster, die Jugend sieht Engel. Wenn nur erst der Hochzeitstag da wäre, dachte ich, das Wohnrecht wollten wir schon kriegen. Sollte denn die ganze große Welt nicht Raum haben für uns zwei, die wir nicht mehr beanspruchten, als man in den Schatten eines Lindenbaumes bauen kann?! – 350


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