Heinrich Sohnrey
Friedesinchens Lebenslauf
Heinrich Sohnrey

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9.

Was unsere Mutter auf vorwitzige Fragen zu antworten wußte und was der Glaube thut.

Ich fragte unsere Mutter einmal in der Schlummerstunde, woher denn eigentlich die kleinen Kinder kämen?

Sie hustete und sagte: »Weißt du den Born aus dem Bruche, wo die Erlenbüsche stehen? Sieh, da kommen sie 'raus, die kleinen Kinder.«

Wie denn aber die Kinder in den Brunnen kämen? fragte ich gläubig weiter.

»Die tragen die goldenen Muhkühe (Marienkäfer) hinein,« antwortete die Mutter.

Woher denn die Muhkühe die Kinder kriegten? forschte ich. 72

»Ei, woher denn anders als aus dem Himmel.«

Wie sie daherkämen?

»Nun, die Muhkühe fliegen hin und fliegen her und tragen die Kinder auf ihren Flügeln herab.«

Wer denn den kleinen Kindern Milch gäbe?

»Das thut die alte Frau Holle, die unten im Brunnen sitzt.«

Nach einer Weile, ich hatte immer an die kleinen Kinder im Bruchbrunnen denken müssen, – that ich die Frage, wie denn aber die Bademutter die Kinder kriegte?

»Das will ich dir sagen,« gab die Mutter unverdrossen zur Antwort, »die Bademutter nimmt ein Stück Zucker, schrapptReibt, schabt. es auf dem Steine, der den Bruchbrunnen bedeckt, – dann dauert's nicht lange, so streckt ein Kleines seine Ärmchen empor und die Bademutter greift flugs zu.«

Ob ich meine Arme auch so emporgestreckt hätte?

»Ei, sonst hätte dich die Bademutter doch nicht erwischen können,« antwortete die Mutter und lachte zum erstenmale laut auf.

Nunmehr ist mir der Bruchborn Tag und Nacht nicht aus dem Sinn gekommen, und eines Abends seufzte ich: »Wenn ich doch ein Zuckerstück hätte!« 73

Die Eltern haben meine stille Absicht sofort »spitz gekriegt.« »Willst wohl das Zuckerstück auf dem Bornsteine schrappen?« fragte der Vater und warnte: »Schlag' dir das aus 'm Sinn, Mädchen! Was meinst du wohl, wenn ein Kleines heraufkäme? Könntest doch nicht anders, du müßtest es mitnehmen.«

Der Vater goß indes nur Öl ins Feuer. Am anderen Morgen stieß Stineliese mich an: »Du, ich habe von Bertrams Hanjust ein Zuckerstück gekriegt.«

Ich jubelte auf. Eine Stunde später gingen wir, Stineliese und ich, mit Kiepe, Laken und Sichel ins Sommerfeld hinein, um »Darenpöste« zu stechen für unsere Gänse. Stürmisch klopfte uns das Herz, denn wir schritten schnurstracks auf den geheimnisvollen Bruchbrunnen zu. Glühenden Gesichts kamen wir bei ihm an, kauerten uns auf dem Steine nieder und horchten eine Weile auf das Lispeln und Plätschern tief unten.

»Sollen wir?« flüsterte Stineliese.

»Ich weiß nicht!« gebe ich zusammenschauernd zurück, indem ich erregt aufspringe und mich auch alsbald wieder zur Erde ducke.

»Schrappe du erst mal!« drängte jetzt die Schwester.

Ich weigerte mich, fragte dann aber, ob sie es dem Vater nicht sagen wolle? 74

Stineliese gelobte unverbrüchliches Schweigen, und in fieberhafter Erregung nahm ich das Zuckerstück zwischen die Finger, schrappte es auf dem Steine und sang dazu:

»Schrappe, schrappe Steine,
Wies' meck diene Beine!
Wies' meck diene Ärmeken
Un dat kleine Därmeken
Un dat witte Haar,
Haar, Haar, Haar« . . .

Jetzt stockte mir der Atem, denn Stineliese, die bis dahin voller Begierde durch die Spalte zwischen Stein und Rasen geguckt hatte, sprang plötzlich auf und stellte sich auf den Sprung.

»'n Junge oder Meken –
Sitt all up der HekenUntere Hälfte der zweiklappigen Hausthür.«

rief sie, eh' ich mich davor hüten konnte, und stob wie ein Wirbelwind davon. Da sie die Kiepe auf dem Rücken hatte, erhaschte ich blitzschnell das Laken und stürmte ihr nach, aber mit so durchdringendem Geschrei, daß alle Leute im Felde erschraken, alle Hasen und Hühner entsetzt ins Korn liefen. Es war mir nämlich plötzlich vorgekommen, als ob ein kleiner Junge hinter mir herweinte. – Als Stineliese mein Geschrei 75 hörte, schrie sie noch mehr, denn sie glaubte, daß ich den gerufenen Jungen schon aufgehuckt hätte. So kamen wir, als ob wir in Messern stäken, auf dem Lindenberge an, wo wir uns allgemach beruhigten und Gott Lob und Dank sagten, daß wir so gut davongekommen waren.

Zum Glück waren die Eltern und älteren Geschwister alle im Winterfelde, so wurden sie von unserem Streiche nichts gewahr. Wenn wir fortan nach dem Bruche krauten gingen, machten wir immer einen weiten Bogen um den gefährlichen Bruchbrunnen herum.

Den Eltern lag es ordentlich am Herzen, daß uns dieser kindliche Glaube bewahrt blieb; sie wachten mit aller Sorgfalt darüber, daß nichts gesagt und nichts gethan wurde, was uns den Glauben hätte erschüttern können.

So habe ich noch viele Jahre mit aller Innigkeit daran festgehalten; und soll ich es recht sagen, so kann ich auch heute, wo ich nun eine Greisin geworden bin, fast nicht denken, daß die liebe Mutter mir sollte was vorgelogen haben. 76


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