Heinrich Sohnrey
Friedesinchens Lebenslauf
Heinrich Sohnrey

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13.

Der rote Hannes.

Die Hilgenthaler Feldmark war reich an schönen dicken Hecken und wilden Grasplätzen, die sich um die Hecken herumzogen; das waren die Krautstellen der kleinen Leute, und da zu krauten war ordentlich 'ne Lust. Auch in den großen gräflichen Hölzern durfte gekrautet werden; ich weiß noch, wie gern wir »Unserer lieben Frauen Bettstroh« einheimsten, ein Kraut, das uns durch seinen Namen so geheimnisvoll berührte, das auch unsere Kuh so gern mochte.

Wenn ich so viel Thaler hätte, als ich von meinen frühesten Jahren an Trächte von den Hecken gerupft und auf den Grasplätzen geschnitten habe, brauchte ich heute nichts mehr zu rupfen, zu schneiden und zu tragen. Dazumal gab's auf den Äckern noch viel mehr schöne, fette 107 Disteln, »Kattenpöste,« »Wehwinnen,« »Dumwocken,« Hederich und Frauenrauh als heute; ja, vielfach sahen die Äcker aus, als wären sie nur mit schönem Kraut für uns besäet, und es dauerte nicht lange, so hatten wir dicke Trächte voll. Doch mußten wir uns dabei höllisch in acht nehmen, denn hatten wir einen Kornhalm oder einen Kleestengel zwischen unserem Kraute, gleich war der »rote Hannes,« der Pfänder, da und schrieb uns ein, oder schlug uns mit seinem Knotenstocke. Er stand immer hinterm Busche und sah aus wie eine glühende Kohle, so rot war sein Haar und sein Gesicht. Unsere Mutter, die sonst jedem Menschen seinen ehrlichen Namen ließ, nannte ihn nur den »Dankverdiener«.

Aber er war es nicht allein, der das Feld so unsicher machte; es gab dazumal auch noch mancherlei unheimliche Feld- und Holzwesen, vor denen uns graute.

Kamen wir nach der ›Karlgrund‹ im Emker Holze, wo das süßeste und saftigste Gras stand, von dem unsere Kuh immer kegelkugeldicke Backen voll nahm, stand uns auf einmal der Mann ohne Kopf vor Augen, also daß wir schleunigst Fersengeld gaben und das prächtige Gras im Stiche ließen. – Der Mann ohne Kopf ist, wie die 108 alten Leute im Dorfe bestimmt zu erzählen wußten, ein Ahn des Grafen von Hilgenthal gewesen, der wegen seines gottlosen Lebenswandels im Grabe keine Ruhe hat finden können, allnächtlich aufs Schloß zurückgekommen ist und jedesmal ein grausiges Rumoren angestellt hat. Schließlich ist ein heiliger Pater gekommen und hat den ruhelosen Geist in die einsame Waldschlucht gebannt, wo er nun als Mann ohne Kopf umgeht und mitternächtigerweile fürchterliche Schreie ausstößt, daß jedem, der es hört, die Haare zu Berge steigen.

An diese alte Sage mußten wir stets denken, wenn wir nach der Karlgrund kamen – und dann hatten wir den Verbannten auch gleich leibhaftig vor Augen.

Nicht weit von der Karlgrund befindet sich die Schlangenhöhle, in der eine verzauberte Prinzessin auf Erlösung wartete. Durch sie hätte einstmals viel Gold in unser Häuschen kommen können; allein es war damals gerade wie heute: Wenn der Bettelmann nichts haben soll, fällt ihm 's Brot durch 'n Beutel!

Unser Urgroßvater kommt eines Abends, mit einer langen Tracht Holz auf dem Rücken, vom Schlage her, als er auf einmal in der Gegend der Schlangenhöhle einen weinenden Schrei 109 vernimmt. Im ersten Augenblicke richten sich alle seine Haare steil in die Luft. Er bleibt aber stehen, und da er den Schrei noch zweimal vernimmt, so wirft er die Tracht ab und schreitet beherzt auf die Höhle zu. Es kann ja ein Unglücklicher meine Hilfe nötig haben, denkt er. Aber als er vor die Höhle kommt, ringelt sich dicht vor dem Eingange eine glänzende Schlange, die auf dem Kopfe eine goldene Krone trägt. Sie sieht unseren Urgroßvater mit unsäglich traurigem Blick an und beginnt mit einer glockenhellen Stimme zu sprechen: »Ach lieber, lieber Menschenmann, ich will dir Gold die Hülle und Fülle geben, ich will deine Hütte in ein Schloß verwandeln, wenn du dich meiner erbarmst und mich erlöst; denn ich bin eine verzauberte Prinzessin und muß so lange verzaubert bleiben, bis ein redlicher armer Mann mir ein ganzes Jahr hindurch das darbringt, was bei ihm am rarsten ist. Ach, so sag', lieber Menschenmann, was ist bei dir am rarsten?«

»Was sollte in dieser Zeit wohl rarer sein, als das liebe Brot!« seufzte unser Urgroßvater.

»Wenn du« – so darauf die Schlange, »jeden Morgen vor Aufgang der Sonne ein Stücklein Brot vor dem Eingange der Höhle niederlegst, ohne jemand etwas davon zu sagen, so kannst 110 du mich erlösen und viele Kammern voll Gold und Silber gewinnen.« – Es war eine böse Zeit, und obwohl unser Urgroßvater sich sagen mußte, daß sie etwas Schweres von ihm verlangt hatte, gelobte er doch, die Prinzessin zu erlösen.

Er dürfe aber ja niemals die Zeit verschlafen, mahnte sie ihn noch; wenn er nur einmal nach Sonnenaufgang käme, so könne er die Erlösung nicht vollbringen, so sei alles umsonst.

Die Zeit wolle er schon nicht verschlafen. meinte drauf der Urgroßvater, wenn er nur immer das Brot zu schaffen vermöge! –

Er ging in schweren Sorgen heim, begann aber am anderen Morgen in guter Hoffnung das gelobte Werk. Bitter sauer wurde es ihm; er mußte sich das Stückchen immer vom Munde abziehen. – Aber wenn er auch das ganze Jahr hätte kein Brot essen sollen – es hätte ihn doch nicht davon abbringen können, die unglückliche Prinzessin zu erlösen. Hat der Lindenhüttenmann sich etwas Gutes vorgenommen, setzt er auch alles daran, bis es vollführt ist. Mochte die Sonne früh oder spät aufgehen – immer war unser Urgroßvater mit seinem Stücklein zu rechter Zeit vor der Schlangenhöhle. Das Jahr verrann, und unser Urgroßvater sagte mit einem leichten Seufzer: »Nun noch ein Mal!« 111

Ach, es lag ja nur noch ein winzig kleiner Knust Brot im Schranke. – Die Urgroßmutter, die aus Frohnhöfers Hause gestammt haben soll, hatte natürlich von dem Erlösungswerke ihres Mannes keine Ahnung und verteilte den ganzen Knust unter die hungernden Kinder.

Als am frühen Morgen der Urgroßvater das Brot nicht fand, stieß er einen lauten Schrei aus und rief: »Wo ist das Brot? Wo ist das Brot?« Und als ihm nun die entsetzte Urgroßmutter sagte, daß sie's den Kindern gegeben hätte, rannte der Ärmste hinaus, schlug an Frohnhöfers Fenster und bat: »LähntLeiht. meck doch 'n Stücke Brat!«

Na, was die für'n Gesicht gemacht haben, könnt ihr wohl denken, und bis der Urgroßvater das Stück hatte, war eine ganze Zeit vergangen.

Schon ist er der Höhle bis auf zehn Schritte nahe. Da – da geht die Sonne auf – und zugleich gellt ein unbeschreiblicher Schmerzensschrei durch den Wald.

Der Urgroßvater sinkt in die Kniee und schlägt die Hände über dem Kopfe zusammen: Es ist alles, alles umsonst gewesen. – – –

Wie in der ›Karlgrund‹ und der 112 ›Schlangenhöhle‹, so sollte es auch noch an manchen anderen Stellen nicht »ganz richtig« sein. Im ›Mühlengraben‹ wollten viele den ›fliegenbunten Mann‹ gesehen haben; in den hohlen Kopfweiden wohnten die ›grauen Holzmännchen‹; aus dem Kornfelde winkte die ›Kornmuhme‹; sie hätte, wie es allgemein hieß, schwarze, mit glühenden Eisenspitzen versehene Brüste, woran sie die ins Getreide laufenden Kinder saugen ließe.

Auf den Bruchwiesen tanzten im Abenddämmer die ›Elben‹, und eine Sorte sollte sehr bösartig sein, die Menschen auf die Wiesen locken, um sie zu zerreißen. Der Berg hatte seinen Zwerg, und am erlenumrauschten ›Stöhnebeke‹ barg sich, wie einige alte Leute behaupteten, der schlinggierige Lindwurm.

Von den Eltern aber war uns gesagt worden: Wenn ihr auf dem rechten Wege bleibt und kein Unrecht thut, kein fremdes Wiesengras schneidet und keine Ähren ausrauft, braucht ihr euch vor den bösen Geistern nicht zu fürchten. Auch hatten sie uns allerlei zauberkräftige Pflanzen kennen gelehrt, die wir uns als Mittel gegen die Umtriebe der Geister mit stiller Verschwiegenheit ins Zeug steckten, z. B. ›Dost‹ und ›Dorant‹, besonders aber den ›Baldrian‹, von dem es in der Sage heißt: 113 »Härrest döu nech den Baldrian, söll deck de Nese in'n Nacken stahn!«Hättest du nicht den Baldrian, sollte dir die Nase im Nacken stehn.

Wußten wir, daß am Stöhnebeke wieder gutes Kraut gewachsen sei, so nahmen wir eine ›Pfänderblume‹ (Wucherblume), rissen ein Blütenblatt nach dem andern aus und sagten beim ersten: »Der Lindwurm kommt!«, beim zweiten: »Der Lindwurm kommt nicht!« Fiel auf das letzte Blatt: »Der Lindwurm kommt!«, so gingen wir selbstverständlich nicht nach dem Stöhnebeke, sondern wählten uns einen andern Weg aus. Wollten wir nach der ›Karlgrund‹, so pflückten wir uns eine zweite Pfänderblume, fingen indes, klug geworden, beim Ausziehen des ersten Blättchens mit dem zweiten Satze an: »Der Mann ohne Kopf kommt nicht!« Natürlich traf diese Versicherung jetzt gerade mit dem letzten Blatte zusammen, und wir konnten völlig beruhigt bei der Karlgrund so viel Kräuter einheimsen, als wir zu tragen vermochten. Aus dieser Vorsicht ist es auch wohl zu erklären, daß wir nie einen Lindwurm oder einen Mann ohne Kopf zu Gesicht bekamen.

Heute sind von den guten und bösen Geistern 114 in den Feldern und Wäldern von Hilgenthal nur noch ganz wenige vorhanden. Die meisten haben Morgenluft gewittert und sind einer nach dem andern von dannen gezogen. Ob's nun besser wird in der Welt? Noch spür' ich nichts. 115


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