Heinrich Sohnrey
Friedesinchens Lebenslauf
Heinrich Sohnrey

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12.

Wenn der Kuckuck ruft.

Es war ein harter Winter gewesen, und in der Lindenhütte zu Hilgenthal war's wieder recht knapp hergegangen. Du lieber Himmel auch: alle Tage zehn Mann zu Tisch und einer nur an der Axt – da mußten die Eltern wohl sehen, wie sie Rat schafften.

Was gab es da für eine unbändige Freude, als auf einmal der Jubelruf ertönte: »Unsere Linde hat über Nacht Knospen gekriegt!« Alles stürmte hinaus, und ich war nicht der Letzte!

»Paßt auf, da wird auch der Kuckuck bald ankommen!« Und wir sahen schon im Geiste unsere Prachtmutter auf die ›Rakböne‹ gehen und Wurst und Schinken anschneiden. Den ganzen langen Winter hindurch hatte sie uns, 93 um den kleinen Schlachtevorrat auf der Rauchkammer so lange wie möglich zusammenzuhalten, auf den ersten Kuckucksruf vertröstet. »Dei Kuckuck hät noch nech eraupen,« sagte sie, wenn einer schon im Winter ein Schinkenstück begehrte.

So mußten wir lernen, uns in die Zeit zu schicken. Wie aber der Frühling durch die Lindenzweige guckte, da zerrissen alle Fäden unserer Geduld, so straff waren sie gespannt auf den ersten Kuckucksruf.

Bis das Mähen auf dem Anger anfing, pflegte unser Vater noch täglich nach dem Holzhauen zu gehen. Mittags wurde ihm ein warmes Essen im Henkeltopfe hinausgebracht. Konnte die Mutter frei kommen, so that sie's gern selber; sonst besorgten es etliche von uns Kindern. Es galt dann aber Köze und Laken mitzunehmen, um vom jungen Hau Sprick und Späne mitzubringen.

Wir hatten ein schlimmes Aprilwetter gehabt, und die Mutter hatte uns längere Zeit nicht ins Holz gehen lassen. Da merkten wir erst, wie gern wir trotz aller Beschwernisse ins Holz gingen, und als der April sich zu Tode getobt hatte und der junge Mai durch die Linde lachte, hätten uns keine vier Pferde mehr halten können. Den Henkeltopf in die Hand, die Köze auf den Rücken, das Holzlaken um die Schulter – und fort ging's. 94

Wie der Wald, der liebe, schöne grüne Wald uns wieder grüßte! Es leuchtete, rauschte, grünte, blühte und duftete, schwirrte und jubelte – o, es ist nicht zu sagen, wie's war – nicht nur um uns, sondern auch in uns. Horch! Still! – Noch konnten wir die schmalen Lichtstreifen am Waldsaume hinter uns gewahren, als plötzlich droben in den Hangbäumen, erst weiter, dann näher, die vollsten, klarsten Kuckucksrufe ertönten. Wie gebannt lauschten wir: Kuckuck! Kuckuck! Kuckuck! Kuckuck! Unbeschreiblich war unsere Wonne, und sie entlud sich in dem einstimmigen, unaufhörlich erneuerten Rufe: »Kuckuck, sniet Wost un Speck up!« Dann kehrte ein jeder seine Taschen um, ob sich nicht ein Stückchen Brot darin finden möchte. Es fand sich leider keins, und das war traurig: denn wer beim ersten Kuckucksrufe kein Brot in der Tasche hat, der kriegt auch das ganze Jahr keins hinein. Dies müßige Bedauern hielt sich jedoch nicht lange, es galt ja noch eine Reihe von Fragen an den Kuckuck zu richten.

»Still, was der Kuckuck uns sagen will!«

Ich fing an:

»Kuckucksknecht, segg meck recht,
Woveel Jahr eck leben möcht'?
Beleig meck nech, 95
Bedreig meck nech,
Süst bist döu de recht Kuckuck nech!«

Dann kam Lorchen mit der Frage:

»Kuckuck Speckbuck, segg meck doch,
Woveel Jahr lew eck noch?«

Daraus unser kleiner August:

»Kuckuck up der Weggen (Weide),
Woneer sall eck freggen?« (freien)

Und so ging's fort, bis ein jeder von uns wußte, wie lange er zu leben hatte, wann er Gevatter werden und wann er freien werde. Wie wir dann horchten, daß wir auch nicht einen Ruf überhörten. War uns die Auskunft nicht nach der Mütze, so trösteten wir uns, daß es der liebe Gott doch wohl besser wisse. – Nur unser August machte, als ihm der Kuckuck die Hochzeit noch ganze zehn Jahre hinaussetzte, im ersten Augenblicke den Mund so dick, als ob ein Schock Hühner darauf sitzen sollte.

Die Paten hatte ich oft sagen hören: Wenn man den Kuckuck zum erstenmale höre und einen Pfennig in der Tasche habe, würde einem das ganze Jahr das Geld nicht ausgehen. Und wenn man kein Geld bei sich trage, oder gar was verlöre, würde man auch das ganze Jahr Mangel daran leiden. 96

Ein Pfennig wäre schon genug gewesen. Aber was half uns das? Unsere Eltern hatten vor drei Tagen ihr Letztes für eine ältere Schusterschuld hingegeben und besaßen nicht einen roten Heller mehr.

Wir grämten uns aber nicht so sehr, schon war mir wieder so ein altes Liedlein eingefallen, das ich nun meinen Geschwistern vorsang:

»Dei Kuckuck up den Tune satt,
Dat regent sau und hei word natt.
Da kamm de leiwe Sunnenschien,
Da word de Kuckuck hübsch un fien.
Er breitet seine Flügel aus
Und flog wohl übers Goldschmiedhaus.
Das liebe Goldschmiedstöchterlein
Schenkt mir einen Ring von Golde rein,
Und macht mir einen goldenen Kranz
Den will ich tragen auf diesem Tanz.
Zu diesem Tanz kommt niemand 'rein,
Als ich und mein Feinsliebelein.
Ich wünsch' der Braut eine goldne Kron'
Und um das Jahr einen jungen Sohn,
Zum andern Jahr ein Töchterlein,
Bis daß es vierunzwanzig sein.
Vierunzwanzig um einen Tisch,
Dann weiß die Frau, was Haushalten ist:
Haushalten ist Arbeit,
Zur Kirche gehn ist Frömmigkeit,
Vor der Thüre stehen ist Faulheit.« 97

Wir mußten uns nun aber sputen, da der Vater doch gewiß schon hungrig nach uns ausguckte.

Als wir eben in die hohen Buchen auf dem Hungerberge kamen, schimmerte uns ein ballartig zusammengeknittertes Stück Papier entgegen. Wir hoben es auf, lösten es auseinander und kernten – wer beschreibt unseren freudigen Schrecken? – und kernten einen blanken halben Gulden aus dem Papierballe. Wir waren so starr, daß wir uns nicht vom Flecke rühren konnten. Ein blanker halber Gulden? War das nicht Blendwerk? Oder sollte der Kuckuck . . .? Ein halber Gulden – das war in unseren Augen, in denen schon ein Heller als ein bedeutendes Vermögen galt, ein unmäßig großes Kapital. Ein blanker halber Gulden! »O – o, nun haben wir das ganze Jahr viel Geld!« schrieen wir, ganz unsinnig vor Freude. »Hurra! Hurra!! – Gott, was wird der Vater für Augen machen, wenn wir den kostbaren Fund ihm zeigen? Ganz gewiß wird er die Axt in den obersten Baumwipfel werfen und mit uns singen und springen. Und dann die Mutter – na, die wird eine Stunde dastehen und das unverhoffte Glück ganz und gar nicht zu fassen wissen. Ein halber Gulden – ei, das ist ja 98 gerade soviel, daß wir zwei große Brote dafür kaufen können. O Mutter, Mutter, was wirst du froh sein! Juh-huh, Kuckuck! Juch Kuckuck! Speckbuck! Juh-huh Kuckuck!«

So schrieen und jauchzten wir in unserem Freudentaumel, bis wir auf den jungen Hau kamen. Glühend wie Backofenkohlen zeigten wir dem Vater unseren Fund. Seine Augen leuchteten auf; aber die Axt flog nicht in den Baumwipfel. »Kinder,« sagte er nach einer Minute stillen Bedenkens, »laßt euch vom Herrn Kuckuck nicht die Augen verblenden. Er ist ein loser Schelm, berückt die Leute gern und führt sie an der Nase herum. Denkt nur nicht, daß der Kuckuck sich viel was aus unserer Armut macht und deswegen mit halben Gulden um sich würfe. Der Kuckuck ist so einer: Wer was hat, dem wirft er was zu; wer aber nichts hat, der kriegt auch nichts. Darum heißt's: Wer heute Brot und Geld in der Tasche trägt, der wird das ganze Jahr genug davon haben. Ihr aber habt weder ein Krümchen noch einen Kreuzer bei euch – auch der halbe Gulden ist nicht euer eigen, er ist gefunden – der Kuckuck wird euch was prusten.« Der Vater nahm den Gulden in die Hand, betrachtete ihn noch einen Augenblick und wickelte ihn dann sorgfältig wieder ein 99 mit den Worten: »Glaubt mir, Kinder, es nützt uns nichts und es hängt gewiß ein gramvolles Herz daran!«

Wir waren sehr enttäuscht und ganz geknickt. Indem bemerkten wir in einiger Entfernung einen alten Mann, der mit tief gebeugtem Haupte zwischen den Bäumen hin- und herging und allerlei seltsame Gebärden machte, erst tief herab auf den Boden, dann hinauf zu den Baumwipfeln sah und wie in heller Verzweiflung die Hände rang. Ergriffen verfolgten wir eine Minute sein Thun; dann rief ihm der Vater zu: »Suchst du was, Hanchristoph? Hast du was verloren?«

Der Mann wandte sich um und wankte auf uns zu. »Ach Gott – ihr seid's – 's freut mich!« Wir merkten, daß ihm das Wasser in der Kehle saß. Gewaltsam niederschluckend, fuhr er fort: »Ihr wißt, daß heute Maitag ist – und daß der Kuckuck gerufen hat – und daß das eine Freude ist, wenn man Geld in der Tasche hat – Geld in der Tasche – unsereiner – – ach, du lieber Gott und Vater! Hört, wie's mir ergangen ist! Wir sind an Brotsenden – und ich wollte zur Feierabendstunde in der Holzmühle vorgehen und Mehl mitbringen. – – Wollt's gestern schon thun, sagt aber Janechen, meine Frau: 100 Thu's morgen, weil's dann Maitag ist und weil dann vielleicht gerade der Kuckuck ruft – hast dann entweder Geld oder Mehl bei dir. – – Thu's morgen, sagt Janechen. Gut, wir hatten gerade noch einen halben Gulden – den steck' ich heute morgen bei. – – Janechen hat ihn, daß ich ihn nicht verliere, dick mit Papier umwickelt . . .«

Jetzt schluchzte der alte Holzhacker auf wie ein Kind, während in uns schon ein mächtiger Jubel aufstieg.

»Und wie ich vor einer Stunde nach dem halben Gulden fühle,« fährt der Alte in seinem Jammer fort, »da – ach Gott, ach Gott – ist er weg – rein weg, wie weggehext. – Und ich weiß nicht, wohin er gestoben und geflogen ist. Jedes Laubblatt hab' ich umgewandt, – und ich finde ihn nicht. Und denkt euch mein Gefühl, wie der Kuckuck nun zu rufen anfängt und immer stärker ruft und immer näher kommt – gerade als wollt' er's mir recht zum Hohne thun. – O – wo kriege ich meinen halben Gulden wieder?«

»Da – Kinder – gebt dem Hanchristophvetter den halben Gulden!« rief unser Vater strahlenden Auges. Es war auch die höchste Zeit, denn wir konnten uns nur noch mit großer Mühe halten. Der Hanchristophvetter war erst 101 ganz wie versteinert; dann zwang er sich zu einem schwermütigen Lächeln. »Ja, Hanfrieder, dazu wärst du imstande,« gluckste es aus seiner Kehle, »bist ein rechter Lindenhüttenmann, ein echtes Lindemannsblut – gerade wie dein Vater und dein Großvater, den ich auch noch ganz gut gekannt habe. Das Hemd vom Leibe gaben sie einem armen Schlucker hin. Aber es ist mir genug, daß ich den Willen seh' – und darum stecke den halben Gulden nur wieder bei. Gott rechne euch den Willen für die That. Ich weiß nicht, ich spüre auf einmal was in mir, daß ich mich fast schämen möchte. – Sei versichert, Hanfrieder, nun werde ich den Verlust leichter verschmerzen.«

Wir Kinder verstanden den Alten nicht gleich. Unser Vater aber lächelte eigentümlich und sagte: »Hanchristoph, du sprichst mir einen Edelmut zu, den ich nicht bewiesen habe; du meinst, ich hätte dich beschämt und umgekehrt ist's: Du hast mich beschämt. Die Kinder haben ja den halben Gulden gefunden.«

»Und er ist dick mit Papier umwickelt gewesen,« fielen wir nun aufs lebhafteste ein, als befürchteten wir, daß der Hanchristophvetter dem Vater nicht glauben möchte.

»Also wird's wohl dein leibeigener Gulden 102 sein!« drängte unser Vater, als der Alte noch gar nicht zugreifen wollte, sondern wie gelähmt dastand und mit aufgerissenen Augen auf das Guldenstück starrte. Erst nach einer längeren Pause bewegte er sich wieder und fragte zitternden Tones: »Ist's denn wirklich wahr, Hanfrieder, Kinder?«

Wir mußten's ihm aus Leibeskräften beteuern, sonst hätte er's wirklich nicht geglaubt.

Als er endlich zum Glauben gekommen war, preßte er den halben Gulden stürmisch an seine Brust und jauchzte zwischen Lachen und Weinen: »Also ich hab' ihn wirklich wieder, meinen halben Gulden? Gott, ach Gott, diese Freude, diese Freude! Gotteslohn, Hanfrieder! Gotteslohn, Kinder! Gotteslohn, Gotteslohn! Ach, ist das eine Freude!«

Als unser Vater nun meinte, daß wir doch gar nichts gethan hätten, womit wir Gottes Lohn verdient, fiel ihm der Glückliche stürmisch in die Rede: »Was, Hanfrieder, nichts gethan? Wenn einer selbst blutarm ist, also daß er gar auch am Hungertuche nagen muß und findet nun einen halben Gulden und versteckt ihn nicht, sondern giebt ihn mit Freuden dem Verlierer zurück – das wäre keine That? Gerade in die rechten Augen und Hände ist mein Guldenstück gekommen. Denkt 103 mal, die Esebecks oder Snurtchepeters oder Bocklers oder Treppenkies' hätten den halben Gulden gefunden, – hätte ich ihn wiedergekriegt?«

Diese innigen Freudenworte erschöpften die Kraft seines Dankgefühls noch keineswegs. Als er das Geldstück so wohl geborgen hatte, daß es nicht wieder verloren gehen konnte, eilte er flugs davon und verschwand zwischen den Bäumen, und als er nach einer kurzen Weile wiederkam, hatte er einen dicken Arm voll Sprick (Reisig) und den ganzen Kittel, den er wie eine Schürze aufgenommen, voll blanker Späne. Und dann lief er noch dreimal fort und kam jedesmal sprick- und spanbelastet zu uns zurück.

Unser Vater wollte es ihm verwehren; wir Kinder hätten junge Beine und könnten uns das Holz selber zusammensuchen. Der Hanchristophvetter hörte nicht danach, und so kriegten wir schönere Trächte, als alle anderen Kinder, die heute aus dem Holze gingen. –

In der Freude merkten wir kaum, wie schwer die Trächte waren; nur August konnte manchmal ein Stöhnen nicht verbergen, wenn die Äste sich in den zarten Rücken bohrten.

Wir ruhten einmal mehr und brachten nicht nur die Trächte, sondern auch die Glückseligkeit glücklich nach Hause. 104

Die Mutter machte uns Vorwürfe, daß wir zu schwer genommen hätten. Wir aber bestürmten sie mit der frohen Botschaft, daß der ganze Wald weit und breit wiederhalle von den Rufen: »Kuckuck, Kuckuck, sniet Wost un Schinken up.«

Da ließ sich unsere Mutter denn auch nicht mehr nötigen. Lächelnd wetzte sie das Messer auf der Thürschwelle und stieg unter lautschallendem Zujubel zur Bodenleiter hinauf, die nach der ›Rakböne‹ führte.

Als sie wieder herab kam, trug sie eine halbe Kopfwurst und einen Schinkenschnitt in der Hand, angesichts dessen man hätte auch fragen können: »Was ist das unter so viele?« Doch die Mutter verstand einzuteilen, daß es langte. Und wir waren zufrieden, mochte die empfangene Wurstscheibe oder das Schinkenschnitzel auch noch so winzig ausgefallen sein. Ja, ich weiß noch, wie mausmäulig klein wir anbissen, was für eine königliche Freude wir hatten und wie innig dankbar wir die gute Mutter anlachten. – Je kleiner der Bissen, desto größer der Wohlgeschmack!

Wenn die hoch über der Tiefe der Menschheit wohnenden, im Überflusse übersättigten ›Pepelkinder‹›Pepelkinder‹ oder ›Pepellörke‹ – nennt man im Hannoverschen die blassen Kinder reicher Leute. nur einmal ein Jahr genötigt würden, 105 so auf den ersten Kuckucksruf zu warten, wie damals wir Lindenhüttenkinder, müßte sich ohne Zweifel ihre Natur ändern. Und dann würde ich ihnen zurufen: Damit ihr nicht wieder verpepelt werdet, baut von euerem Überflusse über die Tiefe des Menschentums eine Brücke, auf der die Engel des Friedens hin und her gehen können! 106


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