Heinrich Sohnrey
Friedesinchens Lebenslauf
Heinrich Sohnrey

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15.

Die alte Hexe.

Wenn der Saft in die Weiden stieg, hei, das war eine lustige Zeit! Ein Brotmesser ward heimlich aus der Tischlade genommen und in die Tasche gesteckt, die Gösseln wurden ausgetrieben, und im grünen Grase am Ufer der hilgen Beke saßen wir und klopften die von den dickköpfigen Weidenbäumen geschnittenen Peitschen mit den Messerschalen, wozu wir unaufhörlich sangen:

»Plop – plop – piepe (Ploppiepe = Pfeife),
Woll'ne Piepe moken,
Kamm de ale Hexe
Met'n stumpen Metze (= Messer),
Snet Hut, Haar af,
Alles, wat dranne satt,
Smet se in den Gromen (= Graben), 130
Alle Hunne gnomen (= nagen).
Leip de kleine Kättche taum Barge rup,
Woll'ne Mule vull Saft langen;
Asse weer erunder kamm,
Was de Piepe reie – reie – reie (=– fertig).«

Einmal, als wir auch so am Klopfen und Singen waren, kam die Muhlengrabenweesche mit ihren jippenden Gösseln am Wasser herauf. Und nun gab's sofort ein Raunen und Rufen: »Die Hexe kommt, die Hexe kommt!« Und die Bängsten nahmen schleunigst ihre Pfeifen und Peitschen zusammen und zogen mit ihren Gickgackern davon. Nur wir Lindenhüttenkinder hatten keine so große Angst vor ihr, denn es bestand noch eine Verwandtschaft zwischen dem Mühlengrabenhause und der Lindenhütte, weswegen wir auch »Weesche« sagten. Es war freilich eine seltsame alte Frau, die ganz allein in dem abgelegenen Mühlengrabenhause hauste und sich da in allerlei Geheimnisse eingesponnen hatte. Ihr Mann, der mit mehreren Leuten ins Holz ging, war vor vielen Jahren von einem fallenden Baume erschlagen; ihre Kinder waren nach Bremen gezogen und nach Amerika ausgewandert. Sie schickten ihr so viel, daß sie gut leben, ihr kleines Besitzthum schuldenfrei machen und noch manches übrig haben konnte. Die Leute im 131 Dorfe aber wollten's nicht glauben, daß das viele Geld von den Kindern käme; es erschien ihnen viel wahrscheinlicher, daß Stöpke, der Teufel, es ihr brachte. Bald wollte dieser, bald jener um Mitternacht gesehen haben, wie Stöpke in Gestalt eines feurigen Heubaumes in den Schornstein des Mühlengrabenhauses gesaust gekommen sei, gegen die alte Weesche zärtlich gethan und den großen Stubentisch mit lauter blanken Thalerstücken überdeckt habe. Bei Stöpkes Ausfahrt wollte man immer ein fürchterliches Rasseln auf dem Dache vernommen haben.

Auch erzählte man, daß die Alte in gewissen Nächten auf einem stumpfen Besen nach dem Blocksberge reiten müsse. Weil sie einmal zu spät gekommen sei, habe der Teufel sie in einer Mitternacht dreimal ums ganze Dorf gepeitscht.

Die Mühlengrabenweesche trug stets ein graues Tuch um den Kopf gewunden. Sie litte so sehr am Kopfkrampf, sagte sie; die Leute aber wußten's besser und raunten sich einander zu: Man wisse wohl, woran sie litte. –

Unter ihrem Kopftuche schielten zwei rotverschwollene Augen hervor. »Das sind die rechten Hexenaugen,« zischelten die Leute. »Damit beruft sie die Rinder im Stalle und die Kinder in der Wiege.« 132

Das Gesicht der Weesche hatte etliche bültenartige Warzen, und feine Haarbüschel wuchsen darauf. Auch das wußten die Leute zu deuten, wie überhaupt keine ihrer körperlichen Eigenthümlichkeiten ungedeutet blieb.

Sie könne, wurde behauptet, ungesehen des Nachbars Ziege oder Kuh melken; könne sich in eine schwarze Katze verwandeln, und was weiß ich noch alles mehr.

Trat sie unverhofft in eine Stube, legte man sofort das Brot umgekehrt auf den Tisch. Sah man sie kommen, ward flugs ein stumpfer Besen vor den Antrittstein gelegt. Lobte sie ein Kind, oder ein Kalb, oder ein ›Fickeln‹, gleich hieß es: »Unberufen! – Gestern war es besser.«

Kein Wunder, daß wir Kinder bei dem Pfeifengesange immer an sie denken mußten, daß sich in unseren Köpfen die Vorstellung festsetzte, die alte Hexe mit dem stumpfen Messer sei verkörpert in der einsamen Mühlengrabenfrau.

Selbst unsere guten Eltern waren noch in dem Wahne befangen, die alte Mühlengrabenweesche müsse eine Hexe sein; aber sie warfen der Unglückseligen deswegen keine Steine nach, wie die anderen Leute es thaten. Daran hinderte sie sowohl ihre Gutherzigkeit als auch das verwandtschaftliche Gefühl. 133

»Du lieber Himmel,« seufzte die Mutter manchmal, »wenn sie nun auch eine Hexe ist, so kann sie gewiß selbst nichts dazu.« Der Vater nickte dazu und legte es uns Kindern dringend ans Herz, daß wir uns der Weesche gegenüber nie anders denn freundlich und dienstgefällig zu erweisen hätten. Wir sollten's uns nie einfallen lassen, ›Hexe‹ hinter ihr herzurufen; gleichwohl müßten wir uns hüten, von ihr etwas Eßbares anzunehmen.

Ach, sie hatte es und brauchte es nicht, und wie viel Gutes hätten wir in der Zeit der Kirschenröte von ihr haben können! »Werd de Kirsche rat, kümmt de grötteste Nat,« seufzte unsere Mutter, und der Vater pflegte dann manchmal zwischen Scherzen und Sorgen zu sagen: »Et is sau slimm und werd sau slimm und werd alle Doge slimmer – und ümmer nein Brat und ümmer nein Brat un ümmer un ümmer un ümmer!«Es ist so schlimm und wird so schlimm und wird alle Tage schlimmer – und immer kein Brot und immer kein Brot und immer und immer und immer! Zu solcher Zeit ist die Mühlengrabenweesche gar manchmal mit voller Hand in die Lindenhütte eingekehrt: Bald hatte sie einen Brotknust, bald ein Speckstück, dann mal einen Topf voll Mus oder Butter, dann 134 wieder ein Becken voll Mehl – und so bald dies, bald das.

Aber was der Wahn thut!

War die Weesche von dannen gegangen, grub unsere Mutter unter tiefen Seufzern die gebrachten Gaben schleunigst hinter unserm Hause tief, tief in die Erde, und wir – hungerten weiter. Warum? Weil uns die Weesche mit ihren Gaben hätte ›was anthun‹ können. Die Eltern argwöhnten das mit blutendem Herzen. Sie waren in dem alten häßlichen Wahne groß und alt geworden und konnten sich mit dem besten Willen nicht davon befreien.

Die Weesche pflegte ihre Gänge zur Lindenhütte regelmäßig »in der EulenfluchtDämmerstunde« zu machen – wie ich heute annehme, lediglich deshalb, weil die linke Hand nicht wissen sollte, was die rechte that. Allein die Leute im Dorfe wußten's besser: »Hexen und Eulen können das reine Sonnenlicht nicht vertragen!« raunten sie und rieten unsern Eltern, bei der Ankunft der alten Hexe flugs drei frische Kerzen angezündet auf den Tisch zu stellen.

Doch den Rat befolgten die Eltern nicht. Drei Kerzen auf einmal anzubrennen, war ein 135 Luxus, der weit über ihr Vermögen hinausging.

Eines Tages im Hochsommer erwischt die Mühlengrabenweesche mich auf der Straße und zieht mich eilends in ihr Haus. Die alte Bertramsche, die zufällig daher gekommen ist, hat uns voll Entsetzen nachgestarrt, ist dann mit dem Rufe davongelaufen: »Jetzt wird das kleine Friedesinchen aus der Lindenhütte behext!«

Also hätte ich denn nun zu erzählen, welcher Art das Behexen gewesen ist.

Die Hexe führte mich in ihre Stube, drückte mich mit beiden Händen auf die Tischbank nieder und sagte in ihrem eigentümlich quäkenden Tone: »Nun wart' hier einen Augenblick, Friedesinchen!«

Sie stieg in den Keller hinab, und als sie nach einer Weile wieder herauf kam, hatte sie die ganze Schürze voll rotwangiger Äpfel. »Gucke, Kind«, quäkte sie, »so rotblütige Äpfel im Hochsommer – ist das nicht was Rares? Nu, nu, thu auf die Schürze! Willst auch erst lieber einen probieren? Sieh, diesen da! Wenn du so rote Backen hättest, weiße Dirn! Ich wünsche es dir wohl, deinen Geschwistern auch, denn ihr seid die besten Kinder von ganz Hilgenthal und habt noch nie mit Steinen hinter mir hergeworfen. Das möcht' ich euch gern vergelten. I nu, hau 136 ihm doch die roten Backen weg! Stehst ja da wie eine verhagelte Petersilie! Lüstert dich der Apfel denn nicht?«

Da konnte ich nicht mehr zögern – knack – knack – knack, und der erhaschte Apfel hatte seine rotblütige Wange eingebüßt, noch ein paarmal knack – knack – knack –, und von dem rotbäckigen Apfel war nur noch ein bleicher, kahler Griebs übrig geblieben.

Und was die gute alte Hexe mir gewünscht hatte, das erfüllte sich sofort: Mein bleiches Gesicht rötete sich und glänzte wie der Apfel geglänzt hatte, – so behauptete wenigstens die glückselig grinsende Weesche, als sie nun die übrigen Äpfel in meine Schürze rollte.

Ich bedankte mich vielmals und ging geschwind nach Hause, knusperte und knackte jedoch, während ich ging, ohne Aufhören.

Als unsere Leute die Äpfel sahen und hörten, wer sie gespendet hatte, wurden sie blaß vor Schrecken: »Hast doch nicht etwa einen gegessen?«

Natürlich mußte ich auf die beängstigende Frage im Gefühl meiner Schuld den Kopf hängen lassen.

»Hast du doch von den Äpfeln gegessen, Kind?« rief die Mutter in heller Angst. »Ums 137 Himmelswillen – wenn 's nun ein Unglück giebt? Hast du es nicht gehört? Thihöfers haben ein Kind gehabt – dem hat die Weesche auch Äpfel gegeben – und die Äpfel haben sich in Eidechsen verwandelt – und da hat Thihöfers Kind elendiglich sterben müssen. – Dasmal wäre die Weesche fast umgebracht worden, und da hat sie mir doch recht leid gethan – denn sie kann ganz gewiß selbst nichts dazu, daß sie nicht ist wie unsereiner.«

Ich hatte alle Farbe verloren, sah den Tod schon vor Augen. Da meinte die Mutter, vielleicht könnten wir dem Unheil noch vorbeugen, ich mußte mit ihr auf den Dachboden steigen und die Äpfel in den Winkel rollen. Und als das geschehen war, legte sie Strohhalme und Tannenreiser kreuzweise um die Äpfel herum und that eine heimliche ›Baute‹›Baute thun‹, die Anwendung von Gegenmitteln bei Behexten, besonders das Besprechen. an mir Dennoch fühlte ich in den folgenden Tagen ein beständiges Gruseln: Immer fühlte ich die unheimlichen Eidechsen in mir herumkrabbeln.

Als aber Tag um Tag verging und sich keine Eidechse mehr bemerkbar machte, wurde in mir plötzlich wieder die Lust wach, die Äpfel noch 138 einmal zu besehen. Ich benutzte eine passende Gelegenheit, huschte die Leiter hinauf und setzte mich mit pochendem Herzen neben den verdächtigen Äpfeln nieder, die Hände vor den Knieen ineinander geschlungen. Wie lieblich lagen sie da, wie appetitlich glänzten und lockten die roten Backen! Mir lief das Wasser im Munde zusammen, und ich fing an zu simulieren: Sollte es wirklich Eidechsen geben, wenn ich noch einen Apfel äße? – »Ach was!« stieß ich todesmutig heraus, griff zu und verknusperte in der Geschwindigkeit drei Äpfel, natürlich nicht die kleinsten. Und da sich mein vorzügliches Befinden nicht änderte, verging mir die Angst und Reue auch bald wieder; keck und kühn wiederholte ich den heimlichen Angriff. »Eine Sünde ist's ja,« tröstete und entschuldigte ich mich, »all' die prächtigen Rotbacken so verfaulen zu lassen.« Stieg also auch am dritten, vierten, fünften und sechsten Tage auf den Boden. Am siebenten Tage kam die Mutter zufällig an dem Apfellager vorüber und ließ vor Schreck fast das Linsenbecken fallen, daß sie vor sich auf den Händen trug. Wo waren die Äpfel? Die ganze Lindenhüttenfamilie trampelte auf der Mutter Rufen die Leiter hinauf. Keiner konnte sich das Verschwinden der Früchte erklären. Kopfschüttelnd 139 tauschte man die verschiedensten Ansichten aus; schließlich ward es als sehr wahrscheinlich angesehen, daß die Äpfel wieder – weggehext seien.

Kurz hernach zur Zeit der »Eulenflucht« saßen wir Kleinen, Lorchen, August und ich mit unserem wimmernden Christinchen, hungrig und durstig vor der verschlossenen Hausthür und warteten sehnsüchtig auf die Rückkunft der Eltern, die heute für Bornriekens Weizen schnitten.

Die Kuh im Stalle brummte, das Ferkel quiekte, unser Christinchen schluchzte – kurz, der Hunger pfiff aus allen Löchern. Da strich eine Eule durch die Luft, und indem kam auch die Weesche gegangen. Da hättest du die alte wackere Hexe sehen müssen, wie liebevoll sie sich zu uns herabließ, wie zärtlich sie unsere Wangen streichelte, wie mütterlich sie unser kleines Christinchen herzte und küßte! Und dann – wie ihre Hände in die Rocktasche gingen, und was da alles für kostbare Sachen zum Vorschein kamen: ein Brotknust, Äpfel, getrocknete Zwetschen – und wie mir nun schmausen mußten! »I, i«, machte sie fortwährend, »ihr armen Würmer – wie leid ihr mir thut! Müßt den ganzen Tag bis in die Eulenflucht hinein immer so verlassen sein, kriegt so gar keinen warmen Tropfen in den Leib! Ja, ja, 's ist hart, wenn die arme 140 Mutter alle Tage von frühester Stunde mit 'raus muß – ja, ja, das ist hart, 's ist zum Gotterbarmen.« Und wir Kinder weinten alle. Da richtete sie vor uns den Finger auf und horchte nach dem Dorfteiche hin, wo die Unken riefen. Und sie lachte hierüber und rief:

»Unk, Unk, Unk, nicht mehr jung,
Hätt' ich einen Mann genommen,
Wär' ich nicht in den Teich gekommen.
Unk, Unk, Unk, nicht mehr jung.«

Sie lachte wieder und nickte hinab und nickte uns zu und erzählte, daß die Unken verwünschte Jungfrauen wären, die zur Strafe im Teiche leben mußten, weil sie nicht hätten freien wollen. Und da lachten wir auch und aßen, daß es schmatzte. Und da kramte sie noch immer mehr aus ihrer Tasche und nötigte: »Eßt nur, Kinder, eßt nur, wenn's schmeckt! 's ist Hasenbrot. Nicht wahr, das schmeckt? Eßt nur Kinder, eßt nur! Der Hase wird morgen schon wieder was haben. Ich seh's gleich und bring's euch! – Aber – i – i – so holztrocken, das rutscht und glitscht nicht gut in der Kehle runter. Ei, wartet, da seh' ich ja gerade einen Milchtopf auf dem Zaune stecken. Ei, wartet, ihr sollt essen und trinken, als wäret ihr bei den Zwergen 141 in den Bergen. Friedesinchen, wo ist's Kraut? Geschwind, steck' der Kuh ein Futter aus!«

Während ich nun einen Arm voll Lorenblätter vom Stallboden holte und in die Krippe warf, setzte sich die Weesche unter die Kuh und ließ die Milch so flugs und flink in den Topf hinein strullen, daß sie bald über den Rand schäumte. Darauf nahm sie mit liebevollstem Quäken Christinchen auf den Schoß und setzte ihm den Topftüt an die Lippen, und in langen tiefen Zügen sog das durstige Kind die süße Labe.

Indem kam unsere Mutter den Berg herauf. Ich glaubte deutlich zu bemerken, wie sie zurückprallte und erblaßte; aber die Gute ließ sich nichts aus, nahm nur mit merklicher Hast das Schwesterchen aus dem Schooße der Weesche und preßte es an sich.

Arglos lächelnd sah die Alte zu, und nachdem sie noch mancherlei geplaudert hatte, wünschte sie uns gute Nacht.

Nun konnte die Mutter ihre Erregung nicht mehr bemeistern.

»Na, was ist denn?« fragte der Vater, der unbemerkt neben die Linde getreten war.

Die Mutter erzählte.

Der Vater machte mit den Armen, als schlenkerte er etwas weg und sagte: »Mutter 142 wenn die Kinder gesund bleiben und die Kuh keinen Zufall kriegt, dann glauben wir nicht mehr an Hexerei, dann wissen wir, wofür wir die alte Weesche zu estimieren haben. Ich wollte Gott danken, wenn mir der alte Stich nicht mehr durchs Herz ginge!«

Des Vaters Wort versetzte uns in freudige Spannung.

Darauf ward es zweimal nacht und morgen, und wir jauchzten schon vor Freude darüber, daß die alte Weesche doch keine Hexe sei. Allen Leuten von Hilgenthal wollten wir's sagen, keiner sollte sich mehr unterstehen, sie als Hexe zu verschreien.

Der dritte Tag kam, – ach, da wollte es das Verhängnis, daß sich bei Christine wie bei der Kuh die Anzeichen einer Krankheit einstellten. Das war ein Jammer! Die Nachbarn liefen herbei, besahen Kind und Kuh und sprachen sich einhellig dahin aus, daß an beiden ›die bösen Leute‹ säßen. Frohnhöfers Dortchenpate, die sich den Sachverhalt sogleich klar machte, trat vor das Kind, schlug mehrere Kreuze und flüsterte zu drei Malen:

»Zwei feurige Augen sahen dich,
Ein falscher Mund küßte dich,
Eine falsche Zunge stach dich,
Im Namen d. V., d. S. und d. h. G.« 143

Dann that sie bei der Kuh eine ähnliche ›Baute‹.

Die Dortchenpate mühte sich indes umsonst: Die Baute schlug nicht an.

Da ward dem Vater der Rat erteilt, zum Siepolsdorfer Schuhmachermeister Barnkote zu gehen und dem die Sache vorzustellen; der sei in solchen Fällen »kundiger« als ein Arzt.

Also setzte der Vater einen halben Tagelohn daran und begab sich zu Meister Barnkote in Siepolsdorf.

Das gute Männchen nahm seinen Backenbart in die Hand, hörte die Krankheitsbeschreibung ruhig an und rief eifrig: »Baute thun, Lindenhanfrieder, Baute thun! Weiter hilft da nichts.«

Als der Vater bemerkte, daß schon mal von Frohnhöfers Dortchenpate Baute gethan sei, zeigte der biedere Meister ein Lächeln kluger Überlegenheit. »Merk auf, Lindenhanfrieder«, so nun der Rat des klugen Meisters. »Geh' nach Hause, verschließ' und verriegele alle Thüren und Fenster, schneide die Wiegenkissen auf, thu' die Federn in den Siedekessel und mach' ein starkes Feuer an. Alsdann werden sich aus den Federn lauter hüpfende Ringe bilden, unheimlich anzusehen und zu gleicher Zeit wird die Hexe angesetzt kommen und unter irgend einem 144 Vorwande hereinwollen. Laß sie aber um keinen Preis herein. Sie wird husten und prusten, wird klopfen und stopfen, klagen und fragen, immer dringender, immer zwingender werden, auch allerlei mitgebrachte Gaben anbieten, – ja, endlich heulend das Haus umkreisen, um irgendwo einen Durchschlupf zu finden. Darum sei ja auf der Hut, laß vor allen Dingen das Feuer unter dem Siedekessel nicht eher ausgehen, ehe die Hexe nicht verschwunden ist. Danach wird sie nicht wiederkehren, und das Kind wird gerettet sein. Thust du diese Baute nicht, ist es auf jeden Fall verloren.«

Der Vater fragte nach seiner Schuldigkeit; darauf sagte der Schuster: »Du weißt, Lindenhanfrieder, daß ich's ums Geld nicht thue; ich thue es nur den Leuten zu Gefallen; ich nähme gar nichts, wenn ich nicht etwas nehmen müßte, um die Baute wirkungsvoll zu machen.«

Der Vater gab dem freundlichen Manne eine Kleinigkeit in die Hand und sagte mit einer etwas kläglichen Miene: »Meister, ich thäte gern noch etwas. . . .«

Indem trat die Meisterin mit einem tüchtigen Schinkenstücke vor ihn hin und sagte lachenden Gesichts: »Na, Lindenhanfrieder, thätest du schon 145 gern noch etwas, so nimm dies bißchen mit für deine Kinder.«

Wehren und weigern half nicht – das Schinkenstück mußte getragen werden von Siepolsdorf nach Hilgenthal.

Unterwegs schüttelte der Vater wiederholt den Kopf, denn die Baute kam ihm doch gar zu wunderlich vor. »Die Wiegenkissen aufschneiden, die Federn in den Siedekessel thun, – ein Feuer darunter machen – alle Thüren verriegeln, alle Löcher verstopfen vor der armen Weesche?« Das wollte ihm doch nicht in den Kopf.

Wie er unter die Linde kam, trat die Mutter mit dem überschäumenden Milcheimer aus dem Stalle, lachte und rief: »Was sagst du, Hanfrieder, den Weg hättest du gar nicht nötig gehabt! Sieh, diese Milch hat die Kuh schon wieder gegeben; es fehlt ihr gar nichts – die ist nicht behext.«

»Aber die Kleine?« fragte der Vater zwischen Furcht und Hoffnung.

Die Mutter lachte schon wieder und wies in Frohnhöfers Grashof: Da schlugen etliche von uns lustige Purzelbäume, und Christine krabbelte neben uns im Grase und kreischte laut auf vor Vergnügen. 146

Jetzt legte der Vater seinen rechten Arm um die Mutter und freute sich königlich. Dann zog er das Schinkenstück aus der Tasche, zeigte es der Überraschten und hielt es so hoch, daß auch wir es sehen konnten.

Eins, zwei, drei, waren wir bei den Eltern. Der Vater nahm die Kleine aufs Knie, zog sein Kneifmesser aus der Tasche, verteilte das Mitgebrachte unter uns und unsere Gespielen und sagte: »Wie gut, daß mir der Hase begegnet ist: Dem habe ich diesmal nicht nur das Brot, sondern auch den Schinken abgejagt.« In der Stube dann schlug sich der Vater in die Hände und sagte: »Wenn ich nur wüßte, wo die Äpfel geblieben wären – wahrlich . . .«

Ich hätte auf dem harten Lehmboden fast einen Purzelbaum geschlagen. »Die Äpfel? Die Äpfel?« rief ich; »daß ihr's wißt: Die Äpfel sind samt und sonders in meinen Mund spaziert, aber von Eidechsen habe ich nichts gemerkt!«

Der Vater brach in ein lautes Lachen aus; er mußte lachen, daß ihm die Thränen über die Backen liefen. Das steckte die Mutter und die Geschwister an, und sie lachten alle aus Leibeskräften mit. So was war in der Lindenhütte lange Zeit nicht gehört worden. Selbst das 147 unmündige Christinchen wurde angesteckt, lachte und jauchzte laut auf. Und darüber kamen wir dann noch einmal ins Lachen.

Die Mutter mußte schließlich hinauslaufen, und jetzt sagte der Vater: »Die Kleine ist frisch und froh; die Kuh mag ihr Futter wieder, giebt ihre Milch nach wie vor; Friedesinchen hat alle Äpfel vertilgt – und es ist ihm kein Leids geschehen – was bleibt nun für die Hexerei übrig? – Kinder, ruft die Mutter herein! An Hexerei glaube ich nun nicht mehr! Die Weesche, die arme, gute Weesche wollen wir hinfort auf den Händen tragen, lieben und ehren, solange sie uns der liebe Gott noch erhalten mag. Ja, Kinder, so wollen wir an ihr unser schweres Unrecht wieder gut zu machen suchen!«

Also war der alte häßliche Hexenglaube bei uns in Wahrheit und Wirklichkeit tot gelacht.

Es war aber auch die allerhöchste Zeit gewesen: Etliche Wochen später ist die gute alte Weesche ganz plötzlich gestorben. 148


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