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Achtzehntes Kapitel.

Obwohl es dem Grafen Oxford nun im Grunde gleichgiltig sein konnte, ob der Herzog von Burgund Sieger blieb oder geschlagen wurde, so nahm er doch regen Anteil an Karls Schicksale. Arthur war eben aufgestanden und stand im Begriffe, sich anzukleiden, als Pferdegetrappel seine Aufmerksamkeit erregte. Er hatte kaum zum Fenster hinausgeblickt, so rief er: »Nachrichten, Vater, Nachrichten vom Heere!« Er stürzte auf die Straße, wo ein Reiter, der einen weiten Weg zurückgelegt zu haben schien, nach den beiden Philippsons fragte. Arthur erkannte in dem Reiter sogleich Colvin, den Hauptmann des burgundischen Geschützwesens. Der gespensterartige Blick des Ankommenden zeugte von tiefem Seelenkummer; seine unordentliche Kleidung und zersplitterte Rüstung trug von Regen oder Blut Rostflecken an sich, und sein trefflicher Hengst war so erschöpft, daß das Tier sich kaum aufrecht erhalten konnte. Der Zustand des Reiters war nicht viel besser. Als er vom Rosse stieg, um Arthur zu begrüßen, wankte er dergestalt, daß er ohne augenblickliche Unterstützung zu Boden gefallen wäre. Seine starrblickenden Augen schienen ihre Sehkraft verloren zu haben; und mit halb erstickter Stimme murmelte er: »Nur Erschöpfung, nichts als Mangel an Ruhe und Nahrung.«

Arthur führte ihn in das Haus, und Erfrischungen wurden herbeigeschafft; er aber schlug alles aus, bis auf einen Becher Weins. Nachdem er davon gekostet hatte, sank er auf einen Sessel, starrte den Grafen Oxford mit einem Blicke der tiefsten Niedergeschlagenheit an und stammelte: »Der Herzog von Burgund –« »Geschlagen?« versetzte der Graf. »Ich will nicht hoffen –« – »Geschlagen, und so völlig und fürchterlich,« erwiderte der Kriegsmann, »daß alle Niederlagen, die ich bisher mitangesehen, nichts dagegen waren.« – »Doch wie und wo?« fragte der Graf. »Ihr wart doch stärker an Mannschaften, wie wir vernahmen.« – »Zwei Mann gegen einen zum mindesten,« antwortete Colvin, »und wenn ich in diesem Augenblicke von unserm Zusammentreffen rede, so möchte ich mir fast mit meinen eigenen Zähnen das Fleisch von den Knochen nagen, daß ich hier sein und solche Schmach nacherzählen muß. Wohl eine Woche lang hatten wir vor dem elenden Neste, dem Murten oder Morat oder wie es sonst heißen mag, gelegen. Der Kommandant drinnen, einer von den hartnäckigsten Gebirgsbären aus Bern, bot uns Trotz. Er wollte sich nicht einmal herablassen, seine Tore am Tage zu schließen, und gab, als wir sie aufforderten, sich zu ergeben, die Antwort, wir möchten einziehen, so es uns gefiele, wir sollten gebührend empfangen werden. Nun hätte ich gern versucht, ihn durch ein paar Salven aus meinen Schießmörsern zur Vernunft zu bringen; allein der Herzog war zu sehr ergrimmt, um gutem Rate Gehör zu geben. Gereizt durch den schwarzen Verräter, den Campobasso, hielt Karl es für zweckmäßiger, mit seiner ganzen Streitmacht einen Sturm zu unternehmen. Wir wurden mit großem Verlust zurückgeschlagen, und nun erfuhren wir, daß das Heer der Feinde zum Entsatz der Stadt herannahte. Karl, der nur seinen eigenen kühnen Geist befragte, rückte gegen sie an, indem er sich auf den Vorteil unseres Geschützes und auf unsere feste Stellung verließ. Auf seinen Befehl, doch ganz gegen mein Dafürhalten, begleitete ich ihn mit zwanzig guten Mörsern und dem Kern meines Volkes. Wir brachen am nächsten Morgen auf und waren noch nicht weit vorgerückt, als wir dichte Reihen von Spießen und Hellebarden und doppelgriffigen Schwertern auf dem Berge erblickten. Dazu fügte der Himmel seine Schrecken – ein Donnersturm erhob sich mit aller Wut über beiden Heeren; er wurde jedoch den Unsern um so verderblicher, da unsere Scharen empfindlicher gegen den Regen, der herabstürzte, und gegen die Pfützen waren, die unter unseren Füßen zu Strömen anschwollen, unsere Stellung überschwemmten und uns in Unordnung brachten. Mit einemmale hielt der Herzog es für notwendig, seinen Vorsatz zu ändern und von einer Schlacht abzusehen. Er ritt zu mir heran und befahl mir, mit dem Geschütz den Rückzug zu decken, den er beginnen wollte, indem er hinzusetzte, er wollte in Person mich dabei mit seinen Reitern unterstützen. Befehl zum Rückzug wurde gegeben. Allein diese Bewegung verlieh dem schon hinlänglich verwegenen Feinde erhöhten Mut. Augenblicklich senkten die Reihen der Schweizer sich zum Gebet – ein Gebrauch bei ihnen auf dem Schlachtfelde, den ich verspottete – allein ich werd's nimmer wieder tun! Als sie nun nach fünf Minuten wieder aufsprangen, rasch vorrückten und ihre Hörner entsetzlich ihr gewöhnliches, wildes Kriegsgeschrei übertönten – seht, Mylord, da taten sich auf die Wolken des Himmels und ließen auf die Eidgenossen das geheiligte Licht der wieder hervorbrechenden Sonne herableuchten, während unsere Reihen noch im Düster des Sturmes standen. Meine Mannschaft war mutlos. Die Scharen hinter ihr zogen sich zurück; das plötzlich über die Schweizer verbreitete Sonnenlicht zeigte entlang den Bergen eine zahllose Menge von Panieren, ein Glitzern der Waffen, das alles miteinander dem Feinde das Ansehen verlieh, als hätte seine Zahl sich plötzlich verdoppelt. Ich ermahnte meine Jungen, fest zu stehen, aber ich sprach dabei ein Wort, das eine gar schwere Sünde war: »Steht fest, Ihr meine Schießmänner!« sprach ich, »sie sollen von uns bald einen lautern Donner hören und verderblichere Blitze sehen, als ihre Gebete auf uns herabgerufen haben!« – mein Volk schrie jauchzend auf – aber es war eine gotteslästernde Rede – und eitel Böses ging für uns daraus hervor. Wir richteten unsere Mörser auf die andringenden Massen, so wohl gezielt, wie nur je – ich kann's verbürgen, denn ich selbst richtete die Großherzogin von Burgund – ach! arme Herzogin, welche rauhen Hände mögen Dich jetzt betasten! – Die Ladung wurde abgefeuert, und ehe der Qualm sich vor den Mündungen noch zerteilt hatte, sah ich gar manchen Mann, manches Banner sinken. Ich dachte ganz natürlich, daß eine solche Ladung den Feind zurückgescheucht hätte, und bemühte mich, unsere Mörser wieder zu laden. Allein, ehe die Rauchwolken sich zerteilt hatten und das Geschütz frisch geladen werden konnte, stürzten sie wie rasend auf uns los. Reiter und Fußvolk, Greise und Buben, Ritter und Troßknechte warfen sich vor und auf die Mündungen der Schießmörser, ohne im mindesten ihres Lebens zu achten. Meine tapferen Burschen wurden durchbohrt, in Stücke gehauen oder niedergestoßen, als sie noch dabei waren, die Mörser zu laden, so daß kein Geschütz zum zweiten Male abgefeuert werden konnte,«

»Und der Herzog?« fragte der Graf von Oxford, »kam er Euch nicht zu Hilfe?« – »Ritterlich und tapfer,« antwortete Colvin. »Und zwar mit seiner eigenen wallonischen und burgundischen Leibwache. Allein eintausend Söldner machten sich davon und ließen sich nimmer wieder sehen. Dazu war der Paß, in dem obendrein das Geschütz stand, nur eine schmale Furche zwischen hohen Bergen, neben denen ein tiefer See hinwogte. Kurz, es war ein Platz, wo Reiter nichts ausrichten konnten. Trotz aller Anstrengungen des Herzogs und der tapferen Flamländer, die um ihn fochten, mußten wir doch in völliger Unordnung zurückweichen. Ich war zu Fuß und wehrte mich, so gut ich konnte, ohne jede Hoffnung, mein Leben zu erhalten, ja auch ohne nur an meine Rettung zu denken, als ich nun sah, wie die Mörser genommen und meine wackeren Gesellen erschlagen wurden. Unser Rückzug artete zur sinnlosen Flucht aus, und als wir unsern Nachtrab erreichten, den wir in festverschanztem Lager zurückgelassen hatten, flatterten die Paniere der Schweizer auf unsern Wällen; denn eine starke Abteilung des Feindes hatte einen Umweg durch ihnen allein bekannte Bergpässe gemacht und unser Lager angegriffen, wobei sie von dem herzugeeilten Volk des Hadrian von Bubenberg unterstützt worden waren, der aus der belagerten Stadt einen Ausfall gemacht hatte. Ich habe noch mehr zu sagen, allein, da ich Tag und Nacht geritten bin, Euch diese böse Zeitung zu bringen, so klebt meine Zunge mir am Gaumen, und ich fühle, daß ich nicht mehr reden kann.«

Mit Mühe überredete man den gebeugten Krieger, etwas Speise zu sich zu nehmen und zur Ruhe zu gehen. Der Graf von Oxford, der jeden andern Beistand fernhielt, wachte abwechselnd mit seinem Sohne am Lager Colvins. Trotz des ihm verordneten Schlaftrunkes, war sein Schlummer nichts weniger als ruhig. Er fuhr oft auf, Schweiß trat auf seine Stirn, seine Gesichtsmuskeln verzerrten sich, und die Art, wie er seine Hände ballte und mit seinen Gliedmaßen um sich schlug, zeigte, daß er in seinen Träumen abermals die Schrecknisse einer verzweiflungsvollen, verlorenen Schlacht durchlebte. Dies dauerte mehrere Stunden; allein gegen Mittag siegten Ermattung und Heiltrank über seine aufgereizten Nerven, und der geschlagene Geschützhauptmann verfiel bis zum Abend in einen tiefen, ungestörten Schlaf. Gegen Sonnenuntergang erwachte er, und als er nun erfuhr, wo und bei wem er war, stärkte er sich mit Speise und Trank und erzählte, ohne dem Anschein nach zu wissen, daß er es schon einmal getan, abermals alle einzelnen Umstände der Schlacht bei Murten. – »Die eine Hälfte des Herzoglichen Heeres,« sagte er, »fiel durch das Schwert oder ertrank im See. Die, welche entkamen, wurden größtenteils auseinandergesprengt, so daß sie sich wohl nie wieder sammeln können. Eine so verzweifelte, unaufhaltsame Flucht ward nimmer gesehen. Wir flohen wie Rehe, Schafe oder wie sonst ein scheues Tier, das nur darum bei seinesgleichen bleibt, weil es sich fürchtet, allein zu sein, nicht aber, um gemeinschaftlich auf Gegenwehr bedacht zu sein.«

»Und der Herzog?« fragte der Graf von Oxford. – »Wir rissen ihn mit uns fort,« antwortete der Krieger, »und zwar mehr aus Instinkt als aus Vasallenpflicht, gleich Menschen, die vor einer Feuersbrunst fliehen und alles aufraffen, was sie an wertvollen Dingen besitzen, ohne zu wissen, was sie tun. Anfänglich sträubte sich der Herzog und wollte zurück gegen den Feind; allein als die Flucht allgemein geworden war, jagte er mit uns davon, ohne ein Wort zu sprechen oder einen Befehl zu erteilen. Als wir so den ganzen Tag ritten, ohne auf eine einzige Frage an ihn auch nur die leiseste Antwort zu erhalten, als er finster jegliches Nahrungsmittel zurückwies – als sein verwegenes, unstätes Gemüt sich völlig dumpfer, schweigender Verzweiflung hingab, da hielten wir Rat, was zu tun sei, und auf einmütigen Beschluß wurde ich abgesandt, Euch zu bitten, daß Ihr, für dessen Ratschläge Karl, wie man weiß, eine Zeitlang besonders empfänglich war, augenblicklich zu ihm eilen und all Euren Einfluß aufbieten möchtet, ihn aus seiner Lethargie zu wecken, in der sonst sein Leben wird erlöschen müssen. Karl war ja einst Euer Waffenbruder, und für Eure persönliche Sicherheit wird jeder ehrliche Mann im Lager willig Bürgschaft leisten.«

»Das ist meine geringste Sorge,« sprach Oxford gleichgiltig, »und so meine Gegenwart wirklich dem Herzog nützlich werden kann – so ich glauben könnte, er wünschte selber mich bei sich zu haben –« – »Er wünscht es, wünscht es, Mylord,« sagte der treue Krieger mit einer Träne im Auge – »wir hörten ihn wiederholt im Traume Euren Namen nennen.« – »Dann will ich zu ihm,« sagte Oxford. »Dann will ich augenblicklich zu ihm. Wo schlug er sein Hauptquartier auf?« – »Das war noch nicht bestimmt. Doch Herr von Contay nannte den Ort La Riviére, unweit Salins in Oberburgund, als das Ziel unseres Rückzugs.« – »Dorthin denn wollen wir, mein Sohn, und zwar in aller Eile!« beschloß Graf Oxford.

In Begleitung des Geschützhauptmanns durchzogen sie nun die Dauphiné und Franche-Comté, die zwischen Aix, und dem Dorfe liegen, nach welchem der Herzog von Burgund sich zurückgezogen hatte, doch bei der Entfernung und der üblen Beschaffenheit des Weges währte ihre Reise über vierzehn Tage, und der Juli des Jahres 1476 war vorüber, als die Reisenden in Oberburgund auf dem Schlosse La Rivière ankamen, das etliche Stunden südwärts von der Stadt Sains liegt. Das nicht sehr große Schloß war von vielen unordentlich aufgeschlagenen Zelten umringt. Nirgends sah man eine Spur von der soldatischen Regelmäßigkeit, die man sonst in dem Feldlager Karls des Kühnen wahrzunehmen pflegte. Daß jedoch der Herzog sich hier befand, war an dem Panier zu erkennen, das reich mit all seinen Feldern von den Zinnen der Feste herniederflatterte. Die Wache trat hervor, um die Fremden zu empfangen, doch dies geschah auf so unordentliche Weise, daß der Graf seinen Reisegenossen Colvin durch einen Blick um Erklärung bat. Der Geschützhauptmann zuckte die Achseln und schwieg.

Colvin hatte Bericht von seiner Ankunft, sowie der des englischen Grafen, an Herrn von Contay eingeschickt, der sie, hocherfreut über ihr Eintreffen, sogleich vor sich ließ, –»Etliche treue Diener des Herzogs,« sagte er, »halten hier Rat. Ihr werdet ihnen willkommen sein, edler Lord von Oxford. Die Herren de la Croix, de Craon, Rubempré und andere Edle Burgunds sind eben versammelt, um Schutzmaßregeln für die Sicherheit des Landes zu beschließen.«

Alle diese Männer drückten ihre Freude aus, als sie den Grafen von Oxford erblickten. »Seine Hoheit der Herzog,« sagte de Craon, »hat zweimal nach Euch und zwar unter Eurem angenommenen Namen Philippson, gefragt.« – »Ich wundere mich darüber nicht, mein Herr de Craon,« erwiderte der englische Edelmann, »der Ursprung dieses Namens schreibt sich aus früheren Tagen her, als ich nämlich während meiner ersten Verbannungszeit hier weilte. Es hieß damals, wir armen Edlen von der Partei Lancaster müßten uns andere Namen beilegen, und der gute Herzog Philipp sagte, da ich ein Waffenbruder seines Sohnes Karl wäre, möchte ich mich nach ihm selber Philippson nennen. Zum Gedächtnis des gütigen Fürsten nahm ich diesen Namen wirklich an, als die Tage der Not hereinbrachen, und ich sehe nun, daß der Herzog gern der Vertraulichkeit gedenkt, die in früheren Tagen zwischen uns herrschte. – Wie steht es um Seine Hoheit?«

Die Burgunder sahen einander an, ohne zu antworten. – Es entstand eine Pause.

»Wie um einen Mann, der gänzlich betäubt ist, lieber Oxford,« erwiderte endlich de Contay. »Er gleicht einem Sinnlosen. Nach der Schlacht von Granson war er eigensinnig, unvernünftig, gebieterisch, unberechenbar und nahm jeden ihm dargebotenen Rat als Beleidigung auf. Dazu hegte er den Wahn, seine Untertanen schätzten ihn gering. Jetzt ist eine gänzliche Veränderung mit ihm vorgegangen, und er zeigt keine Spur mehr von Heftigkeit und Leidenschaft. Er ist stumm wie ein Karthäuser, einsam wie ein Eremit, zeigt für nichts Teilnahme, am wenigsten aber für sein Heer. Nicht Haar noch Nägel läßt er sich säubern. Er ist gänzlich unempfindlich für Hochschätzung und Geringachtung gegen seine Person, nimmt wenig oder gar keine Speise zu sich, trinkt starke Weine, die jedoch, wie es scheint, ihm den Kopf nicht schwindlig machen, und will von Krieg oder von Staatsangelegenheiten ebensowenig wie von Jagd oder sonstigen Belustigungen hören. Das ist aus dem einst so kühnen und tatenlustigen Karl von Burgund geworden.« – »Ihr sprecht von einer schwererkrankten Seele,« erwiderte der Engländer. »Haltet Ihr es für geraten, mich dem Herzoge vorzustellen?« – »Ich will mich danach erkundigen,« sagte Contay, verließ das Gemach, kehrte sogleich zurück und gab dem Grafen ein Zeichen, ihm zu folgen.

In einer Kammer oder einem Kabinette lag der unglückliche Karl in einem Lehnsessel, die Beine nachlässig auf einen Schemel gestreckt, und in seinem ganzen Wesen so verändert, daß der Graf von Oxford kaum etwas anderes als das Gespenst des einst so verwegenen Herzogs zu sehen glaubte. Das zottige lange Haar, das von seinem Haupte herabhing und sich mit seinem Barte mischte, die tiefen Höhlen, in denen seine wilden Augen rollten, die eingesunkene Brust, die hervortretenden Schultern und die Kleidung, die in nichts als einem übergeworfenen Mantel bestand, gaben ihm das Aussehen eines schreckenerregenden Geisterbildes. De Contay nannte den Grafen Oxford; allein der Herzog starrte ihn mit glanzlosem Blicke an und gab ihm keine Antwort.

»Redet mit ihm, wackerer Oxford,« flüsterte der Burgunder ihm zu, »er ist eben jetzt schlimmer als je, und vielleicht erkennt er Eure Stimme.«

Noch nie, solange dem Herzog von Burgund das glorreichste Glück gelächelt hatte, war der Engländer mit solcher Ehrfurcht wie jetzt vor ihm niedergekniet, um ihm die Hände zu küssen. Er ehrte in ihm nicht nur den betrübten Freund, sondern den gedemütigten Herrscher. Wahrscheinlich machte eine auf die Hand des Herzogs gefallene Träne diesen aufmerksam: »Oxford – Philippson – mein alter, mein einziger Freund, hast Du mich aufgefunden in diesem Winkel der Schmach und des Elends? Noch jüngst hieß ich Karl von Burgund, der Kühne – jetzt bin ich zweimal von dem Abschaum eines Bauernvolkes geschlagen, meine Fahnen genommen, meine reisigen Mannen in die Flucht gejagt, mein Feldlager zweimal geplündert worden – der bitterste Fluch der Hölle kann nimmerdar bitterere Schmach auf das Haupt eines Herrschers wälzen!« – »Im Gegenteil, hoher Herr,« sagte Oxford. »Es ist dies eine Prüfung des Himmels, der zur Geduld und Seelenstärke mahnt. Der beste, tapferste Ritter kann aus dem Sattel geworfen werden; wenn er aber nach dem Unfalle im Sand der Schranken liegen bleibt, ist er ein Feigling.« – »Wie? Feigling, sagst Du?« rief der Herzog, dessen ehemaliger Mut durch das harte Wort zum Teil wieder erweckt wurde. »Verlaßt mich, Herr, und kehrt nicht eher zu mir zurück, bis man Euch rufen läßt.«

»Und das wird, hoffe ich, sofort geschehen, sobald Euer Hoheit das Nachtgewand abgelegt hat, um Vasallen und Freunde mit einem Euch und ihnen geziemendem Anstande zu empfangen,« versetzte der Graf gelassen. – »Und wer bin ich, daß Ihr so zu mir redet?« fragte Karl, indem er auffuhr mit all seinem angeborenen Stolz und seiner natürlichen Wildheit. »Oder wer seid Ihr anders, als ein elender Verbannter, und wagt es doch mit solchen unehrerbietigen Vorwürfen in mein innerstes Gemach zu dringen?« – »Was mich betrifft,« versetzte Oxford, »so bin ich, wie Ihr sagt, ein nicht geachteter Verbannter; dennoch schäm ich mich meiner Lage nicht, denn durch unerschütterliche Treue zu meinem Könige und dessen Nachfolger ist's dahin mit mir gekommen. Allein, vermag ich in Euch, in einem in sich versunkenen Einsiedler, den Herzog von Burgund zu erkennen, dessen Heer eine regellose Schar ist, dessen Staatsrat den Kopf verloren hat, weil der Monarch versagt, der selber gleich einem lahm geschossenen Wolfe in seiner Höhle lauert und auf den Ruf eines Urihorns zu harren scheint, daß die Tore seiner Burg davon aufspringen, weil sie unverteidigt sind?«

»Tod und Hölle, verleumderischer Verräter!« donnerte der Herzog und griff an die Hüfte, wo er jedoch keine Waffe vorfand. »Dein Glück ist's, daß ich kein Schwert habe, sonst solltest Du nimmer Dich rühmen können, daß Deine Schmähung ungestraft blieb! – Contay, tretet vor gleich einem wackern Ritter und straft den Lästerer Lügen! Sprecht, sind meine Mannen nicht in Zucht und Ordnung?«

»Hoher Herr,« sagte Contay und zitterte, so tapfer er sonst im Kampfe war, als er die rasende Wut sah, in welcher Karl aufbrauste. »Zahlreiche Mannschaft steht noch unter Eurem Befehle, doch mit Zucht und Ordnung ist's schlecht bestellt. Eure Hoheit hat die Führer der Söldner stets daran gewöhnt, nur aus Eurem eigenen Munde oder von Eurer eigenen Hand Befehle anzunehmen. Auch schreien sie nach Löhnung, und der Schatzmeister weigert sich, ohne Euer Hoheit Verfügung Geld zu zahlen. So will niemand auf uns hören, sondern nur auf Euch allein.«

Der Herzog lachte finster, war aber offenbar ziemlich erfreut über die Antwort. »Ha, ha!« sagte er; »es ist nur Burgund, der seine unbändigen Rosse reiten und seine wilde Kriegerschar bändigen kann. Heda, Contay! Morgen reit' ich aus, die Heerschau zu halten, wer was versah, soll büßen! – Auch der Sold soll ausgezahlt werden! Laßt meine Leibpagen kommen, mich mit geziemender Kleidung und mit Waffen zu versehen. Ich habe« – indem er einen düstern Blick auf Oxford, warf – »eine gute Lehre bekommen und will mich nicht wieder schmähen lassen. Hinweg mit Euch beiden! Und Du, Contay schicke den Schatzmeister her mit seinen Berechnungen, und wehe ihm, so ich über ihn zu klagen habe! Hinweg, sage ich, und schick ihn her!« Als sie gingen, rief der Herzog plötzlich: »Lord von Oxford, ein Wort mit Euch! Wo habt Ihr die Arzneikunde erlernt? Dein Heiltrank hat ein Wunder bewirkt. Doch hätte es Dir das Leben kosten können, Doktor Philippson.« – »Ich habe stets mein Leben für wohlfeil erachtet,« sagte der Graf, »sobald es galt, meinem Freunde zu helfen.« – »Du bist in der Tat ein Freund,« sagte Karl, »und ein furchtloser Freund. Aber geh', ich bin sehr angegriffen gewesen, und Du hast mir viel zu schaffen gemacht. Morgen werden wir uns weiter sprechen. Unterdessen verzeihe ich Dir und halte Dich in Ehren!«

Der Graf von Oxford begab sich in den Versammlungssaal des Staatsrates, wo der burgundische Adel ihm mit Dank, Begrüßung und Glückwunsch entgegenkam. Allgemeine Regsamkeit erwachte; Befehle flogen nach allen Richtungen hin. Diejenigen Befehlshaber, die ihre Dienstpflichten vernachlässigt hatten, eilten, ihr Versehen wieder gut zu machen. Im Lager entstand allgemeiner Tumult.

Am folgenden Tage hielt Karl Heerschau über sein Kriegsvolk und zwar mit seiner gewohnten Aufmerksamkeit, ordnete neue Truppenaushebungen an, verteilte seine Heeresmacht, verbesserte vorgefundene Fehler in der Kriegszucht und fesselte die Kriegsknechte durch Auszahlung der Löhnungen aufs neue an das Panier, dem zu dienen sie geschworen hatten.

Auch willigte der Herzog nach Rücksprache mit seinem Staatsrate darein, eine Ständeversammlung in seinen gesamten Staaten zu berufen, gewisse dem Volke mißfällige Einrichtungen abzuschaffen und etliche bisher von ihm verweigerte Vergütungen zu leisten; so daß er bei seinen Untertanen diejenige Beliebtheit wiedererlangte, die er durch sein früheres vorschnelles Verfahren verscherzt hatte.


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