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Zweites Kapitel.

Am jenseitigen Ufer, an einer kleinen, von Wald und Buschwerk gelegenen Höhe lag der Flecken Kirchhof. Wenn das Fährschiff vom linken Ufer abging, wurde es selbst bei günstigen Verhältnissen stark vom Winde abgetrieben, bevor es die entgegengesetzte Seite des tiefen und vollen Rheines erreichen konnte, so daß es im schrägen Kurs nach Kirchhof gelangte. Andererseits mußte ein Kahn, der von Kirchhof abging, große Nachhilfe von Wind und Rudern haben, um mit seiner Ladung oder Mannschaft an der Kapelle zur Fähre anzulegen.

Als der ältere Philippson mit einem einzigen Blick sich von der Beschaffenheit der Fähre überzeugt hatte, sprach er standhaft zu seinem Sohne: »Zieh hin, mein lieber Arthur, und tue, wie ich Dir befohlen habe,« – Mit von kindlicher Besorgnis zerrissenem Herzen gehorchte der Jüngling und schlug seinen Weg nach den einsam gelegenen Hütten ein, neben denen die Kähne lagen, welche sowohl zur Ueberfahrt als gelegentlich zum Fischen benutzt wurden. – »Euer Sohn verläßt uns?« fragte Bartholomäus den älteren Philippson. – »Für den Augenblick, ja,« sagte der Vater, »da er in jenem Weiler gewisse Nachfragen zu halten hat.«

»Sollte diese Nachfrage,« entgegnete der Führer, »Eure Weiterreise betreffen, so kann ich, Preis sei den Heiligen! Eure Frage besser beantworten als jene Tölpel, die kaum Eure Aussprache verstehen.« – »Sollte ihre Auskunft uns unverständlich sein, so werden wir sie uns von Dir erläutern lassen,« sagte Philippson, »unterdessen führ mich zur Kapelle, wo mein Sohn wieder zu uns stoßen wird.«

Sie gingen auf die Kapelle zu, jedoch mit langsamen Schritten, indem beide ihre Blicke seitwärts nach dem Fischerdörfchen wendeten; der Führer, als wollte er erforschen, ob der junge Reisende zu ihnen zurückkehrte, der Vater, um mit Besorgnis wahrzunehmen, ob an der breiten Rheinbucht ein Kahn flott würde, seinen Sohn nach dem Ufer hinüberzutragen, das für das sicherere gehalten wurde. Etliche umher sich erhebende Bäume gaben dem Orte ein angenehmes, waldartiges Aussehen, und die Kapelle, die sich auf einer Erhöhung in einiger Entfernung von dem Weiler erhob, war in gefälliger Einfachheit, die der Gesamtumgebung völlig entsprach, erbaut worden. Ihre geringe Größe bestätigte die Sage, nach der sie ursprünglich eine Fischerhütte gewesen war; und nur ein mit Baumrinde belegtes Kreuz aus Tannenholz zeigte den Zweck an, dem sie jetzt gewidmet war. Die Kapelle, sowie die Umgebung atmeten Frieden und feierliche Ruhe, und das dumpfe Plätschern des gewaltigen Stromes schien jeder menschlichen Stimme, die sich mit dem ehrfurchtgebietenden Murmeln des Wassers hätte vermischen wollen, Stillschweigen zu gebieten.

Als Philippson dem Orte näher kam, benutzte Bartholomäus die Gelegenheit, die das Schweigen des Reisenden ihm darbot, um zwei Strophen zum Preise »Unserer lieben Frau zur Fähre« herzubrüllen, worauf er wie ein Verrückter zu schreien anfing: »Hierher, Ihr, die Ihr Schiffbruch fürchtet, hier ist Euer Hafen! Hierher Ihr, die Ihr verdürstend schmachtet, hier ist ein Gnadenbronn Euch geöffnet! Hierher Ihr, die Ihr müde und weither gereist seid, hier ist Euer Erquickungsort!« Und mehreres dergleichen würde er noch gesagt haben, allein Philippson gebot ihm ernsten Tones zu schweigen. – »Wären Deine Andachtsübungen aufrichtig,« sagte er zu dem Pilgrim, »so würdest Du dabei nicht so schreien; allein es ist wohlgetan, das zu tun, was an sich selbst gut ist, auch wenn ein Heuchler es uns rät. – Laß uns eintreten in diese heilige Kapelle und beten für einen gesegneten Ausgang unserer bedenklichen Reise.«

Der Ablaßkrämer fing die letzten Worte auf. – »Wußte ich doch gewiß,« sprach er, »daß Euer Gestrengen allzu wohl unterrichtet sein müßten, um an diesem heiligen Orte vorüberzugehen, ohne den Schutz und den Einfluß unserer lieben Frau zur Fähre anzuflehen. Verzeihet nur einen Augenblick, bis ich den Priester finde, der diesem Altare dient, daß er zu unserm Heil eine Messe lese.«

Da öffnete sich plötzlich die innere Tür der Kapelle, und ein Geistlicher erschien auf der Schwelle. Philippson erkannte in ihm sofort den Pfarrherrn von St. Paul, den er diesen Morgen in La Ferette gesehen hatte. Auch Bartholomäus erkannte ihn, wie es schien; denn seine amtsmäßige heuchlerische Beredsamkeit versagte ihm für einen Augenblick, und er stand mit über die Brust geschlagenen Armen vor dem Priester, einem Menschen gleich, der sein Verdammungsurteil erwartet. – »Schändlicher!« sprach der Geistliche mit strengem Blick auf den Führer; »leitest Du einen Fremden in die Wohnung der gesegneten Heiligen, daß Du ihn erschlagen und berauben möchtest? Allein der Himmel wird Deine Gottlosigkeit nicht länger dulden. Zurück, Du Elender, zu Deinen verworfenen Gesellen, die hierher eilen. Sage ihnen, daß Deine Ränke nichts fruchteten und der unschuldige Fremde unter meinem Schutze stände. Wer ihm Unheil zufügen will, wird den Lohn erhalten, den Archibald, der Hagenbacher, empfing.« – Der Führer stand ganz bewegungslos, als der Pfarrherr ihn auf so drohende, gebietende Weise anredete; und nicht eher hörte letzterer auf zu reden, als bis Bartholomäus, ohne ein Wort der Rechtfertigung oder des Widerspruches zu wagen, sich wendete und schnellen Schrittes denselben Weg Zurückging, auf dem er zur Kapelle gelangt war.

»Und Ihr, würdiger Engländer,« sprach der Priester, »tretet her zu diesem Altare und vollendet in Sicherheit die Andacht, unter deren Vorwand jener Heuchler Euch hier zurückhalten wollte, bis seine gottlosen Genossen herangekommen wären. Jedoch zuvor sprecht, warum Ihr allein seid? Ich will hoffen, es habe Euren jungen Reisegesellen kein Unfall betroffen.« – »Mein Sohn,« sagte Philippson, »geht über den Rhein auf jener Fähre, da wir am andern Ufer wichtiges Geschäft zu besorgen haben.«

Indem er so sprach, sah man einen Kahn vom Ufer stoßen und in den Strom schießen, der ihn fast hinwegriß, bis ein ausgespanntes Segel, ihn in den Stand setzte, in schräger Richtung den Fluß zu durchschneiden. – »Nun, Gott sei gelobt,« sagte Philippson, denn er erkannte, daß die Barke, die er im Auge hatte, nunmehr seinen Sohn außer dem Bereich der Gefahren brachte, von denen er selbst sich umringt sah. – »Amen!« setzte der fromme Priester hinzu. »Große Ursache habt Ihr, dem Himmel zu danken.« – »Des bin ich überzeugt,« versetzte Philippson, »aber dennoch hoffe ich von Euch die besondere Ursache der Gefahr zu vernehmen, der ich entronnen bin?« – »Zu solcher Auseinandersetzung ist hier weder Zeit noch Ort,« antwortete der Pfarrherr von St. Paul. »Es genügt zu sagen, daß jener Bursche, der wegen seiner Heuchelei und seiner Missetaten nur allzu bekannt ist, mit angesehen hatte, wie der junge Schweizer Sigismund den Schatz, der Euch von Hagenbach geraubt wurde, dem Scharfrichter wieder abnahm. Dadurch wurde die Habgier des Bartholomäus erregt. Er unternahm es, Euch als Führer bis Straßburg in der verbrecherischen Absicht zu dienen, Euch unterwegs so lange aufzuhalten, bis eine Rotte Meuchler heraufgekommen wäre, gegen die Widerstand vergebens sein würde. Allein, sein böser Plan ward vereitelt. Und jetzt, bevor Ihr irgend einem weltlichen Gedanken, so der Hoffnung, wie der Furcht, Raum gebt, tretet zum Altar, Herr, und sendet Gebete zu dem, der Euch Beistand lieh, sowie für die, deren er sich zu solchem Zwecke als Werkzeug bediente!« – Philippson trat mit seinem neuen Führer zum Altar und dankte dem Höchsten für die Errettung, die ihm zu teil geworden war.

Als diese Pflicht getan war, äußerte Philippson seine Absicht, weiter reisen zu wollen, worauf der schwarze Priester erwiderte, daß, weit entfernt, ihn in einer so gefährlichen Gegend zu verlassen, er selber ihn vielmehr einen Teil des Wegs geleiten wollte, da auch er an den Hof des Herzogs von Burgund zu ziehen hätte.

»Ihr? ehrwürdiger Vater, Ihr?« fragte der Handelsmann mit einigem Erstaunen. – »Und weshalb seid Ihr verwundert?« entgegnete der Pfarrer. »Ist es so seltsam, daß einer meines Standes eines Fürsten Hoflager besucht? Glaubt mir, es werden deren nur allzu viele daselbst gefunden.« – »Ich spreche nicht in Beziehung auf Euren Stand,« sagte Philippson, »sondern mit Rücksicht auf das Amt, das Ihr heute bei der Hinrichtung des Archibald von Hagenbach verwaltet habt. Kennt Ihr so wenig den heftigen Herzog von Burgund, daß Ihr Euch einbildet, mit seinem Zorn sicherer spielen zu können als mit der Mähne eines schlafenden Löwen?« – »Ich kenne seinen Grimm wohl,« sagte der Priester, »und nicht um den Tod des Hagenbachers zu entschuldigen, sondern um mich deswegen zu verteidigen, begebe ich mich in die Nähe des Herzogs. Karl von Burgund mag seine Knechte und Dienstmannen nach Gefallen behandeln, jedoch auf meinem Leben ruht ein Zauber, der fest ist gegen all seine Macht. Doch laßt mich die Frage zurückgeben – Ihr, Herr Engländer, der Ihr die Verhältnisse des Herzogs so genau kennt, Ihr, der Ihr erst jüngst der Gast und Reisegenoß der unwillkommensten Besucher waret, die jemals dem Herzoge sich nahen können; Ihr, dem Anscheine nach mindestens verwickelt in den Aufruhr zu La Ferette, – was bürgt Euch dafür, seiner Rache zu entgehen? Und weshalb wollt Ihr Euch freiwillig seiner Macht überliefern?« »Würdiger Vater,« sagte der Kaufmann, »laßt jeden von uns, ohne dem andern wehe tun zu wollen, sein Geheimnis für sich behalten. Ich besitze freilich keinen Zauber, um mich gegen des Herzogs Zorn zu schützen. – Ich habe Gliedmaßen, um Folter und Kerkerhaft zu erdulden, und Hab und Gut, das mir genommen werden kann. – Allein ehedem hatte ich manches mit dem Herzoge zu schaffen, ich kann sogar sagen, daß ich ihn mir verpflichtete, und hoffe, mein Ansehen bei ihm wird nicht nur mich vor den Folgen der Ereignisse dieses Tages schützen, sondern auch meinem Freunde, dem Landammann, nützlich sein.« – »Aber so Ihr wirklich an den Hof des Herzogs von Burgund als Kaufmann zieht,« sagte der Priester, »wo sind denn die Waren, mit denen Ihr handelt? Habt Ihr deren keine, als die, welche Ihr an Eurem Leibe führt? Ich hörte von einem beladenen Saumrosse. Hat jener Schurke Euch dessen beraubt?«

Dies war eine verfängliche Frage für Philippson, welcher, bekümmert über die Trennung von seinem Sohne, keine Weisung gegeben hatte, ob das Gepäck bei ihm bleiben oder nach dem andern Rheinufer hinübergebracht werden sollte. So kam es, daß er, durch die Frage des Priesters verwirrt, etwas Unzusammenhängendes darauf antwortete. – »Ich glaube, mein Gepäck ist im Weiler – das heißt, wenn mein Sohn es nicht mit über den Rhein nahm.« – »Das wollen wir bald erfahren,« sagte der Priester. – Auf seinen Ruf erschien aus der Sakristei der Kapelle ein Novize und erhielt Befehl, im Weiler nachzuforschen, ob Philippsons Warenballen mitsamt dem Rosse, das dieselben trug, dort gelassen oder mit übergesetzt worden wären.

Nach kurzer Abwesenheit kehrte der Novize hurtig mit dem Saumrosse zurück, das zusamt seiner Last von Arthur, aus Rücksicht auf seines Vater Bequemlichkeit, am westlichen Stromufer zurückgelassen worden war. Aufmerksam schaute der Priester ihn an, als Philippson sein Pferd bestieg, den Zügel in die Hand nahm und dem schwarzen Pfarrer mit folgenden Worten Lebewohl sagte: »Und nun, Vater, gehabt Euch wohl! Ich muß fürbaß ziehen mit meinem Gepäcke, ehe die Nacht hereinbricht; wäre das nicht, so würde ich mit Eurer Erlaubnis gern zögern, um Eure Gesellschaft unterwegs zu genießen.« – »Wolltet Ihr das wirklich, wie ich es in der Tat Euch eben anbieten wollte,« sagte der Priester, »so sollt Ihr drum Eure Reise nicht verzögern. Ich habe hier ein gutes Pferd; und Melchior, der sonst hätte zu Fuß gehen müssen, kann Euer Saumroß besteigen. Ich schlage dies um so mehr vor, da es übereilt von Euch gehandelt sein dürfte, bei Nacht zu reisen. Ich kann Euch zu einer etwa einer halben Stunde Weges von hier entlegenen Herberge führen, die wir bei Tage erreichen können. Dort seid Ihr für gutes Geld gar wohl aufgehoben.«

Der englische Kaufmann hielt einen Augenblick inne. Er hatte keine Lust zu einem neuen Reisegefährten, und obgleich das Angesicht des Pfarrers für sein Alter eher hübsch als häßlich war, so war doch der Ausdruck darin keineswegs vertrauenerweckend. Im Gegenteil, auf des Mannes Stirn lag etwas Geheimnisvolles und Düsteres, und ein ähnlicher Ausdruck sprach sich in seinen matten grauen Augen aus und deutete auf Strenge, ja auf Härte des Gemüts. Doch hatte der Priester unserem Philippson einen bedeutenden Dienst erwiesen, indem er die Verräterei jenes heuchlerischen Führers aufdeckte, und der Kaufmann war kein Mensch, der sich durch irgend eine Voreingenommenheit beeinflussen ließ. Er nahm daher des Pfarrers Anerbieten, ihn an einen Ort der Erholung und Ruhe zu geleiten, höflich an.

Nachdem man also einig war, führte der Novize den Gaul des Priesters vor, den dieser gewandt bestieg, und der Neophyt, der wahrscheinlich derselbe war, dessen Person Arthur bei seiner Flucht aus La Ferette hatte darstellen müssen, übernahm auf seines Vorgesetzten Befehl die Leitung des Saumrosses und schritt, nachdem er sich in gebückter Stellung bekreuzt hatte, als der Priester an ihm vorübergeschritten war, hinter dem Zuge her, wo er, gleich wie der tückische Bruder Bartholomäus, sich die Zeit dadurch zu vertreiben suchte, daß er mit einem Ernst, der mehr erzwungen, als aus wirklicher Frömmigkeit entstanden sein mochte, seinen Rosenkranz anbetete. Nach einem Blicke zu urteilen, den der schwarze Pfarrer von St. Paul auf seinen Novizen warf, schien er die Förmlichkeit in der Andacht des jungen Mannes geringschätzig anzusehen. Er ritt auf einem starken, schwarzen Gaule, der mehr dem Roß eines Kriegsmannes als der langsam einherschreitenden Stute eines Priesters glich, und die Art und Weise, wie er das Pferd lenkte, war frei von aller Angst und Unbeholfenheit. Sobald Philippson von Zeit zu Zeit seinen Begleiter betrachtete, wurde sein prüfender Blick durch ein hochmütiges Lächeln erwidert, das zu sagen schien: »Ihr starrt meine Gestalt und meine Gesichtszüge wohl an, jedoch das Geheimnisvolle, das mich umgibt, vermögt Ihr nicht zu durchschauen.«

Die Blicke Philippsons, die noch nie vor einem sterblichen Menschen den Boden gesucht hatten, schienen gleich hochmütig zu erwidern: »Ebensowenig sollst Du, stolzer Pfaff, wissen, daß Du jetzt ein Begleiter dessen bist, der ein Geheimnis von ungleich größerer Wichtigkeit besitzt, als das Deine sein kann.«

Nach einem halbstündigen Ritt gelangten sie in ein Dorf, und der schwarze Priester bemerkte, dies sei der Ort, wo er die Nacht zuzubringen gedächte. – »Der Novize,« sagte er, »wird Euch die Herberge zeigen, die in gutem Rufe steht, und wo Ihr sicher ruhen möget. Was mich betrifft, ich habe ein Beichtkind hier im Orte zu besuchen, das meines geistlichen Beistandes begehrt; vielleicht sehe ich Euch noch diesen Abend, vielleicht erst morgen früh. – Auf jeden Fall, gute Nacht für jetzt!«


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