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Achtes Kapitel.

In der Herberge zum fliegenden Hirsch in Straßburg wurden, wie in allen Gasthäusern im deutschen Reiche zu jener Zeit die Gäste ebenso rücksichtslos behandelt, wie in der Herberge des Johannes Mengs. Allein die Jugend und das ehrliche Aussehen des jungen Philippson, Umstände, die selten oder niemals verfehlen, da ihre Wirkung zu tun, wo es Mädchen gibt, vermochten so viel über eine kurze, derbe, blauäugige, glattwangige Jungfrau, die Tochter des Wirtes zum fliegenden Hirsch (der selber ein fetter alter Mann war und im Eichenstuhle hinterm Stubenofen faulenzte), daß sie über den Vorhof trippelte, um unserm jungen Reisenden eine unbesetzte Stallung für sein Roß anzuweisen. Sie ließ sich ferner auf Arthurs Frage nach seinem Vater noch weiter herab, indem sie sich erinnerte, daß ein Gast, wie er ihn beschrieb, die vorige Nacht in der Herberge zugebracht und hier auf einen jungen Reisegefährten wartete.

»Ich will ihn Euch herausschicken, schöner Herr,« sagte die kleine Jungfer mit einem Lächeln, welches, wenn Dinge solcher Art nach ihrem seltenen Erscheinen zu würdigen sind, für unschätzbar hätte geachtet werden müssen.

Die Dirne hielt Wort. Nach wenigen Minuten trat der ältere Philippson in den Stall und schloß seinen Sohn in die Arme. »Mein Sohn, mein geliebter Sohn!« sagte er, indem er seine gewöhnliche Verschlossenheit ablegte und sich dem natürlichen Gefühl der väterlichen Zärtlichkeit hingab. »Willkommen mir zu allen Zeiten – willkommen zu einer Zeit des Zweifels und der Gefahr – höchst willkommen mir in einem Augenblicke, der unser Geschick zur Entscheidung bringt! In wenigen Stunden werde ich erfahren, was wir von dem Herzoge von Burgund zu erwarten haben. – Hast Du das Zeichen?«

Arthurs Hand überreichte seinem Vater das Kästchen, das zu La Ferette in so seltsamer Weise verloren gegangen und wieder herbeigeschafft worden war. »Es hat viel Gefahr überstanden, seit Ihr es nicht saht,« sagte er. »Ich fand Nachtherberge in einer Feste und sah, wie ein Troß Landsknechte in der Umgebung am Morgen wegen vorenthaltener Löhnung Meuterei anfingen. Die Bewohner der Burg entflohen, und als wir am frühen Morgen abzogen, schoß ein trunkener Bärenhäuter mir das Pferd nieder, und ich war gezwungen, dieses schwerfällige flamländische Roß mit seinem Stahlsattel und seiner groben Schabracke einzutauschen.«

»Unser Pfad ist von Gefahren umringt,« sagte sein Vater. »Auch ich habe meinen Teil bekommen, indem ich in einer Herberge, wo ich die verflossene Nacht weilte, große Drangsale erduldete. (Er beschrieb sie des Näheren nicht). Allein ich zog am folgenden Morgen sogleich weiter und langte wohlbehalten hier an. Nunmehr habe ich endlich ein sicheres Geleit bekommen, das mich in das Lager des Herzogs unfern Dijon führen wird, wo ich hoffe, noch am selben Abend eine Unterredung mit dem Burgunderfürsten zu haben. Schlägt dann unsere letzte Hoffnung fehl, so wollen wir den Seehafen von Marseille aufsuchen, nach Candia oder Rhodus segeln und unser Leben dem Kampf für die Christenheit weihen, wenn wir für England zu streiten nicht imstande sein sollten.«

Arthur hörte diese vielsagenden Worte, ohne darauf zu antworten, allein sie sanken ihm darum nicht minder schwer aufs Herz. In diesem Augenblick begannen die Glocken des Münsters zu läuten und erinnerten den älteren Philippson an die Pflicht, eine Messe zu hören. Wie aus innerem Antriebe folgte Arthur seinem Vater.

Als sie sich dem Portal der Hauptkirche näherten, fanden sie es von Bettlern beiderlei Geschlechts belagert, die den Andächtigen reichlich Gelegenheit gaben, die Pflicht des Almosenausteilens, einen wesentlichen Teil der kirchlichen Obliegenheiten, zu erfüllen. Die Engländer entledigten sich der zudringlichen Menge dadurch, daß sie, wie man in solchen Fällen zu tun pflegt, denen eine kleine Gabe in Kupfergeld reichten, die deren am nötigsten zu bedürfen oder der Mildtätigkeit am meisten wert zu sein schienen. Eine lange, weibliche Gestalt stand an den Stufen nahe der Pforte und streckte ihre Hand dem älteren Philippson entgegen, der, betroffen über ihr Aeußeres, die Kupfermünze, die er auch den übrigen Bettelnden gereicht hatte, mit einem Silberstück vertauschte.

»Ein Wunder,« sagte die weibliche Gestalt in englischer Sprache, jedoch mit einer Stimme, die wohl nur von ihm allein gehört werden sollte, obwohl auch Arthur die Worte vernehmen konnte: »Ja, ein Wunder! Ein Engländer besitzt noch ein Silberstück und hat es übrig, um es einer Armen zu spenden!«

Arthur gewahrte, wie sein Vater über die Stimme oder die Worte zu erschrecken schien, die selbst auf ihn mehr Eindruck machten, als etwa die Bemerkung irgend eines gewöhnlichen Bettlers. Doch schritt sein Vater, nachdem er einen Blick auf das Weib geworfen hatte, das ihn so anredete, vorwärts in das Schiff der Kirche und war bald beschäftigt, teil an der Messe zu nehmen, die von einem Geistlichen am Altar in einer von dem Prachtgebäude abgesonderten Kapelle gelesen wurde. Die Feier begann und endete unter allen dabei üblichen Förmlichkeiten. Der zelebrierende Priester zog sich mit den Messedienern zurück, und obgleich etliche der wenigen Andächtigen, die der heiligen Handlung beigewohnt hatten, noch blieben, ihren Rosenkranz beteten und sich ihrer Privatandacht hingaben, so verließen doch die meisten die Kapelle, um entweder zu andern Altären sich zu wenden oder zu ihren weltlichen Geschäften zurückzukehren.

Arthur Philippson nahm wahr, daß, während die Andächtigen nacheinander gingen, jene hohe weibliche Gestalt, die ein Almosen von seinem Vater erhalten hatte, noch immer am Altar kniete; und noch mehr erstaunte er, als er sah, daß auch sein Vater, der, wie er wußte, aus manchen Gründen nicht mehr Zeit in der Kirche zu verwenden hatte, als seine Andachtsübung notwendigerweise erforderte, dennoch auch auf den Knien liegen blieb und seine Blicke auf der Gestalt der Verschleierten haften ließ, als ob seine Bewegungen durch die ihrigen bestimmt werden sollten. Wie unser Arthur sich auch den Kopf zerbrechen mochte, so hatte er doch nicht die leiseste Ahnung von den Absichten seines Vaters. – Er wußte nur, daß er mit einer mißlichen, gefahrvollen Unterhandlung betraut war, die nur allzuleicht von mehreren Seiten her gestört werden konnte, und daß staatsklügelnder Argwohn sowohl in Frankreich und Italien wie in Flandern so allgemein erwacht war, daß die wichtigsten Botschafter häufig die undurchdringlichste Verkleidung anlegen mußten, um ohne Verdacht in die Länder zu gelangen, wo ihre Dienste verlangt wurden.

So dachte Arthur bei sich, dieses Weib könne vielleicht solch ein verkleideter Sendbote sein, und er nahm sich vor, seines Vaters Benehmen gegen diese sonderbare Bettlerin zu beobachten und sein eigenes Tun danach zu bestimmen. Neuer Glockenschall verkündete, daß eine noch feierlichere Messe vor dem Hochaltar des Münsters selbst gehalten wurde, und entzog vollends der Kapelle alle Beter, die vor dem Altare des heiligen Georg gekniet hatten. Nur die Philippsons, Vater und Sohn, und die weibliche Gestalt blieben zurück. Als der letzte der Messehörenden sich entfernt hatte, erhob sich das Weib und näherte sich dem älteren Philippson, der die Arme über der Brust kreuzte, das Haupt beugte und in einer Stellung des Gehorsams stehen blieb, die sein Sohn früher nie an ihm wahrgenommen hatte. So schien er zu erwarten, was sie ihm zu sagen hätte, und nicht den Mut zu haben, sie anzureden.

Es entstand eine Pause.

Vier Ampeln, die vor dem Altarbild standen, verbreiteten matten Schein. Sonst war die Kapelle nur düster von der Herbstsonne erhellt, die kaum einen Weg durch das bunte gegitterte Fensterchen finden konnte. Das Licht fiel schaurig auf die etwas gebeugte, verkümmerte Gestalt des Weibes und auf den traurig und besorgt niederbückenden Vater und dessen Sohn, der mit allem Eifer der Jugend außerordentliche Ergebnisse von einer so seltsamen Begegnung erwartete und voraussah.

Die weibliche Gestalt trat dem Vater Philippson ganz nahe, als wollte sie sich ihm verständlich machen, ohne den leisen Ton ihrer Stimme zu erhöhen. – »Betet Ihr hier,« sprach sie, »zu dem heiligen Georg von Burgund oder zu dem Sankt Georg des fröhlichen Englands, der Blume der Ritterschaft?« – »Ich verehre,« sagte Philippson, indem er andächtig die Hände vor der Brust faltete, »den Heiligen, dem diese Kapelle geweiht ist, und die Gottheit bete ich an, bei welcher ich seine heilige Fürsprache so hier, wie in meinem Vaterlande hoffe.«

»Und auch Ihr,« sprach die weibliche Gestalt, »auch Ihr könnt vergessen – Ihr, eben Ihr, der Ihr zu der Blüte der Ritterschaft gezählt wurdet – Ihr könnt vergessen, daß Ihr in dem königlichen Tempel zu Windsor als kniegegürteter Ritter gebetet habt, wo Könige und Prinzen mit Euch beteten – Ihr könnt das vergessen – und hier an fremdem Altare Gebete zum Himmel schicken, gleich einem armseligen Bauer, der um Brot und Lebensunterhalt für den Tag fleht?«

»Lady,« versetzte Philippson, »in meinen stolzesten Stunden war ich vor dem Wesen, dem ich hier meine Gebete darbringe, nur ein Wurm im Staube. – In seinen Augen bin ich jetzt weder mehr noch minder, wie gering auch meine Mitmenschen von mir denken mögen.« – »Es ist gut, daß Du Dich damit trösten kannst,« sagte die Verhüllte. »Doch was ist auch Dein Verlust, verglichen mit dem meinigen?« – Sie legte die Hand an die Stirn und schien auf einen Augenblick von peinigenden Erinnerungen überwältigt.

Arthur drängte sich an seines Vaters Seite und fragte in einem teilnehmenden Ton, den er kaum zu unterdrücken vermochte: »Vater, wer ist die Dame? Ist es meine Mutter?«– »Nein, mein Sohn,« antwortete Philippson; »still bei allem, was Dir heilig und wert ist!«

Wie flüsternd Frage und Antwort auch gesprochen wurden, so hörte die sonderbare Gestalt doch beide: »Ja,« sprach sie, »junger Mann – ich bin – ich sollte sagen, ich sei – Eure Mutter; die Mutter, die Beschützerin alles dessen, was edel in England ist, ich bin Margaretha von Anjou.«

Arthur sank nieder auf seine Knie vor der hochherzigen Witwe Heinrichs VI., die so lange Zeit hindurch und unter so verzweifelten Umständen durch unerschütterlichen Mut und tiefe Staatsklugheit die verlorene Sache ihres schwachen Gemahls aufrecht erhalten hatte. Arthur war in inniger Anhänglichkeit an das jetzt entthronte Haus Lancaster auferzogen worden, dem sein Vater stets aufs treueste beigestanden, und im Kampfe für dieses Haus hatte er seine frühsten Waffentaten vollführt. Mit einer seinem Alter und seiner Erziehung völlig entsprechenden Schwärmerei warf er augenblicklich sein Barett auf das Steinpflaster und kniete zu den Füßen seiner unglücklichen Monarchin.

Margaretha zog den Schleier zurück, der ihre edlen, majestätischen Gesichtszüge verbarg, die – obschon Ströme von Tränen ihre Wangen gefurcht hatten – obschon Sorge, Mißgeschick, häuslicher Kummer und gedemütigter Stolz das Feuer ihrer Augen verlöscht und die sanfte Würde ihrer Stirne verwischt hatten, dennoch Spuren jener Schönheit zeigten, die einst in ganz Europa für unvergleichlich gegolten hatte. Die Niedergeschlagenheit, von der nach einer Reihe von Unglücksfällen und vereitelten Hoffnungen diese beklagenswerte Fürstin fast stets beherrscht war, schwand für einen Augenblick vor der schwärmerischen Ergebenheit des schönen Jünglings. Sie reichte ihm die Hand, die er mit Zähren und Küssen bedeckte, während sie ihm mit der andern voll mütterlicher Zärtlichkeit die Ringellocken streichelte. Mittlerweile warf sein Vater die Pforte der Kapelle zu und stellte sich mit dem Rücken dagegen, als wollte er es verhüten, daß irgend ein Fremder Zeuge eines so außerordentlichen Auftrittes würde.

»Du also,« sagte Margarethe in einem Tone, in welchem weibliche Zartheit seltsam mit dem ihrem Range natürlichen Stolze kämpfte und sich doch zugleich die ruhige, ergebungsvolle Gleichgültigkeit ausdrückte, die ihr nach so hartnäckigem Mißgeschick zu eigen geworden war – »Du also, wackerer Jüngling, bist der einzige Sprößling des edlen Stammes, von welchem so mancher schöne Ast für unsere hoffnungslose Sache fallen mußte? Ach! ach! Was kann ich für Dich tun? Margarethe hat nicht einmal einen Segen zu spenden; sie vermag nichts, als auf Dich hinzublicken und Dir Kraft zu wünschen, Deinen baldigen, völligen Untergang zu ertragen. Ich – ich bin der verhängnisvolle Giftbaum gewesen, dessen Aushauch all die schönen Pflanzen welken und hinsterben ließ, die neben mir und um mich her blühten; ich war es, die Tod über jeden brachte, und die doch selbst den Tod nicht zu finden vermag!« – »Edle und königliche Herrin!« sagte der ältere der beiden Engländer, »laßt Euren fürstlichen Mut, der so Namenloses ertrug, nicht ermatten; jetzt nicht, wo die Not vorüber und mindestens Hoffnung auf bessere Zeit für Euch und England vorhanden ist!«

»Für England und für mich, edler Oxford?« fragte die unglückliche und verwitwete Königin. »Könnte die Sonne des morgenden Tages mich selbst wieder auf den Thron Englands setzen, vermöchte sie mir wohl damit zurückzugeben, was ich verlor? Nicht spreche ich von Reichtum und Macht – sie sind nichts im Vergleiche mit dem, was ich meine. – Nicht rede ich von den Anhängern und edlen Freunden, die zu meiner und ihrer eigenen Verteidigung fielen – nicht also von einem Somerset, einem Percy, Stafford und Clifford; sie haben ihren rühmlichen Platz in der Chronik des Vaterlandes gefunden; nicht erwähne ich meines Gemahls, denn er hat den Stand eines auf Erden duldenden Heiligen mit dem eines glorreichen Heiligen im Himmel vertauscht. – Aber o, Oxford! Mein Sohn! Mein Eduard! Ist es mir möglich, auf diesen Jüngling zu blicken und nicht daran zu denken, wie Deine Gattin und ich in einundderselben Nacht jede einen schönen Knaben das Licht der Welt erblicken ließen? Wie oft bemühten wir uns, der Söhne kommendes Geschick voraus zu erkennen und uns einzureden, daß das gleiche Gestirn, das auf ihre Geburt herabgeleuchtet habe und nun auf ihr folgendes Leben Einfluß haben müsse, sie in freundschaftlicher, gleichgestimmter Neigung einem glückseligen, ehrenvollen Ziele zuführen würde! Ach, Oxford, Dein Sohn Arthur lebt; aber mein Eduard, der unter den gleichen Zeichen geboren war, füllt ein blutiges Grab!«

Sie hüllte ihr Haupt in ihren Schleier, als ob sie die Klagen und Seufzer ersticken wollte, in die ihr Mutterherz bei diesen grausamen Erinnerungen ausbrach, Philippson, oder der verbannte Graf von Oxford, wie wir ihn jetzt nennen mögen, der sich in diesen wechselvollen Zeiten durch seine standhafte Vasallentreue gegen das Haus Lancaster auszeichnete, sah ein, daß es töricht wäre, der Schwäche seiner Monarchin noch Vorschub zu leisten. – »Königliche Herrin,« sprach er, »das Leben gleicht einem kurzem Wintertage und verrinnt, gleichviel, ob wir die Zeit, die es uns darbietet, benutzen oder nicht. Meine Monarchin, hoffe ich, ist zu sehr Beherrscherin ihrer selbst, als daß sie sich durch Klagen über das, was vorüber ist, der Macht berauben möchte, die Gegenwart zu nützen. Ich bin hier, um Eurem Befehl zu gehorchen; ich soll des ehesten den Herzog von Burgund sehen, und so ich ihn irgend dem Antrage geneigt finde, den ich ihm zu machen habe, so möchte wohl Eure gegenwärtige Trauer in Freude verwandelt werden. Doch müssen wir unsere Gelegenheit mit Eile und mit Eifer nützen. Laßt mich also wissen, meine Königin, um welcher Ursache willen Ew. Majestät verkleidet hierher kam und sich dadurch nicht geringer Gefahr aussetzte.« »Ihr spottet meiner, Oxford,« sagte die unglückliche Königin, »oder Ihr irrt Euch, wenn Ihr meint, Ihr dientet noch jener Margarethe, deren Wort nie ohne Grund gesprochen, deren kleinste Handlung nie ohne wichtige Ursache geschah. Ach! ich bin nicht mehr das nämliche feste, entschlossene Wesen. Der fieberhafte Zustand meines Kummers hat dem des Hasses bei mir weichen müssen und hat mich mit ohnmächtigem, ungeduldigem Grimm erfüllt. Meines Vaters Haus ist sicher, wie Du weißt, allein, kann eine Seele, wie die meinige sich damit zufrieden geben? Kann eine Frau, die des edelsten und reichsten Königreichs in Europa beraubt wurde, eine Frau, die ihre edelsten Freunde verlor – eine Frau, die eine verwitwete Gattin, eine kinderlose Mutter ist – eine Frau, über die der Himmel die volle Schale seines unversöhnlichen Zornes ausgeschüttet hat – kann sie es über sich vermögen, die Gefährtin eines Greises zu sein, der in Sonetten und Harfenklängen, in Mummenschanz und Torheit, in Zitherspiel und Reimgetön einen Trost für all das findet, was Armut Betrübendes hat, ja, was noch mehr ist, für all das, was lächerlich und verächtlich ist?« – »Mit Gunst, meine Königin,« sagte Oxford, »tadelt nicht den guten König René, weil er, verfolgt vom Geschick, imstande war, bescheidene Quellen des Trostes sich zu öffnen, die Euer stolzeres Gemüt verschmäht. Eine Blumenkrone, von seinen Troubadours geflochten und von ihren Sonetten geweiht, ist ihm genügender Ersatz für die Diademe von Jerusalem, Neapel und beiden Sizilien, von denen er nichts als den leeren Titel besitzt.« – »Redet mir nicht von dem bemitleidenswerten Greise,« sagte Margarethe. »Ich sage Dir, edler Oxford, fast wahnsinnig bin ich geworden in dem jämmerlichen Kreise, den er seinen Hof nennt! Mein Ohr, nur den Tönen der Betrübnis zugewendet, ist der klimpernden Harfen, der kreischenden Geigen, der klappernden Castagnetten müde; meine Augen sind der bettelhaften Hofhaltung überdrüssig. Aller Adel, alle Größe ist dahin, und die Nichtigkeiten, die an ihre Stelle traten, widern mich an. Nein, Oxford, ist es mein Geschick, auch noch den letzten Glückswurf zu verlieren, der sich mir günstig zu bieten scheint, so will ich mich in das ärmlichste Kloster auf den Pyrenäenbergen zurückziehen, um wenigstens nicht mehr die schwachsinnige Fröhlichkeit meines Vaters mitanzusehen. Möge er aus unserm Gedächtnis schwinden, wie er aus dem Buche der Geschichte schwindet, in das sein Name nimmer aufgenommen wird. Wichtigeres habe ich Euch zu sagen und von Euch zu hören. – Und jetzt, Oxford, was für Nachrichten habt Ihr aus Italien? Will der Herzog von Mailand uns mit seinem Rate oder mit seinen Schätzen beistehen?«

»Mit seinem Rate gern, edle Königin, allein wie Ihr denselben benutzen wollt, weiß ich nicht, da er uns anempfiehlt, uns unserm hoffnungslosen Geschicke zu unterwerfen und uns demutsvoll dem Willen der Fürsorgung zu fügen.«

»Der elende Italiener! Will er nicht einen Teil seines Reichtums vorstrecken oder einer Freundin Beistand leisten, der er früher so oft Treue geschworen hat?« – »Selbst nicht die Diamanten, die ich in seine Hände zu legen mich erbot,« versetzte der Graf, »vermochten ihn, seine Schatzkammer aufzuriegeln, um uns mit Goldstücken zu unserm Unternehmen zu versehen. Doch, sagte er, wenn Karl von Burgund ernstlich daran denken sollte, zu Euren Gunsten etwas zu unternehmen, so würde er bei seiner Hochachtung für diesen Fürsten und seinem Mitgefühl für Eure Majestät dem Gedanken, einen Vorschuß zu gewähren, vielleicht näher treten.« – »Doch wie steht es mit Burgund? Ich habe mich hierher gewagt, um Euch zu sagen, was ich erfuhr, und Euren Bericht zu vernehmen – ein treuer Wächter sorgt dafür, daß wir hier nicht unterbrochen werden. Meine Ungeduld, Euch zu sehen, trieb mich an, in dieser niedrigen Verkleidung hieherzukommen. Ich habe eine kleine Wohnung in einem Kloster unweit der Stadt. Ich ließ Eure Ankunft durch den treuen Lambert beobachten und komme jetzt, Eure Hoffnungen und Besorgnisse zu vernehmen, und Euch die meinigen mitzuteilen.«

»Königliche Frau,« sagte der Graf, »ich habe den Herzog nicht gesehen. Ihr kennt seine eigensinnige, heftige und unnahbare Gemütsart. Wenn er sich jener gelassenen, ausharrenden Staatsklugheit befleißigt, die in diesen Zeitläufen geboten ist, so zweifle ich nicht, daß er volle Entschädigung von Ludwig, seinem geschworenen Feinde, und selbst von Eduard, seinem ehrgeizigen Schwager erhalten wird. Doch wenn er übertriebenen leidenschaftlichen Aufwallungen freien Lauf läßt, so wird er in Zwist mit den armen, aber kühnen Helvetiern geraten, der leicht größeren Umfang annehmen kann. Er kann dabei durchaus nichts gewinnen, sondern läuft nur Gefahr, die schwersten Verluste zu erleiden.«

»Zuverlässig wird er,« sprach die Königin, »dem Usurpator Eduard nicht vertrauen, da dieser eben den größten Verrat an seinem Bündnisse begeht.« – »In welcher Hinsicht, edle Frau?« versetzte Oxford. »Die Nachricht, auf die Ihr anspielt, ist mir nicht kund geworden.« – »Wie, Lord? Soll ich denn die erste sein, die Euch sagt, daß Eduard von York mit einem größeren Heer herübergekommen ist, als selbst mein Schwiegervater, der berühmte Heinrich der Fünfte, jemals nach Frankreich oder Italien führte?« – »Wenigstens hörte ich, daß man solches erwartete,« sagte Oxford, »und ich war sogleich der Meinung, daß dies unserer Sache nachteilig wäre.« – »Eduard ist angekommen,« sagte Margarethe, »und der Verräter und Usurpator hat Ludwig von Frankreich aufgefordert, ihm die Krone dieses Landes als sein Eigentum auszuliefern – eben die Krone, die auf dem Haupte meines unglücklichen Gemahls glänzte, als er als Kind noch in der Wiege lag.«

»So ist es denn entschieden, – die Engländer sind in Frankreich,« antwortete Oxford im Tone der schwersten Besorgnis. – »Und wer begleitet Eduard auf diesem Zuge?« – »Alle – alle bittersten Feinde unseres Hauses und unserer Sache. Der falsche, verräterische, ehrlose Georg, den er Herzog von Clarence nennt – der Blutsäufer Richard – die schwelgerischen Hastings – Howard – Stanley – kurz, all jene Verräter, die ich nicht nennen mag! es wäre denn, daß meine Verwünschung sie hinwegraffen könnte von der Oberfläche der Erde.«

»Und – ich zittre zu fragen,« sprach der Graf, – »bereitet Burgund sich, die Engländer als Kampfgenossen zu begrüßen und gemeinschaftliche Sache mit ihnen gegen Ludwig von Frankreich zu machen?« – »Meinen Nachrichten zufolge,« versetzte die Königin, »und diese sind so geheim wie zuverlässig und werden überdies durch das allgemeine Gerücht bestätigt, – nein, mein teurer Oxford, nein!«

»Mögen die Heiligen drob gepriesen sein!« antwortete der Graf. »Eduard von York, ich will auch dem Feinde nichts Uebles nachreden, – ist ein verwegener, furchtloser Feldherr – allein, er ist weder Eduard III., noch der heldenmütige schwarze Prinz. – Auch nicht jener fünfte Heinrich von Lancaster, unter welchem ich meine Sporen verdiente. Mag Eduard ohne den Beistand Burgunds, auf den er gerechnet hat, gegen Frankreich zu Felde ziehen! Ludwig ist zwar kein Held, aber er ist ein vorsichtiger, gewandter Heerführer und in diesen staatsklügelnden Zeiten vielleicht sehr zu fürchten. Doch welche Schritte tat Burgund?«

»Er hat Deutschland bedroht,« sagte Margarethe, »und seine Scharren überfluten jetzt Lothringen, wo er die bedeutsamsten Städte und Festen wegnahm.« – »Wo ist Ferrand de Vaudemont – ein Jüngling voll Mut und Unternehmungsgeist? Man sagte, er wolle im Namen seiner Mutter Yolanda von Anjou, Eurer Schwester, seine Rechte auf Lothringen geltend machen.« – »Entflohen,« versetzte die Königin, »nach Deutschland oder in die Schweiz.« – »Burgund mag vor ihm auf der Hut sein,« sagte der erfahrene Graf, »denn sollte der enterbte Jüngling Verbündete unter den kecken Schweizern finden, so dürfte dem Burgunder in ihm ein furchtbarer Feind erwachsen. Wir sind gegenwärtig nur stark durch des Herzogs Stärke, und wird diese in müßigen und schwankenden Anstrengungen vergeudet, so schwinden, ach! unsere Hoffnungen mit seiner Macht; selbst wenn wir ihn geneigt fänden, uns beizustehen. Meine Freunde in England sind entschlossen, nur mit Burgunds Beihilfe sich zu erheben.«

»Dies ist nicht das schlimmste,« sagte Margarethe. »Mehr fürchte ich die Staatsklugheit Ludwigs, der, so meine Späher mich nicht gröblich täuschten, wirklich schon dem Usurpator Eduard einen geheimen Frieden antrug! indem er große Summen anbot, um England für die Partei der Yorks zu erkaufen und eine siebenjährige Waffenruhe zu erlangen.« – »Es kann nicht sein,« sagte Oxford, »Er sollte, wo er ein so großes Heer befehligt, sich aus Frankreich zurückziehen wollen, ohne den Versuch zu machen, seine verlorenen Provinzen wiederzugewinnen.«

»Das tut diesem Eduard nichts,« sagte Margarethe, »der fälschlich Plantagenet genannt wird und wohl ebenso niedrig von Gemüt wie von Geblüt ist, da man sagt, daß sein wirklicher Vater ein Bogenschütz Blackburn aus Middleham war. Er wird nicht ruhig schlafen, bevor er nicht heimgekehrt sein wird nach England mit jenen Mordgenossen, die ihm die gestohlene Krone schützen sollen. Er wird sich in keinen Krieg mit Ludwig einlassen, und Ludwig wird nicht anstehen, seinen Stolz zu demütigen, seinen Geiz zu füttern und seine wollüstige Verschwendungssucht durch Goldsummen zu sättigen. So fürchte ich sehr, das englische Heer wird Frankreichs Boden mit dem eitlen Ruhme verlassen, sein Panier für etliche Wochen lang noch einmal in den Provinzen aufgepflanzt zu haben, die es vormals sein eigen nannte.« – »Um so mehr sei es an uns, den Burgunder rasch zur Entscheidung zu bringen,« versetzte Oxford, »und zu diesem Zweck eile ich nach Dijon. Ein Heer, wie die Scharen Eduards wird in Frankreich überwintern müssen, selbst wenn es Waffenstillstand mit dem König Ludwig schließt. Mit tausend hennegauischen Lanzen kann ich aber bald im Norden Englands sein, wo wir, außer der Zusicherung von Schottlands Hilfe, noch manche Freunde haben. Der treue Westen wird sich auf ein verabredetes Zeichen erheben – die Einwohner von Wales werden sich auf das Losungswort Tudor vereinen, die rote Rose erhebt noch einmal ihr Haupt, und somit erhalte Gott den König Heinrich!«

»Ach,« sagte die Königin – »aber nicht meinen Gemahl, nicht meinen Freund – nur den Sohn meiner Schwiegermutter von einem wallischen Häuptling – kalt, wie es hieß, und listig – allein es sei so! Wenn nur Lancaster triumphiert und sich an York rächt, so will ich zufrieden sterben!« – »So kann ich also die Anerbietungen machen, zu denen Ew. Majestät mich früher ermächtigten, um Burgund für unsere Sache zu gewinnen? Erfährt Karl etwas von der vorgeschlagenen Waffenruhe zwischen Frankreich und England, so wird der Stachel um so tiefer dringen.« – »Versprecht alles,« entgegnete die Königin. »Ich kenne das Innerste dieses Herzogs – es ist nur auf Besitzerwerb nach allen Seiten hin gerichtet. Deswegen hat er Gelder weggenommen – deswegen überflutet und besetzt er jetzt Lothringen – deswegen girrt er nach den armseligen Resten der Provence, die mein Vater noch die seinigen nennt. Bei so vermehrtem Besitztum gedenkt er seinen Herzogsmantel gegen die Krone eines unabhängigen Monarchen zu vertauschen. Sagt ihm, Margarethe könne seinen Absichten förderlich werden – sagt ihm, mein Vater René werde seine Staaten ihm in dem Augenblick abtreten, wo seine Hennegauer sich nach England einschiffen, so Karl nur ein mäßiges Jahresgehalt gewährt, um eine Anzahl Geiger und eine Schar Mohrentänzer zu unterhalten; denn diese bilden Renés sämtliche irdischen Bedürfnisse. Die meinigen sind noch geringer – Rache an York und ein Grab! Was das elende Gold betrifft, dessen wir bedürfen, so hast Du Juwelen zu verpfänden – was die übrigen Bedingungen anbelangt, so kann allenfalls Bürgschaft geleistet werden.«

»Was dies betrifft, hohe Frau, so kann ich zu Eurem Königsworte noch ein Ritterwort geben; und wird mehr verlangt, so soll mein Sohn als Geisel in Burgund bleiben.« – »O, nein, nein!« rief die Königin, vielleicht von dem einzigen zärtlichen Gefühle ergriffen, das in ihrem übermäßigen Unglück noch nicht ganz erstickt worden war. »Setzt nicht das Leben des edlen Jünglings aufs Spiel – er ist der letzte des treuen, anhänglichen Hauses De Vere – er sollte der Waffenbruder meines geliebten Eduard sein und wäre fast sein Genoß in einem frühzeitigen blutigen Grabe geworden! Verwickelt dieses arme Kind nicht in die Staatsränke, die seiner Familie so verhängnisvoll wurden. Laßt ihn mit mir ziehen! Ihn mindestens will ich schirmen vor Gefahr, so lange ich lebe, und ihn versorgt wissen, wenn ich nicht mehr sein werde.«

»Vergebt mir, Königin,« sagte Oxford, mit jener ihn stets auszeichnenden Bestimmtheit: »mein Sohn ist freilich ein De Vere, und vielleicht der Letzte seines Namens. In welche Gefahren Pflicht und Lebenstreue ihn auch rufen, seien es Gefahren vor Schwert und Lanze, vor Beil und Hochgericht – frei muß er ihnen die Stirn zeigen, wenn er seine Treue dadurch bewähren kann. Seine Ahnen haben ihm gezeigt, wie man allen solchen Gefahren Trotz bieten kann.« – »Wahr, wahr!« sagte die unglückliche Königin, indem sie heftig die Arme emporstreckte. »Alle mußten umkommen – alle, die das Haus Lancaster ehrten – alle, die Margarethe liebten, alle, die sie geliebt hat! Die Vertilgung muß allgemein werden – die Jünglinge müssen fallen, wie die Greise – kein einziges Lamm der zerstreuten Herde soll entrinnen.« – »Um Gottes willen, hochherzige Frau,« sagte Oxford, »beruhigt Euch! – Ich höre an die Tür pochen.«

»Das Zeichen zum Aufbruch,« sagte die verbannte Königin, indem sie sich sammelte. »Wir dürfen nicht zaudern. Laßt uns hier scheiden – Ihr geht nach Dijon, ich nach Aix, meinem ruhelosen Aufenthalte in der Provence. Lebt wohl! – Möchten wir uns zu besserer Stunde wiedersehen! – Hoffnung ist eine Pflanze, die aus einer edlen Brust nicht eher ausgerottet werden kann, bis das Brechen der letzten Herzensfiber sie vertilgt.«

Indem sie so sprach, schritt sie durch die Tür der Kapelle, und mischte sich in das Gewühl von Menschen, die teils beteten, teils ihre Neugier befriedigten, teils ihre müßigen Stunden in den Gängen des hohen Münsters verschlenderten.

Philippson und dessen Sohn, beide tief ergriffen von dem seltsamen Zusammentreffen, kehrten in ihre Herberge zurück, wo ihrer ein Knappe harrte, der Burgunds Farben und Zeichen trug und ihnen berichtete, daß, so sie die englischen Kaufleute wären, die wertvolle Waren an den Hof des Herzogs brächten, er den Auftrag hätte, ihnen Geleit und Unverletzlichkeit zuzusichern.

Unter dem Schutze dieses herzoglichen Dieners brachen unsere Reisenden von Straßburg auf. Am Abend des zweiten Tages erreichten sie die Ebene von Dijon, wo die ganze Heeresmacht des Burgunder Fürsten, oder doch der größte Teil, ihr Feldlager aufgeschlagen hatte.


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