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Einundzwanzigstes Kapitel.

Hinweg damit! Der echten Weisheit Welt
Ist ihm eig'ne Schöpfung oder deine,
Natur, du Mutter! Wer ist so geschwellt,
Wie du an deinem majestät'schen Rheine?
Von solchen Werken sah Harold noch keine.
Vermischt ist alles Schöne, Thal und Fluß,
Frucht, Blätterwerk, Feld, Wald, Korn, Berg und Weine,
Und Burgen ohne Herrn weh'n ernst den Scheidegruß,
Von grauen Mauern her und grauer Trümmer Fuß.

Childe Harold's Pilgerfahrt, 3. Gesang.

Als Arthur seinen Vater verließ, um in die Barke zu steigen, welche ihn auf die andere Seite des Rheines führen sollte, traf er nur wenige Vorkehrungen, um seine eigenen Bedürfnisse während einer Trennung zu befriedigen, die, wie er berechnete, von nur kurzer Dauer sein konnte. Einige Wäsche und Kleidungsstücke nebst ein paar Goldstücken, war Alles, was er mitzunehmen für nöthig hielt. Den Rest des Gepäcks und Geldes ließ er bei dem Saumroß zurück, dessen sein Vater, wie er dachte, bedürfen würde, um seine Rolle als englischer Kaufmann durchzuführen. Das Fischerfahrzeug, auf welchem er sich mit seinem Pferd und seinem kleinen Felleisen befand, richtete alsbald seinen Mast und zog die Segel an der Stange auf. So konnte es sich durch die Gewalt des Windes gegen die Heftigkeit der Strömung halten, und kreuzte den Fluß in schiefer Richtung gegen Kirchhofen hin, welches, wie wir bereits gesagt haben, etwas weiter unten liegt als die Hauskapelle. Die Ueberfahrt ging so günstig von Statten, daß der Nachen in ein paar Minuten das andere Gestade erreichte. Arthur blieb mit Augen und Gedanken auf dem linken Ufer und sah, wie sein Vater die Kapelle zur Fähre in Begleitung zweier Reiter verließ, die er natürlich für den Führer Bartholomä und einen Reisenden hielt, der sich zufällig mit ihm zusammengefunden. Die Beiden aber waren der Pfarrer von der St. Paulskirche und ein Novize, wie wir bereits erwähnt.

Er konnte sich des Gedankens nicht enthalten, diese Vermehrung der Gesellschaft müsse zu größerer Sicherheit seines Vaters beitragen, da nicht wahrscheinlich war, Philipson würde dulden, daß man ihm wider seinen Willen einen Reisegefährten aufdränge. Hatte er ihn selbst gewählt und erwies sich der Führer als ein Verräther, so konnte ihm jener gegen diesen zum Schutze dienen. In jedem Fall konnte er sich darüber freuen, daß er seinen Vater in Sicherheit einen Ort hatte verlassen sehen, wo sie eine Gefahr zu erwarten Ursache gehabt hatten. Er beschloß daher, sich in Kirchhofen nicht aufzuhalten, sondern seine Reise in der Richtung nach Straßburg eilig fortzusetzen, bis ihn Dunkelheit zwänge, in einem der Dörfer Halt zu machen, welche auf der rechten Rheinseite liegen. In Straßburg dachte er mit dem hoffnungsreichen Sinne der Jugend seinen Vater zu treffen, und wenn er auch nicht alle Unruhe über ihre Trennung von einander zu beseitigen vermochte, so hegte er doch die Zuversicht, ihn wohlbehalten wieder zu finden. Nachdem er einige Erfrischungen zu sich genommen und seinem Pferde ein paar Augenblicke Ruhe gegönnt hatte, machte er sich wieder auf den Weg, und folgte ohne Zeitverlust der im Osten des großen Flusses hinziehenden Straße.

Er befand sich jetzt auf der anziehenden Seite des Rheins. An diesem Gestade wird der Strom zurückgedrängt und gewissermaßen eingemauert von malerischen Felsen, welche bald eine reiche Decke von Pflanzen in den mannigfaltigen Farben des Herbstes darboten, bald mit Burgen geschmückt waren, die an den Thoren das stolze, freiherrliche Wappen trugen; da waren Weiler zu schauen, in welchen der Reichthum des Bodens dem armen Landmann die Nahrung schaffte, deren ihn die drückende Hand seines Obern gänzlich zu berauben drohte. Jeder Bach, der seine Gewässer dem Rheine zuführt, schlängelte sich durch ein eigenes, ihm steuerbares Thal, und jedes dieser Thäler hat ein mannigfaltiges und besonderes Aussehen. Einige sind mit Weiden, Kornfeldern und Weinbergen bedeckt, andere von Felsen, Schluchten und sonstigen romantischen Schönheiten durchschnitten.

Man hatte die Grundsätze des Geschmacks damals noch nicht erklärt und zergliedert, wie es seither in Ländern geschehen ist, wo man Muße zu derartigen Untersuchungen gefunden hat. Aber die Gefühle, welche die reiche Landschaft im Rheinthale erweckte, mußten in allen Herzen dieselben sein zur Zeit, da es unser junger Engländer als einsamer Wanderer unter Sorgen und Gefahren durchzog, so gut als zu der, in welcher es den grollenden Childe Harold Diese Anspielung auf Lord Byron ist durch die Aufschrift des Kapitels herbeigeführt. D. U. anhörte, wie er seiner Heimath ein stolzes Lebewohl sagt, um vergeblich ein Land zu suchen, in welchem sein Herz ruhiger schlüge.

Arthur genoß dieses Anblickes, obgleich der sinkende Tag ihn erinnerte, daß er allein und mit werthvollen Gegenständen reise, daß es also klug sei, sich nach einem Ort umzusehen, wo er die Nacht verbringen könnte. Gerade, als er sich entschlossen, bei der nächsten Wohnung, an der er vorüber käme, zu fragen, welchen Weg er hiezu einschlagen müßte, zog sich seine Straße in ein schönes Amphitheater hinunter. Große Bäume überdeckten dasselbe und schützten das zarte Gras prächtiger Wiesen vor der Hitze des Sommers. Ein großer Bach floß dadurch hin und vereinigte sich mit dem Rhein. In der Entfernung von einer Meile gegen die Quelle hin beschrieben seine Gewässer einen Halbkreis um eine steile Felsenhöhe. Darauf standen Mauern, gothische Thürme und Thürmchen, und sie umschlossen eine Burg erster Größe. Ein Theil der beschriebenen Gegend war an einzelnen Stellen mit Weizen bepflanzt gewesen und hatte eine reichliche Ernte getragen. Sie war schon eingeheimst, aber die gelben Stoppeln, die zurückgeblieben waren, bildeten einen Gegensatz zu dem Grün des unbebauten Weidelandes und zu den dürren, röthlichen Blättern der großen Eichen, welche ihre Aeste über die Ebene ausstreckten. Ein junger, wie ein Bauer gekleideter Mensch beschäftigte sich mit einem gut abgerichteten Hund, eine Brut Rebhühner zu fangen; ein Mädchen, welches eher wie die Dienerin in einer hohen Familie aussah, denn wie eine gewöhnliche Dörferin, saß auf dem Stamm eines von Alter umgestürzten Baumes und sah der Jagd zu. Der Hund, der die Hühner hätte in's Garn treiben sollen, wurde offenbar zerstreut durch die Annäherung des Reisenden; seine Aufmerksamkeit theilte sich, und er stand auf dem Punkt, die Rolle zu vergessen, welche er zu spielen hatte, und durch Bellen die Hühner zu vertreiben, als das Mädchen sich erhob, gegen Philipson vortrat und ihn höflich ersuchte, in größerer Entfernung zu bleiben, damit ihre Unterhaltung nicht gestört würde. Der Reisende willigte alsbald darein.

»Ich will, schöne Dirne, in so weiter Entfernung reiten,« sagte er, »als Ihr verlangt; aber lasset mich dagegen fragen, ob sich in der Nachbarschaft ein Kloster, oder ein Meierhof findet, wo ein Reisender, der müde ist und sich verspätet hat, für eine Nacht Herberge finden könnte?«

Das Mädchen, deren Gesicht er noch nicht deutlich wahrgenommen, schien einen Anfall zum Lachen zu unterdrücken, während sie auf die fernen Thürme zeigte und erwiderte, »meint Ihr, jenes Schloß habe keinen Winkel, in dem man einen Reisenden in dieser Noth unterbringen könnte?«

»An Platz fehlt es gewiß nicht,« sagte Arthur, »aber vielleicht an gutem Willen ihn einzuräumen.«

»Ich selbst,« versetzte das Mädchen, »bilde einen und zwar furchtbaren Theil der Besatzung, und mache mich für die Aufnahme verantwortlich, die Euch dort zu Theil werden wird. Da Ihr aber in so feindlichen Ausdrücken mit mir redet, so verlangen die Gebräuche des Krieges, daß ich das Visier herunterlasse.«

Bei diesen Worten bedeckte sie sich mit einer der Masken, welche die Frauen in dieser Zeit häufig trugen, wenn sie auf Reisen gingen, um die Haut zu schützen oder sich vor neugierigen Blicken zu verwahren. Ehe sie aber das Geschäft zu Ende bringen konnte, hatte Arthur die fröhlichen Züge Hannchen Veilchens entdeckt, eines Mädchens, die, obgleich ihr Geschäft blos in der Bedienung Anna's von Geierstein bestand, doch auf Geierstein hoher Achtung genoß. Sie war ein keckes Mädchen und an keinen Rangunterschied gewöhnt. Darauf wurde überhaupt von den einfachen Bewohnern der Schweizerberge wenig geachtet, und so war sie stets bereit, mit den jungen Leuten aus des Landammanns Familie zu lachen und zu scherzen. Das fiel Niemand auf, da die Bergsitten keinen Unterschied machten zwischen Herrin und Dienerin, wenn nicht den, daß die Gebieterin ein Mädchen war, welches Hülfe bedurfte, und die Dienerin ihr solche zu bieten und zu leisten vermochte. Eine solche Art von Vertraulichkeit wäre vielleicht in andern Ländern gefährlich gewesen; die Einfachheit der Schweizer Sitten und der eigenthümliche, entschlossene und verständige Charakter Hannchens bewirkte, daß alle Beziehungen, welche zwischen ihr und den jungen Leuten in der Familie bestanden, sich immer innerhalb der Grenzen der Ehrbarkeit und Unschuld erhielten, obschon das Mädchen im Vergleich mit dem in mehr verfeinerten Ländern üblichen Betragen keck und frei war.

Arthur selbst hatte Hannchen nicht wenig Aufmerksamkeit bewiesen; denn zufolge der Gefühle, welche er gegen Anna von Geierstein hegte, mußte ihm natürlich viel daran liegen, daß er sich die Gunst ihrer Dienerin verschaffte. Dieß war etwas, was ein hübscher, junger Mann mit seinen Aufmerksamkeiten leicht erringen konnte. Es kam aber noch dazu, daß er ihr freigebig kleine Geschenke von Kleidungsstücken oder Putzsachen machte, welche die Dirne nicht zurückzuweisen das Herz hatte, wie treu sie auch ihrer Herrin war.

Die Gewißheit, daß er in Anna's Nähe und wahrscheinlich auf dem Wege war, die Nacht unter demselben Dach mit ihr zuzubringen, welches beides die Anwesenheit und Sprache des Mädchens errathen ließ, bewirkte, daß das Blut Arthur rascher durch die Adern floß. Er hatte zwar, seitdem er den Fluß überschritten, manchmal Hoffnungen genährt, die wieder zu sehen, welche einen so mächtigen Eindruck auf ihn gemacht, aber eben so oft hatte ihm auch sein Verstand gesagt, wie wenig Wahrscheinlichkeit für ein Zusammentreffen vorhanden war. Auch in diesem Augenblick machte ihn der Gedanke erstarren, daß einem solchen nur der Schmerz einer plötzlichen und ewigen Trennung folgen müsse. Er gab sich indessen dem Reiz des Vergnügens hin, welches er sich versprach, ohne darüber nachzusinnen, welche Dauer und welche Folgen es haben würde. Da er, soweit Hannchen für gut fand, ihm Nachricht davon zu geben, zu erfahren wünschte, in welcher Lage sich Anna eben befand, so beschloß er, das lustige Mädchen nicht merken zu lassen, daß er sie erkannt, ehe es ihr selbst gefiel, jeden Anschein von Geheimniß von sich zu entfernen. Während ihm die Gedanken eilig durch den Kopf gingen, befahl Hannchen dem jungen Menschen, sein Netz fallen zu lassen, die zwei schönsten von den Rebhühnern herauszusuchen, sie in die Küche zu tragen, und den andern die Freiheit zu schenken.

»Ich muß,« sagte sie zu dem Reisenden, »für das Nachtessen sorgen, da ich unerwartete Gesellschaft heimbringe.«

Arthur sagte zu ihr, die Gastfreundschaft, die er auf dem Schlosse empfange, werde hoffentlich die Bewohner desselben nicht beunruhigen, und erhielt beruhigende Zusicherungen über den Gegenstand seiner Bedenklichkeiten.

»Ich möchte,« fuhr er fort, »Eurer Gebieterin nicht gerne eine Unbequemlichkeit verursachen.«

»Seht einmal,« sagte Hannchen, »ich habe nichts von einem Herrn oder einer Frau gesprochen, und schon stellt sich der arme, verirrte Reisende vor, er werde im Zimmer eines Fräuleins empfangen werden!«

»Wie!« entgegnete Arthur, etwas in Verwirrung gebracht durch seine unbedachte Anspielung, »habt Ihr mir nicht gesagt, Ihr habet den zweiten Rang in der Festung? Nun dachte ich, ein Mädchen könne nur unter einem weiblichen Oberhaupt Offizier sein.«

»Die Richtigkeit dieses Schlusses leuchtet mir nicht ein,« versetzte Hannchen. »Ich habe Frauenzimmer gekannt, die wichtige Obliegenheiten in großen Häusern verrichteten, ja selbst ihren Gebieter beherrschten.«

»Soll ich, schönes Fräulein, annehmen, daß Ihr eine so hohe Stelle in dem Schloß einnehmt, dem wir uns nähern, und darf ich Euch bitten, mir seinen Namen zu sagen?«

»Das Schloß heißt Arnheim,« antwortete das Mädchen.

»Eure Besatzung muß groß sein,« sagte Arthur mit einem Blick auf das ausgedehnte Gebäude, »wenn Ihr im Stande seid, ein solches Labyrinth von Mauern und Thürmen zu bemannen.«

»In diesem Punkt,« versetzte Hannchen, »sind wir schlecht versehen, wie ich selbst gestehen muß. Man könnte aber jetzt sagen, wir verstecken uns eher in dem Schlosse, als daß wir es bewohnen; aber es wird hinreichend vertheidigt durch Gerüchte, welche die Leute erschrecken, die unseren Zufluchtsort beunruhigen könnten.«

»Und doch wagt Ihr es, Euch darin aufzuhalten?« fragte der Engländer in der Erinnerung an die Geschichte, welche ihm Rudolph Donnerhügel in Bezug auf die Barone von Arnheim und das traurige Ende der Familie erzählt hatte.

»Wir sind,« versetzte die Führerin, »vielleicht zu vertraut mit der Ursache dieser Furcht, um stark von derselben berührt zu werden – wir besitzen vielleicht besondere Mittel, um dem entgegenzutreten, was Andere schreckt – vielleicht, und das ist nicht die unwahrscheinlichste Vermuthung, bleibt uns eben kein anderer Zufluchtsort übrig. Und das scheint für jetzt auch Euer Schicksal zu sein, Herr, denn die Sonne zieht ihre Strahlen allmälig von den Spitzen der fernen Berge weg, und wenn Ihr nicht, wohl oder übel, in Arnheim bleibet, so werdet Ihr wahrscheinlich manche Meile Wegs weit kein sicheres Quartier finden.«

Als sie dieß gesagt, entfernte sie sich von Arthur, und schlug mit dem sie begleitenden Vogelsteller einen sehr steilen, aber kurzen Fußsteig ein, der zum Schlosse in gerader Linie aufwärts führte. Zuvor aber deutete sie dem jungen Engländer an, er solle der Fahrstraße folgen, welche auf einem Umweg eben dahin leitete, und wenn gleich weniger gerade, doch bei weitem besser zu begehen war.

Bald stand er an der Südseite des Arnheimer Schlosses. Es war das ein viel größeres Gebäude, als er sich nach Rudolphs Beschreibung oder dem Anblick aus der Ferne vorgestellt. Man hatte es zu verschiedenen Zeiten aufgebaut, und ein bedeutender Theil davon war weniger von streng gothischer als von sogenannter maurischer Bauart, in welcher eine blühendere Einbildungskraft zu Tage tritt, als die, welcher man gewöhnlich im Norden folgt. Er war mit Minarets, Kuppeln und anderen Verzierungen geschmückt, wie man sie an morgenländischen Bauwerken sieht. Das sonderbare Schloß hatte im Allgemeinen ein einsames und trauriges Aussehen; aber Rudolph war schlecht berichtet worden, als man ihm gesagt, es liege in Trümmern; es war im Gegentheil sorgfältig unterhalten, und der Kaiser hatte, obgleich es keine Besatzung aufnehmen durfte, für Herstellung desselben gesorgt, als es in seine Hände gekommen. Die Gerüchte, welche darüber umliefen, hielten die Leute ab, im Umkreis der gefürchteten Mauern zu übernachten; aber das Schloß wurde regelmäßig von Zeit zu Zeit durch Jemand untersucht, der von der kaiserlichen Kanzlei hierzu beauftragt war. Die Nutznießung des Gebiets um das Schloß herum gab diesem Beamten eine treffliche Schadloshaltung für seine Bemühung, und jetzt, schien es, hatte die junge Baronesse Arnheim eine Zuflucht in den verlassenen Thürmen ihrer Ahnen gefunden.

Hannchen ließ dem jungen Reisenden keine Zeit, die Einzelheiten am Aeußeren des Schlosses zu besichtigen, oder eine Erklärung der Bilder und Aufschriften zu suchen, die in orientalischer Weise gearbeitet, und mit denen die Außenseite bedeckt war. Sie drückten auf verschiedene Arten und mehr oder weniger deutlich die Anhänglichkeit der Bauherren an die morgenländische Weisheit aus. Ehe er aber mehr als einen allgemeinen Ueberblick sich hatte verschaffen können, rief ihn die Stimme der Schweizerin an einen Winkel der Mauer, wo diese etwas vorsprang. Von diesem Vorsprung aus ging ein langes Brett über einen trockenen Graben, und es stand auch mit einem Fenster in Verbindung, in welchem sich Hannchen zeigte.

»Ihr habt schon vergessen, was Ihr in der Schweiz gelernt,« sagte sie, als sie wahrnahm, daß Arthur mit einiger Furcht daran ging, die unsichere Nothbrücke zu überschreiten.

Der Gedanke, daß Anna, ihre Gebieterin, dieselbe Bemerkung machen könnte, gab dem jungen Reisenden die nöthige Kaltblütigkeit zurück. Er ging über das Brett hin und mit derselben Ruhe, welche er bei der weit furchtbareren Brücke in der Nähe des zerfallenen Schlosses Geierstein an den Tag gelegt. Kaum war er in das Fenster hinein, als Hannchen ihre Maske abnahm und ihn willkommen hieß in Deutschland bei alten Freunden mit neuen Namen.

»Anna von Geierstein,« sagte sie, »ist nicht mehr; aber alsdann werdet Ihr die Baronesse von Arnheim sehen, die ihr außerordentlich ähnlich ist, und ich, die man in der Schweiz Anneli hieß, da ich noch die Dienerin einer Dirne war, die man kaum höher achtete, als mich selbst, ich bin jetzt die Kammerfrau der jungen Baronesse, und halte Jedermann, der von geringerem Stande ist, in geziemender Entfernung.«

»Wenn Ihr unter diesen Umständen,« sagte der junge Philipson, »den Einfluß besitzet, der Eurer Stellung gebührt, so erlaube ich mir die Bitte an Euch, der Baronesse, wie wir sie jetzt nennen müssen, zu sagen, daß ich mich bei ihr eindränge, weil ich nicht wußte, daß sie dieses Schloß bewohnte.«

»Still, still!« sagte das Mädchen lachend; »ich weiß besser, was ich zu Eurer Empfehlung sagen muß. Ihr seid nicht der erste arme Kaufmann, der sich die Gunst einer großen Dame erworben; aber ich rathe Euch, keine demüthige Vertheidigung loszulassen, und von unabsichtlichem Eindringen zu sprechen. Ich will ihr von einer Liebe sprechen, die der ganze Rhein nicht löschen könne, die Euch hierhergetrieben, und Euch nur die Wahl gelassen habe, entweder daher oder zu Grunde zu gehen.«

»Aber Hannchen, Hannchen!«

»Pfui doch! Seid Ihr nicht gescheid? Kürzt den Namen ab – ruft Anna, Anna! Und es ist mehr Aussicht vorhanden, daß Ihr Antwort bekommet.«

Bei diesen Worten rannte das unbesonnene Mädchen aus dem Zimmer, wie es von einer Tochter der Berge von ihrer Art zu erwarten stand. Sie freute sich, für Andere zu thun, was sie gerne für sich selbst gethan gesehen hätte, und suchte eifrig, zweien Liebenden eine Zusammenkunft zu verschaffen, die am Vorabend einer unvermeidlichen Trennung standen.

In dieser selbstzufriedenen Stimmung stieg Hannchen eine enge Wendeltreppe hinauf. Diese führte in ein Closet oder Putzgemach, in welchem ihre junge Gebieterin saß. Im Hereintreten rief sie: »Anna von Gei … ich wollte sagen, gnädige Baronesse, sie sind da, sie sind da!«

»Die Philipson?« fragte ihre Herrin fast athemlos.

»Ja, nein, d. h. ja! Denn der Beste von Beiden ist da, und das ist Arthur.«

»Was willst du damit sagen, Hannchen? Ist Signore Philipson, der Vater, nicht bei seinem Sohne?«

»Nein, wahrhaftig,« erwiderte Veilchen, »und ich habe nicht einmal daran gedacht, nach ihm zu fragen. Er war auch nicht mein noch sonst Jemands Freund; den alten Landammann ausgenommen. Die Zwei paßten gut zusammen; die zwei altklugen Leute mit ihren ewigen Sprichwörtern im Munde und dem Kummer auf der Stirne.«

»Unfreundliches, unbesonnenes Ding, was hast du gemacht?« sagte Anna von Geierstein. »Hatte ich dir nicht den Auftrag gegeben, sie Beide hierher zu bringen? Und jetzt kommst du mit einem jungen Menschen allein an einen Ort, wo wir fast in völliger Einsamkeit sind. Was wird er von mir denken, was kann er von mir denken?«

»Und was konnte ich denn machen?« fragte Hannchen, die fest auf ihrer Meinung beharrte. »Er war allein; sollte ich ihn in das Dorf schicken, und ihn von den Landsknechten des Rheingrafen umbringen lassen? Jedermann weiß, daß sie Alles für einen Fisch halten, was in ihre Netze geräth. Und wie sollte er durch ein Land gleich diesem kommen, das von herumziehenden Soldaten und Raubrittern wimmelt (ich bitte das gnädige Fräulein um Verzeihung), und von landstreicherischen Italienern, die der Fahne des Herzogs von Burgund nachlaufen. – Nichts zu sagen von dem, was mehr als alles Andere und größeren Schrecken einflößt, und unter dieser oder jener Gestalt Jedem beständig vor Augen und Gedanken steht.«

»Still, still, Hannchen! Füge nicht vollständigen Wahnsinn zu dieser ungeheuren Thorheit; wir wollen lieber an das denken, was wir zu thun haben. Um unsert- und um seinetwillen muß der unglückliche junge Mann im Augenblick das Schloß verlassen.«

»In diesem Fall müßt Ihr ihm Eure Botschaft selbst überbringen, Anna von Geierstein, verzeiht, edle Baronesse; – es mag sehr passend sein, für eine Dame von hohem Rang, solche Befehle abzuschicken, und ich habe in den Liedern der Minnesänger ähnliche Beispiele kennen gelernt, aber gewiß weiß ich, weder ich noch ein anderes offenherziges Schweizermädchen würde ihn ausrichten. Keine Thorheit mehr: erinnert Euch, daß Ihr zwar eine geborene Baronesse von Arnheim, aber mitten in den Schweizerbergen aufgewachsen seid, und Euch darum wie eine Dirne mit guten und ehrlichen Absichten betragen müsset.«

»Und worin findet mich deine Weisheit der Dummheit schuldig, Jungfer Hannchen?« versetzte die Baronesse.

»In was? Seht, wie Euer edles Blut sich in Euren Adern bewegt! Erinnert Euch, edle Baronesse, daß ich unsere schönen Berge verlassen und der freien Luft, die man dort einathmet, entsagt habe, um mich in dieses Land der Gefängnisse und Sklaven einsperren zu lassen, daß aber dabei ausgemacht worden ist, ich dürfe meine Meinung gegen Euch eben so frei aussprechen, als ich es zur Zeit that, da unsere Köpfe auf demselben Kissen ruhten.«

»So sprich denn,« sagte Anna, und wandte, während sie sich bereit machte, zuzuhören, sorgfältig das Gesicht auf die Seite; »aber gib Acht, daß du nichts sagst, was ich nicht anhören darf.«

»Ich werde reden, wie es natürlich und verständig ist; und wenn Eure edlen Ohren sich nicht dazu eignen, das anzuhören, so liegt der Fehler an ihnen und nicht an meiner Zunge. Seht Ihr, Ihr habt diesen Jüngling aus zwei großen Gefahren errettet, einmal bei einem Erdsturz auf Geierstein, und das andere Mal erst heute, da sein Leben bedroht war. Er ist ein schöner, junger Mann, er spricht gut, kurz er hat Alles, was ihm die Gunst einer Dame erwerben kann. Ehe Ihr ihn gesehen, waren Euch die Schweizer-Jünglinge wenigstens nicht verhaßt. Ihr tanztet mit ihnen, Ihr spieltet mit ihnen, – Ihr waret der Gegenstand der allgemeinen Bewunderung, – und wie Ihr wohl wißt, Ihr hättet im ganzen Kanton wählen können. Ja, ich glaube, es wäre mit ein wenig Drängen möglich gewesen, Euch zu dem Gedanken an eine Heirath mit Rudolph Donnerhügel zu bewegen.«

»Nie, Mädchen, niemals!« rief Anna.

»Sprecht nicht so bestimmt, mein Fräulein. Hätte er sich zuerst dem Oheim empfohlen, so hätte er, nach meiner einfältigen Ansicht, in einem glücklichen Augenblicke die Nichte heimgeführt. Aber seit wir diesen jungen Engländer kennen gelernt, hat nicht viel gefehlt, daß Ihr alle jungen Leute übersehen, verachtet, ich möchte beinahe sagen, gehaßt hättet. Und doch konntet Ihr sie vorher recht wohl leiden.«

»Nun ja!« versetzte Anna, »ich werde dich noch mehr als einen von ihnen hassen und verabscheuen, wenn du dein Gespräch nicht zu Ende bringst.«

»Sachte, edles Fräulein; wer langsam geht, kommt auch weit. Alles das beweist, daß Ihr den jungen Mann liebt, und ich überlasse es denen, welche etwas Wunderbares daran finden, zu sagen, daß Ihr unrecht habt. Man kann Vieles sagen, um Euch zu rechtfertigen, und nicht ein Wort, das ich wüßte, um Euch zu tadeln.«

»Du bist toll, Hannchen; denk' an meine Geburt und meine Verhältnisse; sie verbieten mir, einen Mann ohne Geburt und Vermögen zu lieben; ich würde meinem Vater ungehorsam sein, wenn ich einem Manne meine Liebe schenkte, der ohne seine Zustimmung um mich freit. Ueberdieß verbietet mir mein Stolz, als Mädchen meine Neigung auf einen Mann zu werfen, der nicht an mich denkt, ja vielleicht durch den Anschein gegen mich eingenommen ist.«

»Das ist eine hübsche Predigt!« sagte Hannchen; »aber ich kann auf jeden Punkt derselben eben so gut Antwort geben, als der Pater Franz in seinen Festtags-Predigten dem Texte folgt. Eure Geburt ist ein abgeschmackter Traum, und Ihr habt sie erst in den zwei oder drei letzten Tagen schätzen gelernt. Da seid Ihr nach Deutschland gekommen, und da hat ein altes deutsches Unkraut, das man gewöhnlich Familienstolz nennt, in Eurem Herzen zu keimen angefangen. Denkt von solcher Narrheit, wie Ihr gedacht, da Ihr auf Geierstein wohntet, d. h. in dem ganzen, vernünftigen Theil Eures Lebens, und dieses große, furchtbare Vorurtheil wird in Nichts zerfallen. Folgen nun die Verhältnisse, mit denen Ihr, so viel ich verstehe, Vermögen bezeichnet. Aber Philipsons Vater ist der freigebigste Mann von der Welt, und wird seinem Sohn gewiß so viel Zechinen geben, daß er einen Bauernhof in den Bergen gehörig ausstatten kann. Da habt Ihr das Brennholz für die Mühe es abzubauen, und der Boden kostet Euch nichts als die Bebauung, denn Ihr habt gewiß Ansprüche auf einen Theil des Gebiets von Geierstein, und Euer Oheim wird Euch mit Freuden in den Besitz desselben einsetzen. Ihr seid im Stande, die Milcherei zu verwalten, Arthur kann schießen, jagen, fischen, pflügen, hacken und ernten.«

Anna von Geierstein schüttelte den Kopf, als hegte sie starke Zweifel zu ihres Liebhabers Geschicklichkeit in den letzten der aufgezählten Vollkommenheiten.

»Nun, so kann er es lernen,« sagte Hannchen; »und Ihr werdet blos das erste Jahr oder so etwas schlimmer daran sein. Ueberdieß wird ihm Siegmund Biedermann gern helfen, und er ist ein wahres Pferd an der Arbeit; und ich kenne noch einen, der ein Freund – –«

»Von dir selber ist, wollt' ich wetten,« meinte die junge Baronesse.

»Allerdings, es ist mein armer Freund, Martin Sprenger; und ich werde nie ein so falsches Herz haben, um meinen Schatz zu verläugnen.«

»Gut, gut, aber worauf soll das Alles am Ende hinauslaufen?« fragte die Baronesse ungeduldig.

»Nach meiner Meinung, auf etwas ganz Einfaches,« versetzte Hannchen. »Es gibt Priester und Gebetbücher im Umkreis einer Meile – geht hinunter zu Eurem Liebhaber und sprecht ihm Eure Gedanken aus, und höret die seinigen an; vereinigt die Hände, geht ruhig als Mann und Frau nach Geierstein zurück, und haltet Alles bereit, um Euren Oheim bei seiner Rückkehr ordentlich zu empfangen. Auf diese Art würde eine schlichte Schweizerdirne den Roman einer deutschen Baronesse zu Ende führen – –«

»Und ihrem Vater das Herz brechen,« sagte das Fräulein mit einem Seufzer.

»Er ist zäher, als ihr wißt,« entgegnete Hannchen; »nachdem er so lange fern von Euch gelebt, wird es ihm bei weitem leichter werden, Eurer für den Rest seines Lebens zu entbehren, als Ihr, trotz Eurer neugebackenen Begriffe von Rang und Verhältnissen, seine auf Ehre und Reichthümer abzielenden Pläne werdet ertragen können. Er wird Euch zum Weibe eines erlauchten Grafen zu machen suchen, wie Hagenbach, dessen erbauliches Ende wir erst vor Kurzem mit angesehen haben, daß alle Raubritter an den Ufern des Rheins hätten ein Beispiel daran nehmen können.«

»Dein Plan taugt nichts, Mädchen; das ist der kindische Traum eines Mädchens, das vom Leben nie mehr kennen gelernt, als was man ihr auf einem Melkstuhl vorerzählt hat. Bedenk', daß mein Oheim die strengsten Ansichten über den Gehorsam der Kinder hegt, und daß ich mir seine Meinung vernichtete, wenn ich meines Vaters Willen zuwiderhandelte. Warum bin ich sonst hier? Warum hat er seiner Vormundschaft entsagt? Und warum bin ich gezwungen, die Gewohnheiten aufzugeben, die ich liebe, und die Sitten und Bräuche eines Volkes anzunehmen, die mir fremd und darum unangenehm sind?«

»Euer Oheim,« antwortete Hannchen mit Festigkeit, »ist Landammann im Kanton Unterwalden; er achtet die Freiheit desselben, und ist der geschworene Beschützer seiner Gesetze. Wenn Ihr, eine angenommene Tochter der Eidgenossenschaft, den Schutz derselben anrufet, so kann er ihn Euch nicht verweigern.«

»Selbst in diesem Fall,« erwiderte das Fräulein, »würde ich seine mehr als väterliche Zuneigung und seine gute Meinung verlieren. Aber es ist unnöthig, daß wir uns dabei aufhalten. Wisse, selbst wenn ich den jungen Mann hätte lieben können, und ich will nicht läugnen, daß er so liebenswürdig ist, als ihn deine Parteilichkeit malt, – wisse,« – sie zauderte einen Augenblick, – »er hat mir nie ein Wort über den Gegenstand gesagt, den du beharrlich meiner Ueberlegung aufdrängen willst, ohne weder seine noch meine Gedanken zu kennen.«

»Ist es möglich?« erwiderte Hannchen. »Ich dachte, – ich glaubte – obgleich ich nie in Euch drang, mir Euer Vertrauen zu schenken – da Ihr so an einander hinget – Ihr müßtet mit einander schon früher gesprochen haben, wie ein aufrichtiges Mädchen und ein aufrichtiger Bursche. Ich habe Unrecht gethan, während ich Alles auf's Beste zu machen meinte. – Ist's möglich! – man hat auch in unserem Kanton von solchen Sachen gehört – ist es möglich, kann er so unsäglich niederträchtige Absichten gehegt haben, wie Martin von Breisach, welcher Adelen von Sundgau den Hof machte und sie verführte – die Geschichte, obschon sie fast unglaublich, ist wahr – aus dem Lande floh und sich seiner Schlechtigkeit rühmte, bis des Mädchens Vetter, Raimund, ihn dadurch für immer zum Schweigen brachte, daß er ihm mit einem Knüttel den Schädel in der Straße der Stadt einschlug, wo der Elende geboren war? Bei der heiligen Mutter von Einsiedeln! könnte ich vermuthen, daß der Engländer auf solchen Verrath sinnt, so würde ich das Brett über den Graben durchsägen, daß das Gewicht einer Fliege zureichte, es zu zerbrechen. Sechs Klafter tief sollte er die Treulosigkeit büßen, wenn er sich unterstände, die Ehre einer angenommenen Tochter der Schweiz beschimpfen zu wollen!«

Während Anneli Veilchen sprach, blitzte alles Feuer einer muthigen Bergbewohnerin in ihren Augen, und sie hörte mit Widerstreben zu, als Anna von Geierstein sich bemühte, den ungünstigen Eindruck zu verwischen, welchen ihre früheren Aeußerungen auf ihre einfache, aber getreue Dienerin hervorgebracht.

»Bei meinem Wort,« sagte sie, »bei meiner Seele – du thust Arthur Philipson Unrecht – schreiendes Unrecht, wenn du einen solchen Verdacht andeutest; sein Betragen gegen mich ist immer aufrichtig und ehrenhaft gewesen – ein Freund gegen einen Freund – ein Bruder gegen eine Schwester – hätte in Allem, was er gethan und gesagt hat, nicht mehr Achtung, mehr besorgte Zärtlichkeit, mehr und gleichmäßigere Biederkeit an den Tag legen können. Bei unseren häufigen Gesprächen und in unserem Verkehr schien er freilich sehr freundlich – sehr anhänglich. – Aber wäre ich geneigt gewesen – und zu Zeiten mag ich es nur zu sehr gewesen sein – ihn mit Nachsicht anzuhören,« – hier stützte das junge Fräulein ihre Stirne auf die Hand, und Thränen strömten durch die zierlichen Finger, – »er hat nie von Liebe gesprochen; wenn er solche nährt, so hat ihn ein unüberwindliches Hinderniß seinerseits abgehalten, mir ein Geständniß davon zu machen.«

»Hinderniß?« entgegnete die Schweizerdirne. »Wahrscheinlich – eine knabenhafte Blödigkeit – eine thörichte Vorstellung davon, daß Eure Geburt so hoch über seiner eigenen stehe – ein zu weit getriebener Traum von Bescheidenheit, der das Eis eines Frühlingsfrostes für undurchdringlich ansieht. Ein paar ermuthigende Worte werden hinreichen, um diese Täuschung zu zerstreuen, und ich will dafür sorgen, meine theuerste Anna, daß Euch das Erröthen erspart wird.«

»Nein, nein, um's Himmels willen, nein, Veilchen!« antwortete die Baronesse, für welche Hannchen so lange mehr eine Gesellschafterin und Vertraute, denn eine Dienerin gewesen war. »Du kannst nicht errathen, was es für Hindernisse sind, die ihn abhalten, sich so auszusprechen, wie du es gerne herbeiführen möchtest. Höre mich: – meine frühere Erziehung und die Unterweisung meines guten Oheims haben mich etwas mehr von Fremden und ihren Bräuchen kennen gelehrt, als ich in unserer glücklichen Abgeschiedenheit auf Geierstein davon erfahren haben würde; ich bin fast überzeugt, daß diese Philipson von Stande sind, wie sie in Sitten und Benehmen weit über der Beschäftigung stehen, welche sie zu betreiben scheinen. Der Vater ist ein Mann von tiefer Beobachtungsgabe, von hohen Gesinnungen und Ansprüchen, und verschwenderisch mit Geschenken, weit mehr als sich mit der äußersten Freigebigkeit eines Krämers verträgt.«

»Das ist wahr,« sagte Hannchen, »und ich kann selber sagen, daß die silberne Kette, die er mir gegeben, gegen zehn Silberkronen wiegt; das Kreuz, welches Arthur hinzugefügt, den Tag nach dem langen Spaziergang, den wir mit einander gegen den Pilatusberg hinauf gemacht, ist, wie sie sagen, noch viel mehr werth. Seinesgleichen ist nicht in den Kantonen. Was folgt nun daraus? Sie sind reich, Ihr seid es auch; und das ist um so besser.«

»Ach, Hannchen, sie sind nicht blos reich, sondern adelig. Ich bin davon überzeugt, denn ich habe oft bemerkt, daß sich der Vater mit einer Miene voll ruhiger und stolzer Verachtung Gesprächen mit Donnerhügel und Anderen entzog, die in ihrer derben Weise mit ihm zu streiten wünschten. Und wenn eine rohe Bemerkung oder ein plumper Scherz gegen den Sohn gerichtet wurde, so funkelte sein Auge, seine Wange röthete sich, und nur ein Blick seines Vaters hielt die Erwiderung zurück, die ihm auf der Zunge saß.«

»Ihr habt sehr genau auf sie Acht gegeben,« sagte Hannchen. All' das mag wahr sein, aber ich habe es nicht bemerkt. Ich wiederhole jedoch, was liegt daran? Wenn Arthur einen hübschen Namen führt und in seinem Vaterlande adelig ist, seid Ihr nicht die Baronesse von Arnheim? Und ich will frei gestehen, ein solcher Titel ist Etwas werth, wenn er den Weg zu einer Heirath ebnet, die, wie ich glaube, Euer Glück machen würde – ich hoffe das, sonst würde ich nicht dazu helfen.«

»Ich glaube dir, mein getreues Veilchen; aber ach! wie kannst du in dem Zustande natürlicher Freiheit, in welchem du aufgewachsen bist, den Zwang kennen, oder dir nur im Traum vorstellen, welchen diese vergoldete oder goldene Kette des Rangs und Adels Denen auferlegt, die sie, wie ich fürchte, eben so sehr fesselt und belastet, als schmückt? In jedem Lande verpflichten die Auszeichnungen des Ranges die Menschen zu gewissen Pflichten; sie können Beschränkungen mit sich führen, die eine Verbindung in fremden Ländern verhindern – sie mögen die Leute oft abhalten, ihre Neigungen zu Rathe zu ziehen, wenn sie sich in ihrem eigenen Lande verheirathen. Sie führen zu Bündnissen, bei denen das Herz nicht zur Sprache kommt, zu Eheverträgen, welche eingeleitet und abgeschlossen werden, während die Parteien noch in der Wiege liegen oder am Gängelband geführt werden – Treue und Glauben verpflichten aber darum nicht weniger zur Haltung derselben. Etwas Derartiges kann in dem gegenwärtigen Fall stattfinden. Bei solchen Bündnissen kommt oft die Staatsklugheit in's Spiel; und wenn der Vortheil von England, oder was er dafür hält, den älteren Philipson veranlaßt haben sollte, solch' eine Verpflichtung einzugehen, so würde Arthur lieber vor Gram sterben, lieber jedem Andern den Hals brechen, als das Wort nicht lösen, welches sein Vater gegeben.«

»Da müssen sich die, welche sich in so Etwas einlassen, nur desto mehr schämen!« sagte Hannchen. »Sie sagen, England sei ein freies Land; wenn sie aber die jungen Leute beider Geschlechter des natürlichen Rechts berauben, über ihre Hände und Herzen selbst zu verfügen, so wollte ich lieber eine deutsche Leibeigene sein. – Nun, Fräulein, Ihr seid klug und ich bin unwissend. Aber was ist zu machen? Ich habe den jungen Mann, Gott weiß, in der Erwartung hierher gebracht, Eure Zusammenkunft werde einen glücklicheren Ausgang nehmen. Aber es ist klar, Ihr könnt ihn nicht heirathen, ohne daß er um Euch anhält. Wenn ich glaubte, er wolle die Hand des schönsten Mädchens in den Kantonen aufopfern, entweder weil es ihm an Muth fehlt, sie zu fordern, oder aus Rücksicht auf eine lächerliche Verbindlichkeit, die sein Vater gegen einen andern Adeligen auf ihrer Insel voll Edelleuten eingegangen, so gestehe ich, daß ich ihm, im einen wie im andern Fall, ein Untertauchen in dem Graben wohl gönnen würde; aber es handelt sich von einer anderen Frage, nämlich, ob wir ihn fortschicken, daß ihn die Gurgelabschneider des Rheingrafen umbringen; und wenn wir es nicht so machen, so weiß ich nicht, wie wir ihn loskriegen sollen.«

»So laß ihn durch Wilhelm bedienen, und sorge dafür, daß es ihm an nichts fehlt. Es ist am besten, wenn wir gar nicht zusammentreffen.«

»Das will ich,« sagte Hannchen, »aber was soll ich ihm von Euch sagen? Unglücklicherweise habe ich ihm mitgetheilt, daß Ihr hier seid.«

»Du unbesonnenes Mädchen! Aber wie sollte ich dich tadeln,« erwiderte Anna von Geierstein; »da die Unklugheit meinerseits eben so groß gewesen ist. Ich habe mich selbst in diese Verlegenheit gebracht, weil ich meine Einbildungskraft zu lange auf diesem jungen Mann und seinen Vorzügen weilen ließ. Aber ich will dir beweisen, daß ich diese Thorheit zu überwältigen vermag; und ich werde in meinem eigenen Fehler keine Ursache suchen, um mich den Pflichten der Gastfreundschaft zu entziehen. Geh', Veilchen, und halte einige Erfrischungen bereit, du wirst mit uns zu Nacht essen, und darfst uns nicht verlassen. Da sollst du denn sehen, daß ich mich eben so wohl wie ein deutsches Fräulein, als wie ein Schweizermädchen zu betragen weiß. Hole mir jedoch zuerst ein Licht, mein Mädchen, denn ich muß meine Augen waschen, die sonst gegen mich zeugen könnten, und meinen Anzug in Ordnung bringen.«

Die ganze Erklärung hatte Hannchen sehr in Verwunderung gesetzt; denn nach den einfachen Begriffen von Liebe und Liebeswerbung, in welchen sie unter den Schweizerbergen aufgewachsen war, hatte sie erwartet, die zwei Liebenden würden, sobald sich die einmal entfernt hätten, denen die Leitung ihres Betragens oblag, alsbald die Gelegenheit benützen und sich für immer verbinden; sie hatte sogar einen zweiten Plan dazu entworfen, nach welchem sie selbst und Martin Sprenger, ihr getreuer Schatz, mit dem jungen Paar als Freunde und Diener zusammenwohnen sollten. Das eifrige Hannchen war zum Schweigen gebracht, aber nicht überzeugt worden durch die Einwürfe ihrer Gebieterin; sie entfernte sich jetzt und murmelte vor sich hin: – »Die paar Worte über ihren Anzug sind die einzigen natürlichen und verständigen, die sie mich hat hören lassen. Will's Gott, so komme ich in einem Augenblick wieder, um ihr zu helfen. Meine Gebieterin anzuziehen, das ist die einzige Beschäftigung einer Kammerfrau, die mir zusagt. Es ist so natürlich für ein hübsches Mädchen, eine Andere zu schmücken! Meiner Treu, man lernt dabei nur sich selber für eine andere Gelegenheit putzen.«

Und mit dieser weisen Bemerkung trippelte Anneli Veilchen die Treppe hinunter.



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