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20. Kapitel

Es verhielt sich so, wie Vefa sagte. Der Tod, der Stasis fieberheiße Stirn schon zu berühren schien, hatte sich von ihr abgewendet; zögernd und widerwillig entfernte er sich, doch der Geist der Armen blieb verdunkelt. Doktor Ostler vertröstete darauf, daß sich mit der Kräftigung ihrer leiblichen Gesundheit auch ihr Verstand allmählich wieder aufhellen würde. Diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Langsam gewann die schwache Lebensflamme bei der sorgsamen Pflege, die ihr von Lisei und David zuteil wurde, an Nahrung und Stetigkeit; in dem geistigen Zustand trat jedoch keine Änderung ein. Die Vergangenheit schien aus Stasis Gedächtnis getilgt zu sein, und der Name ihres Mannes kam nie über ihre Lippen. Meistens lag sie still da oder redete flüsternd mit sich selbst. Nur einmal fragte sie nach ihrem Kinde, und als David, der ihr nicht die Wahrheit zu gestehen wagte, sie durch die Versicherung zu beschwichtigen versuchte, daß es schlafe, lächelte sie und schien zufrieden.

Ihr bejammernswerter Zustand entschied über Liseis Vorsatz, Wolf zu entsagen. Das Unrecht, das von allen Seiten begangen worden war, mußte gutgemacht werden, und Lisei hoffte es zu können, wenn sie Jergs Frau würde. Der Entschluß kostete sie freilich noch manchen schweren Kampf; aber das Beispiel ihres Bruders Hannes ermutigte sie. Sein Opfer erschien ihr als das größere, denn er hatte seine Liebe Gott geopfert; ihre Entsagung würde der Frieden und die Versöhnung der Ihren belohnen. Sie bat Hannes, ihren Entschluß und dessen Beweggründe Wolf mitzuteilen, damit er sie ihres Wortes entbände.

Und dann traf eines Tages dessen Antwort ein. Wolf, der sich noch immer in Innsbruck befand, wo ihm die fortwährenden Kriegsrüstungen reichlichen Verdienst brachten, entsprach dem Wunsche Liseis. Ihrem Wunsche! Wer vermochte zu sagen, ob sich in den gespannten Empfindungen, mit denen sie Wolfs Antwort erharrt, nicht dennoch die Hoffnung geregt hatte, daß er sie nicht freigeben würde? David mußte ihr das Schreiben, das an sie selbst gerichtet war, vorlesen. Mit kreidebleichem Gesicht hörte sie zu. Sie konnte nicht weinen; aller Schmerz hatte sich nach innen gekehrt, und erst daheim auf ihrer Kammer löste sich der Krampf ihres Herzens in Tränen …

Der erste Ausgang des genesenen Jerg galt dem Klosterhof. Die Kornernte hatte begonnen, und überall auf den Feldern fiel das Goldgelock unter den Sicheln. Der Anblick der fleißigen Menschen freute Jerg ebensowenig wie der schöne, sonnige Tag. Die Verletzung hatte auf seiner Stirn eine häßliche Narbe zurückgelassen, und so frei von Eitelkeit war er nicht, daß er Ambros deshalb nicht gegrollt hätte, als er beim Ankleiden sein Gesicht wieder im Rasierspiegel erblickte. Um die Narbe zu verdecken, hatte er den Hut tief über die Stirn gezogen.

Auf dem Klosterhof fand er keine menschliche Seele; alle waren auf den Feldern. So suchte er Lisei denn dort auf. Es war um die Vesperzeit, und die Schnitter und Binderinnen saßen im Schatten einer Hecke, in dem ein Fäßchen mit gemischtem Wein aufgestellt war.

Toni, die Großmagd, bemerkte Jerg zuerst und rief verwundert: »Ja, was will der denn hier?«

Da wandten sich ihm alle Köpfe entgegen, und eine Dirne meinte, er sehe aus wie das Leiden Christi.

»Freilich, wann der Ambros einem zur Ader laßt, dann besorgt er's gründlich«, bemerkte der Großknecht und biß gemächlich in sein Brot. »Der kann jetzt geisten gehn«, rief eine muntere Gitsche, und eine andere fügte hinzu: »Wann er zum Brenteln brenteln – Abendbesuche abstatten geht, braucht ihm das Dirndl nit aufzutun. Da fahrt er durchs Schlüsselloch.«

In das Gelächter, das darüber entstand, sang ein Mäher:

»Ich bin ja noch z' jung
Und zum Gangsteigen z' schwach –
Bitt dich recht schön, mein Vater,
Trag mir's Leiterle nach!«

Unterdessen war Lisei von der Erde aufgestanden und Jerg einige Schritte entgegengegangen. Nicht ohne Beklommenheit reichte sie ihm die Hand und fragte: »Was schaffst du?«

»Es hat mich halt nit länger daheim geduldet«, versetzte er, seinen Ärger über das Gespött der Knechte und Mägde unterdrückend. »Ich mußt doch von dir selber hörn, daß die Vefa nit geflunkert hat. Aber laß uns ein wenig beiseit gehn.«

Lisei zögerte einen Augenblick; dann ging sie entschlossen voraus. Als sie außer Hörweite der Arbeiter war, blieb sie stehen. Jerg nahm den Hut ab, um sich den Schweiß von der Stirn zu trocknen. Wie ein dicker, blutroter Blitz zackte die erhitzte Narbe unter dem Haar hervor gegen das rechte Auge, und Lisei erschrak.

Jerg bemerkte es und sagte mit einem bitteren Lachen: »Gelt, der Ambros hat mich gut gezeichnet! Jetzt ist's leicht, mir einen Steckbrief zu schreiben. Aber das kommt davon, daß ich nit von dir hab

lassen können.«

Sie wußte, daß nicht sie, sondern der Klosterhof es war, von dem er nicht hatte lassen mögen; aber sie schwieg darüber und erwiderte: »Ich will gutzumachen versuchen, was mein Bruder an dir verbrochen hat. Drum hab ich eingewilligt, deine Frau zu werden, wann du meine Bedingungen annimmst.«

»Ein Handel ist's also?« scherzte er. »O weh, da werd ich nit reich genug sein, um dich zu kaufen! Wer wär's auch, wann du dich nach deinem Wert schätzt?«

»Laß das Scherzen!« versetzte Lisei ernst und fuhr mit höher geröteten Wangen fort: »Ich hab den Lechner gebeten, daß er mir mein Wort zurückgibt. Wie mein Herz zu ihm steht, weißt du. Wann du von mir nit mehr verlangst, als daß ich meine Pflichten gegen dich erfüll, nachher will ich deine Frau werden. Ich will's dir geloben vor mir selber wie vor Gott, daß ich mit keinem sündigen Gedanken an den Lechner denken und in Treu zu dir halten will als deine Frau in allen Stücken. Nimmst du das an?«

Warum sollte er es nicht annehmen? Es war ihm ja gleichgültig, ob Lisei ihn liebte oder nicht – wenn nur seine Habsucht befriedigt wurde! Er habe manchen Feind, äußerte er, aber Lisei solle denen, die ihn anschwärzten, nicht glauben. Er tröste sich damit, daß sie ihn in der Ehe schon noch besser kennen und auch lieben lernen werde.

Lisei schüttelte ein wenig den Kopf; sie erwiderte jedoch nichts, sondern wiederholte nur ihre Frage.

»Potztausend, das ist abgemacht!« rief er.

Sie atmete tief auf, pflückte ein paar Blätter von der Hecke, neben der sie standen, und fuhr dann fort: »Aber du mußt mir auch geloben, daß du dem Ambros alles von Herzen vergeben und ihm nix nach

tragen willst.«

»Meiner Treu, das will ich dir gern geloben«, antwortete er sofort »Du weißt ja, daß ich ein so gutes Herz hab, und hier ist meine Hand drauf.« Es war eine kalte, feuchte Hand, die er Lisei reichte.

»Und du versprichst mir auch«, fuhr sie, seine Hand festhaltend, fort, wobei sie ihre grauen, klaren Augen fest auf ihm ruhen ließ, »daß du mir nach besten Kräften helfen willst, daß der Vater dem Ambros verzeiht.«

Wenn sie die Sonne von ihm verlangt hätte – er hätte sie ihr versprochen. Aber er antwortete nicht sogleich; denn ihre Forderung erweckte sein Mißtrauen. Willigte Lisei etwa nur in die Heirat, um Ambros den Klosterhof zuzuwenden, nachdem es ihr gelungen wäre, den Vater mit ihm auszusöhnen? Nun, mit seinem Wissen und Willen sollte die Aussöhnung gewiß nicht zustande kommen, und mit erheuchelter Bewunderung rief er: »Bist du eine Schwester! Das hat mich ganz stumm gemacht Aber ich glaub nit, daß sich dein Vater durch mich wird erweichen lassen. Dennoch will ich um deinetwillen alles tun, was ich kann.«

»Ho, Lisei, was stehst da und schwätzt? Solln die andern für dich arbeiten?« erscholl da die Stimme des Klosterbauern, der mit einer Sichel in der Hand über das Feld geschritten kam.

Die anderen hatten inzwischen die Arbeit wieder begonnen. Die Vesperzeit war vorüber.

Jerg hielt Lisei, die sich entfernen wollte, zurück und sagte zu dem herankommenden Klosterbauern: »Die Lisei hat eingewilligt, meine Frau zu werden.«

Der Klosterbauer sah seine Tochter von der Seite an und brummte: »Drum braucht sie die Arbeit nit zu versäumen!«

Lisei ging ruhig davon, aber ihr Herz war tieftraurig.

»Du bist also wieder auf den Beinen?« sagte der Klosterbauer darauf zu Jerg und betrachtete ihn von Kopf bis Fuß.

»Mußt Euch wohl durch den Augenschein davon überzeugen, da Ihr mir während meiner ganzen Krankheit nit nachgefragt habt«, versetzte Jerg etwas spitz.

Der Klosterbauer verzog hochmütig den Mund. Wie hätte er seinen Fuß in die Mühle setzen sollen, da der alte Arigaya sich geweigert, für Jerg um Lisei zu werben? Wenn Jerg das nicht von selbst begriff, so dünkte es ihn auch überflüssig, es ihm zu erklären.Da er schwieg, nahm Jerg wieder das Wort. »Euer Herzenssohn hat mich nit ganz totgeschlagen, und da die Lisei sich jetzt als eine gehorsame Tochter ausweist, so möcht ich Euch fragen, Klosterbauer, wie wir zwei beid zueinander stehn? Vorreden machen keine Nachreden.«

»Dein Kopf muß wohl noch etwas schwach sein«, erwiderte der Klosterbauer. »Ich sollt meinen, daß wir längst alles abgesprochen haben. Du ziehst zu mir auf den Hof, und nach meinem Tod wirtschaftest du darauf.«

»Ja, so war's abgemacht«, nickte Jerg. »Aber man kann doch nit wissen, ob der Has nit einen Haken schlägt. Ihr seid gewiß ebenso wie ich von Herzen froh, daß die Lisei ein Einsehn gehabt hat, und da könnt's ja leicht geschehn, daß Ihr in Eurer Herzensfreud, wann Euch die Lisei drum bittet, den Ambros wieder zu Gnaden aufnehmt und ihm ein Kalb schlachtet. Was kümmert Euch dann der Jerg und die Lisei? Die schickt Ihr' bachab. Im Grund ist der Ambros ja auch immer ein guter Sohn gegen Euch gewesen, und auch sein Bruder hat Euch immer zu Lieb gelebt«

»Bist toll geworden?« schrie der Klosterbauer zornig. »Kennst du den Klosterbauer so wenig, daß du ihm so was zu bieten wagst?«

»Ich biet dem Klosterbauer gar nix als meine Hand«, entgegnete Jerg und hielt ihm seine Hand hin. »Schlagt ein! Es bleibt also bei unsrer Abmachung. Und wann soll die Hochzeit sein?«

Der Klosterbauer schlug mit noch immer zornigen Blicken ein. Dann murrte er: »Das ist doch keine Art nit, daß man davon auf freiem Feld red't. Mach nur, daß du erst wieder zu Kräften kommst. Der Wind bläst dich ja um. Das wär mir was, wann dich die Lisei auf dem Kirchgang an der Joppen festhalten müßt, damit du nit fortgeweht wirst.« Er lachte rauh.

Jerg erwiderte: »Ja, ja, macht Euch nur lustig auf meine Kosten, das tut wohl. Ich hab auch recht lachen müssen, wie ich mich zuerst wieder im Spiegel beschaut hab. Das kommt davon, hab ich zu mir gesagt, wann einer sich beikommen läßt, dem Klosterbauer sein Söhner Söhner – Schwiegersohn zu werden. Der Klosterbauer hat zwar einen starken Willen, aber dem Ambros seine Faust ist noch stärker. Na, behüt Euch Gott, Schwiegervater!« Er nickte dem Klosterbauern spöttisch-vertraulich zu und entfernte sich.

Dieser sah ihm mit unbehaglichem Gefühl eine Weile nach und ging dann auch wieder an die Arbeit. Mit mehr Energie, als nötig war, umfaßte er mit der Linken die Halme unterhalb der Ähren, und zischend, als ob Wasser auf glühendes Eisen fiele, durchschnitt die Sichel sie. Seine Binderin hatte Mühe, ihm zu folgen.

Jerg fühlte sich um so behaglicher und lachte bei sich über die Bedingungen, die ihm Lisei gestellt hatte. Sie ließen ihn seine künftige Frau recht einfältig erscheinen, und er war ganz zufrieden, daß sie nicht klüger war. Klüger? Es gab für ihn überhaupt keinen klugen Menschen, und auch den Klosterbauern übersah er. Sie waren alle dumm!

An dem Sonntag, nachdem die letzten Garben auf dem Klosterhof eingefahren waren, holte er Lisei nach der Schneidemühle ab, um sie »seinen Leuten« als Braut vorzustellen. Lisei selbst hatte es gewünscht.

Der Müller empfing sie in seiner gewohnten gutmütigen Art; nur war er schweigsamer als sonst und seine Haltung gebückter. Afra hielt sich zurück, und Lisei vermochte es nicht über sich, das Wort an sie zu richten. Sie vermied es, den Blicken der schönen Sünderin zu begegnen, die mit einer gewissen Spannung auf ihr ruhten, als suchten sie das Rätsel zu ergründen, das Liseis plötzliche Entschließung, Jerg zu heiraten, umgab. Ihr Mann sprach sich offen aus.

»Du hast eingewilligt, dem Jerg seine Frau zu werden, und ich kann mir keine liebere Söhnerin wünschen«, sagte er. »Ich hab nit für ihn werben mögen; aber im stillen hab ich gehofft, daß du ja sagen würdst. Wann Jerg noch zum Guten zu lenken ist, dann kann's eine rechtschaffne Frau wie du; ja, das hab ich immer bei mir gedacht. Und jetzt mag unser Herrgott seinen Segen geben, daß du deinen Entschluß nimmer bereust« Er küßte Lisei auf beide Wangen.

Jerg aber meinte spöttisch: »Das war ein recht erbaulicher Segen. Hat die Müllerin nit auch einen Glückwunsch für uns?«

»Die Lisei wird am besten wissen, was sie tut«, erwiderte Afra darauf kalt »Wie man sich bettet, so schläft man.«

»Nu, an guten Betten fehlt's ja wohl nit auf dem Klosterhof, was, Lisei?« spöttelte Jerg.

»Setz' dich doch hin, Lisei«, nötigte der Müller ablenkend, trat an den Tisch, auf dem Afra etwas zur Bewirtung aufgestellt hatte, und füllte die Gläser.

Als er aber eines davon ergriff, um auf das Wohl des Brautpaares zu trinken, legte Lisei die Hand auf seinen Arm und sagte: »Daß Ihr so gut gegen mich seid, daraus erkenn ich, daß Ihr mir meine Schuld an dem Unglück, das den Jerg getroffen hat, nit nachtragt. Vergebt auch meinem Bruder; ich bitt Euch von Herzen drum.«

Ein Schatten legte sich über das durchfurchte Antlitz des Alten, und er entgegnete, das Glas mit dem Handrücken langsam zurückschiebend: »Es kommen wohl noch viele andre Tag, wo wir davon reden können.«

»Nein, Müller, eine Güte, um die einer zweimal bitten muß, ist nur eine halbe Güte«, wandte Lisei bittend ein. »Ihr habt ja den Ambros immer gern leiden mögen, und darum werdet Ihr nit hartherziger sein als der Jerg, der doch am meisten von ihm gelitten hat«

Der Müller und seine Frau drehten gleichzeitig die Köpfe nach Jerg hin, der sich unterdessen wie ein unbeteiligter Zuschauer auf die Ofenbank gesetzt hatte.

Er nickte feierlich mit dem Kopf, und als Lisei ihn jetzt zu ihrem Beistand aufrief, sagte er, indem er sich mit beiden Händen auf die Kante der Bank stützte und dazu die Beine wie Glockenschwengel bewegte: »Na, Vater, ich hab ihm um der Lisei willen meinen Stirnschmuck vergeben, den ich offen vor allen Leuten trag; also könnt Ihr wohl auch ein wenig großmütig sein. Macht auch Ihr als guter Christ einen Strich unter Eure Rechnung. Die Jugend ist nun mal heißblütig und hitzig.«

Lisei vermochte den boshaften Sinn seiner Worte nicht zu verstehen, denn sie hatte mit Jerg über die Ursache seines Streits mit Ambros nicht reden mögen.

Der Alte aber sah Afra hei den Worten seines Sohnes bekümmert an, und diese rief mit Verachtung in Ton und Blick ihrem Stiefsohn zu: »Was hast du denn zu vergeben? Er hat dich für dein Lästermaul gezüchtigt, und jetzt zeigst du, daß du das Leben nit wert bist, das dir unser Herrgott gelassen hat.«

»Was ist denn los?« fragte Jerg mit verstellter Verwunderung. »Ich sammle feurige Kohlen auf dem Ambros sein Haupt, und dafür dreht jetzt die Frau Mutter den Spieß um. Merk dir's, Lisei, wann du mal nit leiden willst, daß der gute Nam von deinem Vater beschimpft wird. Ja, so geht's in der Welt«

Der Vater hatte ihm mit aufwallender Heftigkeit in die Rede hineingerufen, er solle schweigen. Jerg aber hatte sich nicht stören lassen, und der Blick, den er bei der Apostrophe an seine Braut auf Afra geworfen, hatte Lisei alles verraten. Sie begriff jetzt, warum der Müller sich weigerte, Ambros zu verzeihen, und der Gedanke, daß er um die Untreue seines Weibes wisse, spiegelte sich in ihren Mienen so mitleidig ab, daß dem Alten darüber eine feine Röte in die Wangen stieg.

»Und die arme Stasi hat darüber den Verstand verlorn«, kam es unwillkürlich, wie in Verfolgung jenes Gedankens, über ihre Lippen.

Afra schien die allerdings ganz leise gesprochenen Worte nicht vernommen zu haben. Sie stand wie herausfordernd da, die Arme unter dem Busen gekreuzt und die vollen Lippen fest aufeinandergedrückt. Ihre Augen ruhten auf ihrem Manne und folgten ihm, als er jetzt mit einem Seufzer nach seinem Lehnstuhl ging und sich niederließ. Jerg hatte sich gegen den Ofen zurückgelehnt und betrachtete die anderen mit innerer Schadenfreude. Lisei trat nach kurzem Zögern zu dem Müller heran.

Er richtete den gesenkten Kopf auf und sagte, ehe sie sprechen konnte: »Ich will mich bezwingen, Lisei, so schwer's mir wird, nit um meinetwillen.« Seine Blicke wanderten zu Afra hinüber, und er wiederholte: »Nit um meinetwillen. Ich bin ein alter Mann und leg mich wohl bald zur ewigen Ruh hin. Das soll mein Angebind zu deiner Hochzeit sein, daß ich dem Ambros seine Schuld vergeb.« Er reichte Lisei die Hand, und sie küßte sie und dankte ihm mit Tränen in den Augen.

Afras Brust wogte hoch auf; ihre verschränkten Arme lösten sich, und sie wandte sich rasch dem nächsten Fenster zu und blickte unverwandt hinaus, um ihre feucht werdenden Wimpern zu verbergen.

»Amen!« sagte Jerg mit spöttischer Salbung und erhob sich. »Und jetzt, da alles so schön ein End in Fried und Freundschaft genommen hat, können wir eins trinken. Du sollst leben, Lisei!« Er ergriff eines der vollgeschenkten Gläser, schwenkte es gegen Lisei und leerte es.

Lisei achtete seiner nicht; sie hielt noch immer die Hand des Müllers in der ihren, und er flüsterte mit einem Wink auf seine Frau: »Sei auch ein wenig gut zu ihr; sie ist so unglücklich.« Laut setzte er, während er aufstand, hinzu: »Laßt uns jetzt alle etwas essen.«

Lisei vermochte seiner Einladung jedoch nicht Folge zu leisten. Das Herz war ihr zu voll, und auch Afra rührte sich nicht. Lisei schickte sich zum Fortgehen an, und Jerg sah sich nach seinem Hut um; er wollte sie begleiten. Es war ihm ganz erwünscht, auf gute Art aus der Mühle fortzukommen. Lisei lehnte jedoch seine Begleitung mit der Äußerung ab, daß sie noch zu Stasi hinaufzugehen beabsichtige.

»Mir auch recht«, sagte er gleichmütig und steckte die Hände in seinen Leibgurt. Innerlich aber verdroß es ihn, daß seine Braut sowenig Umstände mit ihm machte. Nun, die Zeit war ja nicht mehr fern, da er der Meister sein würde!

Afra war unterdessen vom Fenster zurückgetreten, und Lisei reichte auch ihr die Hand, nachdem sie dem Müller zum Abschied versprochen hatte, nächstens wiederzukommen. Afra nahm jedoch ihre Hand nicht an, sondern sagte: »Ich hab noch mit dir zu reden; komm!«

Lisei drückte ihren flachen Hut fester in die Stirn und ging zur Tür. Jerg rief ihr noch nach, daß er abends auf den Klosterhof kommen würde; dann schob er sich einen Stuhl an den Tisch und sagte: »So, jetzt wolln auch wir ein vernünftiges Wort miteinander reden, von wegen dem, was ich der Lisei als Heiratsgut zubring. Denn das könnt Ihr doch nit denken, Vater, daß ich als dem Klosterbauer sein Eidam mit leern Händen auf den Hof ziehn werd. Wer nix hat, stellt auch nix vor. Die Schneidemühl mögt Ihr meinethalben behalten ... und was zu ihrem Betrieb und Euerm Unterhalt an Land nötig ist.«

»Sprich nur weiter«, versetzte der Alte kurz und griff nach seinem noch immer unberührten Glas …

Unterdessen gingen Lisei und Afra schweigend nebeneinander den Bach aufwärts und über die Brücke. Die Landjäger spielten vor ihrem Quartier auf dem Kirchplatz Boccia. Boccia – Spiel mit Kugeln, von denen eine als Ziel ausgeworfen wird, der man dann die übrigen möglichst nahe zu bringen versucht. Vom Stand am Saum des Bannwaldes tönte den beiden Frauen das Knallen der Büchsen entgegen.

Angelo Lacedelli saß lesend in seinem verwilderten Pfarrgarten. Er hatte unter den Büchern Moltenbechers, die Hannes noch nicht hatte abholen lassen, einen Virgil gefunden und begleitete nun Äneas in die Unterwelt, deren Schrecken ihm allerdings ein Lächeln abnötigten. – Seit er seine Vokation erhalten, hauste er übrigens nicht mehr allein in der Pfarre. Er hatte eine ältere Schwester, die unverheiratet geblieben war, zu sich genommen. In seinem Verhältnis zu der Gemeinde hatte sich jedoch nichts geändert. Zwar hatte er den Triumph genossen, daß der Dechant von Enneberg ihn in sein Amt hatte einführen müssen, dafür aber war er in der nächsten Nacht und auch noch in einigen späteren durch einen Höllenlärm vor seinem Hause – eine Musik von Kuhglocken, Bratpfannen und Milchtrichtern, die als Trompeten gedient – aus dem Schlaf geschreckt worden. Der Unfug hätte sich wohl noch öfter wiederholt, wenn Lacedelli nicht den guten Einfall bekommen hätte, sich am nächsten Sonntag auf der Kanzel für die Ständchen zu bedanken. Er hatte zwar nur wenige Zuhörer gehabt, doch war seine Äußerung bald genug bekanntgeworden, und seitdem hatte er Ruhe.

Um so geschlossener wurde der passive Widerstand gegen ihn; denn Mutschleitner, der Bäcker und der Färber, das Gamsmanndl und der Jöchlbauer blieben nicht untätig, und immer zahlreicher wurden im Vigiltal die Mitglieder des Bundes für die Befreiung des Vaterlandes. Lacedelli wie auch die Landjäger hatten nicht die leiseste Ahnung von der Existenz dieser Verschwörung, obgleich kein Hokuspokus mit Dolch und Totenkopf, schrecklichen Schwüren und Androhung blutiger Feme gegen die Verräter, wie sie sonst mit Verschwörungen untrennbar verbunden zu sein pflegten, die Mitglieder zum Schweigen verpflichtete. Obwohl zuletzt an die sechzigtausend Menschen, darunter viele Frauen, in das Geheimnis eingeweiht waren, fand sich dennoch kein Verräter unter ihnen, und der Ausbruch überraschte die Bayern und Franzosen völlig unvorbereitet.

Der Anblick des Geistlichen inmitten seiner verkümmerten Stockrosen legte auf Afras Lippen die Frage: »Und du willst wirklich den Jerg Arigaya heiraten? Weißt du, was das heißt, mit einem zusammenleben müssen, den du nit liebst, selbst wann er der beste Mensch ist?«

»Ich hör's aus deiner Frag heraus, wie schwer das sein muß«, antwortete Lisei mild.

»Und dieser Jerg!« fuhr Afra erregt fort. »Wie hast du um seinetwilln nur den Lechner aufgehen können, wann er auch hundertmal ein Bayer ist?«

»Darüber hast doch gewiß nit mit mir reden wolln«, lehnte Lisei die Fortsetzung des Gesprächs über diesen Gegenstand ab.

Afra schwieg, und stumm gingen beide, das obere Dorf vermeidend, über den Anger weiter. Der Bannwald nahm sie auf. Lisei wandte sich links und verzögerte ihren Schritt mehr und mehr, um Afra zum Sprechen Gelegenheit zu geben. Diese starrte in die grüne Waldtiefe hinein. Durch sie hat wohl Ambros seine Flucht genommen! dachte sie, und es war ihr, als sähe sie seine Gestalt eben in der Ferne verschwinden.

»Nein, von dir hab ich nit reden wolln«, begann sie mit einem Seufzer. »Aber du sollst die Wahrheit darüber hörn, warum dein Bruder den Jerg niedergeschlagen hat. Meine Ehr hat er gegen den boshaften Affen verteidigt. Mit dem Messer hinterrücks in der Faust hat der Jerg mich und ihn beschimpft. Du hast vorhin selbst gehört, wie seine giftige Zung keinen schont, nit einmal den eignen Vater.«

»Es hat mir geahnt«, seufzte Lisei, und nach einer Weile fuhr sie, mehr klagend als vorwurfsvoll, fort: »Du kannst die Schuld an dem Elend, das aus dem Ambros seiner unseligen Tat gefolgt ist, nit von dir auf den Jerg werfen wolln. Deine Untreu und dem Ambros seine, die trägt alle Schuld. An eurer Untreu ist der Verstand der armen Stasi zerscheitert; denn sie hat sie durchschaut. Verbirg dir deine eigne Schuld nit! Dem Ambros seine Gewalttat ist bloß der Tropfen gewesen, der den vollen Eimer zum Überlaufen gebracht hat. Er und du, ihr habt das Herz der armen Stasi mit bittren Schmerzen gefüllt, bis es zuviel geworden ist.«

»Ich hab keine Schuld zu bereun«, versetzte Afra mit düsterem Blick. »Die Stasi tut mir leid, ja; aber ich hab nix zu bereun. Ist die Lieb eine Schuld – warum haben's die Heiligen zugelassen, daß ich den Ambros lieb? Die Schuld trifft die Stasi, weil sie mir sein Herz abwendig gemacht hat.«

»Ich bitt dich! Du weißt nit, was du redst!« rief Lisei erschrocken und fuhr, ihre grauen Augen durchdringend auf Afra heftend, fort: »Wann du ihn schon geliebt hast, bevor er die Stasi gekannt hat – denn das willst du doch sagen –, war deine Lieb nit schon damals eine Sünd? Hattst du nit schon damals deinem Mann Treu gelobt. Ach, Afra, Afra! Wann die Treu zerbricht, stürzt alles über uns zusammen, auf uns herab. Das ist die Säul, die das Leben trägt.«

»Es ist alles zusammengebrochen«, sagte Afra dumpf.

»So laß uns gemeinschaftlich Hand anlegen, das Leben wieder aufzubaun«, bat Lisei.

»Wieder aufbaun?« rief Afra mit glühenden Wangen. »Mein Leben ist bloß von außen bunt bemalt gewesen; innen war alles hohl und leer. Ich kann dir ins Gesicht sehn, ohne mit der Wimper zu zucken, denn ich hab nix getan, nix mit Wissen und Willen, um den Ambros an mich zu locken! Ich lieb ihn, und der Müller weiß und begreift's, daß ich ihn lieben muß. Du begreifst's nit, denn wie könntst du sonst den Lechner aufgeben für diesen Jerg? Liebst du den Lechner?« Bei diesen Worten ergriff sie Lisei am Handgelenk, zog sie zu sich heran und schaute ihr forschend in die Augen.

»Ja, ich lieb ihn«, versetzte Lisei sanft, ohne die Lider vor den blitzenden Augensternen Afras zu senken.

»Nein, nein!« schrie diese heftig.

Lisei machte ihre Hand frei und ging schweigend weiter. Nach einer Weile blieb sie wieder stehen, ließ Afra herankommen und sagte: »Du hast mir wohl nix weiter zu sagen?«

»Ja, du sollst nit falsch richten über mich!« rief Afra. »Meine Lieb ist rein, und ich hab keine Ursach, sie zu verstecken. Er liebt die Stasi nit, er liebt mich, und das ist mein Recht gegen euch alle. Ich lieb ihn, und er liebt mich – das ist unser Recht gegen die ganze Welt«

Lisei schüttelte traurig den Kopf. »Ich richte nit«, entgegnete sie sanft. »Du bist unglücklich, wir sind alle unglücklich: das ist die Straf für unsre Schuld. Ob du auch trotzt – du mußt sie hinnehmen. Drum bitt ich dich: sei ergeben! Ich will dir tragen helfen; kann ich doch mit dir fühlen, was du leidest.«

Afra antwortete jedoch nicht, sondern starrte mit weitgeöffneten Augen über Lisei hinweg, und als diese sich umdrehte, war auch sie nicht wenig betroffen. Sie befanden sich in der Nähe des abschüssigen Feldes, über das ein hin- und herlaufender Pfad zu den mächtigen Steinblöcken unweit von Stasis Gehöft emporführte. Es war dasselbe Feld, auf dem sich die Witwe Larseit einst beim Hinauftragen der Garben den Tod geholt hatte.

Bleich wie der Tod, nur notdürftig bekleidet und mit wirrem Haar kam jetzt Stasi den Pfad zwischen den Stoppeln herabgeschwankt, Stasi, die vor drei Tagen zum erstenmal das Bett verlassen hatte. Lisei flog ihr entgegen.

»Um Jesu willen, Stasi, wie kommst du hierher?« rief sie mit keuchendem Atem.

Stasi lächelte geheimnisvoll. »Komm mit«, flüsterte sie, »wir wolln mein Kind suchen.«

»Dein Kind suchen?« wiederholte Lisei erschüttert.

Stasi nickte und fuhr fort: »Sie haben mein süßes Bübchen versteckt, weil ich schlecht war. Aber ich werd's finden, und dann werd ich gut sein, und dann wird auch meine Mutter wieder gut sein und schlafen. Weißt du, es ist schrecklich, wann eine tot ist und kann nit schlafen. Ach, ich weiß, wie das ist – Aber ich kann jetzt nit länger mit dir schwätzen; ich muß mein Kind suchen, mein Kind!«

Sie wiederholte das letzte Wort wie zu sich selbst, und ihre Augen begannen unruhig zu flackern. Lisei umschlang sie mit stummem Jammer und hielt sie fest. Es war die höchste Zeit, denn Stasis schwache Kräfte waren erschöpft, sie drohte zusammenzusinken. Widerstandslos ließ sie sich zurückführen. Lisei mußte sie fast tragen; wie eine welke Blume hing sie in ihren starken Armen. In dem Heckengang kam ihnen Onkel David entgegen, so schnell es seine Unbeholfenheit erlaubte. Er war ganz verstört über das plötzliche Verschwinden Stasis, die er kaum eine Viertelstunde zuvor, da sie still wie an den vorhergehenden Tagen in der Stube saß, verlassen hatte, um die Kuh zu melken. Mona hatte er erlaubt, ihre Eltern auf ein Stündchen zu besuchen. Lisei hatte dem Mädchen für die sorgsame Wartung der Kranken nicht nur den versprochenen Rock, sondern auch eine neue Schürze geschenkt, und darin hatte sie sich den Ihren zeigen wollen.

Der Vorfall überzeugte Lisei, daß sie nicht länger säumen dürfe, Stasi unter eine sorgfältigere Obhut zu stellen, als David und die kleine Mona zu bieten vermochten. Schon damals, als es keinem Zweifel mehr unterlag, daß Stasi geisteskrank geworden sei, hatte Hannes den Vorschlag gemacht, sie in seine Obhut zu nehmen, sobald es ihr körperlicher Zustand erlauben würde.

Gleich am nächsten Morgen schickte Lisei einen Boten zu ihrem Bruder und, ließ ihm sagen, daß der Zeitpunkt nun da sei und sie Stasi im Laufe der Woche nach St. Martin bringen werde. Von Mutschleitner borgte sie das Gefährt.

Es war eine traurige Reise, um so trauriger, als auch der Himmel keinen Sonnenstrahl schickte. Regengewölk zog am Himmel hin, und die Felder im Tal zeigten nur noch Stoppeln. Liseis Bemühungen, Stasi ihrer Apathie zu entreißen, waren immer nur von kurzem Erfolg.

Hannes und Frau Carlotta empfingen die Ankömmlinge vor der Tür des bescheidenen Pfarrhauses. Stasi erkannte ihren Schwager und lächelte ihm zu wie in ihren Mädchenjahren, als wäre er noch ihr guter Kamerad von damals. Der guten Uschina, die bei ihrem Anblick in Tränen ausbrach, erinnerte sie sich nicht. Sie bat Hannes, er möge der guten Frau sagen, daß sie nicht weinen solle. »Die Tränen verbrennen das Herz wie Feuer«, setzte sie hinzu, indem sie mit Hannes Hand in Hand in die Stube ging. Lisei folgte ihnen, während Frau Carlotta noch die Lade, die Stasis Sachen enthielt, und die Betten abladen half und in ihre Stube bringen ließ, die die Kranke fortan mit ihr teilen sollte. Sie kam bald nach, umarmte Stasi, liebkoste sie und plauderte mit ihr; zuletzt nahm sie sie mit sich, um ihr das Haus und den Garten zu zeigen.

Hannes hatte kein Wort hervorbringen können. Er hatte sich vor seinen Schreibtisch gesetzt und das Gesicht in beide Hände gestützt. Lisei betrachtete ihn mitleidigen Blickes. In jener Nacht, die über Stasis Leben und Tod entschieden, hatte sie aus seiner Erschütterung das Geheimnis seines Herzens erraten. Indessen versuchte sie nicht, ihn zu trösten, denn da er ihr den Namen derjenigen verschwiegen, um derentwillen er so viel gelitten hatte und noch litt, hielt sie es für zudringlich, ihm zu zeigen, daß sie ihn wisse.

Als sich Frau Carlotta mit Stasi entfernt hatte, erhob er sich und sagte: »Haben wir nit unrecht, die Unglückliche zu beklagen? Wir sollten sie vielmehr glücklich preisen, daß sie all das Schreckliche, das auf ihre Seele eingestürmt ist, vergessen hat. Sie leidet nit mehr!« Er strich sich mit der Hand über die Stirn und fuhr mit festerer Stimme fort: »Verzeih, daß ich dich bei deinem ersten Besuch in meinem Heim nit einmal ordentlich willkommen geheißen hab. Du wirst finden, daß es ein wenig ärmlich bei mir ausschaut. Nun, ich bin ja nimmer ein Schoßkind des Glücks gewesen, und Bedürfnislosigkeit ist Freiheit. Lacedelli würd sie wahrscheinlich die Freiheit des Barbaren nennen. Doch das Wichtigere für dich: Wolf hat noch immer nit geantwortet«

»O doch«, versetzte Lisei und gab ihm den Brief Wolfs, den sie zu sich gesteckt hatte.

Er schlug das Blatt auseinander und las.

Wolf schrieb, daß er sie sich um alle Königreiche der Welt nicht abkaufen ließe; wenn sie selbst aber ihr Wort zurückverlange, so verstehe es sich von selbst, daß er sie nicht halte. Um zurückzutreten, bedürfe es für ihn gar keines weiteren Grundes, als daß sie frei sein wolle; denn ein anderes Recht auf sie als das, welches ihr Herz ihm gebe, besitze er nicht.

Das alles schrieb er mit der Schlichtheit eines großen Herzens. Den Schmerz, den ihm Liseis Entschluß verursachte, hatte er männlich zu unterdrücken versucht; Lisei aber, die mit im Schoße zusammengelegten Händen zuhörte, fühlte ihn von neuem heraus, und Tränen flossen ihr unaufhörlich über die Wangen. Mit keinem Worte gedachte er des Anteils, den die Handlungsweise des Vaters an ihrem Entschluß hatte, noch erwähnte er Jerg. Auch Hannes war ergriffen, und nachdem er den Brief wieder zusammengefaltet hatte, sagte er, ihn Lisei zurückgebend: »Er ist's wert, daß du um ihn weinst«

Ihre Tränen gehörten aber nicht allein dem Schmerz; es mischte sich in sie das süße Bewußtsein, daß sich Wolf Lechner auch in dieser schweren Prüfung bewähre, daß er sie nicht verkenne und seine Achtung und Liebe für sie fortdauere.

Hannes machte sich unterdessen mit den Papieren auf seinem Schreibtisch zu schaffen, um die Schwester ungestört sich selbst zu überlassen. Sie küßte Wolfs Brief und verbarg ihn in ihrem Mieder. Nach einer Weile trocknete sie sich mit ihrem Fürtuch die Augen.

»So ist's also entschieden«, wandte sich der Bruder jetzt zu ihr. »Und wie stehst du jetzt mit dem Vater? Ist er milder gegen dich geworden, seitdem du dich entschlossen hast, seinen Willen zu tun?«

Lisei mußte es verneinen. Er war eher rauher als milder gegen sie geworden. Kein Zeichen, kein Wort der Anerkennung war ihr für ihre Fügsamkeit zuteil geworden.

Hannes nickte nachdenklich. »Mögen dich denn die Heiligen in ihren Schutz nehmen«, sagte er nach einer Weile. »Laß mich deinen Hochzeitstag wissen, damit ich an ihm noch besonders für dich bete!«

»Ach, herzliebster Bruder, Sie wolln nit hinkommen?« fragte Lisei betroffen.

»Laß es gut sein!« versetzte er. »Nur das versprech ich: Wann dir die Last zu schwer wird, wann deine Kräft dich verlassen wolln, dann ruf mich, und ich werd an deiner Seit sein.«

Lisei blickte ihn traurig an, drang aber nicht weiter in ihn.

»Kann ich dir sonst noch einen Wunsch erfülln?« fragte er nach einer Weile.

Sie schüttelte den Kopf. Lechner zu danken, wollte sie selbst versuchen. Sie nahm ihren Regenschirm, den sie vorhin in eine Ecke gestellt hatte. Um Stasi nicht durch ihren Abschied aufzuregen, hielt sie es für geraten, sich in deren Abwesenheit zu entfernen.

Hannes zog sie in seine Arme und küßte sie wiederholt mit besonderer Herzlichkeit.

Der Wagen rollte mit ihr davon.

Quer über das Gadertal zogen die grauen Wolken, und dann und wann sprühte feiner Regen herab. Auch in Liseis Brust war es trübe; doch allmählich hellte es sich auf. Hatte sie nicht schon einen Erfolg errungen, indem es ihr geglückt war, den schwer beleidigten Müller gegen Ambros versöhnlich zu stimmen? Wie hätte sie verzagen sollen, da sie nun Wolfs schönen Brief erhalten hatte!

Bei der Kapelle von Monthan verließ sie den Wagen, der nach St. Vigil weiterfuhr, und ging zu Fuß zum Klosterhof. Auf der überwölbten Vortreppe fand sie den Vater zusammen mit Jerg. Der Vater saß, seine Pfeife rauchend, auf der Bank, während Jerg mit den Händen in den Hosentaschen an der steinernen Türeinfassung lehnte. Die Unterhaltung zwischen ihnen mochte nicht erfreulicher Art gewesen sein, denn der Klosterbauer blies hastig große Rauchwolken von sich.

»Du kommst just recht«, empfing Jerg seine Braut, indem er sich aus seiner bequemen Stellung aufrichtete. »Ich hab's eben mit dem Vater abgesprochen, daß in vier Wochen unsre Hochzeit sein soll. Morgen bestell ich das Aufgebot«

Er legte den Arm um ihre Taille und spitzte den Mund. Sie aber drängte ihn von sich und schaute mit gespanntem Blick den Vater an. Das Gesicht des Klosterbauern wurde noch mürrischer, doch sagte er kein Wort.

»Ich bin mit allem zufrieden, was der Vater bestimmt«, äußerte Lisei und ging ins Haus, um ihr gutes Zeug, das sie zur Fahrt angelegt hatte, mit ihren Werktagskleidern zu vertauschen. Die Stiege ächzte unter ihren Füßen ungewöhnlich laut.

»Du hast's ja wirklich eilig, als ob die Lisei dich vom Strick freiheiraten soll«, brummte der Klosterbauer.

»Nein, es ist bloß, weil ich nit zeitig genug zu so einer Kron von Schwiegervater kommen kann, wie's der Klosterbauer ist«, gab Jerg spöttisch zur Antwort, indem er sich wieder gegen den Türpfosten lehnte.

Der Alte warf ihm unter seinen überhängenden Brauen hindurch einen bösen Blick zu.

»Nein, wahrhaftig, Klosterbauer«, versetzte sein künftiger Schwiegersohn trocken, »so feine Späß wie Ihr krieg ich nit fertig. Ihr seid freilich den Leuten in allen Stücken überlegen.«

Dergleichen Scharmützel waren zwischen den beiden nichts Seltenes, seit Lisei eingewilligt hatte, Jerg zu heiraten. Aller Groll über seine durch Ambros zerstörten Hoffnungen goren in dem Klosterbauern noch einmal auf, und auch gegen Jerg kehrte sich seine gereizte Stimmung, wobei er allerdings gewöhnlich den kürzeren zog. Jerg war geistig viel gewandter und schlagfertiger als er; doch suchte er den Alten zu schonen, soweit es seine Lust an boshaften Stichen gestattete. Der Klosterbauer sollte nur seine Überlegenheit erkennen; denn er sah sehr wohl ein, daß er von vornherein vorbauen müsse, wenn er von dessen despotischer Natur nicht für alle Zeit unterjocht werden wollte. Er trachtete aber nicht nur danach.

»Und just deshalb, Klosterbauer, weil Ihr mir überlegen seid, deshalb müssen wir's gerichtlich abmachen, was jeder von uns von dem andern zu fordern und ihm zu leisten hat«, nahm Jerg nach einer kleinen Pause, wieder das Wort und lenkte damit auf den Gegenstand zurück, bei dessen Besprechung sie von Lisei unterbrochen worden waren.

Jerg stand dem Klosterbauern nicht mit leeren Händen gegenüber. Es war ihm gelungen, seinen durch das häusliche Unglück gebeugten Vater dahin zu bringen, daß er ihm seine Äcker und Wiesen, die von dem Klosterhof bequemer als von der Schneidemühle aus zu bewirtschaften waren, abgetreten hatte. Nur einen kleinen Teil des Landes hatte der alte Arigaya sich vorbehalten, und da der Vertrag darüber in den nächsten Tagen abgeschlossen werden sollte, verlangte Jerg, daß bei dieser Gelegenheit auch gleich sein Verhältnis zu dem Klosterbauern rechtskräftig geregelt würde.

Der Klosterbauer aber fuhr fort, sich gegen jede schriftliche Abmachung überhaupt zu sträuben. Wozu bedurfte es dessen? Sein Testament sei gemacht, und bis zu seinem Tode würde Jerg ganz als Sohn auf dem Hofe schalten und walten. Wäre sein Wort etwa nicht ebensogut wie des Kaisers Siegel? Jerg bestritt dies nicht, nur meinte er, des Kaisers Siegel hätte auch nur Wert auf dem Papier. Geschäft sei Geschäft.

Er war zähe, der Klosterbauer war es nicht minder, und so dauerte denn der Streit manchen lieben Abend fort. Weder die väterlichen Gefühle noch die Versprechungen, noch der Grimm des Klosterbauern machten auf Jerg Eindruck, und er ruhte nicht eher, als bis er alles, Punkt für Punkt, schwarz auf weiß hatte.

Er versuchte auch Lisei, die wider Willen Ohrenzeugin des Streites wurde, hereinzuziehen: es seien ihrer beider Interessen, für die er kämpfe. Lisei lehnte es jedoch entschieden ab, sich einzumischen; aber sie beschwor Jerg unter vier Augen, gegen den Vater nicht so hartnäckig auf seinen Forderungen zu bestehen. Sie erreichte damit natürlich nichts. Wenn sie aber etwa noch einen Zweifel gehegt, daß nicht sie, sondern ihr Mahlschatz Mahlschatz – Brautgabe, Verlobungsgeschenk es war, den Jerg begehrte, so mußte er jetzt schwinden, und er schwand. Jerg fuhr indes fort, sich gegen sie zu betragen, als verlange er nichts als ihre Hand. Scheute er sich vor sich selbst, ohne Maske aufzutreten, oder scheute er die klaren, ernsten Augen Liseis, der die Verlogenheit und Heuchelei seiner Gefühle noch schrecklicher als seine Habsucht war? Liseis Bestimmtheit, die sie bei aller Milde zu wahren wußte, sowie ihre sittliche Haltung brachten ihn oft zu einem inneren Zähneknirschen. Es war nur gut, daß der Tag näher und näher kam, an dem er ihr den Daumen würde aufs Auge drücken können!

Mischte sich Lisei nicht in den Streit der Männer, so versuchte es Vefa um so mehr, die jetzt häufig auf den Klosterhof kam und ihrer Nichte durchaus mit Rat und Tat bei der Aussteuer helfen wollte. Nach ihrer Überzeugung war es ausschließlich ihr Verdienst, daß die auf beiden Seiten so glänzende Partie zustande kam, und darum betrachtete sie sich jetzt auch als die Unentbehrliche, ohne deren Ratschläge nichts geschehen könnte und dürfte. Lisei war plötzlich in ihren Augen ein unerfahrenes Ding geworden, und sie bekam sogar Anwandlungen von Zärtlichkeit gegen sie. Jerg ironisierte sie, und der Klosterbauer schob sie rücksichtslos beiseite; nur Lisei zeigte sich ihr gegenüber duldsam.

Ihrer Hilfe bedurfte Lisei nicht; denn ihre Ausstattung lag teils noch von ihrer verstorbenen Mutter her, teils schon von ihr selbst in der Stille beschafft – freilich nicht für ihre Verbindung mit Jerg Arigaya – fast fertig da. Mit welchen Empfindungen sie die Aussteuer jetzt musterte, mag man sich leicht vorstellen. Welche Hoffnungen, welche freundlichen Zukunftsbilder hatte sie in jedes selbstgefertigte Stück hineingewebt, – gestrickt oder -genäht! Die Sorge für die fehlenden Möbel überließ sie gern der geschäftig sich zudrängenden Muhme, die nun ihren Bruder zu überreden versuchte, mit ihr deshalb nach Bruneck zu fahren. Der Klosterbauer wollte nichts davon wissen. Da Lisei auf dem Hofe blieb, war für den jungen Hausstand nur einiges zu ergänzen, und er beharrte darauf, die Sachen von dem Dorftischler anfertigen zu lassen, zumal es damit keine Eile habe. Einstweilen könne man sich mit dem Vorhandenen einrichten. – Ob er sich nicht schäme, er, der reichste Bauer der Talschaft, sein einziges Kind mit altem Gerümpel auszustatten? ereiferte sich Vefa. – Nein, er schäme sich nicht, und wenn sie ihren Jerg wieder in die Schürze packte und nach der Mühle zurücktrüge, wäre es ihm auch recht.

Lisei saß auf der Fensterbank und nähte an ihrer weißen Brautschürze. Mit einem raschen Entschluß legte sie ihre Arbeit weg, und noch ehe Vefa sich von ihrer nicht geringen Verblüffung erholt hatte, trat sie zum Vater heran und sagte: »Noch ist's Zeit, Vater! Oh, ich versteh's ja, wie du dich nit darein finden kannst, daß nach dir kein Falkner mehr auf dem Klosterhof wirtschaften soll. Vergib dem Ambros, ruf ihn zurück, und alles ist gut! Ich will ihn suchen gehn und nit eher ruhn, als bis ich ihn gefunden hab. Vater, vergib ihm! Du wirst ja doch mit eher Frieden in dir finden.«

Der Vater sah sie aus zusammengekniffenen Augen an und rief: »Meinst, ich soll vergessen, wie mir der Ambros vor allen Leuten zugerufen hat, daß er nit den kleinen Finger rühren würd, wann er mir auch damit das Leben retten könnt?«

»Nit vergessen, Vater – vergeben, vergeben!« bat Lisei eindringlicher und legte ihre Hand auf seinen Arm.

Er schüttelte sie ab und rief mit beißendem Hohn, der in Zorn umschlug: »Also, da hinten herum soll der Weg doch noch zuletzt zu dem verlaufnen Schmied führn? Freilich, das wär euch ein rechtes Gaudium, wann ihr den Alten doch noch herumkriegtet! Oho, ich kenn euch alle, dich auch mit dem Gesicht, als könntest kein Wässerlein trüben und als ob dir die ganze Welt unrecht tät! Ja, Frieden will ich endlich haben – vor euch, und dazu ist der Jerg just der rechte Mann, ihn mir zu verschaffen!«

Damit ging er aus der Stube. Lisei seufzte tief auf. Daß der Vater Jerg zu seinem Schutz aufrief gegen seine eigenen Kinder, Jerg, der ihr gelobt hatte, sich bei dem Vater für Ambros zu verwenden – das tat ihr mehr weh als der Fehlschlag ihrer Bitten; war sie doch darauf gefaßt gewesen, daß sie Geduld haben müsse.

»Das muß ich denn doch sagen, aus dir und deinem Vater wird kein Mensch klug«, begann jetzt Vefa. »Was soll denn das alles bedeuten?«

Lisei, die sich wieder an ihre Arbeit gesetzt hatte, ließ die Hand mit der Nadel sinken. Sie gab der Muhme keine Erklärung, sondern versuchte sie nur zu bewegen, daß sie ihren Einfluß auf den Klosterbauern verwende, um diesen mit Ambros auszusöhnen.

»Ich soll für den Ambros bitten, der deinen Bräutigam fast totgeschlagen' hat? Gott steh mir bei!« rief Vefa mit großen Augen, und auch sie verließ die arme Lisei.

Die Hochzeitsbitter, mit Blumensträußen und bunten Bändern aufgeputzt, wanderten durch das Tal und sagten auf den Höfen der Großbauern, in der Oberförsterei und vor der Frau Landrichter ihre Einladungssprüchlein her. Zur Pfarre von St. Martin kamen sie nicht.

Lisei war zugegen, als die Liste der Gäste von ihrem Vater und Jerg aufgestellt wurde. Ihr Bruder Hannes blieb von beiden unerwähnt, und auch sie schwieg. Als Jerg an diesem Abend nach Hause ging, gab sie ihm das Geleit bis vor die Tür, und dort sagte sie: »Einen Gast, an dessen Einladung du zuerst hättst denken solln, hast du vergessen: meinen Bruder, den Herrn Kuraten!«

»Potztausend, da hast recht! Nein, wie einer auch so vergeßlich sein kann!« rief Jerg, mit den Fingern schnalzend.

»Gib dir keine Müh, mich täuschen zu wolln«, versetzte. Lisei. »Hannes würd auch mit kommen, selbst wenn ihr ihn um der Welt willen einladen wolltet O Jerg, Jerg, warum bist du nur so falsch gegen mich?«

»Bei Gott, Lisei, du tust mir unrecht!« begann er im Tone erheuchelter Entrüstung.

Doch sie fiel ihm, ihre schmerzliche Bewegung niederkämpfend, insWort:

»Du weißt, was du mir gelobt hast, und ich wollt dir nur eins sagen. Kannst du's nit begreifen, warum ich mich entschlossen hab, deine Frau zu werden, so sollst du doch wissen, daß ich nit ruhn noch rasten werd, bis es mir gelungen ist, den Vater mit meinen Brüdern und Stasi auszusöhnen. Du kennst jetzt den einzigen Weg, der zu meinem Herzen führt. Gut Nacht!« Sie ging ins Haus zurück.

Jerg kniff die Unterlippe zwischen die Zähne und ballte die Faust. Er war wütend auf Lisei und wütend auf sich, daß er sich so etwas von ihr stillschweigend hatte bieten lassen. Aber sie sollte noch nachträglich ihre Antwort erhalten, und als er den Weg nach Monthan hinunter eingeschlagen hatte, blieb er stehen, wandte sich gegen das Haus zurück und stieß einen lauten Jauchzer aus.

Lisei schickte ihrem Bruder Hannes durch Boten einen Zettel, auf dem das Datum ihres Hochzeitstages stand.

Als der Morgen dieses verhängnisvollen Tages über den Bergen zu grauen begann, verließ Lisei den Hof, auf dem noch alles schlief. Auf der Vortreppe lagen haufenweise Scherben von Flaschen und Töpfen, mit denen der Klosterhof am Abend zuvor dem Brautpaar zu Ehren von der lärmlustigen Jugend bombardiert worden war. Über das bleiche Gesicht Liseis, die während der Nacht kein Auge zugetan hatte, zuckte es schmerzlich: Gleich dem Glas lag auch ihr Lebensglück in Scherben. Doch sie mußte und wollte stark sein. Geschwind und festen Fußes schritt sie durch die Morgendämmerung. Ihr Ziel war der Kirchhof von St. Vigil. Dort kniete sie am Grabe ihrer Mutter nieder. Sie hatte der Toten viel anzuvertrauen, und ihr ganzes Herz bis in die geheimsten Falten schüttete sie vor ihr aus.

Als sie endlich aufstand, leuchtete der ganze Himmel in Rosengluten und goldenen Tinten. Über dem Col de Bü erhob sich in stiller Feierlichkeit und Majestät die Strahlenkrone des ewigen Lichts. Liseis Tränen waren versiegt; nur ein Glanz von ihnen schimmerte noch in ihren Augen, und eine feierliche Ruhe breitete sich über ihr Gesicht. Sie brach noch ein Zweiglein von dem Efeu, der das Grabkreuz umrankte, und kehrte dann nach Hause zurück.

Im Dorf begann es lebendig zu werden, und auf dem Klosterhof fand Lisei die Mägde unter dem Beistand einiger junger Knechte damit beschäftigt, die Säulen des Vordachs und den Türrahmen mit Tannengewinden zu schmücken, aus deren Grün in lebhaften Farben Astern strahlten. Sie waren nicht wenig erstaunt, daß Lisei schon so früh einen Gang gemacht hatte, wenn sie auch sonst gewöhnlich im Hause zuerst auf den Beinen war. Die Bemerkungen, die sie machten, nachdem Lisei mit einem freundlichen Gruß ins Haus gegangen war, waren für Jerg nicht schmeichelhaft.

Sie standen alle auf der Seite Liseis gegen den Bräutigam, dem zu Ehren sie gewiß keine Kränze gewunden hätten. Dazu hegten die Knechte gegen ihn noch einen besonderen Groll, weil er an Ambros' Stelle das Erbe des Klosterhofes antreten sollte. Die patriarchalischen Anschauungen der Zeit hatten daran wohl ebensoviel Anteil wie die persönliche Zuneigung zu den Geschwistern. Herrschaft und Gesinde bildeten eben eine geschlossene Gemeinschaft, und es mußte ein schlechter Dienstbote sein, wer die Ehre seines Hofes nicht wie seine eigene empfunden und vertreten hätte.

Unterdessen war Lisei in die Wohnstube gegangen, wo sie ihren Hut ablegte und sich still niedersetzte. Sie wartete auf das Erscheinen des Vaters, den sie in seiner nebenan gelegenen Schlafkammer sich räuspern und bewegen hörte. Sie brauchte nicht lange zu harren. Schwerlich aber war sie es, die der Klosterbauer an diesem Morgen zuerst zu sehen erwartet hatte; denn er blieb einen Augenblick im Türrahmen seiner Kammer stehen und fragte dann, ganz in die Stube tretend, trocken, was es denn gebe.

Lisei hob die Augen, die sinnend auf ihren im Schoß zusammengelegten Händen mit dem Efeuzweig geruht hatten, und stand auf. »Ich wollt dir heut zuerst einen guten Morgen bieten«, sagte sie sanft.

Er ging stumm zu seinem Lehnstuhl und setzte sich.

Sie fuhr, indem sie sich ihm gegenüberstellte, fort: »Da heut mein Hochzeitstag ist, Vater, und jetzt ein neues Leben für mich beginnt, so wollt' ich dir abbitten, alles womit ich dich bisher wissentlich und ohne es zu wissen gekränkt hab. Vergib mir auch, Vater, daß ich mich so lang deinem Willen widersetzt hab, den Jerg zu nehmen. Du weißt ja, warum es mir schwer geworden ist, dir in diesem Stück zu gehorchen.«

»Schon gut!« wehrte er ab. »Besser wär's freilich gewesen, wann du immer den Spruch im Herzen gehabt hättst, daß du Vater und Mutter ehrn sollst, damit's dir wohl ergeh. Ich will wünschen, daß du dem Jerg eine beßre Frau wirst, wie du gegen mich als Tochter gewesen bist«

Liseis bleiches Gesicht rötete sich ein wenig. »Was ich dem Jerg heut vor Gott geloben werd, das werd ich auch halten«, sagte sie. »Aber den Spruch hab ich immer im Herzen getragen. Ich hab dich immer geehrt, und mein größtes Unglück ist's immer gewesen, daß du von meiner Lieb nix hast wissen wolln. O Vater, wann du mich je nur ein wenig hättst liebhaben wolln!«

»Worte habt ihr alle genug, du und deine Brüder!« runzelte der Klosterbauer die Stirn. »Aber ich weiß, was dahinter zu suchen ist. Ihr denkt alle nur an euch allein, und auf der Welt hab ich keine größern Feind als meine eignen Kinder. Aber den Klosterbauer kriegt ihr nit unter! Das sag ich dir nochmals, und jetzt ist's genug. Geh und putz dich an!«

»So kann ich nit von dir fortgehn, Vater«, entgegnete sie mit sanfter Festigkeit, wobei sie ihn traurig ansah. »Ich würd mit einem Unrecht gegen dich, gegen meine Brüder und gegen mich selbst vor den Altar treten, wann ich dich stillschweigend in deinem Mißtraun ließ. Und achtest du's denn so gar nix wert, was ich nach deinem Willen in der nächsten Stund zu tun bereit bin, daß du mir dafür mit einmal erlauben willst, dir zu sagen, was ich auf dem Herzen hab?«

Der Klosterbauer wandte sich verdrießlich in seinem Lehnstuhl halb von ihr ab. Er sah denn doch ein, daß er sie heute reden lassen müsse; aber er war entschlossen, auf ihre Worte nicht zu achten.

»Ja, Vater, ich hab dich immer von ganzem Herzen geliebt«, nahm sie, unbeirrt durch seine Gebärde, mit einem tiefen Atemzuge abermals das Wort »Du glaubst mir nit; aber wann's nit aus kindlicher Lieb zu dir geschah – weshalb hätt ich mich dann weigern solln, den Wolf Lechner ohne deine Einwilligung zu heiraten? Du konntest mich daran nit hindern, denn wir warn mit deiner Zustimmung verlobt, und ich war mündig.«

»Und der Ambros hatt dir ein so schönes Beispiel gegeben!« konnte er sich nicht enthalten, höhnisch einzuwerfen.

Lisei aber erwiderte: »Zu der Zeit, von der ich red, kannte der Ambros die Stasi kaum. Nachher hat der Wolf, wie sehr er mich auch geliebt hat, nimmer mit mir davon gesprochen. Dazu war er zu redlich. Er wußt, daß ich dich nun erst recht nit wider deinen Willen verlassen würd. Und weil ich dich liebhab und den Ambros, drum soll mich der Jerg heimführn. Verzeih mir, Vater, daß ich's sag, aber weder dein Befehl noch deine Streng haben mich dazu vermocht, wie sehr's mich auch geschmerzt hat, daß ich dir nit gehorchen konnt, und wie weh mir auch deine Lieblosigkeit getan hat. Ich wär, wie der Ambros, vom Hof gegangen, denn die Treu, die ich dem Lechner aus frein Stücken gelobt hatt, stand mir zuhöchst, wann's Gott mit anders gewollt hätt«

»Gott? Gott?« rief der Alte, während er sich seiner Tochter wieder ganz zuwendete und mit beiden Händen die Lehnen seines Stuhls packte. »Ich glaub's wohl, denn ich hatt dich zur Erbin des Klosterhofs eingesetzt, unter der Bedingung, daß du den Jerg heiratst«

»Heilige Jungfrau, hilf mir!« stieß Lisei schmerzlich hervor, indem sie die Hände zur Decke erhob. Erregt fuhr sie fort: »Du hattst den Brosi aus dem Haus gestoßen um seiner Lieb willen; du hattst dem Wolf dein Manneswort gebrochen, und aus Haß gegen den Ambros und aus Haß gegen ihm wolltst du mich zwingen, den Jerg zu heiraten. Nur an dich allein hast du gedacht; deinem Willen durchzusetzen, das war dir das Höchste. Da brach das Strafgericht Gottes herein.«

»Und es hat gerecht gerichtet«, sagte der Klosterbauer mit starker Stimme und flimmernden Augen. »Es hat den Buben, der's wagte, seinem Vater frech zu trotzen, als Totschläger in die weite Welt gejagt und die Dirn, die er sein Weib nennt, verrückt gemacht. Wohl dir, daß dich das Strafgericht Gottes gewarnt hat.«

»Ja, das hat es, aber anders, als du meinst!« versetzte Lisei mit leiser Stimme. »Ich sah, wie du unter den Folgen deiner Härt gegen Ambros gelitten hast, nit weil du ihn liebtest, denn das hast du nimmer getan, sondern weil er dich mit seinem Ungehorsam und Trotz in dem getroffen hatt, woran dein Herz allein hing: in deinen Absichten mit dem Klosterhof, und weil er in seiner trotzigem Lieb just die Tochter deines Feindes sich auserwählt hatt. Wann ich dich mit lieben tät, Vater – würd ich je bemerkt haben, wie schwer dich der Schlag getroffen hatt und wie du voll Unfrieden warst in dir selber? Ja, der Ambros hat sich schwer an dir vergangen, schwerer noch an andern. Das erkenn ich und fühl ich tausendmal tiefer wie du. Schau, wie meine Mutter gestorben ist, da hab ich mir gelobt, daß ich nach besten Kräften ihre Stell vertreten wollt an meinen beiden Brüdern. Hab ich's irgendworin nachher versehn – darin gewiß mit, daß ich sie nit gehegt und gepflegt und liebgehabt hätt, als ob ich ihre Mutter gewesen wär. Und wann ich des Brosis wirkliche Mutter wär, ich könnt das Schwert um seines Tuns willen nit schmerzlicher in meinem Herzen tragen. Drum hab ich mich unter allen Schmerzen um ihn gefragt, ob mit gutzumachen ist, was er getan hat. Da hab ich den Wolf gebeten, daß er mich meines Worts freigibt, und er hat's getan; und Hannes, der ein Diener Gottes ist, hat mich drum gesegnet und betet in diesem Augenblick, daß mir mein Vorhaben gelingen mög. Da hab ich Jerg meine Hand zur Sühn geboten, und so bitt ich dich jetzt, Vater, nimm mein Opfer an und vergib dem Ambros seine große Schuld an dir!« Mit Tränen in den Augen kniete sie vor dem Klosterbauern nieder und erhob flehend die Hände zu ihm.

Er drückte sich in die tiefste Ecke seines Lehnstuhls, wobei er den linken Arm mit der geballten Faust fest über die Brust legte, und sah sie unter die zusammengezogenen Brauen hindurch scheu, mißtrauisch und stechend an. Es regte sich etwas in seinem Herzen, das ihm neu war; aber das alte Mißtrauen wollte es nicht aufkommen lassen. Er schwieg, und während Lisei mit aller Herzensinnigkeit, deren sie fähig war, fortfuhr, ihn zu bitten, daß er sie nicht mit Jerg zum Altar gehen lassen möge, ohne ihr diesen schwersten Gang ihres Lebens durch ein Wort der Vergebung zu erleichtern, überkam es ihn, daß er nicht verzeihen könnte, ohne sich selbst schuldig zu bekennen. Sollte er Lisei bei sich selbst recht geben und sich vor dem Richterstuhl des eigenen Gewissens des Eigennutzes und der Lieblosigkeit und Härte gegen seine Kinder anklagen? Das gewann er nicht über sich. Und hatte er unrecht, so durfte er es nicht zugeben! Der Klosterbauer hatte nie unrecht!

»Steh auf!« murrte er schließlich.

Lisei gehorchte und wartete, daß er weiterspreche. Als es nicht geschah, sagte sie mit zitternder Stimme: »Ich begreif ja, daß es dir schwer wird, dem Brosi zu vergeben, daß es dir unmöglich ist, jetzt gleich auf der Stell und ganz zu verzeihn. Drum verlang ich nix von dir als ein einzigs Wort, daß du deinen Groll zurückdrängen willst, daß du mir erlauben willst, später wieder mit dir darüber zu reden. Ich lieb dich und den Ambros so sehr, daß es mir gewiß gelingen wird, euch miteinander auszusöhnen. Und der Ambros ist gewiß schon heut nit mehr der alte. Was er durch seinen Leichtsinn und seinen Jähzorn über sich gebracht hat, ist ja so schrecklich, daß er in sich hat gehn müssen. Als ein Beßrer wird er zu uns zurückkehrn, und ich bitt dich, Vater, stell dir doch nur vor, was für ein prächtiger Mensch er sonst ist und wie du mit Recht immer so stolz auf ihn gewesen bist! Wer im ganzen Tal käm ihm gleich?«

Es schien ihr, als ob sein hartes Auge milder würde, und sie schlang ihren rechten Arm schmeichelnd um seinen Hals und küßte ihn auf die Wange. Es war der erste Kuß, den sie dem Vater in ihrem Leben

zu geben wagte.

Da stieß er sie rauh zurück und rief: »Meinst, daß du mich mit solchen Weibskünsten fangen kannst?«

»Und ist das alles, was du mir auf meine Bitten zu antworten hast?« fragte Lisei verzagt. »Kann dich denn nix erweichen, Vater?« Entschlossener fuhr sie fort: »Aber du darfst mich mit abweisen! Du mußt die Sühn annehmen, die ich dir biet«

»Ich muß?« fragte er weniger höhnisch als verwundert und maß seine Tochter mit hochgezogenen Brauen. War denn das dieselbe Lisei, die sonst vor einem zornigem Blick oder Wort von ihm scheu und stumm zurückgewichen war?

Eine Flamme überloderte Liseis ganzes Gesicht, und mit bewegter Stimme sagte sie: »Ich bin heut früh am Grab meiner Mutter gewesen und hab gebetet, daß ich den Weg zu deinem Herzen find. Und ihr ganzes Leben ist an mir vorübergezogen, und ich hab gebetet, daß die Mutter Gottes mir Kraft geb, das schwere Kreuz zu tragen, das ich von heut an auf mich nehmen will; denn du weißt, daß ich den Jerg nit lieben tu! Wann du entschlossen bist, dem Ambros nimmer zu vergeben – warum soll ich das Kreuz auf mich nehmen? Ich begehr ja nix für mich. Wann du entschlossen bist, dann freilich, Vater, dann müssen sich unsre Weg heut scheiden. Aber ich weiß, daß ich dich erbitten werd.« Sie richtete ihre schlanke Gestalt hoch auf und redete mit leiser, doch klarer Stimme weiter, während ihre grauen Augen wie Regentropfen vor der Sonne erglänzten. »Es ist keiner unter uns allen, die wir den Namen Falkner tragen, der ganz rein von Schuld ist an dem Unglück, das auf uns ruht, nit ich, nit Hannes, nit Ambros, nit du, Vater, und nit die Tote. Wir alle haben durch unsre Selbstsucht den Zorn Gottes heraufbeschworn, und wir alle werden zugrund gehen, wann wir nit einander vergeben und verzeihn. Aus Lieb zu dir, aus Lieb zu den Brüdern will ich das Kreuz auf mich nehmen. Ich verlang kein andres Glück vom Leben, als daß ich eurer aller Händ zum Frieden ineinanderlegen darf. Dann wird der Zorn Gottes gesühnt sein. Laß mich nit ohne Hoffnung aus der Stub gehn, sonst stürzt alles zusammen. Treib mich nit von dir wie deine Söhne! Hab doch Barmherzigkeit mit dir selbst! Nur ein Wort, Vater! Nein, gib mir bloß die Hand, zum Zeichen, daß du versuchen willst, dem Ambros zu vergeben.«

Nur einmal hatte der Klosterbauer die Augen zu Lisei aufgeschlagen, dann waren sie zu Boden gesunken und dort haftengeblieben.

»Liebe!« kam es jetzt aus seinem Munde. »Ich glaub nit dran. Nit eins von euch hat mich geliebt; denn Lieb ist gehorchen ohne Bedingung.«

»Vater!« schrie Lisei in tiefstem Schmerze auf.

»Bedingung gegen Bedingung denn«, fuhr er, ohne darauf zu achten, fort und hob die Augen wie mit einiger Mühe zu ihr auf. »Schaff mir den Ambros her, und wann er auf dieser Stell vor mir auf den Knien liegt, wo du gekniet hast, und mich reumütig bittet: ›Vergib mir!‹, dann – dann will ich zuschaun, ob ich's kann!«

»Vater, ich dank dir!«

Sie ergriff seine Hand, die er ihr anfangs entreißen wollte, und küßte sie wieder und wieder. Seim Gesicht war dabei finster wie die Nacht, und in seiner Brust wogte ein Chaos. Lisei ging in ihre Kammer. Den kleinen Efeuzweig, den sie vom Grabe ihrer Mutter gepflückt hatte, flocht sie heimlich in ihre stattliche Brautkrone.


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